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Russlands Aufnahme in die „Goldene Milliarde“


Iwan Schukow

Iwan und Onkel Sam gegen Londen und Brüssel

Die Übersetzung aus dem Russisch erfolgte im Auftrag der Velesova Sloboda.


Das große Spiel um das Erbe der verblichenen Sowjetunion ist in eine äußerst wichtige Phase eingetreten. Die EU sowie die Nato überbieten sich gegenseitig in ihren diplomatischen Ouvertüren gegenüber Rußland. Leider weiß die einfältige Russische Föderation noch gar nichts von ihrem Glück und begreift nicht, was für eine historische Chance ihr winkt. Ich rufe in Erinnerung, was ich im vorigen Jahr geschrieben habe:

„Rußland wird schon in naher Zukunft in die Nato eintreten; dies liefert auch eine Erklärung für den auf den ersten Blick absurd anmutenden Zickzackkurs des Putin-Regimes. Für uns lautet die Hauptfrage, unter welchen Bedingungen die Nato die Russen aufnehmen wird.“

Heute läßt sich feststellen, daß der Eintritt Rußlands in den Westlichen Klub, in die berühmt-berüchtigte „Goldene Milliarde“, innerhalb eines runden Jahrzehnts erfolgen wird; hieran gibt es kaum noch etwas zu rütteln. Die gegenwärtig zu beobachtenden hektischen diplomatischen Aktivitäten lassen darauf schließen, daß dieser Prozeß bereits in die abschließende Phase eingetreten ist. Um jeden Zweifel an den bevorstehenden sensationellen Geschehnissen auszuräumen, will ich nun einige Auszüge aus offiziellen diplomatischen Chroniken anführen. Ich bitte den Leser um Nachsicht dafür, daß ich so ausführlich zitiere, doch ist dies unabdingbar, um das ganze Ausmaß der bevorstehenden Umwälzungen zu veranschaulichen. Eine kurze Übersicht über die öffentlich abgegebenen Aussagen bezüglich einer möglichen Integration der Russischen Föderation in die Nato sowie die parallel hierzu erfolgenden diplomatischen Maßnahmen der jüngsten Vergangenheit habe ich im Anhang hinzugefügt.

Wie man sieht, wetteifern die führenden Mitglieder des westlichen Klubs – Europäer und Amerikaner – in ihrer Liebe zu Rußland und erheben diesem gegenüber keine unangemessenen Forderungen. Sogar der bei uns als eingefleischter Russenhasser geltende Brzezinski äußert sich hinsichtlich der künftigen Beziehungen zu Rußland optimistisch und ortet bei Präsident Medwedew hoffnungsvolle Tendenzen in Richtung auf eine Demokratisierung des Landes (obwohl er in Wirklichkeit auf die Stärkung des bestehenden antidemokratischen Regimes und des Tschekistentums1 hinarbeitet). Medwedew, der Verlegenheit über die unverdienten Lobhudeleien und die großzügigen Offerten empfindet, vermag sein Glück kaum zu fassen und murmelt verlegen: Ja, wir werden sehen, ob wir den Beitritt zu eurer Nato wirklich brauchen.

Der westliche Klub ist nicht nur bereit, uns in die Nato aufzunehmen; dies wußten wir ja schon lange. Von jetzt an konkurriert die EU offen mit der Nato um das Vorrecht, sich mit Rußland zusammenzuschließen. Dies ist recht interessant; die Neuordnung der außenpolitischen Prioritäten der Westmächte erfolgte nämlich ohne jeden konkreten Grund. Ist dies etwa nicht erstaunlich? Geht man von den erklärten Prinzipien aus, nach denen der Westen sein Verhältnis mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gestalten will, und ruft man sich die offiziellen Richtlinien in Erinnerung, an denen sich der Westen dem Vernehmen nach noch bis vor kurzem orientierte, ist eine so radikale politisch-ideologische Kehrtwendung auf den ersten Blick schwer erklärbar um so mehr, als es angesichts des während der letzten beiden Jahrzehnte öffentlich bekundeten Widerstandes der Russischen Föderation gegen eine Osterweiterung der Nato keinen ersichtlichen Grund für einen solchen Schulterschluß zwischen Moskau und der Nato gibt. Schließlich legte das Putin-Regime größten Wert auf die Abwehr der Bedrohung seitens der Nato; es betonte, daß sich Rußland „wieder erhebt“, nahm gegenüber dem Westen eine stolze Haltung ein und verkündete lautstark, es werde den Intrigen der USA eine gebührende Antwort erteilen.

Tatsache ist, daß die tschekistische Junta um Putin die russische Rüstungsindustrie konsequent demontiert und das militärische Potential des Landes im Interesse der Nato stetig verringert hat. Sie hat die Armee stillschweigend so reformiert, daß sie besser auf eine Zusammenarbeit mit der Nato vorbereitet ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Vorbereitungen für den Übergang der russischen Armee auf die militärischen und sozialen Standards der Nato praktisch schon abgeschlossen. Nachdem offiziell bekanntgegeben wurde, die russische Kriegsflotte plane vier französische Hubschrauberträger vom Typ Mistral zu kaufen, ist es schwierig geworden, die klammheimliche Integration unseres Landes in die Nato noch länger unter den Teppich zu kehren. Um die militärpolitische Neuorientierung wenigstens notdürftig zu vertuschen, greifen unsere Diplomaten zu der fadenscheinigen Erklärung, Rußland und die Nato bereiteten sich darauf vor, Schulter an Schulter gegen gemeinsame Feinde vorzugehen – die Drogenmafia in Afghanistan, die somalischen Piraten etc. Ganz nebenbei sind die französischen Hubschrauberträger, die Rußland Milliarden von Euro kosten werden, für die russische Flotte vollkommen überflüssig. Dieser Kontrakt ist einerseits ein Geschenk an Frankreich, andererseits dient er dazu, der russischen Flotte Möglichkeiten zur Lösung militärischer Aufgaben im Interesse der EU zu verschaffen.

Sogar sowjetische Militärexperten begreifen allmählich, daß die Russische Föderation drauf und dran ist, sich in die Nato zu integrieren.

Der erste Vizepräsident der Akademie für Geopolitische Probleme, Hauptmann ersten Ranges Konstantin Siwkow, erklärte (laut Argumenty Nedeli vom 6. Oktober 2010):

„Bereitet das Verteidigungsministerium unsere Truppen auf Interventionen jenseits unserer Landesgrenzen vor?“

„In den letzten paar Tagen hat das Verteidigungsministerium mit der Billigung der obersten militärisch-politischen Führung des Landes einen jähen Kurswechsel in seiner militärtechnologischen Politik vollzogen. Waffen, Kommunikations- und Aufklärungstechnologie, Panzerungen und Schiffe für die Kriegsflotte – lauter Systeme, die nicht defensiver, sondern offensiver Natur sind – werden zunehmend bei ausländischen Herstellern gekauft. Es sind keine offiziellen Stellungnahmen erfolgt, welche diese Neuorientierung bei der Ausrüstung der bewaffneten Streitkräfte Rußlands erklären…“

„Die neue militärtechnologische Politik unseres Landes kommt einer Umstellung auf ausländische Waffensysteme – genauer gesagt auf solche der Nato – gleich…“

„Unter diesen Umständen liegt der Schluß nahe, daß in den russischen Streitkräften Einheiten geschaffen werden, die mit ausländischen Waffen ausgerüstet sind, ausländische Fahrzeuge benutzen, mit ausländischen Steuerungs- und Kommunikationssystemen operieren. In bezug auf ihre Steuerungssysteme und ihre Versorgung mit technischem Material aus dem Hinterland werden sie vollkommen von der Technologie der Nato und insbesondere der USA abhängen; ihre Ausrüstung wird mit derjenigen des Hauptteils der russischen Armee nicht kompatibel sein. Bei diesen Einheiten kann es sich einzig und allein um in beschleunigtem Tempo aufgebaute Expeditionsstreitkräfte handeln, die – bis hin zu den Aufklärungssystemen – nach Nato-Standard ausgerüstet sind und deren Aufgabe darin bestehen wird, als Bestandteil der Nato-Truppen und unter Nato-Kommando militärische Aktionen durchzuführen…“

„Schon seit einigen Jahren werden Abteilungen von Wehrpflichtigen der russischen Luftlandetruppen, der Reserve des Obersten Kommandostabes, zu Schulungskursen in die USA sowie nach Deutschland geschickt. Es handelt sich keineswegs um höhere Offiziere, deren Aufgabe beispielsweise in der Erörterung von Fragen der gegenseitigen Zusammenarbeit bestehen könnte, sondern um gewöhnliche Soldaten, Unteroffiziere sowie Offiziere niedrigen Ranges – lauter Männer, die zur Sowjetzeit noch gar nicht geboren waren, geschweige denn in den sowjetischen Streitkräften Dienst geleistet haben…“

Wie wir im Sommer dieses Jahres festgehalten haben, verzichtet das Putin-Regime um der Integrierung in die Nato willen auf die Schulung von Offizieren innerhalb der Russischen Föderation. Seit dem 1. September 2010 werden an unseren Militärschulen nur noch Unteroffiziere und keine Offiziere mehr ausgebildet.

Auch die russische Rüstungsindustrie soll der Kontrolle der Westeuropäer unterstellt werden:

„Ein Teil der strategischen Rüstungsbetriebe kann künftig privatisiert werden. Sergej Tschemesow, Chef von Rostechnologia, erklärte anläßlich eines Treffens mit Vertretern der Europäischen Geschäftsvereinigung: ‚Ich schließe nicht aus, daß ein gewisser Teil der Aktien verkauft werden wird. Der Entscheid hierüber obliegt dem Staat.’“ (RBK, 19. November 2010.)

Hier drängt sich natürlich die Frage auf, weshalb die Integration der Russischen Föderation in die westlichen Organisationen nicht offen und unverhüllt betrieben wird. Weshalb ergeht sich das Putin-Regime öffentlich in markigen hurrapatriotischen Ausfällen gegen die Nato, simuliert eine Konfrontation mit dem Westen und wirft den USA theatralisch den Fehdehandschuh hin? Und warum biedert sich der Westen bei den Tschekisten an? Will man diese Fragen beantworten, so muß man zunächst klären, um was für ein Staatswesen es sich bei der Russischen Föderation eigentlich handelt und wem dieses Staatswesen dient.

Bei uns wird die Russische Föderation nicht selten als Kolonie bezeichnet, doch über solche rhetorischen Floskeln geht die Analyse kaum je hinaus. Wessen Kolonie ist dieser Staat, und mit welchen Mitteln wird er von der Kolonialmacht an der Kandare gehalten? Welche strategischen Ziele geben die Kolonialherren ihren Satrapen in Moskau vor, welche Aufgaben stellen sie ihnen? Angesichts der Komplexität dieses Themas wollen wir uns hier auf einige zentrale Aspekte beschränken.

Zu Beginn weisen wir darauf hin, daß die Wirtschaft der Russischen Föderation selbst juristisch im wesentlichen fremder Kontrolle untersteht. Die allermeisten großen Privatunternehmen des Landes gehören ganz einfach ausländischen Firmen. Die Russische Föderation betreibt keine eigenständige Finanz- und Wirtschaftspolitik und ist hierzu auch gar nicht in der Lage.

Ewgenij Fjodorow, Vorsitzender des Komitees für Wirtschaftspolitik und Unternehmertum im Wirtschaftsministerium der Russischen Föderation, äußerte sich hierzu am 21. Januar 2010 wie folgt:

„Ja, in bezug auf die Großindustrie stimmt das, 95% davon befindet sich nicht nur in den Steueroasen, sondern untersteht schlicht und einfach ausländischer Gesetzgebung. Der Grund dafür liegt auf der Hand…“

„Die großen Besitztümer Rußlands – Industrie, Banken und alles andere – unterstehen fremder Gesetzgebung; das ist die Wahrheit…“

„Russische Familiennamen findet man schon noch, aber diese besitzen irgend etwas auf Zypern oder auf Gibraltar oder in Luxemburg; das Geschäft in Rußland liegt in ganz anderen Händen.“

Der koloniale Charakter der russischen Wirtschaft trat vor dem Hintergrund des Kampfes gegen die Krise in den Jahren 2008 und 2009 besonders kraß zutage. Es erwies sich, daß die vom Putin-Regime gewährte staatliche Hilfe für die russische Wirtschaft, deren Höhe viele Milliarden Rubel betrug, von ausländischen Firmen zur Verfügung gestellt wurde.

„Zu 90% gehört die russische Wirtschaft fremden Firmen, die vorwiegend britischer Gesetzgebung unterstehen (hier lohnt sich der Hinweis darauf, daß Zypern sowie andere Zolloasen de facto ebenfalls von den Engländern kontrolliert werden). Was tatsächlich den russischen ‚Oligarchen’ gehört, deren Fotos man so oft sieht, ist die große Frage. Meistens sind diese Maharadschas auf rosaroten Elefanten kaum mehr als banale Strohmänner; ein klassisches Beispiel hierfür ist Abramowitsch.“

Angesichts dieser nackten Fakten leuchtet es unschwer ein, daß die Kontrolle über die russische Wirtschaft in den Händen der EU liegt und daß die Engländer den größten Teil der Aktien kontrollieren. Dies geht allein schon aus der Tatsache hervor, daß die herrschende Elite der Russischen Föderation ihr Kapital in europäischen Banken aufbewahrt, ihre Immobilien mehrheitlich in Europa erwirbt (am liebsten in London), in europäischen (britischen) Steueroasen Geld scheffelt, sich nach England absetzt, wenn ihr der Boden unter den Füssen zu heiß wird, und ihre Kinder mit Vorliebe auf britische Schulen und Universitäten schickt.

Unter diesen Umständen ist es ein reines Ablenkungsmanöver, wenn politische Schaumschläger in Rußland mit den Fingern auf die USA zeigen und die Amerikaner als die ärgsten Unterdrücker, Plünderer und Ausbeuter geißeln. Obgleich die politische und wirtschaftliche Präsenz der Vereinigten Staaten in Rußland im Vergleich zur europäischen recht gering ist, richtet sich die Propaganda der Hurrapatrioten gegen Amerika. Zur Veranschaulichung führe ich nun einige weitere Aussagen des bereits erwähnten Vorsitzenden des Duma-Komitees für Wirtschaftspolitik und Unternehmertum Ewgeni Fjodorow an:

„Die russischen Oligarchen der späten neunziger Jahre waren zu Beginn jenes Jahrzehnts von den Chicago-Boys auf ihre Aufgabe vorbereitet worden. Ich erinnere Sie daran, daß unsere Geschichte, die Geschichte der Russischen Föderation, untrennbar mit jenen 10.000 amerikanischen Beratern verbunden ist, die in allen Ministerien und Ämtern Rußlands hockten, so wie sowjetische Berater früher beispielsweise in den afghanischen, polnischen und anderen Ministerien und Ämtern saßen. So entstand die Russische Föderation. Das Ministerium für Eigentum befand sich z. B. schon zu Beginn der neunziger Jahre in demselben sechsstöckigen Gebäude wie heutzutage, und der ganze sechste Stock war von amerikanischen Beratern besetzt. Diese bestimmten, wer Oligarch werden durfte und was an wen verkauft wurde…“

„Dieselben Chicago-Boys haben bereits in den neunziger Jahren jenes Wirtschaftssystem geschaffen, dessen tragende Säule die Rohstoffe waren; sie waren also die Schöpfer unserer Rohstoffpolitik…“

„Dieselben Leute, die wir etwas vereinfachend als ‚Chicago-Boys’ bezeichnen und die nicht nur regelmäßig nach Rußland, sondern auch in alle möglichen anderen Länder reisten, haben die ganze russische Wirtschaft so gestaltet, daß sie ihrem Typ her einen eng umrissenen Sektor im Rahmen einer weltweiten Arbeitsteilung darstellte. Die Aufgabe Rußlands bestand darin, seine natürlichen Ressourcen zu fördern, sie anderen Ländern zu verkaufen und mit dem hierdurch verdienten Geld alles zu kaufen, was es benötigte.“

Die Präsenz amerikanischer Berater im Rußland der neunziger Jahre ist eine unbestrittene Tatsache. Man darf ruhig davon ausgehen, daß die berüchtigten Chicago-Boys die Herrscher Rußlands nach selbstsüchtigen, für unser Land schädlichen Motiven ausgewählt haben. Doch warum verkauft Rußland seine Rohstoffe dann vorwiegend nach Europa? Warum transferieren die russischen „Oligarchen“ ihr Kapital dann nicht auf amerikanische, sondern größtenteils auf britische Banken? Sogar Anatoli Tschubais, der allgemein als Agent des amerikanischen Imperialismus gilt, hat die fünf Milliarden Dollar, die ihm Putin – vorgeblich zur Entwicklung der „Nanotechnologie“ – aus der Staatskasse zur Verfügung gestellt hat, keineswegs in den USA investiert. Die Beispiele ließen sich mehren. Die Fakten beweisen unumstößlich, daß die Kolonialmacht der Russischen Föderation ihren Sitz in Westeuropa hat und daß deren gegenwärtigen Herren in London hocken. Das in Rußland installierte postsowjetische Kolonialregime schürt unter der Bevölkerung bewußt antiamerikanische Stimmungen, damit sie keine unerwünschten Fragen über den Einfluß der Westeuropäer – insbesondere der Briten – stellt.

Die russischen Machthaber fördern die ungezügelte antiamerikanische Agitation offen; diese wird heute unter dem Deckmäntelchen des „Patriotismus“ geführt, baut aber auf der alten sowjetischen Tradition auf. In der Tat wird in unserem Land kaum je Kritik an Westeuropa laut, obwohl das gigantische Imperium der EU bis zu unseren Westgrenzen reicht und unser wichtigster (und ältester) Wirtschaftspartner ist. Es spricht Bände, daß in der Russischen Föderation unaufhörlich gegen den Dollar gewettert wird und sogar offizielle Persönlichkeiten in diesen Chor einstimmen. Die russischen Medien verbreiten systematisch Gerüchte über den unvermeidlichen Einsturz des Dollar, der angeblich dessen Ende als internationale Leitwährung zur Folge haben und auch gleich noch den Untergang des verfluchten Amerika einläuten wird. Zweifel am Euro gelten hingegen nicht als statthaft, obschon gerade das europäische Finanzsystem in einer besonders gefährlichen Krise steckt. In absehbarer Zukunft sieht sich der Dollar als weltweite Leitwährung keiner Bedrohung ausgesetzt, aber ob der Euro die Krise überleben wird, steht noch in den Sternen.

Wenn wir die Russische Föderation als Kolonie unter der Ägide der EU betrachten, begreifen wir den Charakter der westeuropäischen Politik gegenüber unserem Land. Die Auflösung des Sowjetblocks und der Zerfall der UdSSR waren das Ergebnis einer Absprache innerhalb des westlichen Klubs, als deren Folge jede Seite ihren Teil am Kuchen abbekam. Die USA entledigten sich der Bürde der globalen Konfrontation mit dem Kommunismus. Westeuropa riß sich die östliche Hälfte des europäischen Kontinents unter die Nägel. Die sowjetkommunistische Nomenklatur, die Bürokraten und Tschekisten, bekamen Straflosigkeit zugesichert, erhielten die Möglichkeit zur Privatisierung der Wirtschaft und blieben nicht nur in Rußland, sondern auch in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken weiterhin an der Macht.

Eigentlich müßte man annehmen, der von Brüssel und Washington betriebenen Politik der Einbindung Rußlands in die westlichen Organisationen stehe so gut wie nichts mehr im Wege. Dies ist aber mitnichten der Fall, denn der Beitritt der Russischen Föderation zur Nato stößt auf immer neue Hindernisse. Dieser strategische Faktor macht es für die EU und die USA zusehends schwieriger, ihren hinter den Kulissen abgeschlossenen Kuhhandel unter Dach und Fach zu bringen und Rußland in eine europäische und eine amerikanische Interessensphäre aufzuteilen. Das russische Kernwaffenarsenal stellt nämlich ein objektives Gegengewicht gegen die nukleare Macht der USA dar und ist somit gewissermaßen eine Lebensversicherung für die EU. Diese Tatsache prägt auch die Umstände, unter denen das Putin-Regime die russische Rüstungsindustrie demontiert. Die Russische Föderation schickt sich an, Panzer, Kriegsschiffe, ja sogar Handfeuerwaffen bei den Ländern der Europäischen Union zu kaufen. Doch ein Teil der russischen Rüstungsindustrie, die als Konkurrenz zu den strategischen Streitkräften der USA gedacht ist, wird intakt gelassen und – wenn auch auf sehr niedrigem Niveau – weiterentwickelt. Dies gilt namentlich für die Kernwaffen, aber auch für die Raketen, die Luftwaffe, die Kommunikationsverbindungen und andere Waffengattungen, die zur Aufrechterhaltung des strategischen Potentials der russischen Streitkräfte zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Kosmos erforderlich sind. Die Fähigkeit, den USA militärisch – und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Atomraketen – Widerstand leisten zu können, ist für die Russische Föderation eine absolute Priorität, und die Zentrale in Brüssel verbietet es der Tschekisten-Junta streng, die strategischen Streitkräfte Rußlands ohne ausdrückliche Genehmigung seitens der Westeuropäer abzubauen.

Die russischen Kernwaffen sind nicht nur ein gewaltiges militärtechnisches, sondern auch ein schwerwiegendes politisches Problem. Wie soll man die Zusammenarbeit zwischen Rußland und der Nato ersprießlich gestalten und hierbei das russische Atomraketenpotential beibehalten, das ganz offensichtlich als Gegengewicht zur Macht der USA gedacht ist? Zur Lösung dieses Problems sind komplizierte diplomatische Manöver im Gange, die sich um das Projekt eines gemeinsamen amerikanisch-russisch-amerikanischen Raketenabwehrsystems (PRO) im Rahmen der Nato drehen.

Für die Amerikaner lautet die zentrale Frage bei einer Angliederung Rußlands an die Nato, in welchem Umfang die russischen Kernwaffen Amerika bedrohen werden. Wird die EU die politische Verantwortung für das russische Nuklearpotential auf sich nehmen?

RBK, Moskau, 20. November 2010: „Die Nato ruft zu einer raschen Ratifizierung eines neuen Abkommens über die SALT2  auf. ‚Wir begrüßen den Abschluß eines neuen Vertrages über die SALT und hoffen, daß dieser möglichst rasch ratifiziert werden und in Kraft treten wird’, heißt es in der Abschlußerklärung bei der Nato-Konferenz in Lissabon.“

RBK, 23. November 2010: „… Der Botschafter [der USA in Rußland] sprach am 20. November bei einer Pressekonferenz während des Gipfels in Lissabon von einem ‚Durchbruch’ bei den Beziehungen zwischen Rußland und der Nato. ‚Man kann diese Entwicklung tatsächlich nur als Durchbruch bezeichnen. Zum ersten Mal wurde im Rahmen der neuen strategischen Konzeption der Nato nämlich klipp und klar festgehalten, daß die Nato Rußland als Partner betrachtet.’

John Beyrle erinnerte daran, daß derartige Erklärungen bereits früher erfolgt waren. ‚Doch jetzt, nach dem Gipfeltreffen, verfügen wir über eine ausreichende Grundlage, um den Wunsch nach einer Partnerschaft in die Praxis umzusetzen’, fügte er hinzu. ‚Die USA erwarten, daß schon in sechs Monaten ein neuer Plan über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen der Nato und Rußland bei der Schaffung eines neuen PRO-Systems auf dem Tisch liegt.’“

Vor dem Hintergrund des Tauziehens über eine gemeinsame Schaffung des PRO-Systems wird auch die Frage nach dem Status des russischen Kernwaffenarsenals angepackt. Die EU sowie die USA verhandeln über die Bedingungen für die Aufnahme Rußlands in den westlichen Klub. Bei der EU ist man nicht ganz sicher, daß das russische Kernwaffenarsenal im Falle eines russischen Beitritts zur Nato auch weiterhin zur Abschreckung der USA dienen wird. Deshalb haben die Europäer vorsichtshalber den Aufbau eines eigenen atomaren Potentials in Angriff genommen.

„Die beiden stärksten Militärmächte des vereinigten Europas, Frankreich und Großbritannien, haben sich für einen historischen Schritt entschieden. Am Dienstag [dem 2. November 2010] haben sie in London ein richtungsweisendes Abkommen über eine umfangreiche militärtechnologische Zusammenarbeit abgeschlossen, einschließlich der Schaffung einer Atombombe der neuen Generation. An der Downing Street sowie im Elysee-Palast plant man die Gründung eines großen Atomforschungszentrums. Jener Teil, in dem die Waffen entwickelt werden, wird in Großbritannien liegen. Die Franzosen übernehmen die Verantwortung für die Erprobung neuer Modelle von strategischen Atomwaffen. Ihr Zentrum für Nuklearmodellierung wird 45 km von Dijon – im Herzen Burgunds – erbaut und anno 2014 eröffnet werden.“

Einige politische Analytiker folgerten hieraus voreilig, Paris habe seine militärische und politische Allianz mit Berlin über Bord geworfen und sich über Nacht für eine Partnerschaft mit Großbritannien entschieden. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Deutschland beteiligt sich nicht an dem gemeinsamen englisch-französischen Projekt, weil den Deutschen der Zugang zu Atomwaffen grundsätzlich verboten ist.

„Zum ersten Mal wurden von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates, die eifersüchtig über ihre strategische Autarkie wachen, Verträge über die gemeinsame Entwicklung und Erprobung von Nuklearwaffen ausgehandelt. Die militärpolitische Achse London-Paris wird Wirklichkeit…“

„Der britische Premierminister David Cameroon sowie der französische Präsident Nicolas Sarkozy sind entschlossen, ‚ihre Anstrengungen auf dem Gebiet der Rüstungsindustrie in eine andere Richtung zu verlagern’. Zum ersten Mal ist von einer Koordination und Spezialisierung bei einem gemeinsamen Rüstungsauftrag beider Staaten die Rede. Es geht dabei um eine Zusammenarbeit auf dem Felde der Rüstungsindustrie sowie neuer Technologien für atomare Unterseeboote.“

Im Lichte dieser Fakten begreift man nun, weshalb die EU sowie die Nato um die Gunst Rußlands buhlen. Die Konkurrenz innerhalb des westlichen Klubs ist die Folge des Umstandes, daß die Nato ein Instrument zur Durchsetzung amerikanischer Interessen darstellt. Die Amerikaner wünschen keine direkte Konfrontation mit ihren europäischen Partnern und können ihren Einfluß in Rußland lediglich über die Nato stärken und legitimieren.

„Nach dem Zerfall des sowjetischen Blocks verwandelte sich die Nato hauptsächlich in einen globalen exekutiven Mechanismus zur Verwirklichung der von den führenden westlichen Mächten gemeinsam getroffenen Entscheidungen.“

Die Einbindung Rußlands in die Nato wird das Ziel verfolgen, die Durchsetzung amerikanischer Interessen in verstärktem Masse zu gewährleisten. Um ihre Vormachtstellung in Rußland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR zu sichern, ist die EU ihrerseits brennend daran interessiert, Rußland noch vor seinem Nato-Beitritt in die anderen europäischen Strukturen zu integrieren. Aus diesem Grunde sind die europäischen Politiker bemüht, Rußland in beschleunigtem Tempo an die EU zu binden und gleichzeitig seine Eingliederung in die Nato zu bremsen.

23. Oktober 2010: „Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte die Nato vor einer übereilten Annäherung an Rußland. Eine dementsprechende Erklärung gab A. Merkel bei ihrem Treffen mit dem Generalsekretär des Nordatlantischen Bündnisses, Anders Fog Rasmussen, in Berlin ab.

Nach Auffassung der Kanzlerin ist es noch zu früh, um von einer Integration Rußlands in die Nato zu reden; stattdessen solle man lieber von einer ‚strategischen Partnerschaft’ sprechen, die ihren Ausdruck in der Verwirklichung konkreter Projekte finden könne“ (Deutsche Welle).

„Der Generalsekretär der Nato stellte seinerseits fest, daß die Beziehungen zwischen der Allianz und Rußland sich im letzten Jahr erheblich verbessert haben. Er wies darauf hin, daß es viele Gebiete gibt, auf denen die Nato und Moskau erfolgreich zusammenarbeiten können, beispielsweise beim Kampf gegen Terrorismus und Drogenhandel, aber auch im Rahmen von Operationen in Afghanistan. Er rief Rußland nachdrücklich dazu auf, an der Entwicklung des PRO-Systems mitzuwirken.“

Putin reagierte unverzüglich auf die Aufforderung seiner deutschen Freunde. Während Präsident Medwedew erste Schritte zu einem Nato-Beitritt Rußlands in die Wege leitete, begab sich Premierminister Putin nach Deutschland, wo er die Werbetrommel für eine Vereinigung der EU und Rußlands rührte.

In der Süddeutschen Zeitung erschien aus der Feder Putins ein Artikel unter dem Titel „Von Lissabon bis Wladiwostok“. Thema des Artikels war Putins bevorstehende Teilnahme an dem von besagter Zeitung organisierten vierten alljährlichen Wirtschaftsforum der Chefs und Topmanager der führenden deutschen Firmen.

„Heute liegt klar auf der Hand, daß die im Jahre 2008 ausgebrochene weltweite Krise nicht nur durch das Aufblähen von ‚Blasen’ sowie durch die Fehlschläge der Regularisierung auf den Finanzmärkten bewirkt wurde. Sie trug strukturellen Charakter. Und die Wurzel des Problems liegt in den angestauten globalen Ungleichheiten. Wir erleben den Schiffbruch eines Modells, welches darauf beruht, daß ein regionales Zentrum zügellos immer neue Anleihen aufnimmt und Güter konsumiert, während ein anderes billige Waren herstellt und Schulden aufkauft.“

Ein ritueller antiamerikanischer Ausfall! Die Kolonialverwaltung der Russischen Föderation schwört der Zentrale in Brüssel unverbrüchliche Treue. Die parasitären USA plündern die ganze Welt aus, aber die EU verbreitet Freiheit und Aufklärung über den Erdball, schützt die Umwelt, hilft den Armen und leidet selbst unsäglich unter der Raffgier der Yankees. Es ist dies die Standardrhetorik und das herkömmliche Denkmodell der Tschekisten-Junta in Rußland.

Zitieren wir Putin weiter:

„Auch Europa braucht unbedingt eine Vision seiner Zukunft. Und wir schlagen vor, diese gemeinsam zu gestalten – durch die Partnerschaft zwischen Rußland und der EU. Dies wäre unsere gemeinsame Garantie für Erfolg und Konkurrenzfähigkeit in der heutigen Welt…“

„Um die Situation zu verändern, muß man jene realen Trümpfe und Möglichkeiten nutzen, über die sowohl Rußland als auch die EU verfügen. Dies wäre wirklich eine organische Synthese zweier Wirtschaften – einer klassischen, wie sie sich in der EU herauskristallisiert hat, und einer neu aufstrebenden, derjenigen Rußlands. Mit Wachstumsziffern, die sich gegenseitig gut ergänzen…“

„Was schlagen wir nun vor?

Erstens: Die Schaffung einer harmonischen Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok. Und künftig möglicherweise auch Freihandelszonen und noch weitgehendere Formen der wirtschaftlichen Integration. Faktisch werden wir einen gemeinsamen europäischen Markt mit einem Handelsvolumen von Trillionen Euros bekommen.“

Es liegt auf der Hand, daß die EU mit der Schaffung einer Zollunion mit der Russischen Föderation u. a. das Ziel verfolgt, auch Kasachstan in ihren Interessenbereich einzugliedern. In den USA wird dies freilich keine Begeisterungsstürme auslösen, da diese Kasachstan schon lange als Bestandteil ihrer eigenen Einflußsphäre betrachten. Seit 2003 verwirklichen die Amerikaner, gestützt auf Aserbeidschan, ein militärisches Projekt mit dem Namen Caspian Guard. Sie bemühen sich, auch Kasachstan zur Zusammenarbeit zu bewegen.

Aber auch ohne Kasachstan wird durch die Vereinigung Rußlands mit der EU ein gigantisches Imperium entstehen, das sowohl wirtschaftlich als auch militärisch nicht hinter den Vereinigten Staaten zurückstehen wird. Für Washington ist dies ein Zeichen an der Wand.

Lassen wir abermals Putin zu Worte kommen:

„Es liegt auf der Hand, daß als erster Schritt alle noch vorhandenen Hindernisse für den Beitritt Rußlands zur Welthandelsorganisation aus dem Wege geräumt werden müßten. Anschließend müßte eine Vereinheitlichung der Gesetzgebung bei den Zollprozeduren, aber auch der Regeln der technischen Regulierung erfolgen. Es wären Projekte zu realisieren, die auf die Beseitigung von Engpässen in der gesamteuropäischen Transportinfrastruktur abzielen würden.

Zweitens braucht es eine gemeinsame Industriepolitik, die auf komplexen Technologien und den Ressourcen Rußlands und der EU fußt. Es braucht die Realisierung gemeinsamer Programme zur Unterstützung des kleinen und mittleren Geschäfts, das in der Sphäre der realen Produktion tätig ist.“

„Ich bin der Meinung, daß auch die Frage nach der Förderung einer neuen Welle der Industrialisierung des europäischen Kontinents auf die Tagesordnung gehört, die unter anderem durch die Schaffung strategischer Allianzen auf Gebieten wie dem Schiffbau, der Autoindustrie, der Flugzeugindustrie, der kosmischen Technologie, der medizinischen und pharmazeutischen Industrie, der Atomenergie sowie der Logistik zu verwirklichen wäre…“

„Die Idee der Gründung eines einheitlichen europäischen Energiekomplexes drängt sich förmlich auf…“

„Rußland schlägt vor, in gesamteuropäische wissenschaftliche Projekte zu investieren, von der Art der Röntgenlaseranlage in Hamburg oder des Beschleunigerzentrums in Darmstadt…“

„Wir stehen auf dem Standpunkt, daß die Abschaffung der Visen nicht den Schlußpunkt, sondern den Anfang des Prozesses einer realen Integration Rußlands und der EU darstellen sollte…“

„Ich unterstreiche: Rußland ist nicht an einem schwachen oder zerstückelten Europa interessiert. Hierdurch würde nämlich auch der internationale Einfluß Rußlands indirekt verringert; unsere Möglichkeiten, uns auf Partner mit ähnlichen oder in vielen Fällen sogar identischen Interessen zu stützen, würden geringer. Die Annäherung Rußlands und der EU darf sich gegen niemanden richten und erfordert keine Schwächung der Beziehungen zu traditionellen Partnern und Verbündeten…“

„Zum Abschluß möchte ich an folgendes erinnern: 1990 faßte der deutsche Kanzler Helmut Kohl einen äußerst kühnen Beschluß: Nicht abwarten, bis die DDR bereit ist, zum Bestandteil eines vereinigten Deutschlands zu werden, sondern sich mit ihr vereinigen, und zwar sofort, damit der westliche und der östliche Teil Deutschland dann durch einen Prozeß des gegenseitigen Aneinandergewöhnens lernen, miteinander zu leben. Die Geschichte hat die Richtigkeit dieser Entscheidung bestätigt.

Heute eröffnet sich uns – unter neuen historischen Bedingungen – die Chance, ein einheitliches und blühendes Europa zu schaffen. Wenn wir uns dieses Ziel setzen, wird es sehr viel einfacher sein, Kompromisse in konkreten Fragen zu finden.“

Deutlicher kann man sich wohl kaum ausdrücken! Putin erklärte seine Bereitschaft, Rußland sofort und ohne jede Bedingungen an die EU auszuliefern (er bat lediglich, der Gruppe um ihn herum die Kontrolle über den russischen Energiekomplex zu überlassen). Im Grunde genommen ging es ihm um die Legalisierung des de facto existierenden kolonialen Abhängigkeit Rußlands von Brüssel und London. Es gilt ohne Umschweife klarzustellen, daß der Übergang zu einer offenen Lenkung der Russischen Föderation durch Brüssel die Lage der Russen in Rußland verbessern wird, weil die scheinbar souveräne Tschekisten-Junta, bei der es sich in Wahrheit um eine willenlose Kolonialverwaltung handelt, das Land in ein heilloses Chaos stürzt.

26. November 2010. Der Vorsitzende der Regierung der Russischen Föderation, W. W. Putin, der sich zu einem Arbeitsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, beteiligte sich an den Sitzungen des vierten jährlichen Wirtschaftsforums der Leiter und Topmanager der führenden deutschen Firmen.

W. W. Putin: „Wenden wir uns dem Thema der freien Handelszone zu, der Möglichkeit eines Beitritts Rußlands zu einer allgemeinen Währungszone. Ich hatte keine Gelegenheit, mich im Detail mit dem vertraut zu machen, was meine Kollegin, Frau Merkel, bezüglich des Vorschlags der Schaffung einer freien Handelszone mit der EU gesagt hat, obwohl dieser Vorschlag nicht von uns stammt, sondern schon vor langer Zeit aufs Tapet gebracht worden ist. Übrigens habe ich hierzu lediglich positive Signale gesehen… Es ist möglich, wenn man davon ausgeht, daß Rußland und Europa einer gemeinsamen Währungszone angehören werden, was ich ohne jeden Vorbehalt befürworte… Herr Kohl hat nämlich absolut aufrichtig, sehr überzeugend und unter dem Hinweis auf Fakten von der Unabdingbarkeit einer Annäherung zwischen Rußland und Europa gesprochen und seine Ausführungen mit den Worten beendet: ‚Das ist unvermeidlich.’ Wenn Rußland als gewichtiger Faktor in der Weltpolitik weiter existieren will, und wenn Europa den ihm gebührenden Platz einnehmen will, dann müssen wir zusammenspannen. Hiermit bin ich voll und ganz einverstanden. Ehrlich gesagt kam das für mich absolut unerwartet. Ich war nicht auf eine solche Interpretation der gegenwärtig ablaufenden Prozesse vorbereitet. Und wenn ich jetzt, mehr als 15 Jahre danach, die Geschehnisse auf der Welt einschätze, die weltweiten Bemühungen zur Überwindung der Krise beobachte und die Perspektiven betrachte, denke ich, daß Herr Kohl vollkommen recht hatte. Ich weiß nicht, welche Formen unsere Kooperation annehmen wird, unter welchen Umständen unsere Annäherung erfolgen wird (wird es einen gemeinsamen freien Markt geben, werden wir der EU beitreten), aber wenn wir als Zivilisation überleben wollen, wenn wir Erfolg haben und konkurrenzfähig sein wollen, ist die gegenseitige Annäherung Rußlands und Europas unerläßlich.“

Frage: „Sind Sie als Premierminister der Ansicht, daß der Euro eine Zukunft hat, ungeachtet der Probleme Griechenlands, Spaniens, Portugals und Irlands?“

W.W. Putin: „Dies ist für die Weltwirtschaft absolut unabdingbar. Wir sind alle daran interessiert. Dazu habe ich mich ja bereits geäußert. Alle anderen Kollegen, darunter auch Herr Ackermann, haben den Standpunkt vertreten, daß wir eine Welt mit mehreren Währungen brauchen. Wenn die Welt stabil und berechenbar sein soll, darf man nicht nur auf einem Bein – dem Dollar – stehen. Der Euro hat seine ersten Schritte bereits gemacht und sich behauptet. Jawohl, es gibt das eine oder andere Problem, es gibt Probleme in Irland, Griechenland, Portugal. Ich will keine anderen Länder nennen, bei denen ebenfalls Probleme auftauchen könnten – all das ist durchaus möglich. Aber die Wirtschaftspolitik der Europäischen Bank, die Wirtschaftspolitik der wirtschaftlich stärksten europäischen Länder überzeugt mich davon, daß die Stabilisierung des Euros garantiert werden wird, und wir rechnen fest hiermit.“

Offiziell nimmt sich niemand die Mühe zu erklären, weshalb die Wirtschaftskrise in der Russischen Föderation andauert, der Staatshaushalt defizitär ist, die Steuern steigen. Die Preise der hauptsächlichen Exportprodukte Rußlands sind im zweiten aufeinanderfolgenden Jahr hoch, so daß es keine objektiven Gründe für derartige wirtschaftliche Probleme gibt. Die Ursache besteht darin, daß die Tschekisten-Junta alle Ressourcen des Landes stillschweigend dazu verwendet hat, der EU zu helfen. Wie wir eben erfahren haben, ist ein Leben ohne den Euro für Putin kaum lebenswert.

Die Öffentlichkeit kennt die Hintergründe der im Jahre 2010 in Rußland durchgeführten Volkszählung nicht. Diese merkwürdige Volkszählung erfolgte nämlich auf Befehl Brüssels, damit letzteres vor der bevorstehenden Unterstellung der Russischen Föderation unter die Kontrolle der europäischen Bürokratie genau Bescheid über die Verhältnisse in diesem Land weiß.

Kein Mensch vermag zu erklären, wozu das Putin-Regime so manisch darauf versessen ist, das Land in die Welthandelsorganisation (WHO) zu führen und hierdurch offensichtliche wirtschaftliche Interessen Rußlands preiszugeben. Besonderes Kopfzerbrechen bereitet den russischen Beobachtern, daß Amerika den Eintritt Rußlands in die WHO sabotiert – oder besser gesagt sabotiert hat, denn vor kurzem hat Washington diesen Schritt abgesegnet.

„A. Dworkowitsch bemerkte, daß die Möglichkeit einer Blockierung des russischen Beitritts zur WHO durch Georgien vorderhand noch besteht, die USA und die EU jedoch bereit sind, der Russischen Föderation in dieser Frage zu helfen.“

„Der Assistent des russischen Präsidenten unterstrich ferner, daß die Frage nach den Fristen des russischen Beitritts zur WHO in vieler Hinsicht ‚technischen Charakter’ trägt. A. Dworkowitsch erinnerte daran, daß die WHO zweimal jährlich tagt, im Frühling und im Herbst. Im Zusammenhang hiermit äußerte er die Vermutung, falls es nicht gelinge, irgendwelche Fragen oder technische Einzelheiten bis zur Frühlingstagung zu klären, werde man sie auf die zweite Jahreshälfte verschieben müssen.“

„Man muß die USA drängen, die letzte Frage, welche den Beitritt Rußlands zur WHO verhindert, zügig anzupacken.“ Diese Anweisung erteilte Präsident Dmitri Medwedew dem ersten Vizepräsident Igor Schuwalow.“

„Nach den Worten Schuwalows ist der Beitritt zur WHO ‚eine sehr wichtige Aufgabe; wir haben versucht, Kompromißlösungen zu finden, welche die Interessen der Investoren, die bereits Investitionen vornehmen, ebenso berücksichtigen wie diejenigen der Unternehmen in den Ländern der EU’“. (RBK, 23. November 2010).

„Der amerikanische Botschafter in Rußland, John Beyrle, berichtete heute auf einer von RBK organisierten Internet-Konferenz vom Fortschritt der Verhandlungen über den Beitritt Rußlands zur WHO, über einen Durchbruch in den Beziehungen zwischen Rußland und der Nato sowie über den Fall Viktor Bout.

J. Beyrles Worten nach zu schließen, ist der Beitritt Rußlands zur WHO eine der grundlegenden Prioritäten der Regierung Präsident Barak Obamas. Rußland steht in Genf eine sehr beträchtliche technische Arbeit bevor, was darauf zurückzuführen ist, daß es all seine Tarife und Dienstleistungen mit denjenigen der anderen WHO-Mitgliedstaaten abstimmen muß; es handelt sich um rund 60 getrennte Vereinbarungen. ‚Dies ist eine sehr umfangreiche Arbeit. Wir sind jedoch überzeugt, daß Rußland schon im bevorstehenden Jahr 2011 endlich zum vollwertigen Mitglied der WHO werden wird’, sagte der amerikanische Botschafter. Seinen Darlegungen zufolge entspricht der Beitritt Rußlands zur WTO auch den Interessen der Vereinigten Staaten. ‚Wir können nicht verstehen, weshalb Rußland (als einziger Mitgliedstaat der ‚großen Zwanzig’ der WHO bis heute nicht angehört’, erklärte J. Beyrle.“

Die Verwunderung des amerikanischen Botschafters ist um so merkwürdiger, als gerade die USA den Beitritt Rußlands zur WHO bisher gebremst haben.

Dieses Paradox läßt sich sehr einfach erklären. Die russische Mitgliedschaft in der WHO ist für Brüssel unabdingbar, um die wirtschaftlichen Positionen der EU in Rußland zu vereinfachen und für die Zukunft zu sichern. Im Grunde genommen ist der Eintritt Rußlands in die WHO Gegenstand eines Feilschens zwischen der EU und den USA.

Die Frage hat dermaßen globale Bedeutung, daß sie die Konstellation der internationalen Beziehungen für die nächsten zehn Jahre prägen wird. Hierzu ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit.

Am 2. November 2010 erklärte Japan, es berufe seinen Botschafter aus Rußland ab. Ohne ersichtlichen Grund entschied sich Tokio für eine äußerlich gesehen sinnlose Belastung der Beziehungen zu Moskau wegen der Frage der „nördlichen Territorien“. Worin bestand der Zweck dieser skandalösen diplomatischen Demarche, von der sich Japan keine politischen Dividenden erhoffen kann? Nach kaum einer Woche kehrte der japanische Botschafter nach Moskau zurück. Der auf den ersten Blick unsinnig anmutende japanische Schritt hing damit zusammen, daß die Verhandlungen zwischen den USA und der EU über die Bedingungen der Integration der Russischen Föderation in die EU und die Nato in die letzte Runde gehen und es die Japaner nötig fanden, dem westlichen Klub ihre territorialen Ansprüche gegenüber Rußland in Erinnerung zu rufen. Wenn sich Rußland so oder so in die Nato integriert, wird die Nato nämlich de facto die russische Souveränität über die Kurilen anerkennen müssen. Japan erinnert die USA und die EU an sein unvermindertes Interesse an den „nördlichen Territorien“. Die Europäer sowie die Amerikaner können die japanische Kraftmeierei ohne weiteres ignorieren, aber wenn sie sich untereinander nicht gütlich einigen können, kann jene Seite, die sich benachteiligt fühlt, die Beziehungen der anderen zu Rußland belasten, indem sie sie auffordert, die japanischen Ansprüche auf die „nördlichen Territorien“ gebührend zu berücksichtigen.

* * *

Bisher ist die Einverleibung der Russischen Föderation durch den Westen ideologisch und politisch in verborgener Form erfolgt, unter dem Kriegsgeschrei der Putin-Leute gegen die Nato und den Westen. Doch jetzt tritt die Eingliederung Rußlands in den westlichen Klub in ein Stadium, in dem sie sich nicht mehr verbergen läßt, und für Rußland wird dies gewaltige innenpolitische Folgen haben. Das Putin-Regime wird unvermeidlicherweise unter immer stärkeren Druck geraten und schon sehr bald weggefegt werden. Wodurch und von wem? Dies ist die Gretchenfrage. Ich nehme an, daß der Ausgang dieser Geschichte noch nicht endgültig feststeht und daß es für die Russen sehr wohl einen Sinn hat, sich aktiv an diesem großen Spiel zu beteiligen – um so mehr, als es um unser Schicksal, das Schicksal Rußlands geht.

Dieses Thema ist äußerst facettenreich, so daß wir uns auf die Erörterung einiger Schlüsselpunkte beschränken wollen.

Das postsowjetische politisch-ideologische System in der Russischen Föderation wurde so gestaltet, daß das patriotische und nationale Bewußtsein des russischen Volkes nach wie vor in den alten sowjetischen Schablonen gefangen blieb. Zahlreiche Beobachter haben darauf hingewiesen, daß die sozialen und wirtschaftlichen Reformen der neunziger Jahre in ausgesprochen flegelhafter, provokativ volksfeindlicher Form durchgeführt wurden. Die Machthaber begünstigten den totalen Terror der kriminellen Unterwelt, unter dem in erster Linie die sich spontan entwickelte kleine und mittlere Bourgeoisie zu leiden hatte (die Großbourgeoisie, die berüchtigten Oligarchen, waren von nichtrussischen ethnischen Clans aus der Nomenklatura ausgewählte Strohmänner). Wozu geschah dies? Um Nostalgie nach dem sowjetischen Leben zu erzeugen, die Idee der Demokratie und des Liberalismus in Verruf zu bringen und eine massive Reaktion im Geiste der sowjetischen Ideologie zu provozieren.

„Der Kult um das Stalin-Regime ist für die heutigen Machthaber nützlich, weil er ihnen dabei hilft, jede bürgerliche Opposition gegen die oligarchische Despotie zu unterdrücken, die von den Kommunisten und Tschekisten in der Russischen Föderation errichtet worden ist.

Die Verbreitung des Opiums der Sowjetideologie sowie des stalinistischen Unfugs wird vom Regime bewußt gefördert; die Russen werden systematisch in die alterprobte sowjetische Falle gelockt.

Ein überzeugter Sowjetmensch steht den Grundsätzen der bürgerlichen Freiheit definitionsgemäß fremd gegenüber; er verhält sich jeder Führung gegenüber unterwürfig, hofft einzig auf die Heilige Partei und glaubt felsenfest an die Weisheit des Himmlischen Politbüros. Außerdem: Welche Vorwürfe können Leute, die den viehischen bolschewistischen Terror gegen die Gegner des Sowjetregimes bewundern, die jede beliebige Schurkentat der sowjetischen Macht, die Kolchosen, den Gulag und die übrigen kommunistischen Massenmorde an Russen rechtfertigen, gegen die heutigen Machthaber Bloß erheben? Schließlich sind diese ja die Erben des Sowjetregimes.

Die Horden von roten Zombies, die von der Rückkehr der stalinistischen Gewaltherrschaft nach Rußland träumen und von den Kommunisten fordern, zur Praxis der vorsorglichen Vernichtung Dutzender von Millionen Mitbürger zurückzukehren, sind für das politische Image des heutigen Regimes sehr nützlich, weil sie es im Vergleich durchaus respektabel erscheinen lassen.“

Als nationale oppositionelle Ideologie ist die Sowjetnostalgie für das postsowjetische oligarchische Regime äußerst bequem. Eine echte politische Gefahr geht für dieses Regime lediglich von der russischen demokratischen Bewegung aus, aber die prosowjetischen Genossen predigen den Despotismus in einer noch blutigeren, stalinistischen Form. Scheinbar um den patriotischen Sehnsüchten des Volkes entgegenzukommen, hat das Putin-Regime auch noch die zarten Ansätze zu einer mündigen bürgerlichen Gesellschaft sowie die Relikte der Freiheit in der Russischen Föderation zerstört, jede legale Opposition verjagt und verboten und in der Russischen Föderation sogar den Anschein einer Demokratie abgeschafft.

Schließlich ist die Sowjetideologie nützlich für die patriotische Aufputschung der Russen gegen Amerika und verhindert zugleich, daß die europäische Metropole mit unbequemen Fragen konfrontiert wird, mit dem Ergebnis, daß die Tschekisten-Junta als einzige berechenbare und zivilisierte Kraft in Rußland erscheint.

„So hat sich die herrschende kommunistische Elite in den neunziger Jahren ohne nennenswerte Verluste in eine postsowjetische Oligarchie verwandelt, deren Führung ein vitales Interesse daran hat, vor dem Westen als einzige Vertreterin von Demokratie und Liberalismus in Rußland zu erscheinen. Entsprechend mußte das russische Volk als finstere Kraft, als düsteres Mordor dargestellt werden, als chthonische orkhafte Horde, die auf einen Atomkrieg aus ist und danach giert, alle erdenklichen Scheußlichkeiten begehen und die Welt mit Blut zu überschwemmen. Dann glaubt die Außenwelt nämlich, daß die Tschekisten im Grunde genommen die einzige zivilisierte Kraft in Rußland sind, welche die menschenverachtenden russischen Instinkte wenigstens notdürftig zu zügeln vermag.

Es ist nun nicht mehr schwierig zu verstehen, weshalb das Schreckgespenst des nicht existierenden „russischen Faschismus“ in der Russischen Föderation so fleißig beschworen und gleichzeitig auf heimtückische Weise der Stalinkult gefördert wird. Die einzige Rechtfertigung des korrupten postsowjetischen Oligarchenregimes besteht in den Augen des Westens darin, daß es das grauenvolle russische Ungeheuer an der Kandare hält, das in Träumen von einer Wiedergeburt des Stalinismus schwelgt und auch gleich noch den Nazismus wiederbeleben und einen Atomkrieg vom Zaun brechen will. Von den Russen wird erwartet, daß sie vor den Fernsehkameras mit Bildern des heiligen Stalin und Porträts des heiligen Hitler auf den Kreml marschieren, wo die Tschekisten mit ihren Maschinengewehren auf sie warten. Dieser Art ist das politische und ideologische Szenarium, von dem die postsowjetische kommunistische Ideologie nicht abweichen kann, ohne Kopf und Kragen zu riskieren.

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß die Sowjetpatrioten, die das heutige „antisowjetische“ Regime von ganzem Herzen verabscheuen, im Grunde die wichtigste Stütze eben dieses Regimes und die hauptsächlichen Garanten seiner Lebensfähigkeit sind. Dabei besitzt die sowjetische Reaktion trotz ihres gewaltigen Potentials keine ernsthaften Chancen auf den Sieg, denn die prosowjetische Opposition wird von Sjuganow und seinen erprobten Judassen von der Kommunistischen Partei geführt. Am linken Flügel haben die Tschekisten alles sicher im Griff.

Auch am rechten Flügel kontrollierten die Organe alles und jedes. Als Aushänge-Liberale, Parade-Demokraten und wichtigste Vertreter der Opposition fungieren nämlich erprobte tschekistische Kader. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, den Russen Abscheu vor der Demokratie und dem Liberalismus einzuflößen.

„Eine einfache und deutliche Erklärung gibt es auch für eine Frage, die den typischen Putin-Patrioten arg zu schaffen macht. Sie begreifen einfach nicht, warum es im Kreml und um diesen herum von Söldlingen und Agenten fremder Mächte nur so wimmelt. Rechts neben dem Thron des tschekistischen Zaren sitzen liberale Höflinge, links – „Menschenrechtler“. Es zeigt sich, daß dies keine sinnlose Honorar-Verzehrer sind; sie leisten nützliche Tschekistenarbeit: Diese Vorzeige-Liberalen diskreditieren den Liberalismus in Rußland, und die „Rechtsvertreter“ –  die Menschenrechte. Ihre strategische Aufgabe besteht darin, die Idee des Liberalismus und der bürgerlichen Freiheiten als abstoßend und den nationalen Interessen des russischen Volkes entgegengesetzt erscheinen zu lassen.“

Dies ist aber noch nicht alles. Indem sie sich als Freunde der USA gebärden, haben diese tschekistischen „Liberalen“ die Aufgabe, den Westen, insbesondere die Amerikaner, von der wirklichen russischen Demokratie abzuschirmen und parallel dazu bei den Bürgern Rußlands Feindschaft gegen Amerika zu schüren (wie dies funktioniert, haben wir am Beispiel des bekannten Agitators Julia Latynina gesehen).

Über dieses Thema kann man lange nachdenken. Das Ergebnis sieht wie folgt aus: Der für die Russen gebaute Käfig ist recht stabil; er ist von echten Meistern ihres Faches hergestellt worden. Allerdings weist das System einen bedrohlichen Schwachpunkt auf – das Regime der Russischen Föderation trägt einen ausgeprägt antirussischen Charakter. Die herrschende Kolonialelite kultiviert gegenüber den Russen einen geradezu rassisch bedingten Haß. Ganz allgemein ist es für ein Kolonialregime sicher nicht notwendig, daß sich die Regierung in bezug auf ihre Nationalität vor der Bevölkerungsmehrheit abhebt, aber in Rußland ging dies nicht anders. Warum, ist eine Frage für sich.

Wichtig ist für uns folgendes: Im Zusammenhang mit der Aufnahme Rußlands in die „Goldene Milliarde“ wird die Zentrale in Brüssel gezwungen sein, das Regime zu liberalisieren und zu demokratisieren. Dieser Prozeß hat im Grunde schon begonnen; der Startschuß zu Perestroika 2 ist bereits erfolgt. Seit Frühling 2010 führen Putin und Medwedew mit voller Kraft so etwas wie einen Wahlkampf. Das Volk staunt hierüber nicht schlecht, denn bis zu den Präsidentenwahlen 2012 dauert es doch immerhin noch eine ganze Weile. Dieser Wahlkampf richtet sich freilich nicht an die russische Bevölkerung, sondern an diejenigen, die wirklich darüber bestimmen, wer in Rußland Präsident wird – die Leute von der Zentrale in Brüssel und London. Die Kandidaten müssen unter Beweis stellen, daß man sie auch künftig brauchen können wird und daß sie fähig sind, unter neuen Bedingungen erfolgreich zu agieren.

Der Beitritt der Russischen Föderation zur EU und zur Nato muß zu einer Demontage der hierarchischen Putin-Regierung führen. Hierfür gibt es zwei Hauptgründe. Rußland muß ein politisches System erhalten, mit dem der Westen kooperieren kann, ohne rot zu werden. Es leuchtet ein, daß die unglaublich korrupte, wilde tschekistische Despotie hierfür nicht taugt, und zwar allein schon darum, weil Europäer und Amerikaner die sowjetischen Kriminellen und Mafiosi (denn um solche handelt es sich bei den meisten Tschekisten und Politbüromitgliedern), welche die heutige „Elite“ der russischen Föderation bilden, nicht in ihren elitären Klub aufnehmen wollen. Sie ekeln sich vor ihnen und halten sie nicht für stubenrein. Das Wichtigste ist jedoch, daß diese Herrschaften mit diesen tschkekistischen Gaunern nicht direkt zusammenarbeiten können; sie gehören einer anderen gesellschaftlichen Welt an. Die Ablösung des gaunerhaften Tschekisten Putin durch den annehmbareren Vertreter der Intelligenz Medwedjew spiegelt die veränderten Forderungen der Zentrale an die Persönlichkeit und das kulturelle Niveau des Präsidenten der Russischen Föderation wider.

Zweitens – und auch dieser Punkt ist wichtig – gehörte zu dem Paket der stillschweigenden Vereinbarungen über die Demontage der UdSSR vermutlich auch die amerikanische Forderung nach einer Demokratisierung des Regimes. Die USA predigen Liberalismus und Demokratie nicht nur im eigenen Lande, sondern nutzen sie auch als Waffe gegen den europäischen Kolonialismus. Die Amerikaner gehen bewußt davon aus, daß sie mit  Demokraten erfolgreicher zusammenarbeiten können als mit autoritären Regimen. Wie die historische Erfahrung gezeigt hat, manipulieren die Europäer totalitäre Diktaturen geschickt und hetzten sie gegen Amerika auf.

In dieser oder jener Form wird die Angliederung der Russischen Föderation an die EU und die Nato unvermeidlich zu einer Schwächung des Tschekistenregimes führen, was die Lage der Russen alles in allem verbessern wird. Freilich muß sich darüber im klaren sein, daß die Westeuropäer nicht an einer russischen Demokratie interessiert sind. Die Zentrale in Brüssel hat die antirussische Politik der Tschekisten-Junta begünstigt, und im Rahmen der EU werden die Russen in Rußland nationaler Diskriminierung ausgesetzt und zu Bürgern zweiter Klasse degradiert werden. Mit welchen Mitteln Brüssel die  nationale Unterdrückung der Russen fördert, hat sich in Estland und Lettland gezeigt. Natürlich ist die Unterdrückung der Russen in diesen beiden Baltenstaaten immer noch weniger schlimm als in der multinationalen Russischen Föderation, aber trotzdem…

Um die antirussische Diskriminierung zu begründen und den Russen eine echte Demokratie, bürgerliche Freiheiten und einen nationalen Staat zu verweigern, werden die Tschekisten sowie die Zentrale in Brüssel wie bisher in erster Linie die Gefahr einer Wiedergeburt des Sowjetsystems beschwören, obwohl sie eine solche in Rußland selbst aktiv begünstigen (der Popanz des „russischen Faschismus“ hat dem Ausland nicht den erhofften Schrecken eingejagt, und der Versuch der Tschekisten, den russischen Nationalismus mit dem internationalen islamischen Terrorismus in Verbindung zu bringen, erwies sich als Fiasko erster Güteklasse). Die russischen Ungeheuer träumen davon, bei erster Gelegenheit das monströse Stalin-Regime wiederherzustellen, eine grauenvolle Schreckensherrschaft einzuführen und einen atomaren Weltkrieg vom Zaun zu brechen! Aus diesem Grund darf man den russischen Barbaren nie und nimmer eine Demokratie zugestehen. Mit diesem Schreckgespenst werden die postsowjetische Nomenklatur, die Tschekisten und die Westeuropäer einträchtig zu verhindern versuchen, daß in Rußland eine Demokratie entsteht, welche diesen Namen auch wirklich verdient.

Unter diesen Umständen sind die Vereinigten Staaten von Amerika der einzige Verbündete der Russen. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Amerika und Rußland im 20. Jahrhundert ist komplex und widersprüchlich (worauf ich in einer Reihe von Artikeln hingewiesen habe). Die Russen können den USA mit gutem Grund Vorwürfe für ihr Verhalten während der sowjetischen Periode, für ihre Aufpäppelung und Unterstützung des kriminellen Stalin-Regimes machen (die sich für die Amerikaner letzten Endes als Eigentor erwies). Doch alles in allem liegt die Errichtung eines russischen nationalen demokratischen Staates in Rußland sowohl in russischem als auch in amerikanischem Interesse.

„Im Prinzip könnten die Amerikaner auf die Unterstützung einer nationalen russischen Demokratie setzen, denn die russischen Nationalisten sind die einzigen, die vitales Interesse an einer Demokratie und bürgerlichen Freiheiten in Rußland haben. Irgendwelche ernsthaften Gegensätze zwischen Rußland und den USA sind in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten. Das Problem besteht jedoch darin, daß die USA ein halbes Jahrhundert lang mit den sowjetischen Eliten kooperiert haben und daß diese Zusammenarbeit einen ausgeprägt antirussischen Charakter trug, weil die sowjetischen Eliten genetisch antirussisch veranlagt waren und sind. Für sie war und ist es wichtig, sich und die Umwelt davon zu überzeugen, daß all die unfaßbaren Verbrechen in Rußland nicht durch die Schuld ihrer kommunistischen Vorgänger, sondern aufgrund eines angeborenen Hangs des russischen Volkes zur „tausendjährigen Sklaverei“ geschehen sind.“

Das Problem der russisch-amerikanischen Beziehungen besteht nicht bloß darin, daß die Amerikaner traditionell mit der antirussischen sowjetischen Elite zusammenarbeiten. Die schrillen Warnrufe der tschekistischen Agitatoren vermögen nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sich die Amerikaner praktisch nicht in die Innenpolitik Rußlands einmischen. Ihre Zurückhaltung tritt klar zutage, wenn man sich vor Augen hält, welche Mittel ihnen zur Verfügung stünden, um das schwache Regime der Russischen Föderation zu destabilisieren. Allem Anschein nach enthielt das Abkommen zwischen dem Kreml und Brüssel über die Demontage der UdSSR auch eine Klausel über die Begrenzung des amerikanischen Einflusses auf die inneren Verhältnisse in der Russischen Föderation.

Freilich wird sich schon bald vieles ändern. Der Westen wird große Mühe haben und viel Zeit brauchen, um den postsowjetischen Raum zu verdauen. Der Ablauf dieses Prozesses wird hauptsächlich von den Beziehungen zwischen der EU und den USA abhängen. Gegenwärtig werden die wichtigsten Entscheidungen in Brüssel gefällt; dazu gehören die Umstände, unter denen das Lukaschenko-Regime in Weißrußland demontiert und das Land in die EU sowie die Nato eingegliedert werden soll.

Es liegt im nationalen russischen Interessen, auf ein Bündnis mit Amerika hinzuarbeiten. Gewiß, viele in den Denkschablonen des sowjetischen Regimes verhaftete Menschen sehen in den USA immer noch den potentiellen Gegner Nummer eins. Antiamerikanische Vorurteile werden in Rußland künstlich hervorgerufen und finden in breiten Kreisen Anklang. In der Tat kann man gegen die USA berechtigte Vorwürfe erheben, aber hieb- und stichfeste pragmatische Überlegungen zeigen, daß ein strategisches Bündnis mit den Amerikanern für uns Russen lebenswichtig ist. Darum tun wir gut daran, jeder Beteiligung an einer antiamerikanischen Konfrontationspolitik zu entsagen. Eine solche brauchen wir nicht, denn sie liegt nicht in unserem Interesse.

Noch vor einem Jahr sagte man mir: „Das Volk wird das nicht verstehen.“ Doch seit dem Beginn der offenen Integration der Russischen Föderation in die Nato und die EU sind die antiamerikanischen „Patrioten“ demoralisiert. Für die russischen Nationalisten ist der Augenblick gekommen, schädliche antiamerikanischen Stereotypen zu überwinden und für eine langfristige Allianz zwischen Rußland und den USA zu werben. Die Russen sollten für eine nationale Demokratie sowie für ein Bündnis mit Amerika eintreten.

Unsere historische Chance liegt darin, daß das antirussische Regime bei seinem nächsten politisch-ideologischen Heilungsprozeß Schwächen offenbaren wird, die einer russischen Demokratie förderlich sein werden. Diese historische Chance müssen wir Russen politisch klug nutzen. Kein Weg führt an der Erkenntnis vorbei, daß wir die vorhergehende Chance, Perestroika 1 und den Zerfall der UdSSR, sträflich leichtsinnig versäumt haben. Gewiß, der Sowjetmensch war blind und taub; man darf nicht allzu streng über ihn urteilen. Doch zwanzig Jahre später wäre es für uns eine Schande, auch die nächste Chance ungenutzt verstreichen zu lassen.

Anhang

22. September 2010: Die Stimme Amerikas

„Der Generalsekretär der Nato, Anders Fog Rasmussen, erklärte, die am Mittwoch in New York durchgeführte Sitzung des Rates Rußland-Nato habe gezeigt, daß Moskau und die Nordatlantische Allianz ‚fest auf der Grundlage der Stärkung ihrer Beziehungen’ stünden: ‚Heute erweist sich die Zusammenhang mit Rußland nicht nur als Möglichkeit zur Verbesserung unserer Beziehungen, sondern als grundlegende Notwendigkeit für die Garantie unserer gemeinsamen Sicherheit“, sagte er.

An der heutigen Sitzung nahmen die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton sowie ihr russischer Amtskollege Sergej Lawrow teil. Keiner der beiden stellte sich den Journalisten nach Abschluß der Begegnung für ein Interview zur Verfügung.

Rasmussen zeigte sich zufrieden über die Ergebnisse dieses Treffens; er bemerkte, in den letzten 12 bis 14 Monaten sei ein ‚erheblicher Fortschritt in den Beziehungen zwischen beiden Seiten’ erzielt worden. Die Beziehungen zwischen der Nato und Rußland waren nach dem Krieg in Südossetien im Jahre 2008 praktisch eingefroren worden, doch seit dem Einzug Barack Obamas ins Weiße Haus haben sie sich verbessert.

‚Die Zukunft Rußlands ist mit der EU und der Nato verbunden“, meinte Rasmussen. Hierfür sprächen ‚sowohl wirtschaftliche Faktoren als auch Sicherheitserwägungen.’

Laut Rasmussen bestehen zwischen der Nato und Rußland auch weiterhin fundamentale Meinungsverschiedenheiten bezüglich Abchasiens, Südossetiens und Transnistriens. Diese Divergenzen, fuhr der Nato-Generalsekretär fort, dürften einer weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen der Nordatlantischen Allianz und Moskau jedoch nicht im Wege stehen. Das für November dieses Jahres geplante Gipfeltreffen zwischen Rußland und der Nato in Lissabon müsse ‚die Beziehungen zwischen der Allianz und Rußland auf eine neue Ebene führen’.

22. September 2010: ‚Die USA sind überzeugt, daß der Rat Rußland-Nato eine effiziente Organisation ist. Dies erklärte der permanente Vertreter der USA bei der Nato, Ivo Daalder. Die Vereinigten Staaten, fügte er hinzu, unterstützten die Bestrebungen der Nato zur Zusammenarbeit mit Rußland in der Frage der Raketenabwehr. Wie BBC vermeldete, führte I. Daalder des weiteren aus, die Russische Föderation könne Mitglied der Nato werden, wenn sie dies wünsche.

23. September 2010. BBC

„Sie [die russischen Repräsentanten] haben die richtige Einstellung an den Tag gelegt: Sie weisen auf die zu erörternden Fragen hin, und sie haben zu verstehen gegeben, daß wir den Weg zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Rußland und der Nato jetzt tatsächlich beschritten haben’, sagte Rasmussen.“

„Zur Gipfelkonferenz, die am 20. November in Lissabon stattfinden wird, ist auch der Präsident Rußlands, Dmitri Medwedew, eingeladen.“

19. Oktober ,2010: „In Dublin fanden Unterredungen zwischen Dmitri Medwedew, der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy statt. Es war dies das erste Treffen der Führer Rußlands, Frankreichs und Deutschlands im Format einer ‚Großen Drei’ nach einer fünfjährigen Periode des Durchbruchs.“

„Zur Sprache kam das Thema der Beziehungen zwischen Rußland und der EU, darunter auch die russisch-deutsche Initiative zur Bildung eines Komitees Rußland-EU zu Fragen der Äußeren Sicherheitspolitik auf Ministerebene sowie der Vorschlag Nikolas Sarkozys zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschafts- und Sicherheitszone zwischen Rußland und der EU.“

„Die Führer der drei Länder brachten das Problem der Zusammenarbeit Rußlands mit der Nato aufs Tapet. Dmitri Medwedew teilte mit, er werde sich an der Sitzung des Rates Rußland-Nato beteiligen, welche im November im Rahmen des Nato-Gipfeltreffens in Lissabon anberaumt ist.“

19. Oktober 2010: Französisch-deutsch-russische Erklärung beim Gipfeltreffen in Dublin:

„… [die Unterzeichnenden] bekräftigen ihr Bekenntnis zur Entwicklung einer strategischen Partnerschaft zwischen Rußland und der EU. Sie haben den gegenwärtig stattfindenden Verhandlungen über die Vorbereitung eines neuen Abkommens zwischen der EU und Rußland, der Initiative ‚Partnerschaft zur Modernisierung’ sowie der Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik ihre Unterstützung bekundet.“

„Präsident Sarkozy, Präsident Medwedew sowie Kanzlerin Merkel bekräftigen ihr Bekenntnis zur Zusammenarbeit bei der Gewährleistung der Sicherheit im euro-atlantischen sowie im eurasischen Raum. Sie haben unterstrichen, daß das bevorstehende Treffen von 56 führenden Politikern beim Gipfeltreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Astana eine wichtige Möglichkeit zur Förderung dieses Ziels bietet. Sie haben zur Stärkung der institutionellen und praktischen Zusammenarbeit zwischen Rußland und der EU, aber auch im Rat Rußland-Nato aufgerufen, um Bedrohungen unserer gemeinsamen Sicherheit entgegenzuwirken.“

19. Oktober 2010: Dublin. Pressekonferenz zur Bilanz der russisch-französisch-deutschen Unterredungen

D. Medwedew: „… Wir sprachen über die Zusammenarbeit zwischen Rußland und der Nato. Das Gespräch war wichtig, inhaltsreich und nützlich, und ich möchte hiermit erklären, daß ich zum Gipfeltreffen Rußland-Nato zu reisen gedenke, das am 20. November in Lissabon stattfinden wird. Meiner Meinung nach wird dies zur Bewerkstelligung der notwendigen Kompromisse sowie ganz allgemein zur Entwicklung des Dialogs zwischen der Russischen Föderation und der Nordatlantischen Allianz beitragen. Wir haben über die ‚Partnerschaft für die Modernisierung’ gesprochen, des weiteren über den visumfreien Reiseverkehr und über alle Fragen der Zusammenarbeit zwischen Rußland und der EU, darüber, daß Frankreich und Deutschland unsere wichtigsten Partner in der EU sind und es für uns von großer Bedeutung ist, unsere Bemühungen mit diesen Staaten zu koordinieren.“

20. Oktober 2010: Stenographischer Bericht über das Treffen des Präsidenten der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, mit Teilnehmern an der Münchner Konferenz zu Fragen der politischen Sicherheit.

Z. Brzezinski (zu D. Medwedew): ‚Es freut mich sehr, daß ich die Möglichkeit habe, mit Ihnen zu sprechen, hierfür bekunde ich Herrn Ischinger meinen Dank. Ich möchte vor allem sagen, daß Sie, wie Sie bestimmt wissen, in Amerika von allen bewundert werden, insbesondere darum, weil Sie so offen und überzeugend hervorheben, daß Ihr grundlegendes Ziel, die Modernisierung Rußlands, untrennbar mit der Demokratisierung der Russischen Föderation verbunden ist. Diese beiden Prozesse gehen Hand in Hand, und deshalb erwärmt diese Entwicklung uns in Amerika tatsächlich die Herzen.“

22. 10. 2010: Komsomolskaya Prawda: „Dmitri Medwedew rief Rußland und den Westen dazu auf, ihre stereotypen Vorstellungen über Bord zu werfen, sowohl jene von die Aggressivität der Nato als auch jene von der Unmöglichkeit der Demokratie in Rußland.“

„Die Vorbereitungen auf das Gipfeltreffen Rußland-Nato, das in weniger als einem Monat in Lissabon stattfinden wird, laufen auf Hochtouren. Im Stabsquartier der Nordatlantischen Allianz wird darauf hingewiesen, daß die Frage nach der Zusammenarbeit in Afghanistan bei den Diskussionen eine Schlüsselstellung einnehmen wird. Führende britische Zeitungen ergingen sich gestern in lebhaften Kommentaren zu der Möglichkeit, daß russische Soldaten 21 Jahre nach ihrer Vertreibung durch die Mujaheddin wieder nach Afghanistan zurückkehren werden.

Im Nato-Stabsquartier erklärte die Quelle „NG“, es seien tatsächlich  Verhandlungen über die Aktivisierung der Rolle Rußlands in Afghanistan im Gange. ‚Niemand erwartet allerdings, daß russische Soldaten wieder nach Afghanistan zurückkehren werden. Daran ist Rußland nicht interessiert“, sagte ein Diplomat im Stabsquartier der Allianz. Seinen Worten zufolge rechnet die Nato mit dem Einverständnis Rußlands zu einer Erweiterung der Liste von Gütern, welche die Streitkräfte der Koalition via russisches Territorium erhalten. Die Nato möchte auf diesem Wege auch Munition und Waffen nach Afghanistan liefern und außerdem die Möglichkeit bekommen, militärische Ausrüstung aus Afghanistan auf das Territorium Rußlands zu verlegen.“

„Ein vermutlich nicht minder wichtiger Aspekt ist die Frage der Hubschrauberlieferungen. Den Worten eines Brüsseler Diplomaten zufolge erwartet die Nato, daß Moskau ‚den Afghanen drei oder vier Hubschrauber schenken wird’. Weitere 16 bis 17 Helikopter will die Allianz bei Rußland käuflich erwerben. Wie die Quelle zu verstehen gab, erwarten alle, daß die Amerikaner diesen Handel finanzieren werden.

Der ständige Vertreter Rußlands bei der Nato, Dmitri Rogosin, erklärte seinerseits gegenüber „NG“, daß bereits Abmachungen über den Kauf von Hubschraubern vorlägen und daß deren Bekanntmachung in Lissabon erfolgen werde. ‚Wir gehen davon aus, daß es sich um bilaterale Abmachungen zwischen Rußland und den USA und nicht zwischen Rußland und der Nato handelt’, sagte er. Die Frage nach der konkreten Anzahl der Hubschrauber, welche die Nato für Afghanistan kaufen wird, wollte Rogosin nicht beantworten, weil dies ein Dienstgeheimnis sei. Er erwähnte auch die Möglichkeit, daß Rußland afghanische Spezialisten in der technischen Bedienung der Hubschrauber sowjetischer bzw. russischer Produktion ausbilden wird.“

„An der Haltung Rußlands hat sich nichts Wesentliches geändert“, resümierte der permanente Vertreter Rußlands bei der Nato. „Rußland gedenkt seine Soldaten nicht wieder nach Afghanistan zu schicken; davon kann keine Rede sein.“

29. 10. 2010. RBK: „Zum ersten Mal in der Geschichte fand eine gemeinsame russisch-amerikanische Operation zur Vernichtung von vier Rauschgiftlaboratorien in Afghanistan statt“, gab der Chef des FSKN3 der Russischen Föderation, Viktor Iwanow, auf der Pressekonferenz vom Freitag bekannt. Bei der Zerstörung der Objekte seien der FSKN, das Innenministerium Afghanistans sowie amerikanische Sondereinheiten, aber auch neun Hubschrauber der Koalitionsstreitkräfte beteiligt gewesen.

„Montag, den 1. November [2010], fanden in Moskau Unterredungen zwischen N. Makarow [dem Chef des Generalstabs der Bewaffneten Streitkräfte der Russischen Föderation und Ersten Stellvertretenden Verteidigungsminister Armeegeneral] mit dem Oberkommandanten des Vereinigten Bewaffneten Streitkräfte der Nato in Europa, Admiral James Stavridis, statt. Dem Vernehmen nach verlief das Gespräch alles in allem in freundschaftlicher Atmosphäre.

Wie N. Makarow berichtete, war ein erheblicher Teil der Unterredungen Fragen gewidmet, die im Zusammenhang mit der Aufstellung des Raketenabwehrsystems PRO in Europa stehen. Außerdem kamen Fragen des Kampfes gegen Terrorismus und Piraterie sowie die Lage in Afghanistan aufs Tapet.“

‚In bezug auf viele Probleme ist unsere Position identisch, auch wenn es weiterhin Meinungsverschiedenheiten gibt’, sagte der russische Offizier. Er wies darauf hin, daß sich die Beziehungen Rußlands zur Nordatlantischen Allianz positiv entwickeln.

J. Stavridis hob seinerseits die ‚außerordentliche Wichtigkeit der strategischen Partnerschaft zwischen den Nato-Ländern und Rußland’ hervor und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, diese werde sich weiter entwickeln. Als gutes Beispiel für eine solche Zusammenarbeit bezeichnete er den Kampf gegen das Piratenunwesen in Afrika.“

3.11.2010. RBK, Moskau: „Der Generalsekretär der Nato machte bei einem Treffen mit Journalisten kein Hehl aus seiner Überzeugung, daß es an der Zeit sei, den Beziehungen zwischen Rußland und der Nordatlantischen Allianz neue Impulse zu verleihen. Dieser Schritt wird seiner Ansicht nach beim Gipfeltreffen in Lissabon erfolgen. (Wir erinnern daran, daß das Gipfeltreffen zwischen Rußland und der Nato am 19. und 20. November 2010 in Lissabon stattfinden wird. Der Präsident der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, erklärte, er werde persönlich an diesem Treffen teilnehmen.

„Wir halten Rußland nicht für einen Feind; wir betrachten es als einen Partner von strategischer Bedeutung“, sagte A. F. Rasmussen. Er hofft, daß die in Lissabon gefaßten Entschlüsse die Möglichkeit bieten werden, ‚die Gespenster der Vergangenheit ein für alle Male zu bannen und einen Schritt in die Zukunft zu tun’. Rasmussen schlägt vor, zu der Praxis der Durchführung gemeinsamer Manöver zwischen Rußland und der Nato zurückzukehren, um das Raketenabwehrsystem PRO auf einem simulierten Kriegsschauplatz zu testen. Solche Manöver hatten bis Anfang 2008 stattgefunden. ‚Der nächste Schritt könnte ihre Erweiterung auf das Niveau einer territorialen Verteidigung sein’, sagte der Nato-Generalsekretär.“

„Früher wurde berichtet, der Nato-Generalsekretär führe in Moskau Verhandlungen über die Intensivierung der Zusammenarbeit in Afghanistan sowie über die Aufstellung des PRO-Systems in Europa.“

20. November 2010. Russischer Dienst der BBC

„Das Treffen in der Hauptstadt Portugals, an dem auch der russische Präsident Dmitri Medwedew teilnahm, war durch eine Reihe von Abkommen zwischen den Gegnern der Ära des Kalten Krieges gekennzeichnet.“

„In einer gemeinsamen Erklärung hielten beide Seiten fest, die Nato und Rußland bedrohten einander nicht, sondern stünden im Gegenteil gemeinsamen Bedrohungen gegenüber.“

„… die Mitgliedstaaten der Allianz erklärten, sie würden ein gemeinsames Raketenabwehrsystem entwickelt und auch Rußland zur Beteiligung an diesem Projekt einladen. ‚Es erfüllt mich mit Genugtuung, daß Präsident Medwedew diesen Vorschlag angenommen hat’, sagte Rasmussen.

‚Wir haben weitreichende Pläne; wir denken auch darüber nach, wie wir in der Frage des europäischen PRO-Systems vorgehen werden’, fügte der russische Präsident hinzu.“

„Wir haben uns darauf geeinigt, auf dem Gebiet der Raketenabwehr zusammenzuarbeiten. Wir haben einen ehemaligen Spannungsherd in eine Quelle der Zusammenarbeit umgewandelt“, sagte Obama.

„Am Freitag wurde ein neues strategisches Konzept der Nato für die nächsten zehn Jahre angenommen, in dem es heißt, die Nato stelle für Rußland ‚keine Bedrohung’ dar. Dieses Dokument wurde am Freitag von den Führern von 28 Mitgliedstaaten der Nato gebilligt.“

„Die Nato stellt keine Bedrohung für Rußland dar. Ganz im Gegenteil wünschen wir eine vollwertige strategische Partnerschaft zwischen der Nato und Rußland, und wir werden entsprechend handeln, wobei wir von Rußland eine entsprechende Einstellung erwarten“, heißt es in dem Dokument.

Die Formulierung, wonach die Nato kein Bedrohung für Rußland darstellt, erschien zum ersten Mal im Konzept der Allianz.“

„Bei dem in Lissabon durchgeführten Gipfeltreffen zwischen Rußland und der Nato einigten sich beide Seiten darauf, sich jedwelcher Gewaltanwendung gegeneinander und gegen andere Staaten zu enthalten, heißt es in der am Ende der Konferenz verabschiedete Schlußresolution.

„Beide Seiten haben sich darauf geeinigt, auf die Verwirklichung einer strategischen und auf Modernisierung abzielenden Partnerschaft hinzuarbeiten, die auf den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens, der Transparenz und der Berechenbarkeit fußt, mit dem Ziel, eine gemeinsamen Zone des Friedens, der Sicherheit und der Stabilität im eurasischen Raume zu schaffen.“

Sitzung des Rates Rußland-Nato, Erklärung des Pressedienstes des Präsidenten der Russischen Föderation, 20. November 2010:

„Dmitri Medwedew nahm mit anderen Staatsoberhäuptern und Regierungschefs an der Sitzung des Rates Rußland-Nato zum Thema ‚Die nächsten Schritte bei der Zusammenarbeit zwischen Rußland und der Nato’ teil. Das Oberhaupt des russischen Staates legte seine Vorstellungen von der Gestaltung der künftigen Beziehungen zwischen Rußland und der Nordatlantischen Allianz dar.“

„Zum Abschluß der Sitzung des Rates Rußland-Nato wurde eine gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschef der Mitgliedstaaten des Rates verabschiedet. In dem Dokument heißt es insbesondere, die Sicherheit aller Staaten der euro-atlantischen Gemeinschaft sei unteilbar; die Sicherheit der Nato sei mit derjenigen Rußlands verknüpft und umgekehrt.“

„Der Rat Rußland-Nato hat die Anweisung erhalten, eine umfassende gemeinsame Analyse der künftigen Rahmenbedingungen für eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Raketenabwehr zu erstellen.“

Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Sitzung des Rates Rußland-Nato

D. Medwedew: „Wissen Sie, meine Kollegen haben heute nicht mit klangvollen Formulierungen gegeizt. Das ist wahrscheinlich nicht schlecht. Ich habe selber den Begriff ‚historisch’ verwendet, weil ich mir vor Augen hielt, daß wir einen weiten Weg zurückgelegt haben. Wir haben uns von gewissen Illusionen verabschiedet, die wir in den neunziger Jahren noch gehegt haben mögen, und sind zu Beginn des neuen Jahrzehnts zu einer konstruktiven Zusammenarbeit übergegangen.“

„Wir vertreten die Auffassung, daß wir uns bei der Entwicklung der Beziehungen zur Nordatlantischen Allianz vorwärts bewegt haben, ungeachtet der Meinungsverschiedenheiten und Schwierigkeiten, die uns noch bevorstehen.“

„Bezüglich des gegenwärtigen Zustandes der Beziehungen läßt sich sagen, daß sie wirklich nicht schlecht sind: Wir haben uns vorwärts bewegt, wir sprechen von Partnerschaft. Den heutigen Ausführungen meiner Kollegen ließ sich entnehmen, daß sie den einen oder anderen Punkt unterschiedlich beurteilen, doch waren sie sich allgemein darin einig, daß es die partnerschaftlichen Beziehungen zu entwickeln gilt, daß es die Allianz zu entwickeln gilt, wobei sogar der Ausdruck ‚Bündnis’ nicht fehl am Platze ist. Diese emotionalen Dinge sind bisher natürlich noch in keinen Dokumenten fixiert, doch spiegeln sie den Lauf der Diskussion wider, ganz ungeachtet aller durchaus vorhandenen Schwierigkeiten und Widersprüche.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe beispielsweise ich keine Situation, in der sich Rußland mit der Nordatlantischen Allianz vereinigen könnte. Doch alles ändert sich, auch die Nordatlantische Allianz. Und wenn diese sich so sehr ändert, daß sich die Frage nach einer engeren Zusammenarbeit zwischen uns und ihr stellen wird, bin ich der Meinung, daß es da keine Tabuthemen geben darf. Wenn seitens unserer Partner in der Allianz der gute Wille dazu vorhanden ist, können wir über alles und jedes sprechen.“

November 2010


[1] Die Herrschaft des Geheimdienstes FSB (ehem. KGB).

[2] Das Abkommen zur Begrenzung der strategischen Offensivwaffen.

[3] Der Föderale Dienst für die Kontrolle des Drogenhandels.


Der 7. Russische Marsch in Moskau am 4. November 2011

Der 7. Russische Marsch in Moskau am 4. November 2011


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