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Der Anschluss


Otto Skorzeny

Am 11. Juli 1936 erkannte Kurt v. Schuschnigg, der Nachfolger von Dollfuß, offiziell an, daß »Österreich im Grunde ein deutscher Staat« sei. Nichtsdestoweniger war er gegen eine Vereinigung mit Deutschland und mobilisierte seine Polizei, um alle, die eine deutschfreundliche Gesinnung äußerten, rücksichtslos zu unterdrücken.

Die Zusammenkunft Hitler-Schuschnigg vom 12. Februar 1938 in Berchtesgaden gab uns nur Hoffnung auf eine Normalisierung der Beziehungen Österreichs zu Deutschland, ohne daß es uns jedoch möglich erschienen wäre, bald in unser deutsches Vaterland einverleibt zu werden. Die Nationalsozialistische Partei wurde wieder unter gewissen Bedingungen erlaubt. Ich war aber seit 1935 Mitglied des Deutschen Turnerbundes, eines Sportverbandes, den es sowohl in Deutschland als auch in Österreich gab. Wie durch Zufall hatte ich dort zahlreiche frühere Mitglieder und Gesinnungsfreunde der aufgelösten Partei wiedergetroffen. Es ist wohl nicht nötig, anzuführen, daß die 60 000 Mitglieder des Turnerbundes alle die Vereinigung mit Deutschland wünschten.

Innerhalb unseres Turnerbundes waren wir in Form von Wehrzügen organisiert. Ich war Führer eines solchen. Wir waren uns ganz klar darüber, daß die Kommunisten und Sozialdemokraten Meister in der Tarnung ihrer Truppen geworden waren. Wir wußten vor allem, daß Moskau den österreichischen Anführern strikte Anweisungen gegeben hatte, eine Volksfront unter kommunistischer Leitung vorzubereiten und in Wien Rache für Berlin zu nehmen. Gewiß, nach seiner Rückkehr aus Berchtesgaden hatte Schuschnigg sein Kabinett neu besetzt und Seyss-Inquart zum Innenminister ernannt. Dieser war ein brillanter Rechtsanwalt, ein Katholik, der wie die Mehrzahl aller Österreicher für den Anschluß war, ohne jedoch zu jener Zeit der nationalsozialistischen Partei anzugehören. Gleichzeitig bemühte sich der Kanzler aber außerordentlich, sich mit den Führern der äußersten Linken gegen uns ins Einvernehmen zu setzen. Der Druck Moskaus wurde bald stärker, und Schuschnigg entschloß sich, sich in ein Abenteuer zu stürzen, das für das Schicksal Österreichs entscheidend werden sollte. Am Mittwoch, dem 9. März 1938, ein Donnerschlag! In Innsbruck kündigt der Kanzler für Sonntag, den 13. März, eine Volksabstimmung für oder gegen ein »freies, deutsches, unabhängiges, soziales, christliches und einiges Österreich« an!

Unverzüglich beschuldigt ihn Berlin, »vorsätzlich die Vereinbarungen von Berchtesgaden nicht eingehalten zu haben«, »Moskau in die Hand zu spielen« und »in Wien eine Sowjetrepublik ausrufen zu wollen«. Wie der französische Historiker Jacques Benoist-Méchin (Histoire de L'armée Allemande, Band IV) feststellt, »hat man tatsächlich ein eigenartiges Schauspiel vor Augen, das sich die Propaganda Hitlers bald zunutze macht: Außer der Vaterländischen Front werben nur die Kommunisten offen für die Volksabstimmung.«

Wir wissen heute, daß der Kanzler das Opfer verschiedener Täuschungen geworden war, sowie von Versprechen, die nicht gehalten werden konnten. Er hatte sich der monarchistischen Ansprüche durch die Ablehnung eines Vorschlags zur Restauration entledigt, der ihm von dem Erzherzog Otto von Habsburg gemacht wurde, welcher sein Manifest mit »Otto, I.R.«, das heißt mit Imperator Rex, unterzeichnet hatte — ganz wie Karl der Fünfte. Neun Tage später, am 26. Februar, gab der Außenminister, Yvon Delbos, vor dem französischen Parlament dem österreichischen Kanzler seine Befriedigung mit folgenden Worten kund:

»Frankreich kann Österreich nicht seinem Schicksal überlassen: es bestätigt heute, daß die Unabhängigkeit Österreichs ein unumgängliches Element des europäischen Gleichgewichtes darstellt.«

In seinen Erinnerungen schreibt Franz v. Papen, daß »der französische Gesandte in Wien, Puaux, ein persönlicher Freund Schuschniggs, der Vater der Idee der Volksabstimmung gewesen« sei.

Um den Anschluß mittels einer erfolgreichen Volksabstimmung zu verhindern oder doch wenigstens hinauszuschieben, rechnete der Kanzler mit ausländischer Unterstützung, die jedoch versagte. In London war Anthony-Eden, der Außenminister, gerade zurückgetreten. Chamberlain, der Lord Halifax an dessen Stelle gesetzt hatte, hielt das Projekt für a hazardous business. Dr. Masty, tschechoslowakischer Gesandter in Berlin, versicherte Göring, daß Präsident Benesch nicht beabsichtige, sich in die österreichischen Angelegenheiten einzumischen.

Am späten Vormittag des 7. März überreichte Oberst Liebitsky, österreichischer Militärattache in Rom, Mussolini eine Kopie der Rede, die Schuschnigg in Innsbruck halten wollte. Ehrlich erschrocken griff der Duce sofort ein, um den Kanzler zu bewegen, dieses Vorhaben, »das sich unverzüglich gegen ihn wenden könnte«, fallenzulassen. Aber Schuschnigg schlug diesen

Ratschlag gänzlich in den Wind. Sollte er vielleicht offiziell feste Zusagen von französischer Seite erhalten haben? Das wäre zu bezweifeln. Einige Wochen vorher war der Regierung Chautemps das Vertrauen des Parlaments mit 439 gegen 2 Stimmen ausgesprochen worden. Einen Tag nach der Innsbrucker Rede, am Vormittag des 10. März, richtete Camille Chautemps einige kurze Worte an die Kammer. Er stieg von der Tribüne herab und verließ den Saal; seine Minister folgten ihm schweigend; das Kabinett Chautemps war zurückgetreten, ohne in Minderheit geraten zu sein. Unsere körperlichen Übungen im Turnerbund hinderten uns nicht daran, viele ausländische Zeitungen zu lesen: die Times, den Daily Telegraph, die Frankfurter Zeitung, den Temps und die Schweizer Presse. Am Abend des 10. März erfuhren wir, daß Schuschnigg den Mut verloren, daß er sich selbst isoliert hatte.

Man muß wissen, daß die Volksabstimmung wie folgt vor sich gehen sollte: Da die letzten Wahlen für die Nationalversammlung im Jahre 1929 stattgefunden hatten, waren keine Wählerlisten vorhanden; man erklärte uns, daß dieselben auch nicht nötig wären. Die Vaterländische Front, die als einzige die Volksabstimmung organisierte, würde sich um alles kümmern. Zunächst wären die Beamten verpflichtet, an ihren Arbeitsplätzen abzustimmen; jeder Staatsbürger über 25 Jahre in Wien und über 24 in der Provinz könnte seine Stimme abgeben, wozu er nur das Familienbuch, eine Miet-, Gas- oder Lichtquittung, ein Sparkassenbuch, einen Ausweis der Vaterländischen Front oder des Landbundes und so weiter vorzuzeigen brauchte. Die den Wahlaufsehern bekannten Wähler hätten nicht einmal einen Personalausweis nötig! Es wurde gesagt, daß die Abstimmung öffentlich sei, und daß in den Abstimmungslokalen nur Stimmzettel mit JA vorhanden wären.

Es gab keine Abstimmzellen. Diejenigen Bürger, die verneinend wählen wollten, mußten einen Stimmzettel mit NEIN mitbringen und von den Wahlaufsehern einen offiziellen Umschlag verlangen, um ihren Stimmzettel hineinzutun!

Unter diesen Umständen war es für eine Bande von fünfzig Spaßvögeln ein Leichtes, Schuschnigg mehrere Tausend Stimmen zukommen zu lassen, wenn sie ihre Route über die verschiedenen Abstimmungslokale, von den Wahlaufsehern nicht ungern gesehen, am frühen Morgen begannen. Zur gleichen Zeit wiederholten der Rundfunk und die Regierungspresse in einem fort: »Jeder Bürger, der NEIN abstimmt, ist ein Hochverräter.« Wer also so naiv gewesen sein sollte, einen Stimmzettel mit NEIN mitzubringen, würde sich selbst als Verräter bezeichnet haben.

Solche Verfahren sind natürlich nicht sehr ehrenhaft; trotzdem wurden sie von den Organisatoren für wundervoll gehalten. In der Nacht vom 10. März erließ Schuschnigg einen Mobilisierungsbefehl für den Jahrgang 1935. Die Milizen der Vaterländischen Front waren einsatzbereit. Was aber mehr Besorgnis erregte, war, daß die alten Schutzbundtruppen, die Ultra-Marxisten waren, wieder auftauchten, einige von ihnen in der Tarnung — hellgraue Uniform — der Ostmärkischen Sturmscharen, die die Kampfeinheiten der Vaterländischen Front darstellten. Was man auch über diese Dinge gesagt haben mag, Schuschnigg hatte alle Scheite in das Feuer geworfen, und auf den Lastwagen, die am Morgen dieses n. März in Wien herumfuhren, konnte man die Propagandisten der Vaterländischen Front mit erhobener Faust sehen. Wir wissen, daß Schmitz, der Bürgermeister von Wien, die Führer der Fabrikmilizen zusammengerufen hatte, und wir sind überzeugt davon, daß Waffen verteilt worden waren. Aus den Vorstädten kamen außerdem Lastwagenkolonnen unter roten Fahnen mit Sichel und Hammer. Arbeiter erhoben ihre Fäuste, sangen die Internationale und brüllten:

Stimmt JA für die Freiheit!

Nieder mit Hitler! Es lebe Moskau!

Währenddessen warfen Flugzeuge mit der rot-weißen Kokarde Tonnen von Flugblättern mit der Weisung »Stimmt JA« ab.

Was konnte solch eine bizarre, in zweiundsiebzig Stunden organisierte Abstimmung für eine Regierung bedeuten, die jeder populären Basis entbehrte? Seit dem Vorabend nahmen die Diskussionen im Kanzleramt einen immer bitterer werdenden Charakter an. Ein Theater-Coup: Die Wiener Neuesten Nachrichten veröffentlichen ein Manifest des Dr. Jury, Adjutant von Seyss-Inquart im Innenministerium, in dem »die Abstimmung als willkürlich und ungesetzlich« erklärt und die Bevölkerung aufgefordert wird, dieselbe zu boykottieren. Es war unmöglich, ein Exemplar der Zeitung zu bekommen.

Was wird geschehen? Nach langen Zweifeln, gegen ein Uhr mittags, erklärte der Kanzler, daß er die Formulierung der Abstimmung ändern werde. Er wollte Zeit gewinnen, aber Göring verlangte telefonisch einfach den Rücktritt der Regierung (vier Uhr dreißig nachmittags). Es war bekannt, daß deutsche Truppen längs der Grenze zusammengezogen waren. Schuschnigg fragte hierauf Dr. Zehner, Staatssekretär der Verteidigung, ob das Heer und die Polizei zum Widerstand bereit wären. Er sah bald ein, daß nichts die deutschen Truppen daran hindern könnte, bis nach Wien vorzustoßen, »es sei denn die übergroße Begeisterung der Bevölkerung«.

Bei Bekanntwerden der Mobilisierung der Arbeitermilizen riefen die Leiter des Deutschen Turnerbundes die Wehrzüge zusammen. Wir wollten unter keinen Umständen die blutigen Tage von 1927 und 1934 noch einmal erleben. Vor dem Kanzleramt hatte sich gegen Abend eine gewaltige Menschenmenge versammelt. Auch meine Kameraden und ich waren da, bedrückt oder hoffnungsvoll, je nach den Nachrichten, die in der Menge umliefen. Plötzlich, um acht Uhr abends, rief Seyss-Inquart alle zur Ruhe auf und bat »die Polizei und den Nationalsozialistischen Ordnungsdienst, sich für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung einzusetzen«. Zu meiner großen Verwunderung sah ich, daß eine große Anzahl von Leuten, einschließlich Polizisten, eine Hakenkreuzarmbinde angelegt hatten. Alle waren gute Nationalsozialisten geworden, nachdem sie erfahren hatten, daß der Präsident der Republik den Rücktritt Schuschniggs angenommen hatte. Der Präsident Miklas weigerte sich zunächst, Seyss-Inquart zu Schuschniggs Nachfolger zu ernennen, obwohl er der einzige Minister war, der auf Ersuchen des Präsidenten selbst im Amt geblieben war. Letzterer war ein ehrwürdiger Mann, der Grundsätze und vierzehn Kinder hatte. Was er nicht wußte, war, daß zwei von ihnen der Untergrund-SA angehörten! Was man die »Vergewaltigung Österreichs« genannt hat, begann in jener Nacht in Form eines prächtigen Fackelzuges durch die Straßen Wiens und vor dem Kanzleramt. Auf dem Heldenplatz weinten, lachten und umarmten sich die Menschen. Als die Hakenkreuzfahnen gegen elf Uhr auf den Balkons der Kanzlei erschienen, gab es kein Halten mehr, es war wie in einem Delirium.

Während seine Kinder auf dem Platz »Heil Hitler!« riefen, suchte Präsident Miklas hartnäckig noch lange nach einem Nachfolger des zurückgetretenen Schuschnigg. Seyss-Inquart sagte ihm nicht zu. Dieser war ihm zuerst von Göring, der zwei österreichische Schwäger unterzubringen hatte, empfohlen und anschließend aufgezwungen worden. Miklas richtete sich in der Kanzlei ein und sondierte ein Dutzend Persönlichkeiten, die sich aber ablehnend alle entschuldigten, unter ihnen der Staatssekretär, Dr. Skubl; der ehemalige Chef einer christlich-sozialen Regierung, Dr. Ender; und schließlich auch der Generalinspekteur des Heeres, Schilkawsky. Alle wollten in erster Linie eine Konfrontation unter Brüdern vermeiden. Gegen Mitternacht gab Miklas nach und ernannte schließlich Seyss-Inquart, der ihm unverzüglich eine Liste der neuen Minister vorlegte.

Meine Kameraden und ich befanden sich noch immer vor dem Kanzleramt, als Seyss-Inquart auf dem Balkon erschien: Ein enormes Jubelgeschrei begrüßte ihn, und wir sahen, daß er Kanzler geworden war. Er richtete eine kurze Ansprache an die Menge, von der wir bei dem Tumult jedoch kein Wort verstehen konnten. Plötzlich trat ein großes Stillschweigen ein, und mit entblößtem Kopf stimmten alle die deutsche Nationalhymne an. Ich werde diesen Augenblick nie vergessen, der uns für viele Leiden, Opfer und Demütigungen entschädigte.

Ich habe gelesen, daß bei dieser Gelegenheit »die demokratischen Grundsätze verletzt wurden«. In Österreich hatte aber kein Schatten einer Demokratie bestanden. Der Kanzler Dollfuß hatte das Parlament im März 1933 liquidiert. Schuschnigg war von Miklas nach dem tragischen Tod von Dollfuß ohne jede Befragung der Österreicher zum Kanzler ernannt worden. Um unsere Haltung zu verstehen, bedarf es des guten Glaubens und einer, wenn auch oberflächlichen Kenntnis der geschichtlichen Begebenheiten.

Ich sehe mich noch immer während dieser denkwürdigen Nacht in Begleitung meiner Kameraden vom Deutschen Turnerbund. Seit den ersten Nachmittagsstunden waren wir einsatzbereit, mit Bergsteigermänteln bekleidet, die notfalls als Uniform angesehen werden konnten; außerdem trugen wir Reit- oder Skihosen. Wir hatten keine Armbinden.

Wir waren so glücklich, daß wir weder Hunger noch Kälte verspürten. Auf dem Heldenplatz war aber für uns nichts mehr zu tun, so daß ich mich mit meinen Kameraden nach einer kleinen Straße hinter dem Kanzleramt begab, denn ich hatte meinen Wagen dort in der Nähe. Nachdem die erste Begeisterung abgeebbt war, glaubten wir fast zu träumen. Sollte Seyss-Inquart wirklich ein echter Nationalsozialist sein? Bisher hatten wir ihn für einen Mittelsmann gehalten. Wie würde die äußerste Linke reagieren? War es wahr, daß Hitler den deutschen Truppen den Befehl zum Einmarsch in Österreich gegeben hatte, wie das Gerücht verlautete?

In diesem Augenblick fuhr aus einer Torausfahrt der kleinen Straße eine schwarze Limousine heraus, und als wir beiseite traten, um sie durchzulassen, hörte ich, daß mich jemand anrief, der in Begleitung einiger anderer Männer ebenfalls aus dem Palais herauskam. Diese Person kam schnell auf mich zu, und ich erkannte in ihr Bruno Weiß, den Vorsitzenden unseres Deutschen Turnerbundes. Er schien nervös zu sein und fragte mich, ob ich über einen Wagen verfüge.

»Sehr gut«, sagte er zu mir. »Ein Glück, daß ich Sie hier treffe. Wir brauchen einen Mann mit Ruhe und gesundem Menschenverstand! Haben Sie die große Limousine gesehen, die eben herausgefahren ist? Schön, da sitzt nämlich der Präsident Miklas drin. Er fährt zu seinem Palais in der Reisnerstraße, das von einer Abteilung des Gardebataillons besetzt ist. Wir haben eben erfahren, daß auch eine SA-Abteilung aus Florisdorf den Befehl erhalten hat, sich in die Reisnerstraße zu begeben, denn der Bundespräsident soll auch den Schutz der neuen Regierung erhalten. Es muß also auf jeden Fall verhindert werden, daß die beiden Formationen zusammenstoßen. Verstehen Sie mich?«

»Vollkommen, lieber Herr Weiss. Ich habe aber keine Vollmacht.. .« Er unterbrach mich mit einer Handbewegung:

»Im Namen des neuen Kanzlers beauftrage ich Sie persönlich, sich sofort in die Reisnerstraße zu begeben und ruhig aber energisch einzugreifen, um jeden Zwischenfall zu vermeiden. Rufen Sie einige Kameraden zusammen, aber verlieren Sie keine Minute. Ich werde den Kanzler davon benachrichtigen, daß ich Sie mit dieser Mission beauftragt habe. Ich werde versuchen, telefonisch eine Verständigung herbeizuführen, es wäre aber besser, wenn Sie dort sein könnten. Telefonieren Sie der Kanzlei, sobald Sie dort angekommen sind. Nun machen Sie sich auf den Weg, mein Lieber. Die Minuten sind kostbar.«

Und sie waren es! Glücklicherweise konnte ich an Ort und Stelle ein Dutzend Kameraden rekrutieren, die in zwei oder drei Wagen verladen wurden oder auf ihre Motorräder sprangen. Wir stürzten uns in die Nacht, quer durch die Menschenmenge, die uns Platz machte und kamen in dem Augenblick vor dem Palais an, in dem der Präsident hineinfuhr. Wir hielten uns dicht hinter ihm, und ich befahl, das große Eingangstor zu schließen. Der Präsident wollte gerade die Treppe emporsteigen, als wir in die Halle eindrangen. An der Brüstung der ersten Etage erschien ein junger Gardeleutnant und zog seine Pistole. Die Konfusion erreichte ihren Höhepunkt, als sich die lauten Rufe der Gardesoldaten mit denen des Gefolges des Präsidenten mischten und schließlich auch Frau Miklas erschien, die völlig außer sich war.

Ich schrie noch lauter als die anderen:

»Ruhe!«

»Waffen schußbereit!« befahl der Leutnant.

Dieser Offizier, der später mein Freund wurde, und den ich drei Wochen später als Hauptmann der Wehrmacht wiedertraf, hatte nur seine Pflicht getan. Glücklicherweise hatten wir weder Waffen noch Armbinden, aber unsere ungewöhnliche Aufmachung sprach kaum zu unseren Gunsten. Die Situation war folgende: längs der Galerie der ersten Etage stehend und von den oberen Stufen der Treppe herab, hielten uns ungefähr zwanzig Gardesoldaten in Schach; mitten auf der Treppe war der Präsident stehengeblieben und sah seine Frau an, ohne ein Wort zu sagen; von der Straße her war ein immer lauter werdender Tumult zu hören. Die von ihren Lastwagen herunterspringenden SA-Leute verlangten, daß man ihnen das Tor öffne. Ich wünschte, daß dasselbe standhalten würde. »Ruhe, meine Herren!,« rief ich nochmals, »Herr Präsident, ich bitte Sie, mich anzuhören ...«

Er wendete sich mir zu und betrachtete mich überrascht: »Wer sind Sie, mein Herr, und was wünschen Sie?«

»Gestatten Sie mir, mich vorzustellen: Ingenieur Skorzeny. Kann ich den Kanzler ans Telefon rufen? Er wird Ihnen bestätigen, daß ich in seinem Auftrage hier bin.«

»Gewiß, aber sagen Sie, was bedeutet der ganze Lärm da draußen?« Ich wußte, was dieser Lärm bedeutete, konnte es aber noch nicht sagen. Man hätte gedacht, daß die SA das Präsidentenpalais im Sturm nehmen wolle, und das hätte wahrscheinlich ein Feuergefecht ergeben. »Bitte, entschuldigen Sie mich einen Moment, Herr Präsident, ich werde sofort nachsehen.«

Mit meinem Freund Gerhard und unseren Kameraden vom Turnerbund konnten wir schließlich die einen und die anderen beruhigen. In Gegenwart des Präsidenten Miklas rief ich das Kanzleramt an und bekam auch sofort Dr. Seyss-Inquart an den Apparat: Bruno Weiss hatte glücklicherweise die nötigen Schritte getan, und der neue Kanzler unterhielt sich einige Minuten mit dem Bundespräsidenten, der mir den Hörer überreichte. Seyss-Inquart beglückwünschte mich zu meiner entschlossenen Haltung und bat mich, bis zu neuen Anweisungen im Palais zu bleiben, den Befehl über die Abteilung des Gardebataillons zu übernehmen und mit demselben die Ordnung im Innern des Palais aufrechtzuerhalten, während der SA die Aufrechterhaltung der Ordnung außerhalb des Palais zufiel. Drei Tage und Nächte lang erfüllte ich gewissenhaft meinen Auftrag zur allgemeinen Zufriedenheit und ohne jeden Vorfall. Zum Schluß dankte mir der Kanzler Seyss-Inquart mit einem herzlichen Händedruck. Ich war damals noch jung und etwas naiv: so glaubte ich, nun in die aktive Politik eingetreten zu sein, nicht nur durch Zufall, sondern durch das große Tor.

Den triumphalen Einzug Hitlers in Wien sah ich von einem sehr erhöhten Standpunkt aus, nämlich von einem der hohen Gerüste, die für die Überholung eines an der Ringstraße gelegenen Museums errichtet worden waren. Meine Arbeiter waren sogar noch begeisterter als ich, und ich verstand sie. Sie empfingen einen der Ihrigen, einen der Unsrigen. Von der Höhe unseres Gerüstes aus betrachteten wir diesen außerordentlichen Mann. Was man auch heute von ihm sagen möchte, er hatte in Wien Hunger gelitten. Hier, unter unseren Augen, nahm er in der Geschichte den Platz der größten österreichischen Herrscher ein: den Platz eines Rudolf, Maximilian, Karl, Ferdinand, Joseph, die deutsche Kaiser gewesen waren. Es war unmöglich, und trotzdem war es wahr. Mit uns riefen Hunderttausende aus, daß es wahr war.

Das Schauspiel auf dem Ring selbst entsprach der Bedeutung des Ereignisses: es war prächtig, wundervoll, mit einem Meer von Fahnen und Blumen, endlosem Beifall, Militärmusik, die deutschen Truppen bejubelt, wie es keine andere Armee in Österreich je erfahren hatte. In einem gegebenen Augenblick war in dieser Menge eine allgemeine Bewegung und Neugier zu spüren: Die SS-Leibstandarte Adolf Hitler war erschienen. Ihre Haltung war eindrucksvoll. Ich hatte keine Ahnung, daß ich binnen kurzem dazugehören würde. Ich habe mir niemals erklären können, wo meine Landsleute die Zehntausende von Hakenkreuzfahnen aufgetrieben hatten. Es war anzunehmen, daß jede Familie eine oder zwei solcher Fahnen heimlich in Erwartung der »Vergewaltigung Österreichs« vorbereitet hatte. Viele andere Sachen überraschten mich auch, die aber heutzutage etwas in Vergessenheit geraten sind. So zum Beispiel hatte der Kardinal Innitzer, Erzbischof von Wien, am 10. März die Volksabstimmung Schuschniggs warm befürwortend erklärt: »Als österreichische Bürger kämpfen wir für ein freies, unabhängiges Österreich!«

Acht Tage später, am 18. März, erklärten der Kardinal Innitzer, der Fürstbischof von Salzburg Hefter, der Bischof von Klagenfurt Pawlikowski, der Bischof von Graz Gföllner und der Bischof von Linz öffentlich das Gegenteil, nämlich:

»Daß sie es für ihre Pflicht als Deutsche hielten, sich zugunsten des Deutschen Reiches auszusprechen.« Sie sagten wörtlich:

»Aus innerster Überzeugung und mit freiem Willen erklären wir unterzeichnenden Bischöfe der österreichischen Kirchenprovinz anläßlich der großen geschichtlichen Geschehnisse in Deutsch-Österreich: Wir erkennen freudig an, daß die nationalsozialistische Bewegung auf dem Gebiet des völkischen und wirtschaftlichen Aufbaues sowie der Sozialpolitik für das Deutsche Reich und Volk und namentlich für die ärmsten Schichten des Volkes Hervorragendes geleistet hat und leistet. Wir sind auch der Überzeugung, daß durch das Wirken der nationalsozialistischen Bewegung die Gefahr des alles zerstörenden, gottlosen Bolschewismus abgewehrt wurde.

Die Bischöfe begleiten dieses Wirken für die Zukunft mit ihren besten Segenswünschen und werden auch die Gläubigen in diesem Sinne ermahnen.

Am Tage der Volksabstimmung ist es für uns Bischöfe selbstverständliche Pflicht, uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen, und wir erwarten von allen gläubigen Christen, daß sie wissen, was sie ihrem Volk schuldig sind.«

Was soll man aber zu der Haltung des sozialdemokratischen Leiters Dr. Karl Renner, erster Kanzler Österreichs in den Jahren 1918/1919 und Präsident des Nationalrats bis 1933, sagen? Am 3. April 1938 erklärte er der Wiener Illustrierten Kronenzeitung:

»Nun ist die 20-jährige Irrfahrt des österreichischen Volkes beendet, und es kehrt geschlossen zum Ausgangspunkte, zu seiner feierlichen Willenserklärung vom 12. November 1918 zurück. Das traurige Zwischenspiel des halben Jahrhunderts 1866 bis 1918 geht hiermit in unserer tausendjährigen gemeinsamen Geschichte unter.« »Als Sozialdemokrat und somit als Vertreter des Selbstbestimmungs-rechtes der Nation und als gewesener Präsident ihrer Friedendelegation zu St. Germain werde ich mit JA stimmen«

Am selben 3. April bestätigte Herr Dr. Renner außerdem dem Neuen Wiener Tageblatt:

»Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechts der Nationen wie als deutsch-österreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßen würde. Als Sozialdemokrat und somit als Vertreter des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, als erster Kanzler der Republik Deutsch-Österreich und als gewesener Präsident ihrer Friedensdelegation in St. Germain werde ich mit JA stimmen.«

Diesen Erklärungen stimmte auch Karl Seitz, ein alter Führer der Sozialdemokraten und ehemaliger Bürgermeister von Wien bei. Nach dem Anschluß Österreichs wohnte Dr. Karl Renner in Goggnitz am Fuße des Semmerings und überlebte dank der ihm anstandslos bewilligten Pension friedlich und ungehindert den Zweiten Weltkrieg. Die einmarschierende Rote Armee stieß auf Renner und bewog ihn, einen Brief nach Moskau zu schreiben. Er hatte, auszugsweise, folgenden Wortlaut: »Seiner Exzellenz Marschall Stalin, Moskau Sehr geehrter Genosse!

In der Frühzeit der Bewegung haben mich mit vielen russischen Vorkämpfern enge persönliche Beziehungen verknüpft. . . Die Rote Armee hat mich bei ihrem Einmarsch in meinem Wohnort angetroffen, wo ich mit Parteigenossen vertrauensvoll die Besetzung abwartete. ... Dafür danke ich der Roten Armee und Ihnen, deren ruhmbedeckten Obersten Befehlshaber, im persönlichen wie im Namen de/ Arbeiterklasse Österreichs aufrichtig und ergebenst. ... Die österreichischen Sozialdemokraten werden sich mit der KP brüderlich auseinandersetzen und bei der Neugründung der Republik auf gleichem Fuße zusammenarbeiten. Daß die Zukunft des Landes dem Sozialismus gehört, ist fraglos und bedarf keiner Betonung.«

Das Ergebnis der in Wirklichkeit freien und geheimen Volksabstimmung vom 10. April 1938 war wie folgt:

Für den Anschluß Österreichs an das Reich: 4284295 Stimmen
Dagegen: 9852 Stimmen
Ungültige Wahlzettel: 559 Stimmen

Warum mußten wir aber nun enttäuscht werden? Einige von denen, die wir mit so viel Begeisterung empfangen hatten, behandelten uns mit einem Mangel an Einsicht und einer Herablassung, die unter anderen Umständen komisch gewirkt hätte. Von dem Glorienschein des Triumphes umgeben, den er vor drei Jahren im Saargebiet errungen hatte, war der Gauleiter Joseph Bürckel, ein Rheinländer, dem es weder an gesundem Menschenverstand noch an politischem Verständnis gebrach. Aber nicht alle, die von jenseits des Mains kamen, waren wie er. Es wäre nötig gewesen, erstklassige Leute nach Österreich zu schicken, was aber leider nicht immer der Fall war, und der Funktionärstyp, den wir bekamen, glich häufig einem bayerischen Volksschullehrer aus dem Jahre 1900 oder einem Dorfpolizisten. Aber auch wir Hatten unsere Fehler. Wir bemühten uns zu lächeln und die zu verstehen, die uns nicht verstanden. Die übertriebene Strenge und manchmal auch die Taktlosigkeit der Preußen und Sachsen waren oft Hindernisse für die wirklich brüderliche Vereinigung, die wir ersehnten. Diese Schwierigkeiten wurden von den Historikern je nach ihrer persönlichen Einstellung zum Teil übertrieben oder vergessen.

(Aus dem Buch: Otto Skorzeny. Meine Kommandounternehmen)

Otto Skorzeny | Schlagende Burschenschaft Markomannia

In seiner Wiener Studentenzeit gehörte Skorzeny der schlagenden
Burschenschaft Markomannia an. Das Bild zeigt ihn vorn rechts
nach einer schweren Blessur im Jahr 1928, die ihm später
den Namen »Das Narbengesicht« eintrug.


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