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Die Stadt


Ernst von Salomon

1932

ROWOHLT BERLIN

Die innerste Hauptstadt jedes Reichs liegt nicht
hinter Erdwallen und läßt sich nicht erstürmen.

FRIEDRICH FREIHERR VON HARDENBERG-NOVALIS

DIE Westküste Schleswig-Holsteins von Niebüll bis Glückstadt birgt hinter ihren Deichen grünes, gemächlich hingebreitetes Land. Kaum eine Erhebung stört, bis zum sanften Hügelrücken der Geest, die Linie des weit gerundeten Horizonts. Schmale Klinkerstraßen ziehen sich gleich rötlichen Bändern durch die Ebene und verbinden die Höfe, die baumumstanden im Lande verstreut liegen. Nur selten fügen sich die Höfe zu festgeschlossener Siedlung zusammen, und es ist schwer für das Auge, Gemarkung von Gemarkung zu trennen. Die Höfe sind es, die das Land beherrschen, die kleinen sauberen Städtchen und Märkte bleiben kaum mehr als helle Flecken im grüngrauen Bild. Die niedrigen Ziegelhäuser der Höfe mit dem gewaltigen Strohdach, den kleinen Fenstern und dem Tor, das fast die ganze Front ausfüllt, stehen inmitten der schmalen Rechtecke des durch die Marschgräben abgeteilten Weidelandes, auf dem aus schwarzer Erde fett und vom Vieh gleichmäßig geschoren das Gras wuchert. Zumeist ist Stall und Wohnung unter dem einen riesigen Dach vereinigt, und der warme Geruch der angeketteten Tiere durchdringt beizend das ganze Haus. Das Vieh ist der Reichtum des Landes, und die Bauern der Geest sagen wohl mißgünstig, die ganze Arbeit der Marschbauern sei, gelegentlich einmal ihren Ochsen in den Schwanz zu kneifen, ob sie schon genügend fett seien. Es gab aber immer wahrlich genug zu schaffen auf dem Hofe, und wenn die Geest in glühender Sonne das reife Korn barg, dann stand die Marsch bis zum Leib im träge sickernden Wasser und Schlamm der Gräben, sie immer wieder erneut auszuschachten, und wenn die Geest durch Gewitter und Hagelschlag verlor, dann verlor die Marsch durch Seuche und pest. In der Geest war einer mit fünfzig Hektar und fünf Stück Vieh noch kein großer Bauer, während in der Marsch einer mit fünfzehn Hektar seine dreißig Stück Vieh haben konnte, und auch noch kein großer Bauer war. Aber freie Bauern waren sie alle, und St. Annen-Klosterfelde, der Hof, auf dem Claus Heim Besitzer war, blieb vier Jahrhunderte bei seiner Familie, einer Familie freier Bauern, die es zu allen Zeiten wagen konnten, sich jedem Edelmanne gleichzustellen. Vierhundert Jahre stehen auch die Eichen, die heute noch den Hof umsäumen, und solcher Höfe und solcher Familien gab es viele im Lande. Der älteste Sohn erbte den Hof, und die anderen gingen als Knechte, oder wie sich die Gelegenheit ergab, zur See, oder in die Stadt, oder sie studierten auf Rechtsanwalt oder Pfarrer, wenn es der Hof abwarf. Denn der Besitz regelte alles, und der Besitz war mehr als Geld und Gut, er war Erbe und Stamm und Familie und Überlieferung und Ehre, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und wenn einer den Hof verlor, dann verlor er mehr als den Besitz, und er verlor, weil er schlecht zu wirtschaften verstand. Schlecht wirtschaften, das hieß, schlecht an den Hof denken, und den Hof zu verlieren galt mehr noch als Makel, denn als Unglück. Was der Hof erforderte, das mußte ihm geschehen, selbst dann, wenn es mit altgewohnten Mitteln zu brechen galt. So mußte der Bauer und Züchter auch zum Händler werden, als die Zeiten danach waren; und wenn die Geest auf die Kurse lauerte und das Getreide stapelte oder losschlug, dann lauerte die Marsch nicht minder, das Vieh, das sommersüber fett gefüttert war, im Herbst im richtigen Moment auf den Markt zu treiben. Aber als die Zeiten schlimm wurden, da spürte es die Marsch doch eher, denn das Vieh mußte ja weg um jeden Preis, wenn es voll schlachtreif war. Während des großen Krieges ging es noch an. Die Alten und die Frauen konnten den Hof zur Not bewirtschaften; auch die Inflation ging vorüber und hatte den Bauern sogar manches Gute gebracht: alte Schulden verschwanden und neue Maschinen kamen, und der eine oder der andere konnte sich sogar ein Auto kaufen, das für den schnellen Handel immer nützlich war. So fanden es die Bauern durchaus recht, als nachher ihnen ein großer Teil der Last der Stabilisierung aufgebürdet wurde. Sie wußten zu leben und leben zu lassen, und wenn sie auch das Ihrige scharf beieinander hielten, so scheuten sie sich doch nicht, bei Gelegenheit auch etwas drauf und dran zu geben; und ihre Steuern haben sie immer pünktlich gezahlt. Aber das mit den Steuern wurde immer kurioser. Was da aus der Stadt kam, roch selten gut, es gab da immer zu rechnen und zu schreiben, und jeder amtliche Brief brachte Scherereien. Jetzt aber kamen immer mehr von diesen amtlichen Schreiben, und die Gemeindevorsteher hatten tüchtig zu raten und zu antworten. Wenn die Jungbauern zu Hause waren – viele von ihnen waren ja in der Stadt auf den landwirtschaftlichen Schulen und auf diesen neumodischen Bauernhochschulen, wo sie manches lernten, was ihnen auf dem Hof nicht gezeigt werden konnte – dann wußten sie viel zu erzählen, auch von Blut und Scholle und von Mythos und Urkraft, und die Bauern hörten zu und freuten sich über die freundlichen Dinge, die sie jetzt in der Stadt über die Bauern sagen. Aber dann konnte es doch vorkommen, daß der Hofbesitzer aus seiner Ecke heraus fragte, was das denn nun sei mit der Grundvermögenssteuer, und alsbald räumte die Hausfrau das zerbrechliche Geschirr beiseite. Denn da kam eins zum andern, Vermögenssteuer und Grundsteuer und Grundvermögenssteuer und Einkommensteuer und Umsatzsteuer, und das war doch zum Teufel noch mal alles zusammen ein und dasselbe, das alles, Grund und Vermögen und Einkommen und Umsatz, das war doch der Hof! So sollte der Bauer also alles doppelt und dreifach bezahlen, und dazu die Gemeindesteuern und die Deichabgaben und die Soziallasten, die sich immer wieder erhöhen, und im Handumdrehen ist dir auf so einem Fetzen Papier deine ganze Arbeit wegsubtrahiert, daß dir Hören und Sehen vergeht! Und da waren noch die Bankzinsen und die Wege- und Meliorationsabgaben, von den Beiträgen für die mancherlei Genossenschaften und den Landbund und die anderen land-wirtschaftlichen Verbände gar nicht zu reden. Doch von ihnen zu reden: Denn wenn man einmal zu den Herren kam, und letzthin mußte man oft zu ihnen kommen, dann gab es ein großes Bedauern und Kopfschütteln und einen Berg von Versprechungen und einen Misthaufen von Ratschlägen, und schließlich eine Versammlung mit Not der Zeit und Punkt der Tagesordnung und einstimmiger Resolution. Und dabei blieb es. Also hieß es auf das Finanzamt wandern. Und die Bauern nahmen oft den Weg zwischen die Beine, wenn auch immer der ganze Tag verloren war und für nichts und wieder nichts. Denn die Leute auf dem Finanzamt waren nicht mehr wie früher, wo man noch ein vernünftiges Wort miteinander reden konnte, und auch die Landräte waren nicht mehr da, die sonst wie kleine und gute Könige in ihrem Kreis regiert hatten und die Sprache der Bauern verstanden und sich nach dem Vieh erkundigten und nach der Frau. Jetzt liefen die Landräte nicht mehr mit dem grünen Hütchen herum, und dem dicken Stock und den hohen Stiefeln, das waren ernste Herren, mit Kneifer und Aktentasche, die da jetzt hinter ihren Schreibtischen saßen, keine Landsässigen mehr, sondern aus dem Rheinland oder aus der Provinz Sachsen oder aus sonst welchen unwirtlichen Gegenden. Je nun, sagten sich die Bauern, Arbeit ist Arbeit, ich habe die meinige, und er hat die seinige, aber früher haben wir doch zusammen arbeiten können, und jetzt nicht mehr. Und früher haben wir nicht um Hilfe bitten brauchen, und jetzt müssen wir es. Und früher wurde gemacht, was nötig war, und jetzt, wenn wir wirklich mal was durchdrücken, dann sieht es so aus, als sei es eine Gnade. Wir wollen aber keine Gnade, wir wollen unser Recht. Und sie gingen zur Landwirtschaftskammer. Denn da war noch etwas anderes. Wenn es die Steuern allein gewesen wären! Aber es ging nicht mehr so recht mit dem Viehhandel. „Rationalisieren“ sagten die Herren von der Landwirtschaftskammer zu den Bauerndeputationen. Rationalisieren, das war das große Wort. Doch was sollte man rationalisieren, fragten die Bauern, wo doch schon alles bis ins kleinste auskalkuliert war? „Umstellen“, sagten die Herren von der Landwirtschaftskammer. Umstellen, das war das große Wort. Mit den Ochsen ging es nicht mehr, wegen dänischem Handelsvertrag. Umstellen, Krupp hat auch umgestellt, von Kanonen auf Matratzen; stellt euch von Ochsen auf Schweine um. Viele Bauern stellten sich um. Aber das war eine langsame Sache. Maschinen arbeiten schnell, doch das Vieh will Zeit zum Wachsen und Fettwerden, und ein Hof ist keine Fabrik. Und als es an der Zeit war, und der Hof umgestellt, und die Schweine nach viel Mühe und Mißerfolg schlachtreif, da mußten sie mit Verlust abgegeben werden, wegen serbischem Handelsvertrag. Mit Verlust gearbeitet, aber der Umsatz war da, und die Steuer wollte ihr Geld. Das geht nicht, sagten die Bauern, wir zahlen aus der Substanz. Der Steuer war das egal. Wir zahlen nicht aus der Substanz, sagten die Bauern und setzten ihre dicken Köpfe auf, und das Wort Substanz gewann große Bedeutung. Da kamen die Gerichtsvollzieher. Und die Bauern gingen auf das Finanzamt. Zuerst waren es zwei, drei, die immer wieder auf das Finanzamt gingen. Ihr habt schlecht gewirtschaftet, sagten die anderen. Zuerst waren es zwei, drei, die von ihren Höfen mußten. Ihr habt schlecht gewirtschaftet, sagten die anderen. Aber dann wurden es mehr. Dann mußten welche vom Hof, die weit und breit bekannt waren als gute Wirte, als Männer, die ihren Kram verstanden. Dann füllten sich die Gänge des Finanzamtes, und es mußte angebaut werden. Und die Gerichtsvollzieher hatten zu tun. Zuerst wurden die Ochsen gepfändet. Das war nicht gut für den Kredit. Dann wurden mehr Ochsen gepfändet, da hörte der Kredit ganz auf. Dann wurde der Hof versteigert, und niemand sagte mehr, ihr habt schlecht gewirtschaftet. Was tun, fragten die Bauern, einer beim anderen. Was tun, fragten sie alle zusammen und kamen zu Claus Heim, der immer der erste unter den gleichen war. Claus Heim sagte: Helft euch selber. Helft euch selber, sagte auch Hamkens, und Heim und Hamkens kamen zusammen. Claus Heim, damals etwa fünfzig Jahre alt, war ein großer Kerl, stark wie einer seiner Ochsen, mit graublonden Borsten auf dem roten, Vierkanten Kopf. Wer seine Hände sah, traute sich kaum, ihm viel zu widersprechen, und man wußte, er war weit herumgekommen und hatte sich in vielen Teilen der Welt mit allem möglichen Gesindel herumgeschlagen. Hamkens aber war klein und beinahe schmal, ein ruhiger Mann in den Dreißigern, blaß und bescheiden, der als Offiziersbursche in den großen Krieg zog und als Regimentsadjutant zurückkehrte, und wie Heim die zehn Jahre nach dem Kriege ruhig und ohne alle politische Leidenschaft auf seinem Hofe saß. Helft euch selber, sagten sie, und das war das große Wort. Denn die anderen wollten nicht helfen. Wir können nicht helfen, sagten die anderen, die Herren auf den Ämtern, die Herren vom grünen Tisch, wir wollen schon, aber wir können nicht. Warum? fragten die Bauern und gingen von einem zum anderen. Sie gingen von einem Amt zum anderen, von einem Verband zum anderen, von einer Partei zur anderen. Wir haben den Krieg verloren, sagten sie auf den Ämtern und bei den Regierungsparteien. Und? fragten die Bauern. Wir zahlen Reparationen, sagten die anderen. Das ließ sich hören, wer verliert, muß die Folgen tragen. Wie sollen wir zahlen, ohne durch die Steuern das Geld hereinzukriegen, wie sollen wir aufbauen, ohne daß Opfer gebracht werden? fragten die Herren, und die Bauern sagten, das wüßten sie nicht, und sie wollten ja auch gerne Opfer bringen, wie sie schon oft bewiesen hätten, aber eines wüßten sie: daß sie die Steuer aus der Substanz zahlen müßten – und wer schlachtet denn seine beste Milchkuh? Das ist ungerecht, sagten die Bauern, daß wir doppelt und dreifach zahlen sollen, und das geht nicht an. Und was ist es mit den Handelsverträgen? Die Herren zuckten mit den Achseln und verwiesen an andere Herren, und die zuckten auch und verwiesen, und schließlich gingen die Bauern wütend weg. Blieben noch die anderen Parteien, die radikalen, die in der Opposition. Aber da war viel Geschrei und wenig Wolle, und die Bauern waren nicht dafür. Helft euch selber, sagten Hamkens und Heim und nahmen die Sache in die Hand. Sie beriefen die Bauern nach Rendsburg ein. Und es kamen fünfzigtausend auf einen Schlag. Denn der Kuckuck war nun schon in viele Häuser gebogen, und allenthalben erzählte man sich, der und jener muß nun auch vom Hof, und es waren geachtete Namen dabei, Männer aus Norder- und aus Süderdithmarschen, aus der Gegend von Itzehoe und von Rendsburg, von Wilster und Heide, selbst von Preetz und Flensburg kam böse Nachricht und längst war es nicht mehr die Westküste allein, wo die Bauern die Not spürten und aufstanden, ihr abzuhelfen. Fünfzigtausend Bauern auf einen Tag und Schlag! Was denn, sagten die Arbeiter von Kiel, wir stellen euch fünfzigtausend von uns jeden Tag auf die Beine, wenn ihr wollt. Aber das waren Bauern, die da zusammenkamen, und Schleswig-Holsteiner obendrein. Und der Bauer dort oben mag nicht gern vom Hofe weggehen, und wenn er was zu schwatzen hat, dann spricht er beim Nachbarn ein, oder höchstens in der Wirtschaft, die der Bäcker oder der Metzger nebenbei hält, oder er geht einen heben im Städtchen nach dem Markt. Und gar für eine Frage der Politik! Vor dem Kriege hatten sie nationalliberal gewählt, weil sie die altpreußischen Konservativen nicht wählen wollten, sie waren sogar eine Hochburg, wie sie in den Zeitungen lesen konnten, aber das ließ sie kühl, denn seit 1864 hielten sie es nicht viel mit der Politik. Und jetzt? Fünfzigtausend! Und in den Ämtern und in den Parteien spitzten sie die Ohren. Es war nicht viel, was sie da in Rendsburg zu hören bekamen. Aber es war genug. Ein letztes Mal verlangen wir... und: Dann hart auf hart! und zwischendurch fing es schon an mit: Lever duad üs Slav, und Schleswig-Holstein meerumslungen. Doch als die Bauern nach Hause gingen, wußten sie beträchtlich mehr als vorher, und mehr auch als die aufmerksam gespitzten Ohren in den Ämtern hatten zu erfahren gekriegt. In jeder Gemarkung bildeten sich Notausschüsse, und für die waren die besten Männer gerade gut genug. Ist das alles? fragten sich die Herren in den Ämtern. Es war nicht alles. Da kamen die Gerichtsbeamten zu einer Zwangsversteigerung und fanden merkwürdig viele Bauernburschen auf allen Wegen rund um das Dorf; die ließen die Beamten unbehelligt und mit freundlichem Grinsen durch, aber nachher konnten die Gerichtsvollzieher den Nachmittag lang untätig in der Sonne sitzen, denn kein Mensch war zu sehen, und von Versteigerung war keine Rede. Und da war eine andere Zwangsversteigerung, da war die Bude voll bis auf den letzten Platz und es waren auch einige Fremde da, die vielleicht einen guten Kauf tun wollten; um die Fremden herum aber standen still die Bauern und betrachteten sich angelegentlich die Fäuste, und ein Gebot wurde nicht abgegeben. Und ein andermal, auf dem Finanzamt in Husum, standen die Gänge voll Bauern. Kein Durchkommen für die geschäftigen Beamten. Macht Platz, ihr Leute, hieß es, und dann, was wollt ihr? Wir warten man bloß, sagten die Bauern, und schubst uns man nicht, und lachten, und einige sangen so vor sich hin. Das geht nicht, sagten die Beamten, und sie sagten noch viel, und ein Wort gab das andere und die Bauern warteten man bloß. Dann kam die Polizei und dann gab's Haue und zersplitterte Fensterscheiben und eine Voruntersuchung, bei der kaum was heraussprang, denn die Bauern hatten man bloß auf Hamkens gewartet, der da drinnen weitläufig erklärte, er könne seine Steuern nicht aus der Substanz bezahlen. Das geht nicht, murmelte es in den unteren Behörden, das geht auf gar keinen Fall, in den mittleren, hier muß durchgegriffen werden, sagten die oberen und der Herr Minister erklärte im Landtag: Es wird scharf durchgegriffen werden. Die Notausschüsse bekamen zu tun. Denn der ganze Verwaltungsapparat geriet knarrend in Bewegung. Verwaltungsapparat, das war das große Wort. Wer ist schuld an allem? Wen haben wir gewarnt, nachdem wir in Ruhe gesagt hatten, was wir wünschten? Wer kommt jetzt, nachdem der Topp zerschlagen ist, und spielt sich groß auf? Der Verwaltungsapparat. Helfen konnte er nicht, für uns handeln konnte er nicht. Aber gegen uns handeln, das kann er. Bis jetzt war es noch ganz ruhig im Lande. Die Hausfrauen waren nicht sehr für das ganze neue Gehabe. Laßt doch, sagten sie zu den Männern, wird schon wieder anders werden, mengt euch nicht in diese Sachen. Da fing der Verwaltungsapparat an, das Milchgeld zu pfänden. Nun ist aber das Milchgeld das tägliche Geld, und die Hausfrau hat es in den Händen und beherrscht damit den Tag auf dem Hofe. Was, das Milchgeld? Und wovon sollen wir leben? Wovon das Mittagessen kochen und den Flickschuster bezahlen? Das Milchgeld, das gab den Ausschlag. Es wurde rücksichtslos durchgegriffen. Durchgreifen, das war das große Wort. Jeder Gendarm wußte, was das heißt, und was da zu tun war. Aber wenn der Gendarm nun auf seinem Dienstgang in die Schenke trat, schnell mal einen Korn zu kippen, dann standen die Bauern, die dort zu Häuf saßen, schweigend auf und verließen den Raum, und der Gastwirt sah ungern um eines lieben Gastes willen die anderen lieben Gäste scheiden. Dem Gendarmen schmeckte der Korn nicht mehr und zu Haus lag ihm seine Frau, selber Bauerntochter, in den Ohren, seit sie das Milchgeld gepfändet hätten neulich im nächsten Ort, käme sie vergeblich bei den Bäuerinnen um Aushilfe bitten, wenn mal kein Schmalz im Hause war. Geh doch mal rüber zur Petersen, die ist doch nicht so, riet der Mann, aber auch die Petersen war so. Denn das war plötzlich ein festes Zusammenstehen, und in der Stadt wollten sie erfahren haben, der Bauer Heim sei in einer Versammlung nach manchem ruhigen Hin und Her aufgestanden und habe nur die Worte gesagt: Er wisse, daß da manch einer wäre, der nicht recht zur Sache stehen wolle, da könne er nur sagen, in Schleswig-Holstein stünden die Höfe weit voneinander und seien zum größten Teil mit Stroh gedeckt. Aber wie dem auch war, die Jungbauern ritten immer häufiger von Ort zu Ort, die Bauern aufzurufen, und bei den Gemeindevorstehern erschienen sie mit einem schönen Gruß vom Notausschuß, und wenn wieder neue Steuermahnungen erschienen, dann möge er getrost den Quark hinschicken, wo er hergekommen war. Es war eine gefährliche Stimmung im Lande, und es konnte nicht fehlen, daß viele ihr Süppchen kochen wollten am allgemeinen Feuer und ein wenig dazu bliesen. Die Parteien rüsteten sich und in den Städtchen wurde es unruhig über Gebühr. Die vielen landwirtschaftlichen Verbände witterten einen großen Fischzug, und wenn sie vorher schon nicht sehr einig waren, so jetzt noch viel weniger, und alle miteinander wollten eine Front bilden, und je mehr sie gebildet war, die grüne Front, desto größer wurde das innere Durcheinander. Die Bauern kümmerten sich nicht viel darum, denn ihre Bewegung war keine Organisation, und ihre Notausschüsse keine Vereinsvorstände. Mit ihnen verhandelten auch die Behörden nicht, bei ihnen griffen sie durch. Die Behörden hätten gerne zurückgestoppt, aber da war das Prestige. Hatten die Bauern nicht neulich sogar einen Gemeindevorsteher bedroht, der treu zur Regierung stand? Nur nicht weich werden, und wir haben alle Machtmittel des Staates hinter uns! Der Bauer Kock aus Beidenfleth war dreimal beim Landrat in Itzehoe, und der versprach ihm auch, zu intervenieren, daß die gepfändeten Ochsen nicht abgeholt würden, wenn er zu gegebener Frist die rückständige Steuer beibringe. Aber noch vor der gegebenen Frist schickte der eifrige Amtsvorsteher den Gemeindediener, die Ochsen abzuholen, und gab ihm zwei Arbeitslose mit, weil sich sonst keiner zu diesem Geschäfte bereit fand. Und die drei kamen auf den Hof und wollten die Ochsen nehmen. Der Bauer ließ sie ihnen, als sie aber auf die Straße traten, standen da plötzlich viele Bauern, die blaue Schirmmütze auf dem Kopf und den Handstock in der Faust. Sie standen da und sagten nichts. Und etliche schichteten Stroh auf der schmalen Straße, ein paar Bündel hier, und etwas weiter noch ein paar Bündel. Und als die drei Männer unruhig die Ochsen ein Stück Weges gezerrt, da züngelten plötzlich Flammen aus dem Stroh, und Rauch stieg auf. Die Ochsen witterten das Feuer und stutzten. Wozu das Feuer? Aber Feuer lodert im Lande seit alters her, wenn Not ist, und beim Bauern Kock war Not. Und das Feuerhorn wurde geblasen, weil Feuer auf dem Wege war, und die Leute sammelten sich, weil das Feuerhorn geblasen wurde. Um so schlimmer für die Ochsen, daß sie das nicht wußten: sie rissen sich los und jagten zurück in den Stall. Der Landrat in Itzehoe war ein honetter Mann. Einerseits hatte er ein warmes Herz für die Bauern und andererseits hatte er Vorgesetzte. Der Amtsvorsteher hat voreilig gehandelt, dachte er, und scharf durchgreifen, scharf durchgreifen klang es ihm im Ohr. Ich bin hier für meinen Kreis verantwortlich, dachte er, wem bin ich verantwortlich? Meiner vorgesetzten Behörde. Der Landrat von Itzehoe war ein nachdenksamer Mann. Was er auch machen konnte, war von vornherein falsch. Ich tue meine Pflicht, sagte er also straff. Und im Morgengrauen umstellte die Schupo das Haus des Bauern Kock und drang mit vorgehaltenem Gewehr in den Hof. Da waren die Ochsen. Dumm glotzten sie auf das blauweiße Siegel mit dem Kuckuck am Balken des Verschlages. Sie wurden auf den Lastkraftwagen geladen und holperten mit ihrer glänzenden Eskorte davon. Der Lenker des Ochsenwagens lugte die Straße entlang. Da standen quer über den Weg einige Gefährte, eng ineinander geschoben. Die Schupo stieg vom Wagen und räumte das Hindernis beiseite. Tot und leer lag das nächste Dorf. Die Glocken läuteten. Sie läuteten Sturm. Das Feuerhorn tutete. Hohl brach sich der Klang in den verlassenen Straßen. Und da standen wieder Wagen über dem Weg. Der Lenker des Ochsenwagens war ein Bürger von Itzehoe. Er hatte viele Bauernkundschaft. Die Bauern waren sonderbare Leute. Der Lenker des Ochsenwagens hatte auf halbem Weg eine Panne. Unmöglich sei es, erklärte er, weiter zu fahren. Und die Schupo zerrte die Ochsen am Strick bis zur Stadt. Der Landrat von Itzehoe war ein kluger Mann. Schon am nächsten Morgen standen die Ochsen im Viehhof von Hamburg zum Verkauf. Aber am Nachmittag waren drei Bauern beim Direktor des Viehhofes. Diese Ochsen, sagten sie ihm, sind keine gewöhnlichen Ochsen. Das sind Zwangsvollstreckungsochsen. Und wenn die Ochsen nicht innerhalb vierundzwanzig Stunden aus der Verkaufslatte raus und zurückgegeben sind, dann können Sie sehen, woher Sie Ihre Ochsen kriegen, aus Schleswig-Holstein nicht. Auch der Direktor des Viehhofes war ein kluger Mann. Und er hatte ein warmes Herz für die Bauern. Und wenn er keine Ochsen aus Schleswig-Holstein mehr bekam, dann konnte er Gras wachsen lassen in seinen Verkaufslatten. Er griff in seine private Brieftasche und zahlte dem Bauern Kock die Steuer. Beidenfleth war ein Fanal, Jetzt oder nie mußte durchgegriffen werden.

Die Polizei lud vor und vernahm. Das Gericht lud vor und vernahm. Zweiundfünfzig Bauern kamen unter Anklage wegen Landfriedensbruch. Zweihundert Bauern stellten sich selbst dem Gericht und sagten, auch sie waren dabei und es sei nicht mehr wie recht und billig, wenn also auch sie unter Anklage kämen. Der Bauer Claus Heim wußte, jetzt ging es hart auf hart. Das Landvolk war einig. Immer wieder und überall kamen die Bauern zusammen. Die reitenden Jungbauern waren ständig unterwegs. Es galt den Prozeß vorzubereiten, die Bauern hart zu machen, fester noch zusammenzuschließen. In den Zeitungen der Provinz luden die Notausschüsse zu Zusammenkünften ein, veröffentlichten Richtlinien und Proklamationen. Aber die Zeitungen der Provinz waren auch Kreis- und Amtsblätter, und sie erhielten auch amtliche Publikationen, und wenn sie sich schon immer gehütet hatten, unzweideutig für das Landvolk zu schreiben, so machten sie jetzt Schwierigkeiten selbst bei den Aufrufen. Die Bauern fragten, was ist das? Ihr wollt nicht für uns schreiben? Ihr denkt, wir seien auf euch angewiesen, weil wir keine Zeitung haben, weil wir kein Verein sind, keine Partei? Wir werden eine Zeitung haben! Wir werden, wir müssen eine eigene Zeitung haben, sagte Claus Heim. Die Bauern schössen zusammen. Im schlimmsten Falle, sagten sie sich, wollen wir lieber das gute Geld für unsere Zeitung zum Fenster rausgeschmissen haben, als für die Steuer. Sie kauften eine kleine Druckerei in Itzehoe. Claus Heim hatte in der „Eisernen Front“, einer kleinen Hamburger Wochenschrift, gelegentlich einige Artikel über den Kampf des Landvolkes gelesen. Sie waren mit „IVE“ gezeichnet und weit und breit die einzigen, die ihm klar, gut und unzweideutig schienen. Er fuhr nach Hamburg und suchte diesen Ive auf.

Hans Karl August Iversen, von seinen Freunden nur Ive genannt, zog noch drei Jahre nach dem Waffenstillstand während der unruhigen Zeit des, Nachkrieges als Soldat umher. Der letzte Appell seiner Truppe fand ihn im Besitze funkelnder Leutnantsachselstücke, eines Entlassungsscheines und dem unerschütterlichen Willen, jede Chance beim Genick zu packen. Außer im Hauen, Schießen und Stechen hatte er sich noch in keiner Arbeit geübt, doch verstand er wohl, sich in allen Lagen zurechtzufinden. Es gab nichts, dem er nachtrauern konnte, denn er hatte niemals etwas besessen. Als er begann, die Welt mit Bewußtsein zu betrachten, fand er sich in einer grauschmutzigen und zerrissenen Landschaft, in die vom Himmel her unablässig das Eisen hämmerte. Er hockte in einer halb mit Schlamm gefüllten Höhle, und das zweckdienlichste Mittel der Fortbewegung war, fast blind und doch mit angespanntester Aufmerksamkeit von Loch zu Loch zu springen. Von der schönen Literatur kannte er am besten die „Anleitung zum Gebrauch von Nahkampfmitteln“ und seine Handschrift, groß, klar und rund, vermochte man beim Licht einer glühenden Zigarette gut zu lesen. Seine Heimat^ war die Front, und seine Familie die Kompanie. Auch der Nachkrieg änderte kaum daran. Gewiß ergaben sich Komplikationen ideologischer Art, die er spähend unter dem Rande des Stahlhelmes beobachtete, wie etwa die besonders verwirrten Linien eines feindlichen Grabensystems. Im Großen und Ganzen aber schien es ihm so, als sei er in einen anderen Kampfsektor versetzt, dessen veränderten Bedingungen und Gepflogenheiten er sich anzupassen hatte. Vielen seiner Kameraden erging es ebenso, und da sie sich durch kein Verdikt der Regierung davon überzeugen ließen, daß es unnützlich sei, zu glauben, sie würden noch einmal als Truppe eingesetzt, beschlossen sie, beisammen zu bleiben und zu siedeln. Sie bezogen also das Gelände, welches ihnen zu anscheinend günstigen Bedingungen zur Verfügung gestellt Wurde, und begannen sogleich, zu graben und zu hacken. Aber die Behörden, denen die unruhigen Männer in den Wäldern unbequem waren, und die sie – nicht zu Unrecht – im heimlichen Besitz von Waffen glaubten, verfolgten das junge Unternehmen mit Maßnahmen, die von den Siedlern als Schikanen empfunden wurden. Versprochene Materialien wurden nicht geliefert, zugesagte Kredite, die vorerst den nackten Lebensunterhalt garantieren sollten, nicht eingeräumt, die Baupolizei versagte ihre Einwilligung zum Bezug der schnell errichteten Lehmkaten, und als endlich die Förster der Umgebung von der erschreckenden Zunahme der Wilderer berichteten, und die Gendarmen von der merkwürdigen Insubordination dieser fast kommunistisch verwalteten Gemeinschaft entlassener Soldaten, entzog die Regierung kurzerhand alle Hilfe, und die grollenden Männer verschwanden nach und nach, niemand wußte wohin. Ive hatte bei einer Gutsherrschaft in Pommern eine Stellung als Nachtwächter und Feldhüter angenommen. In seiner freien Zeit versammelte er die Jugend des Dorfes, dann des ganzen Kreises und exerzierte sie ein; anfangs wie im Spiel, aber man sah dies Spiel nicht ungern, und so gründete Ive bald eine Jugendwehr, die sich über ganz Pommern verbreitete, zu anstrengenden Übungen und prächtigen Aufmärschen zusammenkam und der Arbeiterpresse in den kleinen Landstädtchen zu heftigen Bemerkungen Anlaß gab. Ive antwortete ff auf diese Bemerkungen in den Zeitungen der nationalen Partei, und die Schlagfertigkeit, durch die sich seine Antworten auszeichneten, machte seinen 4 Gutsherrn mehr noch als bisher auf den bescheidenen jungen Nachtwächter aufmerksam, so daß er sich nun entschloß, ihn einzuladen, an der herrschaftlichen Tafel mitzuspeisen. Der Gutsherr tat noch ein übriges, indem er Ive ermöglichte, mit einer hinreichenden Summe Geldes, das ihm von der nationalen Partei zur Verfügung gestellt wurde, den „Kampfruf“ zu gründen, eine Wochenschrift, die zum Ziele hatte, die alten Ideale gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen. Der „Kampfruf“ erschien und gewann sich durch seine rauhe, aber herzliche Sprache viele Freunde und Gegner. Doch klang diese Sprache nicht immer durchaus angenehm in die Ohren der Auftraggeber, denn mit der Zeit erwies es sich, daß Ive eine unbehagliche Auffassung von Idealen hatte, und so zum Beispiel sich selbst durch volkswirtschaftliche Belehrungen nicht davon abhalten ließ, die Masseneinfuhr von polnischen Schnittern als eine Schweinerei zu bezeichnen. Als Ive nun wegen einer unziemlichen Bemerkung gegen den damaligen Reichspräsidenten zu drei Monaten Gefängnis oder sechzigtausend Mark Geldstrafe verurteilt wurde, teilten ihm die Herren vom Parteivorstand bekümmert mit, leider könnten sie die Geldstrafe nicht für ihn erlegen. Gleichzeitig stellten sie das Erscheinen der Zeitschrift ein, eine Maßnahme, die sich durch den Sturz der Mark in der Inflationszeit leicht rechtfertigen ließ; denn da die Postbeziehergelder monatlich im voraus, der Papierlieferant aber stets nach erfolgter Lieferung bezahlt wurde, wuchs die Schuldenlast des „Kampfruf“ im gleichen Verhältnis mit der Zunahme der Abonnentenzahl. Ive hätte es nichts ausgemacht, für einige Zeit ins Gefängnis zu wandern. Er wußte, daß die anderen patriotischen Verbände mit Eifer darauf warteten, seine Jugendwehr als fette Beute verschlucken zu können. Da aber gleichzeitig im Ruhrgebiet junge Leute seines Schlages den passiven Widerstand in einen verzweifelten Angriff verwandelten, trat er von seiner Stellung als Führer der Jugendwehr zurück, kratzte zusammen, was sich in seinen Schubladen befand, verkaufte außer dem Nötigsten seine ganze Habe, zahlte die Geldstrafe, die nun den Wert eines Goldpfennigs erreicht hatte, und fuhr, wohin ihn die Stimme seines Blutes rief. Aber auch dort fand er sich bald ins Gefängnis gesetzt, nicht ohne durch zweckbewußtes Hantieren mit leicht entzündlichen Stoffen dazu Anlaß gegeben zu haben. Nach Beendigung des Ruhrkampfes freigelassen, versuchte er sich, etwas blaß zwar, jedoch ohne eine Spur generaldirektorlicher Haftpsychose, als Versicherungsagent. Er gab seine Tätigkeit auf diesem Gebiete wieder auf, als ein Wohltäter nach langer Bearbeitung ihm, statt Abzuschließen, mitleidig die voraussichtliche Provision in die Hand drückte und ihm den Rat gab, sich einen anderen Beruf zu suchen. Auch Minimax und Elektrolux bestätigten in keiner Weise seine Hoffnung auf sozialen Aufstieg; jedoch erhielt er im Veedol-Öl-Preisausschreiben den dritten Preis in Höhe von 500 Mark für den Vers: „Graf Zeppelin fliegt, wie bekannt, mit Veedol nur über Meer und Land.“ Diese Summe, die größte, die er in seinem Leben je besessen, und die ihm fünf Sekunden Arbeit gekostet hatte, beschloß er weise anzulegen. Er beschaffte sich einen Smoking und ein Cello – das er leidlich zu spielen verstand – und wurde Mitglied einer Cafehauskapelle, die über den Sommer in den Badeorten der Ostseeküste konzertierte. Im Winter brachte er sich mit mancherlei Gelegenheitsarbeiten durch. Schon während der zweiten Saison glaubte der Kapellmeister den Cellisten durch einen gelenkigen Neger ersetzen zu müssen, der sein Schlagzeug trefflich zu behandeln wußte. Bei der Abrechnung versuchte er, Ive übers Ohr zu hauen, und dieser, die Hilfe bürgerlicher Rechtseinrichtungen verachtend, brachte der männlich-schönen Erscheinung seines Dirigenten einige Einbuße bei, verkaufte seinen Smoking an den zweiten Geiger und erwog, den Tausch komplett zu machen und seinerseits nach Afrika zu ziehen. Im Hafen fand er weder Arbeit als Heizer oder Seemann noch das Geld für die Überfahrt. So verdingte er sich als Arbeiter in der Hamburger Wollkämmerei, was er, wie er sich sagte, schon längst hätte tun sollen. Dort blieb er über ein Jahr. Er wohnte als Schlafbursche bei einer fülligen Witwe und zog Morgen für Morgen mit seinem Blechkännchen in die Fabrik. Sonntags ging er zum Tanz. Seine Arbeitskollegen nannten ihn nur den Leutnant und versuchten, ihn zum Beitritt in ihre Partei und in die Gewerkschaft zu bewegen. Aber er hatte einen unüberwindlichen Abscheu vor Konsumvereinen und Gewerkschaftssekretären und stand den Kommunisten und Syndikalisten näher, als er selber glaubte. Zu ihnen zog ihn sein Temperament; was ihn schied, war sein unbedingter Glaube an andere als ökonomische Werte. Er selber wollte hoch. Für ihn bestand damals Deutschland aus sechzig Millionen Menschen, die das Gefühl hatten, am falschen Platze zu stehen, und einem Rest, der nicht am richtigen Platze stand. Er wollte an seinen richtigen Platz. Er wollte hoch, um sich voll einsetzen zu können. Vorläufig bot sich nur geringe Aussicht. Er schrieb Artikel. In der Mittagspause schrieb er „Die Mittagspause“ und nach Feierabend „Nach Feierabend“. Bürgerliche Zeitungen mit starkem sozialem Gewissen nahmen seine kleinen Beiträge gern und zahlten in Anbetracht seiner Umstände vier Pfennige für die Zeile. Bei einem seiner Besuche in den Redaktionen hörte er, daß ein kleines nationales Wochenblatt in Konkurs gegangen und nun Eigentum eines Buchdruckers geworden war. Sofort suchte er den Mann auf und bot sich an, das Blatt weiterzuführen. Der Verleger, obgleich augenblicklich entschlossen, ließ ihn vier Wochen zappeln, dann bestellte er ihn als Schriftleiter mit einem Gehalt von zweihundert Mark und fünfzig Mark Redaktionsetat für die Seite. Ive brannte, er war besessen von seiner Arbeit. Die „Eiserne Front“, wie das Blatt hieß, hatte weder eine Front, noch konnte von Eisen die Rede sein. Die Bezieherliste sah schrecklich aus. Die Zuschriften bezogen sich zumeist auf die Rätselecke und auf die Beilage „Deutscher Wald“, die eine Maternkorrespondenz regelmäßig in die Redaktion sandte. Ive räumte auf. Er strich die Rätselecke und den deutschen Wald. Die Beilage „Von Wehr und Waffen“ wandelte er um in „Die Schule der Politik“. Die Rubrik „Unsere Kolonien“ erfuhr eine Veränderung, die einen alten Bezieher, Major a.D., veranlaßte, eine Postkarte mit der Überschrift „Sie Landesverräter“ zu schicken. Die bisherigen Mitarbeiter zogen sich gekränkt zurück. Es war schwer, neue zu finden, die Ives eigenwilliger Richtung folgen konnten. Zu Zeiten schrieb er die ganze Nummer von der ersten bis zur letzten Zeile selbst. Er konnte schreiben, was er wollte. Manchmal knurrte sein Verleger, aber die Bezieherzahl wuchs. Überall im Laude knüpfte Ive Verbindungen an, spürte die kleinen und verlorenen Grüppchen der Jugend auf und die einzelnen, die seines Geistes zu sein schienen. Es gab deren genug, die sich zum Worte meldeten, und denen sich keine Redaktionstür öffnete. Er organisierte kleine Vortragsabende, die in strengen Diskussionen endeten, und führte die Diskussionen in der Zeitschrift weiter. Oft druckte er auch Unsinn, aber dann war es wenigstens ein fundamentaler Unsinn, der immer seine besonderen Reize aufwies. Die „Eiserne Front“ wurde eine Zeitschrift, die etwas Eigenes zu sagen hatte, und sie sagte dies, dafür sorgte Ive, in unmißverständlichen Worten. Ive war glücklich. Selbst in den dreckigsten Momenten hatte er das Leben immer schön gefunden, jetzt aber fand er es ganz unbeschreiblich schön. Er wußte, daß es ihm möglich war, sich immer wieder zu fangen, und das Wort „Abenteuer“ hatte für ihn keinen anderen als einen reizvollen Sinn. Er konnte für alles in seinem Leben grade stehen, weil er immer den Mut hatte, auch den Absprung ins Ungewisse zu wagen. Er war abgesprungen, und nun stand er mit beiden Füssen fest vor seinem Redaktionsschreibtisch. Wenn er von diesem Platze aus das Feld seiner Möglichkeiten vor sich sah, so konnte er, soviel ihm auch der kleine Tag an Arbeit zutrug, doch getrost glauben, seine große Linie gefunden zu haben. Bis ihn eines Tages der Bauer Claus Heim aufsuchte. Wir brauchen einen Mann, der schreiben kann, sagte Claus Heim, wollen Sie zu uns kommen? Ive sah sich einen Augenblick in seinem Redaktionszimmer um. Dann errötete er und sagte: „Ja.“

Grafenstolz, Buchdruckereibesitzer in Itzehoe, konnte es trotz aller Anstrengung zu nichts bringen. Er japste hinter jedem Auftrag her wie der Dackel hinter dem Kaninchen, wo er auch immer einen Kunden witterte, biß er sich fest, und das graue Männchen kannte man im Städtchen nur eifrig durch die Straßen trabend, oder auf der Kante eines Stuhles beim Biere sitzend, den widerstrebenden Geschäftspartner durch heftige Gesten zum Abschluß zu bewegen. Aber die Druckerei ging immer weiter zurück. Grafenstolz konnte machen, was er wollte, alles ging ihm schief, und so festigte sich in ihm die Überzeugung, daß sein Niedergang einzig auf die geheimen Machenschaften der Juden, Jesuiten und Freimaurer zurückzuführen sei. Es galt also, das Übel bei der Wurzel anzupacken, und fortan widmete er sich ganz dem Kampf gegen die überstaatlichen Mächte. Er gab es auf, seine wollene Unterwäsche bei Salomon Steinbach, führendes Haus der Branche am Platze, zu kaufen, und in der Sprechstunde des Rechtsanwaltes Happich, der ein sonderbares Zeichen an der Uhrkette trug, ward er nach wie vor nicht gesehen. Jesuiten kannte er keine, es waren deren in Itzehoe nicht vorhanden. Aber war dies nicht ein weiterer Beweis für die unheimliche Gewalt seiner Gegner? Er wußte, daß sein Angriff nicht im Leeren verpuffen konnte, denn überall stand der unsichtbare Feind, und er verriet sich zuweilen schon im Lächeln seiner Zuhörer, das nichts anderes als ein Lächeln der Eingeweihten oder zumindest ein bezahltes Lächeln war. Manchmal, wenn er zusammengekrümmt im Bette lag, konnte sich sein ganzer magerer Körper mit Schweiß überziehen bei dem Gedanken, mit welch einer alles beherrschenden Macht er, Grafenstolz, anzubinden gewagt, aber nichts konnte ihn abhalten, sich für seine Überzeugung in die Bresche zu werfen. Keiner Gefahr achtend veröffentlichte er eine Broschüre, die grelle Schlaglichter auf das verbrecherische Treiben der Verderber Deutschlands warf. Daraufhin entzogen ihm die Behörden ihre Druckaufträge, insbesondere die Herausgabe der Amtlichen Bekanntmachungen, und Grafenstolz ging in Konkurs. Er fiel, aber noch im Sturze riß er so den Schleier vom Geheimnis der Beziehungen zwischen den über-staatlichen Mächten und dem Verwaltungsapparat. Niemand begrüßte so wie er den Kampf des Landvolkes, und er war es auch, der den Bauern die Druckerei in die Hände spielte. Er schlug vor, die neue Zeitung „Balmung“ zu nennen, aber die Bauern waren nicht dafür; der eine wollte „Die Sturmglocke“, der andere „Pidder Lyng“, Ive aber beschloß, der Zeitung einfach den Titel „Das Landvolk“ zu geben. Damit stand der Name fest, aber das war auch das einzige, was feststand. Denn als Ive, von Grafenstolz geführt, zum ersten Male die Druckerei betrat, fand er im Hinterhaus einer verfallenen Hofanlage einen großen, schmutzigen Raum mit zerbrochenen oder erblindeten Fenstern, in dem allerlei Eisengerümpel herumstand. Das war die Setzerei. Die Lettern lagen zusammengewürfelt in den Kästen, die Rotationsmaschine ältesten Modells schien vollkommen demoliert, die beiden Setzmaschinen so klapprig wie die Handpresse. Ive stieg schweigend die morsche Treppe zu den Redaktionsräumen hinauf, immer begleitet von Grafenstolz, der, ohne ein Auge für seinen ehemaligen Betrieb zu haben, eifrig auf den mehr als sonderbaren Umstand hinwies, daß der Zentrumsminister Trimborn öfters ausgerechnet beim Bankier Oppenheimer zur Nacht zu speisen pflegte. Die Redaktion bestand aus vier kahlen Wänden, einem mit geplatzten Steinplatten belegten Fußboden und einigen Kisten, Fässern und Brettern, die da herumlagen. Ive zog seinen Rock aus und begann, sich aus den Brettern und Kisten seinen Redaktionsschreibtisch zusammenzuschlagen. Er verfertigte aus Planken und Stangen ein Gebilde, das einem Bettgestell nicht unähnlich war, er bastelte an der Rotationsmaschine, ölte und säuberte die Handpresse. Er kalkte die Räume und setzte neue Fenster ein, er installierte den großen Radioapparat, den ihm Claus Heim zugesandt, er engagierte die Setzer und den Metteur und verhandelte mit Post und Papierlieferant. Auch Grafenstolz, der seine Tätigkeit mit mancherlei Enthüllungen über die Protokolle von Zion würzte, erhielt seine Arbeit: Ive sandte ihn in die Stadt, alle Mauern herauszusuchen, die sich zum Anschlag von Plakaten eignen könnten. Ive schlief in der Redaktion, er nährte sieh von Zigaretten und Tee und den milden Gaben, die Claus Heim ihm von seinem Hofe schickte. Nach vierzehn Tagen ununterbrochener Arbeit gab Ive die erste Nummer heraus. Die Herren vom „Itzehoer Generalanzeiger“ zuckten die Achseln. Das da war keine Zeitung. Von einem lokalen Teil war überhaupt nicht die Rede. Weder der Gerüsteinsturz in der Zementfabrik war erwähnt, noch das fünfundzwanzigjährige Amtsjubiläum des Obersekretärs der niedersächsischen Kreissparkasse. Keine Zeile auch vom großen Mordprozeß Hilde Scheller. Dafür aber waren die Nachrichten von T.U. und Wolff mit knallenden Überschriften und Bemerkungen versehen, die von einer, sagen wir: originellen Auffassung zeugten. Der Leitartikel, ein Aufruf jenes Herrn Hamkens, dessen Elaborate schon mehrfach den Behörden Anlaß zum unnachsichtlichen Einschreiten gegeben hatten. Eine Betrachtung über das Wesen und die Mittel des Boykotts, eine ersichtlich erfundene Reportage aus dem Reichstag, die jeder Würde Hohn sprach, und statt des Feuilletons ein Artikel: „Wie verhalte ich mich als Angeklagter vor Gericht“, von dem man nur im Hinblick auf den bevorstehenden Beidenflehter Ochsenprozeß wußte, was man davon zu halten hatte. Das alles in einer unbändigen Sprache, die kein Ordnungsstaat lange dulden konnte. Außerdem wimmelte die Nummer von Druckfehlern; zum Beispiel war der fünfmal erwähnte Name des preußischen Polizeiministers Gresczinsky jedesmal anders geschrieben, zuletzt bestand er überhaupt nur aus Konsonanten. Reine Demagogie, sagte der Chefredakteur des alteingesessenen „Itzehoer Generalanzeigers“, ignorieren, einfach ignorieren, zumal sie überhaupt keine Annoncen haben. Ive selbst war nicht zufrieden. Das haut noch nicht richtig hin, sagte er zu Heim, was ich brauche, das ist die Stimme der Bauern. Aber die Bauern hielten sich noch zurück. Die Notausschüsse kamen mit mancherlei nützlichen Berichten, und auch einige Jungbauern versuchten sich im ungewohnten Handwerk, wie denn Ive auch bei ihnen seine stärkste Stütze fand. Die Mitarbeiter der „Eisernen Front“ zögerten noch, und so schrieb Ive denn fast die ganze Zeitung selbst. Meistens diktierte er gleich in die Setzmaschine, und wenn er einmal nicht weiterkonnte, half ihm der Setzer, der den Rotfront-Stern im Knopfloch trug, mit saftigen Bemerkungen aus. Nach acht Tagen wurde die Zeitung verboten. Ive änderte den Kopf und brachte „Die Westküste“ heraus. Der Oberpräsident Kürbis verbot auch dies, verbot „Die Bauernfront“ und den „Landboten“ und jedes Ersatzblatt, das sich mit Politik befassen sollte. Da nannte Ive die Zeitung „Der Kürbis, Landwirtschaftliches Fachblatt“, und der erste Artikel begann mit den Worten: Der Kürbis gedeiht am besten auf dem Mist... Die Bauern lachten. Die Bauern bestellten, täglich liefen die Zuschriften ein. Ein Lehrer der Landwirtschaftsschule schrieb die Beilage „Egge und Pflug“ und wurde daraufhin von seiner Behörde fristlos entlassen. Damit war der Bestand; der Zeitung gesichert; als „Das Landvolk“ wieder f erscheinen konnte, wurde auf den Bauernversammlungen beschlossen, nur noch „Das Landvolk“ zu halten, auch die Annoncen kamen nun, und bald gab es in ganz Schleswig-Holstein kaum ein Bauernhaus mehr, in dem das Blatt nicht gelesen wurde.

Der Itzehoer Generalanzeiger schrieb, ein böser Geist sei nun auch in die Mauern unserer friedlichen Stadt eingezogen. Zum Ochsenprozeß beabsichtigte Ive, die Zeitung zweimal täglich erscheinen zu lassen, eine Ausgabe zur Sitzungspause um zwölf Uhr und eine am Abend. Ive brauchte Hilfe, sie kam ihm durch einen jungen Mann, der eines Tages in der Redaktion auftauchte, man wußte nicht recht, warum. Man wußte auch nicht recht woher, und man wußte nur, daß er, der sich hier Hinnerk rufen ließ, in Bayern unter dem Namen I. Seppl bekannt war, und im Rheinland unter dem Namen Jupp. Näher befragt, pflegte er sinnend zu sagen, er sei das Salz der Erde, und so alt wie sie; jedenfalls wußte er alles und konnte er alles, und während des Prozesses zeigte er sich in seinem wahren Wert. Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß, sagte er bekümmert, als er zum ersten Male auf die Redaktion kam, muß es auch Organisation geben. Und er organisierte. Zu Beginn des Prozesses hatte er nicht nur ein Bataillon Jungbauern zur Verfügung, nicht nur Radfahrer-, Motorrad- und Autokolonnen, auch ein Flugzeug landete auf dem Felde vor der Stadt, bereit, die Zeitung pünktlich über den entferntesten Orten der Provinz abzuwerfen. Bauern und Behörden wußten, welche Bedeutung der Prozeß hatte, daß er eine Kraftprobe sei, deren Ausgang den weiteren Kampf wesentlich bestimmen mußte. Über zweitausend Bauern kamen in der Stadt zusammen, Vertreter aller Notausschüsse, Deputationen auch aus anderen Provinzen, aus Hannover, Ostpreußen, Schlesien und Oldenburg. Die großen Zeitungen sandten ihre Berichterstatter, und das Berliner Tageblatt brachte zum ersten Male eine Betrachtung über die Vorgänge in Schleswig-Holstein als Leitartikel, und zwar nicht vom Hamburger Korrespondenten, sondern von einem Mitglied der Redaktion. Die Spitzen der Behörden erschienen im Sitzungssaal (Frau Regierungspräsident Behacke in schlichtem Nachmittagskleid aus einfachem Wollstoff, Afghaleine, in der Taille gegürtet), selbstverständlich auch Kriminalkommissar Müllschippe von Berlin, Abteilung IA. Zwei Hundertschaften Schupo zogen in das Städtchen ein, und Ive hatte guten Grund, gleichsam mit umflortem Fragezeichen zu schreiben: Was kostet dem Staate dies? Er saß im Sitzungssaal der Bürgermeisterei, in dem der Prozeß stattfand, zu Füssen Karls des Großen, des Gründers der Stadt, dessen riesige Statue die guten Bürger während des Krieges sinnreich schwarz, silbern und golden benagelt hatten, wohl weil er seinerzeit zwanzigtausend Niedersachsen hinrichten ließ – was Ive keineswegs zu erwähnen vergaß. Er saß zwischen Dr. Lütgebrune, dem ersten Verteidiger, und dem Stenographen, der den Verlauf der Verhandlung Wort für Wort aufnotierte. Während die Herren Berichterstatter der großen Presse gelangweilt herumsaßen – denn die zweiundfünfzig Angeklagten sagten alle dasselbe aus, erzählten alle, wie es kam, daß der Hof verschuldete, wie es kam, daß die Not in die reiche Marsch einzog – schrieb Ive und schrieb. Einmal beugte er sich zum Verteidiger, einmal über das Stenogramm, Heim flüsterte ihm in die Ohren, und mißbilligend blickte der Vorsitzende auf, wenn immer wieder die Jungbauern sich zu Ive durchdrängelten, die beschriebenen Blätter für die Setzerei abzuholen. Dort kommandierte Hinnerk herum, hetzte seine Kolonnen durch die Stadt, in der die Bauern in losen Gruppen standen, telefonierte und fragte rück und goß sich von Zeit zu Zeit scharfe Getränke ein. Um zwölf Uhr, kaum hatte der Vorsitzende die Sitzung aufgehoben, regneten schon die feuchten Blätter in den Saal, hatten die Bauern auf den Straßen und Plätzen und in den Kneipen schon die Zeitung in der Hand, und die Angeklagten konnten nicht nur genau lesen, was sie ausgesagt, sie wußten auch, was sie noch auszusagen hatten. Stimmungsbericht und Stenogramm, politische und strafrechtliche Bemerkungen – jeder Satz ein Flohstich für den Staatsanwalt – Sympathietelegramme aus allen bäuerlichen Provinzen des Reiches, ein scharfes Wort für den Vorsitzenden, eine beruhigende Betrachtung für die Hausfrauen – selbstredend mit dem Hinweis auf das Milchgeld, Anekdoten, die sich die Bauern über den Prozeß erzählten – (Mich juckt die Hand, sagte der Staatsanwalt, ich glaube, wir kriegen Geld von den Bauern. – Mich juckt der Mars, sagte der Vorsitzende, ich glaube, die Bauern Schieten uns was!) – der Prozeß beherrschte die Zeitung und die Zeitung beherrschte den Prozeß. Die unsachlichen Methoden der Berichterstattung einer gewissen Presse... schrieb der Itzehoer Generalanzeiger. Die entschlossenen Mienen der Bauern mögen dem Verwaltungsapparat... diktierte abends Ive in die Setzmaschine, da machte die Rotationsmaschine Knack und stand bumstill. Drei Stunden klopften sie an ihr herum – aber wo war Hinnerk? und die Jungbauern stürzten ins Nachtleben von Itzehoe, in die „Blaue Grotte“, und dort saß er total betrunken, drei Schupos umarmend, die er genötigt hatte, eine entsprechende Anzahl „Kürbis“ zu trinken, eine von ihm erfundene und benannte Essenz aus den schärfsten Schnäpsen und gehörig mit Pfeffer versehen, dort saß er in trautem Verein mit den Bütteln des Systems, und alle sangen Schleswig-Holstein meerumslungen, was den braven Beamten eine Strafversetzung und Hinnerk dreitägige Arbeitsunfähigkeit eintrug. So standen denn die Jungbauern abwechselnd an der Handpresse, aber Ive mußte statt der Abendausgabe sich doch nur mit einem Extrablatt begnügen. Der Prozeß endete mit einer Verurteilung aller Angeklagten zu sechs Monaten Gefängnis, mit einer Bewährungsfrist, die dem Urteil die Bedeutung eines Freispruches gab. Mit Recht spürten hier die Bauern den halben Mut des Systems und feierten den Sieg. Aber Ive war beunruhigt, er roch den toten Punkt. Und er witterte ihn nicht nur beim Kampf der Bauern, er ahnte ihn auch bei sich. Tatsächlich war weder durch den Prozeß noch durch die Ereignisse, die zu ihm geführt hatten, irgend etwas entschieden. Alles, was bislang geschah, war ja nichts als einfachste Reflexbewegung. Einzig, daß diese Bewegung mit solch einem Maß von Entschiedenheit ausgeführt war, verlieh ihr Bedeutung und ließ Hoffnung, die weiterging. Claus Heim und Hamkens, nun unbestrittene Führer der Bewegung, hatten den Hof drangegeben, um den Hof zu retten. Die ganze starke, nun weit über die Provinz hinausgehende Bewegung war gerichtet auf die Erhaltung der Substanz gegen ein System, das, aus welchen Gründen auch immer, sie bedrohte. Hier schien Ive die Spanne zwischen Aufwand und Erfolg zu groß. Der Wert dieser Spanne lag in den Energien, die sie erzeugt hatten. Immer wieder hatten Heim, Hamkens und Ive auf die bäuerliche Solidarität hingewiesen, sie verglichen mit der Solidarität der Arbeiter, aber Solidarität, das war nur eine Voraussetzung. Es war gut, daß diese Voraussetzung errungen war, wieder eine Selbstverständlichkeit wurde, nachdem sie so lange Zeit verschwunden war. Aber das konnte nicht genügen. In der Tat spürte jedermann, daß dies nicht genügen konnte. Die Behörden hatten schon lange, während die Bauern noch fast einzig sich gegen die übermäßig hohen Steuern wandten, mehr noch als diese Bewegung das gefürchtet, was notwendig aus ihr entspringen mußte, und sich gerüstet, dem, welcher Art es auch sei, zu begegnen. Nun aber schauten die Bauern des ganzen Reiches auf die Provinz, begierig zu erfahren, welche auch für sie gültigen Signale gegeben wurden. Nun kamen die Parteien und politischen Verbände, zu fragen, was wollt ihr eigentlich, bereit, im Falle ungenügender Antwort, mit zünftigen Programmen auszuhelfen. Nun kamen auch die Bauern zu Hamkens und Heim und Ive und fragten, was nun? Bis jetzt, das war mehr ein Spaß gewesen, ein grober, ein toller, ein bäuerlicher Spaß, mit einem sehr kühlen Zweckgedanken im Vordergrund. Und Ive hatte viel Sinn für einen solchen Spaß. Das Landvolk fühlte sich bedroht, in seiner Existenz, im Sinn seiner Existenz, im Hof, und es wehrte sich mit den Mitteln, die ihm geboten waren, mit den nächstliegenden Mitteln, gegen ein System, das ihm feindlich war, nicht schien, sondern war, schon, weil es sich von Bedingtheiten dirigieren ließ, die alles andere als bäuerliche Bedingtheiten waren, und trotzdem mit dem Anspruch kam, zu bestimmen. Bis dahin war alles einfach und klar. Das System, sagten die Bauern, sie sagten nicht: Der Staat; Staat muß sein, sagten sie, und was denn? Alle Gewalt geht vom Volke aus! Wer war das Volk, wenn nicht sie? Ob die Verfassung gut oder schlecht war, danach fragten die Bauern nicht sehr. Aber: Schrewen is Schrewen! Und da war doch immerhin der Artikel 64, da stand: Handel, Landwirtschaft und Gewerbe besonders zu schützen – klipp und klar stand es geschrieben. Wir Bauern sind im Recht, und das System ist im Unrecht, es fälscht die Verfassung (ob sie gut ist oder schlecht). Sie waren niemals sonderlich gute Christen, die Bauern dort oben, aber Gott und den Teufel haben sie immer deutlich zu unterscheiden gewußt. Jedwedes Ding in seinem wahren und echten Kern, das war Gott, der Teufel aber, das war die Verfälschung. Das System war des Teufels. Unsere Sache ist gut, sagten die Bauern, eine gute Sache ist für alle gültig, also kämpfen wir für alle, und alle müssen für uns kämpfen. Dies war der Punkt, der Ive die Hoffnung gab. Zwei Wege gibt es, sagte Ive, entweder, wir bauen weiter an unserer Position, wir tragen die Bewegung ins Reich, mit dem einzigen Ziel der Erhaltung des Bauernstandes, komme, was kommt... Ja, sagte Hamkens, mehr wollen wir Bauern nicht – oder, fuhr Ive fort, wir handeln von vornherein als Stoßtrupp einer neuen Wirklichkeit, wir zielen auf eine Gesamtverwandlung der deutschen Lage, nicht als Land gegen die Stadt, sondern als Keimzelle eines neuen Staates, revolutionär, wenn ihr wollt, und jedenfalls mit allen Mitteln. Das, sagte Claus Heim, das müssen wir wollen. Der alte Reimann vom Notausschuß Süderdithmarschen sah Hamkens und Heim an: Diese zwei Wege sind ein Weg, sagte er, und ich meine, uns ist ein Pfund in die Hand gegeben, mit dem müssen wir wuchern. Ive wandte sich an ihn: Was jetzt beginnt, ist kein Spaß mehr. Ihr müßt wissen, wie weit eure Kraft reicht, und ob eure Zuversicht nicht größer ist als eure Kraft. Ihr wolltet die Solidarität, ihr habt sie. Die Arbeiterschaft kannte kein Mittel, sich zu befreien, als sie. Was sie erreichte, sehen wir jetzt. Wir kennen die Lockung, statt das System zu stürzen, sich behaglicher in ihm einzurichten. Wer ihr nachgibt, der ändert nichts. Wollt ihr nachgeben, oder ändern? Ändern, sagten Heim und der alte Reimann sofort, und auch Hamkens sagte: Ändern. Und der Kampf der Bauern ging weiter; dafür sorgte schon der Verwaltungsapparat. Aber dieser Kampf stand nun unter einem anderen Aspekt. Und dafür sorgten Claus Heim und Ive und alle, die mit ihnen eines Sinnes waren, und das waren viele. Fast unmerklich verschob sich der Wertakzent. Das wußte Ive: Was nicht von vornherein in einer Sache begründet lag, das durfte nicht erzwungen werden, Man macht nicht Revolutionen mit der flachen Hand. In dieser Bewegung aber lag begründet, was weiter und tiefer und härter wirken wollte. Eines wuchs zum anderen, und es galt, die Richtung zu weisen und das Tempo zu bestimmen. Stand das Landvolk auf gegen die dichte Decke des Systems, so bildete sich schon unter der dichten Decke der Bauernfront der neue Kern, bestimmt, das System zu ersetzen. Dies geschah zwangsläufig, als notwendige Folge des Kampfes, nicht programmatischer Erwägung. Die Provinz lag in den Händen der bäuerlichen Führer. Alles, was Bauernsache war – und bald mehr als das – entglitt der verwaltenden Hand. Claus Heim hatte mehr zu bestimmen als der Oberpräsident, und der Notausschuß mehr als der Gemeinderat. Die Gemarkung gewann für den Bauern einen neuen Sinn: den engster Notgemeinschaft, statt im Landkreis fügten sich die Gemarkungen nun zusammen in durch die Eigenheit der Landschaft natürlich begrenzte Kampfbezirke; und waren die kleinen Städte und Märkte nicht abhängig vom platten Land? An sie ging der Ruf, sich anzuschließen, und bald sollte er „dringender werden, die Bitte sich in Drohung verwandeln. Selbstverwaltung, das war das Wort. Selbstverwaltung? fragten die Journalisten, die aus der Stadt zu den Bauern kamen, und zogen die Augenbrauen hoch, das ist ja ein demokratischer Gedanke! Ob das demokratisch ist oder nicht, ist uns wurscht, sagten die Bauern, und zogen die Augenbrauen hoch, wir dachten, euer System sei demokratisch? Gebt es nur dem Landbund ordentlich, sagten die Journalisten, die plötzlich entdeckten, daß sie immer schon ein gutes Herz für die Bauern hatten. Ihr versteht uns nicht, sagten die Bauern, euer Kampf ist nicht unser Kampf. Es gilt, schrieb Ive, die Bauernschaft des ganzen Reiches zusammenzufassen. Nicht zu Vereinen und Verbänden, diese mögen bestehen bleiben und weiterhin sich ihrer Arbeit widmen, und der einzelne Bauer mag Mitglied bleiben, wo er bislang Mitglied war. Aber was wir in Schleswig-Holstein erreichten, muß gültig werden für alle Provinzen: Die unbedingte Solidarität des Landvolkes, die Selbstverwaltung der bäuerlichen Gemeinschaften und die Ausschaltung des bauernfremden Systems von der Bestimmung in bäuerlichen Angelegenheiten. Wir sind ein Glied des Staates, und nicht das unwichtigste, bilden wir, wie die organisierte Arbeiterschaft, sozusagen einen Staat im Staate, der als Gleicher unter Gleichen verhandelt von Macht zu Macht. Wir haben damit begonnen, wir haben diesen Weg beschritten, als den einzigen, der uns möglich war. Unsere Aufgabe wurde uns: Vorbild zu sein, und das Ziel bleibt: Die Neuordnung der deutschen Dinge. Aber das war ein zweigeteilter Ive, der das schrieb. Er spürte, das war etwas mager und keineswegs ausgereift. Er hatte den Gedanken so hingeworfen, einen Hobelspan seiner Arbeit. Aber bald sollte er Popularität gewinnen. Denn die Behörden griffen durch. Polizei umstellte das Haus, durchsuchte die Räume der Druckerei und der Redaktion, raffte zusammen, was sich an Papieren fand, und als Ive sich umsah, da hatte sich ihm ein Verfahren angehängt. Hoch- und Landesverrat, sagte der Untersuchungsrichter. Hochverrat, weil Ive offensichtlich die Verfassung stürzen wolle, und Landesverrat, weil dies offensichtlich nur durch die Abtrennung der Provinz von Deutschland geschehen könne. Sollte dies möglich sein, fragte sich Ive, das da dünkt ihnen gefährlicher als meine Hetzereien? Dem Untersuchungsrichter mochte die Geschichte wohl auch etwas dünn erscheinen, er übergab schleunigst die Akte der Staatsanwaltschaft mit einem freundlichen: Stelle anheim. Der Staatsanwalt aber blätterte „Das Landvolk“ von der ersten bis zur letzten Nummer durch, den Rotstift in der Hand, und als Ive sich zum anderen Male umsah, da hatte er siebenundzwanzig Beleidigungsprozesse am Hals. Es geschah dies aber zu einer guten Zeit, denn der Frühling drängte die Bauern zur Feldbestellung und der Sommer lag vor ihnen mit aller Arbeit, und wenn sie auch bei Gelegenheit pünktlich zusammenkamen, den Übergriff des Verwaltungsapparates abzuwehren, so suchten sie doch die Gelegenheit nicht. So war es verhältnismäßig ruhig im Lande, und keiner dachte, daß dies als ein Zeichen der Unterwerfung könnte angesehen werden. Da kam dies. Da wurde Hamkens verhaftet, da regneten die Zahlungsbefehle ins Haus, da begann es wieder mit den Zwangsvollstreckungen. Fangt ihr wieder an? fragten die Bauern. Das ist reiner Übermut. Aber wie ihr wollt! Jetzt war Hamkens still, und Heim war der große Mann.

*

Der Amtsvorsteher von Beidenfleth war ein streng rechtlich denkender Mann, der sich unter allen Umständen au den Buchstaben des Gesetzes hielt. Gewissenskonflikte kannte, er darum nicht. Der Kampf des Landvolkes traf ihn hart, ohne ihn zu erschüttern. Während des Ochsenprozesses trat er als Zeuge auf, und was er, unbewegt und breitschultrig vor Karl dem Großen stehend, zu sagen hatte, belastete, im Sinne des Gesetzes, die Bauern schwer. Was er aussagte, war von gleicher Bestimmtheit, wie die Aussage der Angeklagten, es waren auch die gleichen Worte, nur, daß er die Vorgänge als Unrechtmäßigkeit empfand, und die Angeklagten als Rechtmäßigkeit. Zwischen ihm und den Angeklagten wirkte der zweite Belastungszeuge, der Landrat von Itzehoe – schmal, nervös und bemüht, immer auszugleichen – fast als komische Figur. Die Bauern hatten keinen Hasse gegen den Landrat, ihnen galt er nur als der lästige Vertreter eines lästigen Systems. Der Amtsvorsteher von Beidenfleth aber, Bauer der Herkunft und der Lebensweise nach, stand nicht zu den Bauern, entzog sich der bäuerlichen Solidarität. Auch späterhin änderte er nichts an seiner Haltung, scheute keinen Boykott und keine Drohung. Als die zweite Welle der behördlichen Zwangsmaßnahmen über das Land ging, verwaltete er sein Amt mit der Unbeugsamkeit, die er immer bewiesen hatte, selbst dann, wenn seine Anordnungen im Leeren verhallten. Eines Abends, gerade als er sich zu Bette begab, ertönte vor seinem Hause ein heftiger Knall. Eine Fensterscheibe zersplitterte. Der Amtsvorsteher trat vor das Haus, um nachzusehen, was es gäbe. Er entdeckte nichts, als die verbrannten Reste eines Feuerwerkskörpers. Pflichtgemäß meldete er den Vorfall seiner vorgesetzten Behörde, dem Landratsamt, mit allen Einzelheiten, und ohne selber irgendwelche Folgerungen zu ziehen. Der Landrat befand sich in höchster Erregung. Ein Bombenanschlag habe das Haus des Amtsvorstehers zerstört, gab er der Presse bekannt; und die Zeitungen brachten diese Nachricht mit großer Überschrift. Die gutgesinnten Elemente, so schrieben sie, wenden sich mit Abscheu von diesen Methoden des politischen Kampfes. Und: Wir hoffen, die Behörden werden mit erhöhter Bereitschaft über die Sicherheit des Landes wachen. Eine Kommission, so hieß es weiter, habe sich augenblicklich an Ort und Stelle des verbrecherischen Anschlags begeben. Was sie ermittelte, konnte noch nicht bekanntgegeben werden. Es wurde nie bekanntgegeben. Die Bauern schüttelten die Köpfe, aber, je nun, es wird dem Amtsvorsteher nichts geschadet haben. Auch Hinnerk schüttelte den Kopf. Ein Bombenanschlag? Das war ihm neu. Immerhin gab es ihm zu denken. Ein Bombenanschlag, sagte der Landrat erschüttert, wohin war es in seinem Kreise gekommen! Wenn einer, so war er doch unschuldig, und alles hatte er getan, um die Not in seinem Kreise zu lindern, alles, was immer er hatte tun können. Und das war der Dank! Nein, es lohnte sich nicht, fürder Milde walten zu lassen. Eines Abends, gerade, als er sich zu Bette begab, ertönte vor seinem Hause ein heftiger Knall. Mehrere Fensterscheiben zersplitterten. Der Amtsdiener trat vor das Haus, um nachzusehen, was es gäbe. Er entdeckte nichts als die verbrannten Reste einer Bombe. Ganz zweifellos war es kein Feuerwerkskörper, das war ein Sprengstoff, der da den großen Eckstein aus der Fassade des Hauses gerissen hatte. Ein Sprengstoffattentat, stellte die Polizei fest, und die Zeitungen brachten es mit großer Überschrift. Dem verbrecherischen Treiben, so schrieben sie, muß nun ein Ende gemacht werden. Und: Wir fordern die Behörden auf, die schärfsten Maßnahmen zu ergreifen, um dem friedlichen Bürger die Sicherheit zu gewährleisten, auf die er Anspruch hat. Die Bauern schüttelten die Köpfe, aber je nun, es wird dem Landrat nichts geschadet haben. Auch Hinnerk schüttelte den Kopf. Ein Sprengstoffattentat? Und er beugte sich, umringt von der neugierigen Menge, die vorm Landratsamt zusammenkam, über den Eckstein. Nach meiner Erfahrung, sagte er, ist das kein Sprengstoff, das ist Schwarzpulver, ganz gewöhnliches Schwarzpulver, mit diesem Leukoplast umwickelt, und hielt ein Ende schwärzlichen Klebebandes hoch. Immerhin, sagte er zu dem Wachtmeister, der die Menge aufforderte, auseinanderzugehen, immerhin muß der Mann einige Erfahrung haben! Ein Sprengstoffattentat, sagte der Regierungspräsident in Schleswig, als er die Nachricht erhielt. Er schätzte die Landvolkbewegung gering, etwa als ein einfaches Strohfeuer, von berufsmäßigen Hetzern geschürt. Mißbilligend blickte er auf die Unfähigkeit der untergeordneten Verwaltungsorgane. Stand er selber nicht ausgezeichnet mit den Spitzen der landwirtschaftlichen Vertretungen? Verhandelte er nicht in Ruhe und Frieden und Sachlichkeit mit den leitenden Herren der grünen Front? Diesen Bombenwerfern gegenüber muß ein Exempel statuiert werden. Eines Abends, gerade als er sich zu Bette begab, ertönte vor seinem Hause ein heftiger Knall. Sämtliche Fensterscheiben zersplitterten. Der Portier trat vor das Haus, zu sehen, was es gäbe. Er entdeckte nichts, als die verbrannten Reste einer Bombe und etliche zerfetzte Eisenteile. Die ganze Fassade des Regierungsgebäudes bis hoch hinauf war beschädigt. Eine Höllenmaschinenexplosion sagte der sofort herbeigerufene Sachverständige. Die Zeitungen brachten es mit großer Überschrift. Menschenleben sind zwar nicht zu beklagen, schrieben sie, aber zweifellos ist dies nur einem Zufall zu verdanken. Und: Die Höllenmaschinenattentatsserie ist ein Hohn auf die Staatsautorität. Die Bauern schüttelten nicht mehr die Köpfe. Je nun, sagten sie, es wird dem Herrn Oberbonzen nichts geschadet haben. Aber: Wir Bauern wollen das nicht, sagte Hamkens, der seine vierwöchentliche Haft wegen Pfändungsbruches abgebüßt hatte. Das ist nicht Bauernsache, sagte er, landfremde Elemente... Was soll das heißen, fragte Ive. Ich kenne das mit den landfremden Elementen; das wird immer gesagt, wenn die eigene Sache anfängt zu stinken. Und Hinnerk grinste: Seit wann ist die Milbe dem Käse fremd? Wir Bauern wollen das nicht, sagte Hamkens. Bin ich landfremd? fragte Claus Heim. Da schwieg Hamkens still. Ive wollte keinen Riß, und er beschloß, Hinnerk etwas an die Kandare zu nehmen. Doch lange war Hamkens nicht verstimmt; denn die Bauern wollten das doch, und bald knallte es überall, hier und dort, und nicht mehr im Holsteinischen allein, auch im Oldenburgischen und in Lüneburg. Die Zeitungen hatten Photographien der gefundenen Eisenteile gebracht, nebst einer genauen Anleitung, wie die Höllenmaschine herzustellen war. Auch Ive versäumte nicht, die Bekanntmachungen der Polizei sorglich abzudrucken. Die Bombenanschläge, schrieb er als Kommentar, haben mit der Landvolkbewegung als solche nichts zu tun. Wir bilden keine Organisation, wir vermögen dem Betätigungsdrang des einzelnen, solange er sich nicht gegen die Bewegung selbst richtet, keine Schranken zu setzen. Es ist Sache der Polizei, nicht die unsere, die Bombenanschläge zu unterbinden. Wie dem auch sei, schrieb der Itzehoer Generalanzeiger, wir kennen den moralischen Urheber dieser verbrecherischen Anschläge. Und Ive machte das Wort moralisch besonderen Spaß. Ihm dünkte es einigermaßen unsinnig, von einem Revolutionär eine andere als eine revolutionäre Moral zu verlangen. Natürlich wußte er, daß seine Schreib- und Handelsweise demagogisch war, aber er befand sich im Kampf, und der wurde seit altersher nicht mit treuherziger Überredung geführt, und im Kriege waren die Granaten niemals mit Zucker gefüllt. Nicht darauf kam es ihm an, ob Demagogie moralisch einwandfrei war, oder nicht, sondern ob die ihrem Ziele gut diente oder schlecht. So unterschied er primitive und kunstvolle Demagogie, und war geneigt, je nach Gelegenheit beide anzuwenden. Aber das ist rein kommunistisch gedacht, sagte der kommunistische Abgeordnete, der aus der Stadt kam, die Bewegung zu beobachten, und zog die Augenbrauen hoch. Ob das kommunistisch ist oder nicht, sagte Ive, das ist uns wurscht, und zog die Augenbrauen hoch, ich dachte, die Ablehnung des individuellen Terrors sei kommunistisch? Gebt es nur dem kapitalistischen System ordentlich, sagte der Abgeordnete, der plötzlich entdeckte, daß er immer schon ein gutes Herz für die Bauern hatte. Ihr versteht uns nicht, sagte Ive, euer Kampf ist nicht unser Kampf. Freilich spürte Ive, daß die kunstvolle Demagogie, sozusagen jene mit dem ideologischen Überbau, eine größere werbende Wirkung haben mußte. Aber in diesem Stadium des Kampfes kam es auf die werbende Wirkung nicht so sehr an. Sie konnte sogar eher schädlich sein. Wie alle Hoffnung in der Bewegung selber lag, so auch alle Gefahr. Die Bewegung durfte nicht zur Partei werden. Es galt, ihre Energien zu richten, nicht, sie zu binden. Tatsächlich lag die ideologische Begründung schon von Anfang an im Tun der Bauern, wenn sie auch nicht ausschlaggebend war (das wurde sie erst später). Es war ja nicht der Hof allein, die Substanz allein, die erhalten werden mußte, der ganze Bauernstand als tragender Bestandteil des ganzen Volkes durfte nicht verschwinden. Das „Standhafte“ durfte nicht verschwinden zugunsten des Fluktuierenden. Arbeit als Ware, das stimmte hier nicht, denn alle Arbeit war für den Hof, wie konnte da Arbeit Ware sein? Überhaupt, alles, was in der Stadt, was für den Arbeiter, für den Unternehmer gültig sein mochte, das stimmte hier nicht. Der Bauer war Arbeiter und Unternehmer zugleich, und zugleich war er keines von beiden, er war Bauer. Der Großbetrieb sollte rentabler sein, als der Kleinbetrieb? Auch das stimmte nicht, alles stimmte nicht. Der Grafenecke von Eckernförde, dem Landkreis mit Großgrundbesitz, ging es noch schlechter als der übrigen bäuerlichen Provinz. Die Grafenecke war nicht mit im Kampf des Landvolks. Sie war wohl auch nicht dagegen, sie konnte einfach nicht dies oder, jenes sein. Möglich, daß der Großgrundbesitz zu fest in der kapitalistischen Verflechtung steckte: seine Sorgen waren nicht die Sorgen der Bauern, wenigstens nicht unbedingt. Ihr denkt kapitalistisch, sagten die Arbeiter der kleinen Städte zu den Bauern. Die Bauern sagten: Wir steckten allen Gewinn in den Hof. Da konnte er sich gerade halten. Heuer stecken wir mehr als den Gewinn in den Hof, wir arbeiten das ganze Jahr, und dann schließen wir mit Verlust ab. Wir hätten ja auch das Geld auf die Bank tragen können und hätten können das ganze Jahr zum Fenster herausschauen, dann hätten wir keinen Verlust gehabt. Warum tun wir das nicht? Warum verkaufen wir nicht den Hof und leben von den Zinsen? Das wäre kapitalistisch gedacht. Wir denken nicht kapitalistisch, wir denken an den Hof. Der Hof ist keine Fabrik, und die Arbeit ist keine Ware. Ihr denkt zu wenig volkswirtschaftlich, hatten die Herren auf dem Finanzamt gesagt. Die Bauern sagten: Auch vor dem Kriege hatten wir nie mehr als zwei Prozent Rente gehabt; das langte gerade für die Erhaltung des Hofes. Heute verludern wir die Substanz. Warum tun wir das? Wir können leben ohne zu liefern und ohne zu kaufen, sollen wir euch das beweisen? Aber wir liefern und kaufen. Weil wir den Hof weht trennen können vom Volk. Wir wollen nicht auf einer Insel leben, wir leben mit dem Volk, wir sind selber Volk, wir sind selber auch Volkswirtschaft. Was also macht ihr mit dem Gelde aus unserer Substanz? Die Herren vom Finanzamt hatten gesagt: Reparationen. Das ließ sich hören, wer verliert, muß die Folgen tragen. Und was machen die Franzosen mit den Reparationen? fragten die Bauern. Sie bezahlen ihre Schulden an Amerika. Und was macht Amerika mit dem Geld? Es gibt uns Kredite. Das ist ein Unsinn, sagten die Bauern, was dann, wenn wir keine Reparationen zahlen? – Dann sperren sie uns die Kredite und nehmen uns unsere Waren nicht ab. – Und wenn wir zahlen, dann zahlen wir in Waren, und wir verstopfen den Markt. – Das ist das Transferproblem. – Was ist das? – Und die Herren vom Finanzamt erklärten es ihnen. – Also, da sitzen unsere gelehrten Professoren und zerbrechen sich die Köpfe, wie wir aus unserer Substanz zahlen können, ohne die Substanz der anderen zu zerstören? Und dafür werden sie bezahlt? Mit dem, was ihr von uns nehmt? – Revision der Verträge! – Bis dahin sind unsere Höfe futsch und eure Volkswirtschaft auch. Das alles ist ein Unsinn, sagten die Bauern. Ihr sagtet immer, der Krieg war ein Unsinn, ist das heuer vielleicht weniger unsinnig? Wir riskieren unsere Haut nicht für einen Unsinn. Ihr vielleicht? Aber euer Verwaltungsapparat hat ja immer in der Etappe gesteckt! – Was wollt ihr eigentlich? fragten die Herren vom Finanzamt. Euch nicht, sagten die Bauern und zogen von dannen. Und dann knallte bald darauf eine Bombe. Bomben sind keine Argumente, schrieb das Berliner Tageblatt. Aber es erwies sich, daß Bomben Argumente waren. Ive beobachtete das mit Freuden. Er beobachtete den merkwürdigen, spiraligen Prozeß, den die Bewegung, den jede Bewegung durchmachte. Hier begann es mit dem Hof, und durchlief alle Skalen des Denkens, der Vernunft und der Leidenschaft, am beim Hofe wieder zu enden. Oft ertappte er sich, wenn er einen Gedanken niederschrieb, lächelnd innehaltend, daß er dasselbe lange Zeit vorher schon einmal gedacht. Schon einmal gedacht, und dann verworfen; nun aber ergriff es erneut von ihm Besitz, und mit welcher tollen Erfahrung ausgestattet, gereift, geläutert, bezweifelt und gefestigt! Und blieb doch derselbe simple Gedanke, nun von erschwertem Gewicht. Epochen sind so ausgefüllt, das Leben selbst unterliegt einzig diesem Prozeß. Der Hof, das war Leben, standhaftes Leben, und allen Phasen unterworfen. Es gab eine Zeit, da wollte der Bauer nicht mehr Bauer sein: Er nannte sich Landwirt, oder Ökonom. Zu ihm kam, was nicht im Wesen des Hofes lag, nicht im Wesen seiner Arbeit, und doch um des Hofes willen nützlich und angenehm. Das begann vielleicht mit einer kleinen Verlockung, die nichts bedeutete und alles schon aussagte. Reiche Zeiten sind billige Zeiten, das leuchtete ein. Es war ein Unsinn, die harte Arbeit an jedes Stück zu setzen, wenn jedes Stück billig zu ersetzen war. Die alten Truhen zermorschten, die alten Schränke, die jahrhundertelang gedient, quollen in den Scharnieren. Da kam der giftgrüne Teppich ins Haus, das Vertikow und der Serienschrank. Da kam das Troddelsofa und der Kristallspiegel, da kam der Salon, die kalte Pracht. Da kam der Lüster, glitzernd im Schmuck seiner hundert geschliffenen Gläser, das gute Stück, das die Hausfrau sogleich sorglich in Leinewand hüllte, denn ihn vom Staub und von den Spinnweben zu säubern, erforderte die Mühe, die dem Hofe abging. Da kam das elektrische Licht und das Telefon, und der Staubsauger und die Milchzentrifuge und späterhin der Radioapparat. Bedauerte das der Bauer? Er bedauerte das nicht; denn der Bauer war Landwirt geworden, er war modern und mußte das sein. Er hatte seinen Verband und seine Genossenschaft und seine Kreditbank – und er hatte sich das alles selber geschaffen, und es war nützlich und angenehm. Dummer Bauer, sagte der gute Landwirt vom schlechten Landwirt, und sprach von Weltmarktpreisen und trug das Geld zur Bank. Die Poesie ging zum Teufel; die alten Trachten verschwanden und die alten Feste und Tänze und Lieder; nicht mehr saßen abends die Mädchen am Spinnrad und erzählten sich mit den Burschen eins: sie schwoften in dem mit Papiergirlanden geschmückten Etablissement an der Chaussee zum Klange des Grammophons. Die Poesie ging zum Teufel und die Leute in der Stadt bedauerten das tief. Die Leute in der Stadt schrieben rührende Bücher darüber und gründeten Volkstrachtenvereine, und Protektorin war eine hohe Frau und der Lehrer führte die Sache im Dorfe ein. Das war auch ein ganz schöner Karneval, aber anderen Tages wurden die Trachten wieder in den Schrank gehängt, denn wie soll das Mädchen an der Häckselmaschine stehen mit den breiten Röcken? Als die Jugend in der Stadt aufstand, den Durchbruch gegen das Bürgerliche zu vollziehen, da fand es sich, daß viele Wandergruppen aufs Dorf kamen – denn da sie es nicht mit dem Bürgerlichen haben wollten, hatten sie es mit dem Bäuerlichen – um den Bauern zum Klange der Fiedel, beileibe nicht der Geige, eins vorzutanzen und vorzusingen. Das war auch ganz schön, aber bäuerlich war das nicht. Das mit der Naturverbundenheit, von der die Leute in der Stadt anfingen, zu reden, das stimmte. Der Landwirt, oder der Bauer, wenn ihr wollt, wußte genau, wie sein Boden beschaffen war: Wo Kies unter dem Acker lag, oder Mergel, oder Lehm, das war wichtig zu wissen wegen der Melioration, und freilich konnte das nur lange Erfahrung lehren; wußte genau, wohin das Gewitter zog, wo es nicht weiter konnte, wußte, wo es gut war, den Bach zu regulieren, und wo nicht. Er ließ das Unterholz im Walde, trotzdem es die Bäume am geraden Wachsen hinderte; denn die Singvögel nisten im Unterholz und fangen das Ungeziefer weg, und der schönste Nutzforst mit den glättesten Stämmen geht zu Bruch, wenn der Borkenkäfer drinsteckt oder die Forleute. Die Poesie ging zum Teufel (wenn sie jemals da war); – aber war das nichts, wenn der Hofbesitzer an der Dreschmaschine stand und sich das goldene Korn durch die Finger rieseln ließ? War das nichts, wenn die Neunzentnersau den ersten Preis gewann auf der landwirtschaftlichen Ausstellung in Neumünster? Der Hof blühte, und man konnte dran denken, anzubauen, sich Maschinen anzuschaffen, oder eine neue Kutsche, oder – denn man ging immer mit der Zeit – sich den Schweinestall neu einzurichten, hygienisch, mit Kacheln und blitzenden Metallgestängen, wenn das sich als gut erweist (aber es erwies sich nicht als gut: was ein rechtes Schwein ist, verträgt die Hygiene nicht). Der Hof prosperierte und alles war klar, einfach und gut. Das mit der Landflucht war Unsinn, wenigstens dort oben. Wie soll der Hof bestehen bleiben, wenn die Söhne sich die Erbschaft teilen? Die nachgeborenen Söhne flohen das Land nicht, die halfen es erhalten. Sie wurden zum großen Teil Proletarier, und das war ein Elend; aber was der alte Bismarck hatte für die Landwirtschaft getan, das tat ja wohl der junge Kaiser für das Arbeitertum, und im übrigen sehe jeder, wo er bleibe. Auch der Landwirt hat sein Elend, seine Not, seine schlechten Zeiten, wenn die Ernte verhagelt, oder die Dürre das Korn wegbrennt, oder die Seuche in den Stall einzieht. Reiche Zeiten sind billige Zeiten, und wenn die Weltmarktpreise schlecht sind, so haben wir immer noch den Zoll. Und es war gut, eine große und unendlich verknüpfte Organisation zu haben, an die man sich halten konnte, wem Interesse gegen Interesse stand. Hatte sich das Bürgertum, die Industrie, das Gewerbe seinen Apparat geschaffen, die Arbeiterschaft den ihren, so auch die Landwirtschaft, und das griff nun eins in das andere. Da wußte sich der Bauer ein wichtiges Glied des Staates und seine Produktion die Grundlage aller Wirtschaft. Wohin er auch blickte, überall sah er die gleiche sinnvolle Ordnung, nach der Wertskala des Nutzens aufgebaut und sich immer mehr vervollkommnend. An dieser Ordnung und an allem, was in ihr geschaffen wurde, hatte jedermann unmittelbar Anteil, jedermann empfand unmittelbar den beglückenden Anreiz zu neuer, ordnender Arbeit, und wo Mangel war, da mühte sich der menschliche Geist, immer neue, immer kompliziertere Gebilde zu schaffen, und wo Ungerechtigkeit war, da war bald auch Fortschritt, ein einziger, vorstürmender Prozeß. Bis in die fernsten Winkel der Welt griff die ordnende Hand, ein mächtiger, hinreißender Geist hatte die Erde erobert, das strahlende, große Gebäude errichtet, und durchflutete es von den Fundamenten bis zum atemraubenden Gipfel. Der unaufhörliche Fortschritt schien das Wesen des Geistes zu sein, und sein Mittel die immerwährende Verwandlung. Unerschöpfliche Energien türmten die Städte zu steinernen Gebirgen, stürzten sich auf das Atom und mühten sich, es kunstgerecht zu zertrümmern. Der reiche Schatz der Elemente sprühte seine Strahlen ins Gewölbe, wie der Mensch die Funken und Wellen, eine ungeheure, verfeinerte Vergeudung aller Kraft, die zu bändigen immer nur bis zu einem immer weiter vorgeschobenen Punkte gelang. Ein Spielball des schöpferischen Geästes schien die Erde geworden zu sein, und die Regeln des Spieles au erforschen, daran war alle Aufgabe gesetzt. Denn jegliche Kraft erzeugte Überschuß, und bald schien es wichtiger, statt zu produzieren, die Gesetze der Produktion zu erkennen, um in der bestürzenden Flut des Überschusses das nützliche Gleichgewicht zu halten. Es schien, als ob die freigelassenen Energien sich nun gegen sich selber richteten, immer heftigere Stöße ließen die Balken der Waage schwanken, bald den einen, bald den anderen tief nach unten zu schlagen. Wo hier es sich in verwirrender Verästelung ballte, da weitete es sich zu hohlen Räumen dort, in denen die Gase zogen und schwelten; zerstörende Explosionen zerrissen hier und dort die stählernen Wände, und eine warf den zündenden Funken der anderen zu. Dieselbe geheimnisvolle Macht, die der mächtigen Periode den Schritt zum Siege und zum Untergang beflügelte, wiederholte mit äußerster Gewalt zusammengepreßt im großen Kriege den grausam prächtigen Prozeß; was mit Fanfaren und Vormarsch begann, in glänzenden Siegen den Scheitelpunkt fand, führte über zähe Vergeudung der völligen Erschöpfung zu. Wer glaubte den Krieg zu beherrschen, den beherrschte nun der Krieg; und unter dem blutigsten Zwang, in der Nähe des Todes bestanden die Werte die Probe nicht, die für die Unendlichkeit geschaffen schienen, und stumm blieben auf die einfache Frage nach dem Sinn. Wo dem einzelnen die Unnützlichkeit seines nützlichen Tuns sich zeigte, wuchs die Gewißheit einer volleren, einer reiferen Gewalt, die, mit allen Wundern des Wachstums sich entfaltend, den Sinn auf das Unsichtbare richtend, jegliche Erscheinung mit neuen, gleichsam hintergründigen Augen zu sehen lehrte. Noch war die alte Ordnung da, doch die Kraft, die sie gefügt, entzog sich ihren Regeln. Wo auch das vielfältige Leben, in diese Ordnung eingebannt, gefesselt in die riesige, leerlaufende Maschine, Zugriff, das Geschick zu meistern, da griff es fehl. So galt es wohl, den Kreislauf zu vollenden, sich vorzutasten zum Zurück, zu jenem Ausgangspunkt, zu jenem unerschütterlichen Kern, der einst Beginn war und nun wiederum Beginn. Es gab keine reichen Zeiten mehr, und das einzige, was billig war, das waren die Erklärungen der Professoren und Politiker; billig und in Massen verbreitet, aber nicht gut. Denn von einer Erklärung mag man verlangen, daß sie verständlich ist, aber längst schon war die Wissenschaft eine Geheimwissenschaft geworden, und die Politik eine Geheimpolitik, dem gemeinen Verstände nicht mehr ohne weiteres zugänglich. Was da mit Zahlen und fremden Worten sich als Problem wichtig machte, das mochte stimmen oder nicht stimmen, niemand konnte es kontrollieren. Da gedieh die wilde Lust zum Experiment, und wenige Gemäuer gab es, in denen sich nicht die Laboratorien eingenistet mit ihren Retorten und Kesseln, und in den Gefäßen brodelte das mannigfaltige Gebräu und die Dämpfe zogen in dichten Schwaden über das Land. Erkennen und Verändern, sagten die einen und hantierten mit ihren Töpfen und Tiegeln und schmorten Marx und Hegel zusammen zum Stein der Weisen. Andere zerstocherten die schwärzlichen Reste und mixten sie nach neuem Rezept und brannten das Pulver ab und glaubten, im magischen Schein des bengalischen Feuers, das sei konservativ und revolutionär zugleich. Das war wahrhaft die große Zeit unseres wackeren Grafenstolz; ihm war die Welt entschleiert mit ihren guten und bösen Mächten, und wenn das eine Fiktion war, so war es eine, die seine feurige Seele nicht zaghaft machte. Gebt Raum, schrie es in Grafenstolz, und er trat an gegen die überstaatlichen Mächte, und gegen die Demokratie, die eine Fiktion der Zeitungen war und gegen die Fiktion der Verfassung, die freie Republik. Wie soll ich das wissen, ich bin nur ein dummer Bauer, sagte Hamkens, als ihn die Herren vom Landwirtschaftsrat fragten, was er dächte von der Wirkung der großen Roggenstützungsaktion, ich kann das nicht wissen, aber fragt nur den Geheimrat Sering, der weiß es nämlich auch nicht. In der Tat wußte es der Geheimrat ganz genau, denn er war kein dummer Bauer; die Geheimräte wußten es immer ganz genau, und wenn nicht so gehandelt wurde, wie sie es gesagt, dann hatten sie natürlich recht gehabt, und wenn so gehandelt wurde, dann war es falsch. Falsch war es immer, nicht nur bei den Geheimräten, auch bei den Bauern. Zuerst war bei den Bauern einzelnes nicht gut und mußte abgeändert werden, dann immer mehr, und für ein gestopftes Loch rissen sich zwei andere auf; denn eins griff in das andere, und was sich einst als ein Segen erwiesen, erwies sich nun als ein Unsegen. Also mußte alles geändert werden, sagten die Bauern, sie sagten: wir haben alles schon gehabt, die Naturalwirtschaft und die intensive Wirtschaft und die spekulative Wirtschaft, wir haben es mit den Genossenschaften versucht und mit den Verbänden, alles hatte dem Hof genützt zu seiner Zeit, jetzt nützt dem Hofe nichts mehr; fangen wir von vorne an! Der Hof war das einzige was blieb, der feste Kern ihres Denkens; gebt Raum, sagten die Bauern, ihr werdet uns den Hof nicht zerschlagen, oder uns mit. Und dies geschah just zu der Zeit, als der giftgrüne Teppich den glänzenden Plüsch verloren hatte, und der graue Untergrund zum Vorschein gewetzt war, rauhe, popelige Sackleinwand, als die glitzernden Glasstückchen des Lüsters den Kindern zum Spiel dienten, als das Vertikow in der Remise stand, die Futtersäcke aufzubewahren; es lohnte sich wieder, harte Arbeit an ein gutes Stück zu setzen, es lohnte sich alles wieder, was unmittelbar für den Hof geschah. Gebt Raum, sagten die Bauern, und längst waren es die Steuern nicht mehr allein, nicht die Abgaben, nicht die verfehlten Handelsverträge, die sie das sagen ließen, es war das Bewußtsein, an rechter Stelle zu stehen gegen eine brodelnde, stinkende, raffgierige Flut; es war der Wille, neu zu beginnen, vom ewigen Hofe aus, nachdem ein Zeitalter zu Ende war, ein prächtiges Zeitalter, ein gewaltiges Zeitalter, aber vorbei nun, vorbei! Weg mit dem Schutt nun und mit dem Gerümpel, das überall im Wege stand, und weg auch mit denen, die es schützten, sie wußten wohl selber nicht, warum. Wer hält eine Ordnung, die keinen Sinn mehr hat, als der, der zu feige ist, eine neue zu riskieren? Und es erwies sich, daß Bomben Argumente waren: um so schlimmer für den, der ihre Sprache nicht verstand. Bauern, erdenfeste Gestalten, denen das Leben harte, greifbare Arbeit war, den natürlichen Sinn auf natürliche Dinge gerichtet, wie jener Claus Heim, bosselten nun mit dem grauen, gefährlichen Stoff, wogen prüfend in den klobigen Händen die gefesselte Zerstörung; sie hockten beisammen in der prickelnden Luft der Verschwörung, und ihre halben, ruhigen Worte gingen um Sprengkraft und Zünddauer; sie schlichen wie Patrouillen im nächtlichen Niemandsland durch die verlassenen Straßen der feindlichen Stadt; und wenn einer weglief, wie jener junge Hofbesitzer, von dem Hinnerk lachend erzählte, dann war es nicht, weil er Furcht hatte, sondern weil ihm die Meldung kam, die Kuh sei beim Kalben. Hier knallte es und dort, und nicht mehr im Holsteinischen allein; und es waren Bauern, die es knallen ließen, die zusammenkamen, von niemandem geheißen, sich suchten und landen und halfen. Freilich, auch aus den Städten kamen sie, Leute vom Schlage Hinnerks, die schon um fünfzehn Ecken das Pulver rochen, und es knallen ließen, weil ihnen das Knallen Spaß machte (und darüber hinaus sich glücklich schätzten, damit ein gutes Werk zu tun). Schlief der Verwaltungsapparat? Er schlief nicht, er griff abermalen zu. Und verhaftete abermalen von allen, die ihm erreichbar waren, den Bauer Hamkens, der ja im Lande umherzog und seine Reden hielt. Und wenn er auch nie von den Bomben sprach, so schien gerade das am gefährlichsten, und weil man ihm nicht viel anhaben konnte wegen der Bomben, so wanderte Hamkens für vier Wochen ins Loch, eine alte Strafe abzubüßen. Vor seinem Gefängnis aber zogen die Bauern hin und her und bildeten eine öffentliche Beunruhigung der Stadt. So brachte man Hamkens in ein anderes Gefängnis und in eine andere Stadt, und andere Bauern zogen hin und her und Hamkens wanderte von einem Kittchen zum anderen und hatte kurzweilige Zeit. Für den Tag und die Stunde seiner Freilassung beschlossen die Bauern aber, zu einem großen Demonstrationszug zusammenzukommen. Nicht so sehr, um den Bauer Hamkens zu feiern, als um den Städtern ihre Macht und ihre Einigkeit zu zeigen und an Ort und Stelle zu sagen, was nottat; denn die Städter wußten zwar viel vom Landvolkkampf, aber nichts Rechtes, und sie begriffen noch immer nicht, wie sehr dieser Kampf der ihre war. Es begab sich aber, daß Hamkens zum Tag und zur Stunde seiner Freilassung in Neumünster sein sollte, der bedeutendsten Mittelstadt der Provinz, mit einiger Industrie und einem tüchtigen Bürgermeister. Der tüchtige Bürgermeister wollte Frieden und Ordnung haben, und da er die Bauern kannte, und den Verwaltungsapparat auch, so tat er dreierlei: Er veranlaßte die Überführung von Hamkens noch in der letzten Nacht nach dem Gefängnis in Rendsburg, er genehmigte den Demonstrationszug der Bauern, und er versteckte die ihm zugesandte Kolonne staatlicher Schutzpolizei außerhalb der Stadt; und so glaubte er, im Interesse seiner Stadt aller Welt ein Schnippchen geschlagen zu haben. Der Bürgermeister von Neumünster war ein tüchtiger Mann. Aber er wußte nicht, was sich den Bauern schon längst gezeigt: Daß nämlich jede Maßnahme, die im Geiste eines untergehenden Zeitalters geschah, sich notwendig in gegenteilige Wirkung verwandeln mußte. Das sollte sich an der Fahne erweisend Wenn für die Bauern die elastische, fast anonyme Bewegung ein politisches Kampfmittel war, der ungreifbare Boykott ein wirtschaftliches, die Bombe ein unartikuliertes Argument, so fehlte noch das sichtbare Zeichen, das bild- und gefühlsbeschwerte Symbol. Wie immer traf hier Hinnerk in seiner natürlichen und unbelasteten Freude an erregender Wirkung mit sicherem Griff das Richtige: Die Fahne! Eine marschierende Bewegung mußte eine Fahne haben, die dem Zuge voranflatterte, die man schwingen konnte, die man aufpflanzen konnte, und um die man sich – das nicht zuletzt – mit vollem Rechte zu schlagen hatte. Schwarz war die Fahne, mit einem weißen Pflug und einem roten Schwert, das große wallende Tuch befestigt nicht an einer simplen Stange, an einer gerade gehämmerten Sense! Die Sensenfahne war das Kampfzeichen der Dithmarscher in den Dänenkriegen, in den alten Farben schwarz-weiß-rot wehte sie, an denen noch viele hingen, und in neuen Zeichen geordnet: es war alles da. Und Hinnerk trug sie voran. Je nun, eine Fahne, sagten die Bauern, und lächelten ein bißchen, wie sie da flatterte, war sie nicht mehr als ein buntes Stück Tuch, doch ganz schön. Auch für den Polizeimeister von Neumünster war sie nicht mehr als ein buntes Stück Tuch; aber wenn zwei dasselbe denken, so ist es noch lange nicht dasselbe. Der Polizeimeister von Neumünster sah die Fahne mit Mißgunst; sie trug nicht die Farben der Republik. Als der Zug sich in Bewegung setzte, zum Gefängnis, in dem Hamkens nicht mehr war, als die Bauern antraten, eine dicke Masse großer, harter Gestalten, deren jede den derben Handstock in der Faust trug (denn niemals geht der Bauer ohne Stock aus dem Haus), als die dichtgeschlossene Kolonne sich durch die fast leeren Straßen wälzte – und aus den Fenstern der Häuser schauten neugierig die Köpfe der Städter, und die Städter riefen sich über die Straße lustige Worte zu, oder auch hämische, denn Neumünster war eine Hochburg der Sozialdemokratie – da schoß dem Polizeimeister von Neumünster die Verordnung aus dem Jahre 1842 durch den Kopf, nach der das Tragen einer ungeschützten Sense in den Straßen der Stadt verboten war, und die Verordnung über das Waffenverbot nach dem Republik-Schutz-Gesetz, und die Verordnung des preußischen Innenministeriums, nach der bei Demonstrationen auch Handstöcke als Waffen anzusehen seien, und noch eine ganze Menge Verordnungen und der Artikel der Dienstvorschrift über das Verhalten der Polizeibeamten bei Provokationen. Da drängelte sich der Polizeimeister von Neumünster durch den Zug der Bauern durch und packte Hinnerk beim Ärmel: Die Fahne, keuchte er, die Fahne! Hinnerk sah den Mann nicht einmal an, er schüttelte sich mit einer einfachen Armbewegung los, die Bauern schoben das uniformierte Hindernis auf ihrem Marsche beiseite, und der Polizeimeister fand sich etliche Reihen hinter dem breitgewölbten schwarzen Tuch an eine Hauswand gepreßt wieder. Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt! Nicht mehr eine Verordnung war überschritten, ein Gesetz war verletzt! Er trabte am Zuge entlang nach vorn, er atmete auf, denn dort, ein Stück Weges noch vor der anmarschierenden Front der Bauern, standen seine Beamten. Die Fahne, schrie er ihnen zu und zog seinen Säbel und rückte, die Reihe seiner Polizisten hinter sich, gegen Hinnerk an. Hinnerk trug die Fahne stolz, mit beiden Händen, hoch aufgereckt und Brust heraus, und blinzelte unter seinem blonden Schopf nach den Fenstern, wo sich die hübschen Mädchen zeigen. Als der Polizeimeister nach der Fahne griff, ließ er nicht los, er schüttelte die Stange heftig, das unnützliche Anhängsel zu entfernen, da blitzte die Klinge und fuhr ihm tief in die Hand. Die nachrückenden Bauern, die nicht sahen, was sich vorne begab, drängten vor mit ihrem gleichmäßigen, unerschütterlichen Schritt, sie preßten die ersten Reihen gegen die Linie der Polizisten, und während Hinnerk sich mit dem Polizeimeister schlug, die Fahnenstange mit blutigen Händen krampfig umklammert, fuhren die Stöcke der Bauern hoch, und zogen die Polizisten blank. Hinnerk hielt fest, Hiebe sausten ihm auf Kopf, Schultern und Arme, er taumelte, fiel, hielt die Fahne fest, wälzte sich, biß, schlug mit den Beinen; die Säbel fuhren auf und nieder, die Stange brach, Arme griffen nach Hinnerk, Schläge prasselten, Füße trampelten, Hinnerk, eingewickelt in das schwarze Tuch, kollerte, wurde beiseite gerissen, erhob sich taumelnd, und verlor, abermals niedergeschlagen, die Besinnung, doch die Fahne nicht. In der ganzen Straße brauste das Gelärme auf, Säbel klirrte gegen Stock, ein blitzender Strahl klatschte dem Hofbesitzer Hellmann ins Gesicht und flitzte ihm die Nase weg, dumpf schlug das feste Holz dem Schutzmann auf den Hinterkopf, Schreie schrillten die Reihen der Bauern entlang, was ist los da vorne? und: Halt, und: die Polizei! Und Claus Heim schrie die Parole aus: Nach der Ausstellung! Langsam löste der Zug sich auf, Hinnerk lag verhaftet und immer noch ohne Besinnung, die Fahne neben sich, in einem Hausgang, der Lärm langsam verebbenden Kampfes verscholl in den Nebenstraßen. Einzeln und in Trupps zogen die Bauern dem neuen Ziele zu; aber der Polizeimeister hatte die vor der Stadt harrende Schutzpolizei alarmiert, und als die Bauern ankamen, da stand Mann neben Mann, die bewaffnete Macht, vor dem Tor des Gebäudes der land-wirtschaftlichen Ausstellung und nahm einem der Bauern nach dem anderen, so wie sie kamen, den Handstock weg. In der riesigen Halle quirlten die Bauern durcheinander; was ist mit der Fahne? schrien sie, sie haben uns die Fahne genommen! Und: Hinnerk hielt die Fahne fest! Was da neben Hinnerk im Hausflur lag, das war kein buntes Stück Tuch mehr, die Bauernehre und Würde selber, mit Bauernblut geweiht, lag da, befleckt und zerbrochen von frechen, gastschänderischen Händen. Fortan sollte der l4ame Neumünster wie ein Fluch klingen in den Höfen. Die Bauern schrien durcheinander. Hamkens sollte gar nicht mehr im Gefängnis sein, hieß es plötzlich, und der Bürgermeister hatte die Polizei auf die Bauern gehetzt, nachdem er sie mit gleisnerischer Demonstrationserlaubnis in die Stadt gelockt. Hier konnte es nur eine Antwort geben! Inmitten des Trubels formulierte Claus Heim schon die Sühneforderung. Die Fahne sollte von den Spitzen der Städtischen Behörden in feierlichem Akt mit Worten der Entschuldigung an die Bauern zurückgegeben werden. Der schuldige Polizeimeister war sofort seines Amtes zu entheben. Jedem, der durch Bruch der Gastfreundschaft verletzten Bauern verpflichte sich, die Stadt eine angemessene, von den Bauern in jedem Falle festgesetzte Rente zu zahlen. Die Versammlung ist aufgelöst, rief der Polizeioffizier in die tobende Menge, und die Bauern verließen die Halle, verließen die Stadt – um sie über ein Jahr lang nicht mehr zu betreten. Der tüchtige Bürgermeister von Neumünster war ein schlauer Mann; aber alle seine kluge Vorsicht hatte sich als Fehler erwiesen; gerade, was er am meisten vermeiden wollte, das erfüllte sich: nicht nur die Bauern, auch der Verwaltungsapparat, auch die treuen Mitbürger der Stadt glaubten an ein abgekartetes Spiel. Alles, was er unternommen hatte, bestärkte den häßlichen Verdacht, und da ein Sündenbock da sein mußte, so war er es. Er tat, was er, ein aufrechter Mann, mochte man glauben, was man wollte, einzig tun konnte: Er deckte den Polizeimeister, trotzdem dieser nicht in seinem Einverständnis gehandelt. Das war der zweite große Fehler, den der Bürgermeister von Neumünster machte (hätte er den Polizeimeister nicht gedeckt, so wäre auch dies ein Fehler gewesen); er verweigerte, die Forderungen der Bauern zu erfüllen. Und die Bauern verhängten den Boykott über die Stadt! Neumünster, Mittelstadt mit einiger Industrie, war nicht unbedingt auf das platte Land angewiesen, und wenn auch in den harten Zeiten bei jedem Budget, beim städtischen und beim privaten, jeder Pfennig wog, so lag die größere Chance, den Kampf durchzuhalten, doch bei der Stadt. Der Bürgermeister vertraute auf seine Stadt und vertraute auf alle Hilfe, die ihm durch die Behörden kommen mußte, und er vertraute auf die endliche Einsicht der Bauern, die er kannte als ruhige Leute mit sachlicher Überlegung, die ihren Vorteil zu wahren wissen. Was sollte die kleinliche Rache dieses Boykotts, um einer zerbrochenen Fahne willen, um eines dummen Zwischenfalles willen, der immer sich ereignen konnte, wo aufgeregte Massen mit aus dem Konzept gebrachten Beamten zusammenstießen? Aber den Bauern ging es nicht um die Rache, den Bauern ging es um die Sache, die sich nun erproben sollte. Keines Bauern Fuß sollte die Stadt mehr betreten, in der die entweihte Fahne lag; kein Knopf durfte gekauft werden in der Stadt, kein Glas Bier mehr getrunken; die Jungbauern verließen die landwirtschaftliche Schule, der Markt verödete, nichts mehr von Viehausstellung, von Reiterturnier! Die Stadt war geächtet und alles, was aus ihr kam; der Gevatter in der Stadt war nicht der Gevatter mehr, die Mädchen der Stadt nicht mehr die Jungbauernliebste. Kein Ei mehr, kein Pfund Butter für die Hausfrauen der Stadt, kein Benzin und keine Hilfe für den Wagen, der die Stadtnummer trug. Die Stadt war ausgelöscht, existierte nur als schmutziger Fleck in der Landschaft. Und wehe dem Bauern, der es wagen sollte, den Boykott zu brechen! Wer aber brach den Boykott? Wer schlich sich nächtens wie ein Dieb in die Stadt? Grafenstolz brach den Boykott. Grafenstolz schlich sich nächtens wie ein Dieb in die Stadt. Zitternd huschte er von Schatten zu Schatten, gebückt und den Rücken voll Schweiß. Schwer trug er an seinem Paket unter dem Arm. Vorsichtig lugte er um jede Straßenecke, schnellte wie ein Fisch durch den Schein der Laterne, im sicheren Dunkel unterzutauchen. Voller Feindschaft war die Stadt, aus! den finsteren Rachen ihrer Straßen gähnte alle Gefahr. Schlupfwinkel verderbenbrütender Mächte! Werk des Teufels und seiner Diener, gekommen, die Menschheit in ihren lähmenden Bann zu ziehen! Aber Grafenstolz wachte; in den Sternen stand sein Sieg geschrieben. Ein Sprung, ein Wurf, ein Blitz, ein Knall, ein Husch und donnerndes Gepolter…

Ive saß allein vor seinem Schreibtisch in der Redaktion. Der grünlichgrelle Schein der Lampe weitete noch den großen, kahlen Raum, dessen Fenster nun wie aus Blei gegossen schienen, lag bleich auf den überall verstreuten und geschichteten Papieren und bestrahlte blendend und mit zuckenden Schatten die Schreibmaschine, auf der Ive unlustig herumhackte. Aus der Setzerei stieg der strenge Geruch der Druckerschwärze herauf und vermischte sich mit dem süßlichen Muff des Leimtopfes. Ive haßte diese Stunden des nächtlichen Wartens auf die letzten Nachrichten im Radio, Stunden, die immer von der widerwärtigsten Arbeit ausgefüllt, nach den lebendigen Erregungen des Tages statt der Erholung die wirren Träume der Nacht vorbereiteten, Träume, die sich nicht festhalten ließen, die vielmehr die heftig andrängenden und für Sekundendauer beglückend gefügten Sätze im Augenblick des Erwachens wieder höhnisch zerpflückten. Mißmutig stöberte er in den Mappen, die in Ordnung zu halten ihm niemals gelang. Nur eine Mappe war sauber geheftet und geklebt, die Bombenmappe, die Hinnerk angelegt hatte, und die alle Meldungen und Artikel enthielt, mit munteren Strichen und vielsagenden Ausrufezeichen von Hinnerks Rotstift versehen. Ive blätterte in ihr herum, schrieb dann einige Sätze, suchte und schrieb. Aus der Landvolkbewegung schien im Bewußtsein der Öffentlichkeit eine reine Bombenlegerorganisation geworden zu sein. Das durfte nicht geschehen. Hinnerk müßte sich eine bürgerliche Beschäftigung suchen, dachte Ive, schob aber sogleich den absurden Gedanken wieder zurück. Warum dies wohlgebaute Stück unbekümmerten Lebens vertrocknen lassen? Zudem hatten sich alle Verwicklungen, die auch aus Hinnerks niemals zweckbetontem Handeln ergaben, letzten Endes als förderlich erwiesen. Fast schien die völlige Vorbehaltlosigkeit seiner Natur sich seinen Aktionen mitgeteilt zu haben: was er auch tat, bestätigte sich als Willensausdruck der Bauern, deren Kampf er kämpfte, ohne daß dieser im Grunde ihn etwas anging. Anders aber stand es mit Grafenstolz. Regierungsgebäude und Finanzämter waren bei niemanden sonderlich beliebt. Nun aber wurde dem Privatmanne Doktor Israel, Facharzt für innere Krankheiten, die halbe Fassade seines Hauses weggesprengt. Daß die öffentliche Erregung der Bürger sich sofort mit unerwartetem Schwung gegen die Bauern wandte, schien Ive nicht sonderlich beachtenswert; das eher war gefährlich, daß jener Akt so unziemliches Wasser auf die Mühlen unerwünschter Freunde geliefert hatte. Natürlich war Ive Antisemit; aber er war es, weil es zu umständlich war, es nicht zu sein. Auf allen seinen Wegen hatte er Juden nur als Gegner gefunden. Das war auffallend, beunruhigte aber nicht. Für ihn stand ihre Inferiorität als Erfahrungstatsache fest. Er fand sie unzeitgemäß in ihrer Haltung, zurückgeblieben in ihrer Anschauungsweise, wie etwa die Franzosen. In mancherlei Gesprächen hatte er feststellen können, daß ihnen für bestimmte Dinge einfach der Sinn mangelte, das Begreifen klarer und natürlicher Tatbestände; so war es, wo er es auch immer versuchte, unmöglich gewesen, ihnen den schlichten Begriffskomplex des Hofes annehmbar zu machen, sie standen völlig verständnislos davor. Gewiß war ihre unbestreitbare Vorherrschaft auf vielen Gebieten, zumal denen des Handels, der Künste und der Presse, kaum erträglich, doch schien sie ihm durch die bestehende Ordnung bedingt, und es galt also, an ihre Stelle eine neue Ordnung zu setzen, wobei diese ja notwendig, um volksgültig zu sein, schon durch den besonderen Bindungsgehalt einer dem jüdischen Wesen jedenfalls durchaus fremden Wertsetzung – die sich überall und vornehmlich im Kampf der Bauern ankündigte – der unliebsamen Vorherrschaft ein Ende bereiten mußte. Der Fall Israel aber hatte gleichzeitig mit dem bürgerlichen Entrüstungssturm auch die schnatternde Aktivität des Narrensaumes erregt. Landauf, landab, in jedes Dorf kamen die wandernden Apostel und legten den Talmud aus. Ive fürchtete nichts für den sicheren Instinkt der Bauern, aber er fürchtete die Zersplitterung des Angriffes. Die Bewegung lag jedem ideologischen Zugriff frei. Das war ihre Stärke und ihre Schwäche zugleich. Das Wettrennen der Parteien und Verbände um die Gunst und die Stimmen der Bauern hatte schon lange eingesetzt. Das Vorhandensein der Bewegung genügte, um die Parteien in ihren Versprechungen zu radikalisieren. Sicherlich konnten sie auch, soweit sie zur Opposition gehörten, bei den nächsten Wahlen mit einem starken Zuwachs an Stimmen rechnen. Das war für die Bewegung selbst ungefährlich, bis etwa die Unbedingtheit der parteilichen Haltung den einzelnen vor den Zwang stellte, sich zu entscheiden. Auch die landwirtschaftlichen Verbände hatten rege gearbeitet. Eine Landvolkpartei war gegründet worden, die ihre politische Stellungnahme lediglich nach den wirtschaftlichen Interessen des Landvolkes richten wollte. Tatsächlich bestand ein sachliches Bedürfnis nach unabhängiger Vertretung der Interessen in den Parlamenten, und die Verbände wußten dies. Es konnte sehr wohl gelingen, hier mit doppelten Karten zu spielen, Landvolk und Landvolk auf allen Feldern fechten zu lassen. Aber wenn auch Hamkens und Heim und alle Führer der Bewegung gegen Verbonzung gefeit waren, wie leicht konnte doch von Bonzen im Namen der Bewegung gehandelt, die Bewegung selbst in Abhängigkeit hineinmanövriert, ihr das Gesetz des Handelns diktiert werden! Von allen Seiten durchschossen schon die Fäden der mannigfaltigsten Bestrebungen die Provinz, und es war nicht immer leicht zu unterscheiden, von welchen Händen, von welchen Interessen sie gezogen wurden. Die Bombenattentate schafften klare Luft; sie waren gleichsam eine Probe, wie der Boykott von Neumünster eine Probe war. Nicht nur den Bauern, vornehmlich auch den wackeren Leuten, die sich mit hilfreichem Lächeln nahten und alles viel besser wußten, wurde so die strikte Frage der Entscheidung vorgelegt. Und sofort fand sich das Landvolk in seinem Kampf allein; nicht ganz allein, an Stelle der Parteien pflanzten die Konventikel ihre Banner auf, die Propheten und Heilkünstler kamen in Haufen und Grafenstolz war ein großer Mann. Die Bauern lachten über Grafenstolz, aber sie ließen ihn gewähren. Die Bomben waren Argumente, aber was sich in der Provinz artikulierte, sollte nicht von den Grafenstolzen ausgesprochen werden. Und die Grafenstolze sollten auch keine Bomben schmeißen, zumal, wenn sie hinterher das Plappern nicht lassen konnten. Ive war böse; zum ersten Male seit seiner Tätigkeit im Landvolk war er einem Konflikt ausgesetzt, einem dummen und lächerlichen, aber einem Konflikt. Im Kampf gegen das System konnte er alle Minen springen lassen; aber wie waren diese Esel anzugreifen, zumalen es weltanschauungsbeladene Esel waren? Sich mit ihnen etwa in Diskussionen einzulassen, blieb unsinnig, und wenn er die Mittel der Ironie und der Satire anwandte, setzte er sich sogleich ins Unrecht, stellte sich in eine Bahn mit dem gemeinsamen Gegner. Jedenfalls hatte Ive Grafenstolz zu sich gebeten, aber Grafenstolz war ein großer Mann geworden, er ließ auf sich warten. Wenn er mir die Innung blamiert, schlage ich ihm alle Knochen entzwei, dachte Ive, er dachte: Die Bombenwerferei muß auch ein Ende haben. Man soll einen Spaß nicht übertreiben. Die Bomben hatten ihre Schuldigkeit getan; sie hatten den Apparat in Verwirrung gesetzt, sie hatten gezeigt, daß mit den Bauern nicht zu spielen ist, sie hatten endlich einen klaren Scheidestrich gezogen zwischen den Bauern und den Bürgern, zwischen Freund und Feind. Bei keinem der vielen Attentate waren Menschenleben zu Schaden gekommen, und das war gut so. Ive wußte um die magische Wirkung fließenden Blutes, aber hier fehlte zu dieser Wirkung die Voraussetzung. Hinnerk hatte einmal in einem der bei ihm überaus seltenen Augenblicke der Reflexion einen Vergleich gezogen zwischen der Bewegung und jener der russischen Sozialrevolutionäre vor der Revolution. Aber dieser Vergleich stimmte nicht. Das System war nicht der Zarismus, und die Bauern waren keine geknechtete Masse. Was dem Landvolkkampf das Gesicht gab, war das Fehlen des brutalen Widerstandes. Hier richtete sich der Kampf nicht gegen eine mächtige, tyrannische und unerbittliche Herrenschicht, sondern gegen eine sinnlos leerlaufende Maschine, deren treibende Öle sich lange schon zu zersetzen begonnen hatten; hier standen nicht von Idealen gepeitschte Intellektuelle, verzweifelte Ausgestoßene, explodierende Nervenbündel, sondern Männer, die im Gasgeruch der Verwesung das Leben selbst zu verteidigen hatten, Männer, die nicht um einer Theorie, nicht um eines fernen, berauschenden, glühenden Zieles willen handelten, sondern von ihrem Platze aus in fester Haltung Zug um Zug das Nächstliegende taten, und im Bewußtsein, dies um aller Zukunft willen zu tun. Zuweilen empfand Ive das bitter, er hätte sich es anders gewünscht; aber wohin er auch blickte, die Bauernbewegung schien ihm wirklich das äußerste Maß revolutionärer Tatkraft erreicht zu haben, das gegenwärtig in Deutschland überhaupt möglich war. Das Platzen der Bomben wirkte nicht als weithin schallendes Signal, trug nicht einmal den breiten Massen des Volkes, die unter dem gleichen, erstickenden Druck kaum zu atmen vermochten, die befreiende Kunde zu, daß sie nicht alleine standen, daß es Zeit war, sich zu erheben, sich anzuschließen, – es fand sein Echo nur in den aufgeregten Schlagzeilen der Zeitungen und in gruselig machenden Polizeiberichten. Was uns immer wieder erstaunt, klapperte Ive in die Schreibmaschine, das ist das völlige Versagen, die nicht anders als mit absoluter Talentlosigkeit zu erklärende Untätigkeit der Polizei... Man sollte meinen, so schrieb er, daß das Attentat auf den Reichstag, auf das hohe Haus der ausgewählten und sehr ehrenwerten Vertreter, beileibe nicht des Volkes, sondern des Systems, endlich genügenden Anreiz geben müßte, dem Bombenkrieg gegen ärarische Fensterscheiben ein Ende zu machen...Er hörte Schritte auf der Treppe, und da er Grafenstolz vermutete, machte er ein strenges Gesicht. Aber es war nicht Grafenstolz, der da kam, es war Hinnerk. Hinnerk, mit dem Arm in der Binde, Hinnerk, den Ive noch im Hospital von Neumünster unter polizeilicher Aufsicht glaubte. Gottes Wege sind wunderbar, sagte Hinnerk, und meine auch. Nein, nicht aus Neumünster, sagte er, aus Berlin. Nein, nicht was du denkst, das waren nur drei Fenster am Reichstag, ich garantiere bessere Arbeit Was ist los, fragte Ive, und Hinnerk sagte: Morgen früh um sechs Uhr werdet ihr alle verhaftet. Ive setzte sich langsam hin. Er überlegte, dann griff er zum Telefon; die anderen? fragte er. Hinnerk legte die Hand auf den Hörer. Wird schon überwacht, sagte er und Ive errötete. Den anderen sage ich noch Bescheid, nachher fahre ich zu Heim. Kommst du mit? – Ich bleibe, sagte Ive, schick mir den ersten Jungbauern, den du triffst, herauf, den Kram wegzuräumen. Schön dumm, sagte Hinnerk, aber wie du willst. Und: Mach's gut! und er polterte die Treppe herunter. Ive blieb eine Weile sitzen. Ich muß noch heute Nacht den Artikel über unsere Verhaftung schreiben, dachte er. Dann begann er, die wichtigen Papiere zusammenzusuchen. Viel war es nicht; Ive hatte schon manche Haussuchung erlebt. Nach dem Sprengstoffgesetz war die Mindeststrafe fünf Jahre Zuchthaus. Ob Heim bleiben würde? Heim wird bleiben. Heim wird sofort begreifen, wie wichtig es war, nicht zu flüchten, sich greifen zu lassen. Ive schnürte die Papiere zu einem Paket zusammen. Der Jungbauer kam, von Hinnerk aus einer Kneipe geholt, ein junger Kerl mit breitem, lächelndem Gesicht. Das Paket nahm er mit einem Eifer an, der bewies, daß er wußte, worum es sich handelte. Ive gab ihm einige Zeilen mit für den alten Reimann, der dafür sorgen mußte, daß, sobald die Redaktionsräume freigegeben waren, ein Nachfolger den Betrieb übernehme. Die Tür klappte zu, Ive war allein. Er ging eine Weile hin und her. Was nun? dachte er. Mit dem Untersuchungsrichter würde er wohl schon fertig werden. Untersuchungsrichter wissen immer bedeutend weniger, als der Angeschuldigte annimmt. Fast freute sich Ive auf den flinken, intellektualen Kampf, der ihm bevorstand. Die Aussicht, unberechenbare Zeit im Gefängnis zu sitzen, schreckte ihn nicht; auf allen Wegen und an allen Orten hatte er noch die geheimen Erregungen und Spannungen gefunden, die ihm die Herzschläge des Schicksals waren. Vom stärkeren Drucke der Haft erwartete er auch die reichere Wirkung. Aber die anderen, die Bewegung, die Bauern und Claus Heim? Claus Heim, dem er sich am tiefsten verbunden fühlte? Ive war kein Bauer; Claus Heim aber war so sehr Bauer, daß er aufgeben konnte, es zu sein – wie denn nur der das Leben wahrhaft liebt, der sich den Tod nicht wegzudenken wünscht. Der große, finstere, verschlossene Mann hatte alle Sicherung verlassen, den Weg gefunden zu jener militanten Bereitschaft, die Ives Grundhaltung seit jeher war, die ihn die Wirklichkeit als einen tollen Wirbel von Bedrohungen, als eine sinnvolle, unerbittliche Kette von Proben begreifen ließ. Aber was bei Ive natürliche Folge war, einzig gegebene Form, das wurde bei Claus Heim fanatische Leidenschaft. Je mehr die Bewegung zu verkrusten drohte, desto mehr gab er sich wilden Träumen hin, die, von einer unbändigen Willenskraft gespeist und mit kurzen, schweren Worten in glühende Bilder umgesetzt, Ive bis zu einem Grade mitreißen konnten, der ihm plötzlich seine ganze Wirksamkeit wie durch eine Stichflamme erhitzte. Den ungefügen Bauern neben sich, sah Ive dann sein Feld sich alle Grenzen sprengend erweitern, und die Kunst des Möglichen sich verwandeln in eine Kunst, der alles möglich sein mußte. Kunktator Hamkens schien darauf zu drängen, das Erreichte sorglich zu bewahren, die Bewegung einfach, rein und seinem nüchternen Sinn immer faßbar zu erhalten; Heim aber hatte die Taue gekappt, die ihn am Hofe hielten; er trat die Fahrt an, wie ein Pirat, wissend, daß dies um des Hofes willen geboten war. Zwischen beiden stand Ive, der auf dem bäuerlichen Ankergrunde einstmals festgemacht, mehr noch, weil ihm das „Wie“ denn das „Was“ des Bauernkampfes bedeutsam erschien. Im Grunde war Ive ein Barbar, und er wußte das, ohne damit zu kokettieren. Er dachte nicht daran, Zwangsläufigkeiten als Tugenden zu verkleiden, aber er empfand es als Untugend, sich ihnen entgegenzustellen. Die Unbekümmertheit, mit der er anfangs jede Sache in Angriff nahm, mit der er sich in dem, was sich ihm als Zeit und Leben anbot, zurechtzufinden suchte, mochte diese oder jene Ursachen haben, es kam ihm niemals in den Sinn, ihnen nachzuforschen. Er fand sich als einen Sohn des Krieges in einen Zustand, in eine Entwicklung gestellt, mit denen fertig zu werden seine natürlichen Mittel trefflich ausreichten. Da er von nichts beschwert und nichts zu vergessen gezwungen war, konnte er auch weder sich noch seine Stellung als welches Glied der Gesellschaft auch immer in irgendeiner Weise problematisch finden. Er gehörte weder zum Bürgertum, noch zum Bauerntum, noch zur Arbeiterschaft, und er fühlte vorderhand keinen Zwang, sich für eine Klasse oder einen Stand zu entscheiden. Er wußte, daß es unendlich vielen im Lande ähnlich erging; wenn sie hier und dort sich in einen Unterschlupf retteten, so konnte dieser nur provisorischen Charakter haben. Ive verzichtete auf den Unterschlupf, denn Provisorien fand er auf allen Wegen. Wohl sehnte er sich nach Bindungen, – die einzige, die er fest und unzerreißbar spürte, folgerte einfach aus der Tatsache, daß er Deutscher war. Diese Bindung war auch sein einziger Vorbehalt; es erstaunte ihn, daß die Unbedingtheit seines Wesens, die daraus folgerte, in allen Bezirken, in die er handelnd eindrang, anscheinend nicht nur als Ausnahme, sondern sogar als gefährlich und unduldbar empfunden wurde. Br bekannte sich durchaus nicht grundsätzlich zur Opposition, aber alles, was er dachte, was er aussprach, was er tat, erwies sich als oppositionell; er fand sich von vornherein ausgeschlossen aus aller gegebenen Ordnung, und nicht dies kränkte ihn, sondern die Erfahrung, daß jeweilig die Wertsätze der Ordnungen von deren Trägern selber nicht voll geachtet, vertreten und gehandhabt wurden, ihm dünkte unerträglich die Anonymität der Ordnungen und die feige Geschmeidigkeit derer, die sich in ihnen eingenistet. So war er antibürgerlich nicht aus soziologischer Einsicht, sondern der Haltung nach. Die Haltung prüfte er, nach ihr suchte er Bindung und Kameradie; und deren Unbedingtheit war ihm auch die Voraussetzung jeder Art Politik. Das ließ ihn jede politische Theorie mit grimmigem Mißtrauen betrachten, um ihre trockenen Gerüste sammelten sich ja die Massen, sie mit dem Fleische höchst privater Hoffnungen auszufüllen, und wenn es denn feststand, daß jede Theorie, und wenn sie sich in Bildern gab, jedes Ideal, in Verfälschung endete, so vermochte er nicht einzusehen, warum so viel Geist und Blut und Hingabe darangesetzt werden solle. Diese Denkungsweise sei anarchistisch, wurde ihm oft gesagt, und er hätte dagegen nichts einzuwenden gehabt, wenn der Anarchismus sich nicht auch in fein zugespitzten Theorien gefiele. Seine Arbeitskollegen in der Wollkämmerei hatten eine Bezeichnung für ihn schnell zur Hand; sie nannten ihn deklassiert, und sie taten das in einem Tone, der deutlich Mißtrauen verriet. Er forschte diesem Mißtrauen nach und fand es in der Annahme, er sei akademisch gebildet. Da einmal dies nicht zutraf, dann aber auch Marx und Lenin zweifellos demselben Verdacht unterliegen müßten, beschränkte er sich darauf, zuzugeben, daß er kein Klassenbewußtsein besitze, und er konnte sich der Arbeitersolidarität um so leichter entziehen, als diese tatsächlich nicht vorhanden war. Es wurde Ive nicht ganz klar, ob die Solidarität als Voraussetzung oder als Mittel der Klasse gedacht war, jedenfalls blieb die überwältigende Parole siebzig Jahre lang. Dieser Erscheinung nachzuspüren, ihre Ursache und die Möglichkeiten der Abänderung zu untersuchen, schien ihm eine dankbarere revolutionäre Aufgabe, als etwa die ökonomische Doktrin auswendig zu lernen und immer wieder zu propagieren, eine Doktrin, bei der alles viel zu schön klappte, um wahr zu sein. So beschäftigte er sich mit der lebendigen Substanz der Arbeiterschaft, die ihm mehr aussagte, als die wissenschaftlichen Thesen, um die sich die Professoren und Bonzen stritten, ein Streit, deren durcheinanderklingender Nachhall in den Betrieben viel eher geeignet war, die Arbeiterschaft zu zerreden und zu zersplittern, als sie zu festigen. In der Tat zeigte sich nur dort im Bereiche der Arbeiterschaft die selbstverständliche Solidarität, – wenigstens in einer Form, die sofort einleuchtend und fruchtbar war, – wo es sich um kriegerische Aktionen handelte, wo also in der Wucht des gemeinsamen Einsatzes nicht mehr das nackte Interesse band, sondern im Gegenteil der zwangsläufige Abbau der hundertfach überdeckten Interessen geschah. Als Ive zu Claus Heim und den Bauern stieß, bot sich ihm als stärkster Anreiz das Vorhandensein einer Kampfgemeinschaft, der ersten und natürlichsten Form der Solidarität, die einen grundsätzlich anderen Charakter schon in der Anlage aufwies, als die ersehnte und verkündete der Arbeiter. Während nach dem Versagen der Gewerkschaften als solidarischer Ausdrucksform, ihrem immer stärkeren Hineinwachsen in das kapitalistische System, ganz zweifellos die Organisierung der Klasse nur nach einer Loslösung des einzelnen aus seiner Interessenverflechtung möglich sein konnte, nach einer Atomisierung der Masse, mit dem Ziel, sie zu bilden und zur Verwirklichung welcher Theorie – und in Abänderung welcher Theorie – auch immer unter Befehl zu setzen, stand die Kampfgemeinschaft der Bauern von vornherein unter der Bindung des Hofes. Der Hof befahl, steckte und erweiterte die Grenzen. Er dokumentierte sich als der überlegene Wille, den die Arbeiterschaft im Führer suchen mußte, bislang nicht fand und auch nur schwer finden konnte; denn ihr durfte die Aufgabe des Führers wesentlich nur im Belehren bestehen. Claus Heim und Hamkens aber wußten, warum sie sich nur ungern Führer nennen ließen, warum sie immer wieder hinwiesen auf die Spontanität aller bäuerlichen Kampfhandlung; der Hof war es, der die Empfindungen band und formte, der Hof, der dem Bauern gar nicht mehr gehörte, rechnete er einmal die Schuldenlast zusammen. Sicherlich konnte das, was sich in der Provinz gebildet hatte, nur Rohstoff sein, aber in ihm waren alle Keime einer totalen Entwicklung und damit auch s die Gesetze einer neuen Ordnung bereits enthalten. So konnte kein Akt der Bewegung verloren gehen, er kristallisierte sich sogleich zu einem neuen Aufsatz, und wenn dem Wachstum der Bewegung in der Zahl eine straffe Begrenzung wohl gesetzt war, so doch nicht in der beispielgebenden inneren Durchbildung und nicht in der weit über sie hinausreichenden Stoßkraft. Die Abwehr gegen die Eingriffe des Systems, der Kampf um Neumünster schufen gleichzeitig die Vorgliederung der Selbstverwaltung, zeigten mit den Schwierigkeiten die Aussicht, und mit der Aussicht den Plan der völligen Umwälzung. Wir müssen, sagte Claus Heim, sozusagen vom Bauern her das ganze Land aufrollen. Und warum sollte das auch unmöglich sein? Die Stadt ist uns feindlich, sagte Claus Heim, sie muß es nicht sein, aber sie ist es heute, weil sie noch nicht so weit ist wie wir. Wir hatten es einfacher, wir müssen die Stadt angreifen, um ihr zu helfen. Sie soll zu sich selber finden, wie wir zu uns gefunden haben. Dann können wir weiter sehen. Claus Heim sagte: Aus der Stadt kommt alles Elend. Das war nicht immer so, aber jetzt ist es so. Die Stadt ist krank, und ihr Atem stinkt. Sollen auch wir unter ihrem Pesthauch zugrunde gehen? Was macht man mit einem Pestkranken, um sich vor ihm zu schützen? Man zerniert ihn. Zernieren wir die Stadt. Was macht man mit einem Fieberkranken, um ihn zu heilen? Man treibt ihn zur Krise, treiben wir die Stadt zur Krise. Neumünster, sagte Claus Heim, ist ein Anfang. Was mit Neumünster möglich ist, ist mit Berlin auch möglich. Erklären wir den Boykott über Berlin. Sobald das ganze Landvolk solidarisch ist, ist Berlin in unserer Macht. Die Stadt braucht uns, denn wir nähren sie. Die Stadt dachte, unsere Not sei nicht die ihre, zeigen wir ihr, daß unsere Not die ihre ist. Was ist das für eine Ordnung in der Welt, wo das Getreide in den Diemen verfault, und die Menschen in der Stadt leiden Hunger? Sie werden die Ordnung ändern, wenn sie noch mehr Hunger leiden. Sie werden lernen, richtig zu verteilen, so, daß der Hof, der sie nährt, leben kann, und sie, die sie hungern, leben können. Und sie werden nicht einführen, aus Übersee nicht und nicht aus den anderen Ländern, denn an allen Schienenwegen und an allen Kanälen wohnen Bauern. Sobald das ganze Landvolk solidarisch ist... sagte Ive, und dies war in der Tat sein einziges Bedenken. Vierzig Prozent der Bauernkinder in Schlesien sind unterernährt, sagten die Bauern in Schlesien zu Hamkens. Wir fressen Kartoffeln mit Quark, sagten sie. Was werdet ihr tun? fragte Hamkens. Die Bauern sagten, wir müssen nun Kartoffeln mit Leinöl fressen. Und der Hof? fragte Hamkens. Die Bauern zuckten scheu die Achseln und sagten, ja, so ein Bahnwärter habe es gut, der habe alles, was er braucht und ein festes Salär obendrein. Dann werdet Bahnwärter, sagte Hamkens, aber jammert nicht, wenn ihr nicht kämpfen wollt. Wir wollen schon, aber wir können nicht, sagten die Bauern in Schlesien, und sie pflanzten die schwarze Fahne auf, aber sehr wohl war ihnen nicht dabei, und was sich änderte, das war so gut wie nichts. Wie sollen wir bestehen, sagten die Gutsbesitzer in Ostpreußen zu Hamkens. Wir haben Wälder und Felder und Maschinen und Arbeiter, und wir haben nichts. Wie sollen wir das Holz loswerden, wenn die polnischen Flösse die Weichsel herunterschwimmen, wie sollen wir das Getreide verkaufen bei Preisen, die Löhne und Lasten und Steuern nicht einbringen? – Wie denn, wer Brotgetreide verfüttert, versündigt sich am Vaterland, sagte Hamkens, so hieß es doch einmal, und jetzt erstickt ihr daran? Was werdet ihr tun? Die Gutsbesitzer sagten, Getreidezölle. Das ist ein Unsinn, sagte Hamkens, wollt ihr der Veredelungsproduktion die Futtermittel verteuern? Die Gutsbesitzer zuckten die Achseln. Das System ist schuld, sagten sie, und hingen zu den vorderen Fenstern die schwarzen Fahnen heraus, indes sie hinten über die Zölle und die Aufhebung der Grundvermögenssteuer verhandelten. Und so war es überall. Im Rheinland lag die Not anders als in Thüringen, und in Hessen anders als in Württemberg. Überall funkten die Verbände dazwischen, und wo es nicht die Landvolkpartei war, da war es die Bauernpartei, und wo es der Reichslandbund nicht war, da war es der Kreislandbund, Solidarität sagten sie alle, und einer forderte den anderen auf, sich anzuschließen, die ganze Bauernschaft bestand aus einem verwirrten Knäuel von Gruppen, und die Gruppen aus einem irrsinnigen Gemenge von Grüppchen, die sich alle miteinander heftig befehdeten, und alle miteinander mit der stolzen Parole des Zusammenschlusses. Was in Schleswig- Holstein möglich war, das ging in Oldenburg und Nordhannover noch an, das konnte für ganz Nordwestdeutschland langsam gültig werden, das war in Pommern und in Mecklenburg und Ostpreußen schwierig, in Schlesien und der Grenzmark verzweifelt hart, und eine bitterböse, lange, zähe Arbeit mußte es überall kosten. Das System, sagten sie im ganzen Reich mit finsterem Haß. Aber die einen arbeiteten mit dem System, die anderen gegen das System, und die allermeisten mit und gegen zugleich. Claus Heim verlor das Ziel nicht aus den Augen, und auch Hamkens nicht und nicht Ive. Doch während Claus Heim drängte und trieb, wollte Hamkens warten. Während Claus Heim jede Möglichkeit nutzen wollte und wieviel boten sich nicht täglich an! – sich verbünden wollte mit jedermann, der selbst nur für Augenblicke in die Front gewirbelt kam, und sei es der Teufel selbst, die Waffe des Boykotts schleudern, gegen alles, was entgegenstand (und wenn er das Wort System aussprach, so klang es, als spräche er von Mord, Brand und Bomben und sensenbewaffneten Bauernhaufen), trachtete Hamkens die Bewegung sorglich einzukapseln, sparsam die Mittel zu verwenden, vom Kleinen her zu rüsten und langsam Schritt für Schritt das Vorfeld zu sondieren, bereit zu sein, jedoch nicht für den Augenblick, sondern für den Tag, an welchem derjenige Sieger sein mußte, der sogleich von einem festen Kern aus handeln konnte. Nun würde Heim verhaftet werden, und die Bewegung war ganz in Hamkens Hand gelegt. Vielleicht ist das vorderhand gut so, dachte Ive unruhig ging hin und her. Noch in der Haft würde Gans Heim der Sache nützen, mehr jedenfalls, als wenn er flüchtig ginge. Die Fahne in Neumünster und der freie Bauer als Opfer des Systems, als Märtyrer des Landvolkkampfes im Gefängnis, das mochte den Bauern ein ständiger Anreiz sein, nicht nachzugeben, zumindest nicht nachzugeben. Wenn die Heimsche Methode richtig war, da sie sich unter das Gesetz des Wagnisses begab, so war auch die Hamkenssche Methode richtig, da sie dem Gesetz der Erfahrung folgte. Was nun, dachte Ive, es mußte doch günstigstenfalls Monate dauern, bis er wieder frei war. Er konnte nicht voraussehen, welche Veränderungen sich in der Bewegung bis dahin vollzogen haben werden, auf jeden Fall aber galt es, sollte er noch einmal in sie einspringen, das Wechselspiel neu zu beginnen, die Heimsche Linie wieder einzuführen; denn wenn es auch erreicht war, daß es jedem einzelnen der Bauern in der Provinz nicht nur auf die Erhaltung des Standes ankam, sondern auf den Umsturz – und in der Tat war auch eine Erhaltung des Standes in der von den Bauern ersehnten Form ohne Umsturz nicht denkbar – , so wollte Ive doch darüber hinaus den Umsturz vom Bauern her. Von niemandem anders als vom Bauern her. Von Arbeitern versucht und von Soldaten, und nicht gelungen, war der Umsturz doch die Hoffnung fast der Hälfte des Volkes und das Ziel aller aktiven Gruppen. Das Landvolk aber, in seinem gefestigsten Teil zum Einsatz gebracht, so dachte Ive, mußte mit der von allen revolutionären Gruppen größten Aussicht auf Erfolg zugleich den stärksten Anstoß geben. Denn was für das Landvolk selbst im Falle des Sieges als Beute an Macht zu gewinnen war, konnte eindeutig und im Gegensatz zu allen anderen Gruppen keinen noch so weit gespannten revolutionären Bereich empfindlich stören. Es mußte also gelingen, so dachte Ive, zum ersten Male die zersplitterte Stoßkraft zu sammeln, alle gleichstrebigen Kräfte zu binden und zu richten und den Angriff je nach dem Verbündeten gegliedert, vorzutragen. Hierzu die Vorarbeit zu leisten, die Verbindung zu knüpfen, mußte die nächste Aufgabe sein, und der beste Mitarbeiter war die Zeit. Schon längst hatte Ive vorgetastet, hierhin und dorthin seine Fühler gesandt; Claus Heim war in der Hauptstadt gewesen und hatte an mancherlei Türen gepocht und offene Ohren gefunden (wenn auch verschlossene Mienen), und der treffliche Hinnerk, der zu allem zu gebrauchen war, hielt ständige Verbindung. Aber das konnte nicht genügen. Ive, gewohnt, aus allen Blüten Honig zu saugen, fand plötzlich in der Erwartung, anderen Tages verhaftet zu werden, Zeichen und Entschluß. Er trat an den Tisch und sah nachdenklich auf den Wust von Papieren. Ich muß noch den Artikel über unsere Verhaftung schreiben, dachte er. Nein, es konnte nicht genügen, Vorposten zu sein in der bäuerlichen Front. Was getan werden mußte, konnte, wie die Dinge nun lagen, nur von ihm getan werden. Vielleicht war das alles Wahnsinn; aber dann sollte der Wahnsinn wenigstens Methode haben. Heim wollte die Stadt erobern. Aber kann die Stadt anders als von innen her erobert werden? Und Ive dachte das ganz primitiv: von innen her: Er mußte hineingehen, in die Stadt. Um der Bauern willen, um Heims willen, und um seiner selbst willen. Der Verwaltungsapparat, dachte er grimmig, wird ihn gratis befördern. Er zog das beschriebene Blatt aus der Schreibmaschine und spannte einen neuen Bogen ein. Laßt sehn, was es mit der Stadt auf sich hat, dachte er. Er überprüfte sich und empfand eine starke Freude. Er schrieb, bis am frühen Morgen die Beamten kamen.

*

Kriminalkommissar Müllschippe von Abteilung IA hatte für sein Vorgehen sehr weitreichende Vollmachten erhalten. Der noch junge Mann mit den dunklen, hurtigen Mausaugen im blühenden Gesicht, zögerte nicht, die große Chance, die sich aus dem Auftrage ergab, voll auszunutzen. Die Besprechungen mit dem Polizeivizepräsidenten und den Vertretern des Innenministeriums hatten ihm klar gemacht, was der Staat von ihm erwartete, und seinem Talente die Bahn geebnet. Nicht kleinlicher Ehrgeiz beseelte diesen vortrefflichen Beamten, sondern die beglückende Aussicht, einmal ungehemmt und frei alle Ströme seines Geistes blitzend spielen lassen zu können. Er ließ auf einen Schlag – einen Schlag, der mit dem Donnergepolter der Sensation begann und noch lange in den Zeitungen ein raschelnd nachhallendes Echo fand – verhaften, was auch nur in entferntestem Masse verdächtig schien, daß ihm die Absicht jemals eine Bombe zu legen, zuzutrauen sei: im ganzen hundertundzwanzig Mann. Er brach kurzentschlossen mit dem alten Vorurteil, zu ermitteln, um verhaften zu können, er verhaftete, um zu ermitteln. Das Zimmer, in dem er seinen Amtssitz hatte, war nicht mehr ein gleichgültiges Büro der politischen Polizei, sondern ein Hauptquartier. Im spartanisch-feldmäßig eingerichteten Raum stand er Tag und Nacht, alle Nerven vibrierend angespannt, schwitzend und hemdsärmelig, einen Telefonhörer am Ohr, als der immer bewegliche Mittelpunkt. In den Gängen und Vorzimmern drängten sich die Presseberichterstatter und -Zeichner, begierig, den bedeutenden Mann einmal für kurze Augenblicke zu erwischen, seine hastig hingeworfenen Nachrichten aufzusaugen. Die Beamten seines Stabes eilten hin und her, von seinem nervösen Wink dirigiert, die Telefone klirrten, die Schreibmaschinen ratterten, Staub wirbelte auf und sank auf dickgebündelte Aktenpakete. Im fahlen Lichte der schwankenden Lampen stand er, im dämmernden Schein der sich in den dunklen Höfen brechenden Morgensonne, er stand mit flatterndem Schlips in der prallen Hitze des Mittages, dampfend in den Schatten des sich nach arbeitsreichem Tage zur arbeitsvollen Nacht senkenden Abends. Niemals sah man ihn schwach werden, und hätte er nicht selber zwischen zwei dramatischen Vernehmungen mit freundlich-humoristischen Worten seine ängstlich harrende Frau und das sicherlich längst erkaltete Mittagessen bedauert, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß diese unerbittliche Maschine der Pflicht, dieses hohe Beispiel der Aufopferung im Dienst in irgendeinem Zusammenhang mit der Gebrechlichkeit des menschlichen Daseins zu bringen sei. Als geschultem Kriminalpsychologen standen ihm alle Mittel zur Verfügung, von der herrischen Härte des gepanzerten Verteidigers verletzten Gesetzes bis zur wohlwollenden Kameradie des Mannes, der alles versteht und alles verzeiht. Nie versäumte er, dem Angeschuldigten eine Zigarette anzubieten, nie auch den kalten Trumpf seines Wissens auszuspielen, immer bereit, das heimtückische Lügengespinst der nicht anders als notorischen Rechtsbrecher mit vieldeutiger Bemerkung, hinter der die Überlegenheit seiner methodischen Kombination dunkel gewitterte, kunstvoll, wie es geknüpft, zu zerstören. Weit reichte sein Arm, doch weiter noch die Ausstrahlungen seines unermüdlichen Geistes. Hatte so lange Zeit lähmendes Schweigen über der unheilvollen Affäre gelegen, so folgte nun Schlag auf Schlag, in immer neue Erregung gewaltig peitschend, Ergebnis auf Ergebnis seiner Ermittlung. Drohend schritt er auf Ive zu, gesammelte Energie im Blick. Kennen Sie Claus Heim? fragte er, und die Beamten in der Stube verhielten den Schritt und den Atem. Aber ich bin sein bester Freund, sagte Ive erstaunt. Ein Murmeln erhob sich im Raum, vielsagende Blicke durchkreuzten sich, blieben erwartungsvoll und in schweigender Bewunderung an Müllschippens Antlitz haften. Der aber richtete sich auf. Dicht trat er an Ive heran, der klein auf seinem Stühlchen saß. Und der Krimmalkommissar erhob abermals die Stimme, und in jedem seiner Worte lag das konzentrierte Resultat verwickelter Berechnung, lag die unmittelbare Gewißheit des Siegs, die Spannung der verzwickt gelegten Falle. Haben Sie in der Landvolkbewegung mitgearbeitet? fragte er, und bannte Ive mit stechendem Auge. Aber seit einem Jahre zeichne ich in der Landvolkzeitung verantwortlich, sagte Ive verblüfft. Ein Raunen ging durch den Raum. Gut, sagte Müllschippe, seine ganze Gestalt schien zu wachsen. Sehr gut, sagte er heiser und verließ schnellen Schrittes das Zimmer. Die Tür blieb halb offen, und Ive hörte, was der Krimmalkommissar ins Telefon an die Pressestelle des Innenministeriums weitergab. Doppeltes Geständnis des Bombenlegers Iversen. Nach eingehender Vernehmung durch den Kriminalkommissar Müllschippe brach der Angeschuldigte Iversen zusammen und legte ein doppeltes Geständnis ab. Ive schwieg voller Bewunderung. Er hatte immer viel übrig gehabt für demagogische Talente, und er verstand sich auf die Kunst, um eine Sache herum Stimmung zu schaffen. Er konnte nicht gut entrüstet sein, und so sagte er nur, als Müllschippe, den Schweiß sich von der geröteten Stirne wischend, wieder zu ihm trat, er zöge es vor, von einem richterlich vorgebildeten Beamten vernommen zu werden. Er verlangte dies nicht etwa, weil der Kommissar ihm gefährlich dünkte, oder gar, weil er bei einem Richter Objektivität voraussetzte; er wußte von der Bedeutung der Gerechtigkeit als moralische Fiktion, und er wollte sein Verlangen in die Akte eingetragen wissen, um von vornherein eine kleine Verstimmung zwischen Polizei und Justiz vorzubereiten. Aber Kriminalkommissar Müllschippe war so leicht nicht aus den Angeln zu heben. Er erwies sich als umgänglicher Mann und verträglicher Charakter, und Ive verbrachte eine angenehme Stunde der Unterhaltung. Dies soll keine Vernehmung sein, sagte der freundliche Kommissar, und in der Tat hatte Ive es leicht, alle Fragen, die. ihm zu persönlich dünkten, mit noch viel persönlicheren Enthüllungen zu beantworten. Aber das müssen Sie doch gehört haben! sagte Müllschippe und meinte eine bombenverschwörerische Bemerkung Heims. Sehen Sie, ich bin mehr ein Augen- als ein Ohrenmensch, sagte Ive, und verbreitete sich eine halbe Stunde lang über seine diesbezügliche Theorie. Er wußte, daß es für eine Verteidigung keine festen Regeln gab, ein jeder hatte die seine. Notwendig, ist immer nur, bei der angenommenen Methode unter allen Umständen zu verbleiben. Ive hatte sich entschlossen, zu reden, viel zu reden, soviel zu reden, daß überhaupt nichts mehr von seinen Reden fest und anpackbar blieb. Bei solcher Freimütigkeit konnte er wohl verlangen, daß er das Protokoll selber diktiere. Er diktierte eine halbe Seite und füllte den freien Raum zwischen Aussage und Unterschrift sorglich mit einem dicken Diagonalstrich, wozu er sich höflich ein Lineal ausbat. Herr Müllschippe schien ob dieses mangelnden Vertrauens gekränkt. Er entließ Ive in seine Zelle und bat Claus Heim herein. An der Tür begegneten sich die beiden. Claus Heim lachte ein bißchen und gab Ive die Hand. Müllschippe musterte neugierig den schweren Mann, der ihn um das Maß von drei Köpfen überragte.

Die Seitentüren öffneten sich, Beamtenbrillen glitzerten, einen Augenblick hoben sich alle Glatzen vom gelblichen Aktenpapier. Dies also war Claus Heim. (Auf dem Tisch lag die Akte Grafenstolz.) Wie heißen Sie? fragte Kriminalkommissar Müllschippe mit unsicherer Strenge. Claus Heim griff sich einen Stuhl und setzte sich. Er legte die riesigen Hände auf den Tisch und schwieg. Sie sind Claus Heim? fragte Herr Müllschippe, er fragte zweimal, er versuchte es mit Milde, er gab seiner Stimme metallene Schärfe, Claus Heim saß unbeweglich, sah das aufgeregte Männchen verächtlich an und schwieg. Sie wollen also nicht reden, sagte der Kommissar. Der Kommissar sagte noch viel. Claus Heim schwieg. Er hatte sich keine Verteidigung zurechtgelegt und niemals über deren Methoden nachgedacht. Aber er hatte dem System den Boykott erklärt. Mit Vertretern des Systems sprach er nicht. Er schwieg, und wenn er sein ganzes Leben lang schweigen müßte. Was da um ihn herumschwirrte, interessierte ihn nicht. Er sah geradeaus, aber in seinen Augen stand unversöhnlicher, kalter, stetiger Haß. So einen wie den Heim habe ich noch nie gehabt, sagte Wachtmeister Scholz II des Abends zu seiner Frau. Den ganzen Tag hockt er am Tisch und rührt sich nicht. Zur Freistunde geht er nicht, antworten tut er nicht, das warme Essen rührt er nicht an, ißt nur das Brot. Man meint bald, er sieht einen gar nicht; wenn man mal in seine Zelle kommt. Alles, was recht ist, das ist ein Kerl, so einen habe ich noch nie gehabt. Der Kriminalkommissar Müllschippe gab an die Pressestelle des Innenministeriums durch: Claus Heim überführt. Die Ermittlungen des Kriminalkommissars Müllschippe haben einwandfrei ergeben, daß Claus Heim als Anstifter der Bombenattentate in Frage kommt. Der Kriminalkommissar Müllschippe kannte kein Ermatten. Tag für Tag schleuderte er das Resultat seiner Ermittlungen in den Raum. Er vernahm und vernahm. Bis in das Zellenhaus des Polizeigefängnisses drang der Lärm seines Betriebes. Für Ive bedeutete er den ersten Eindruck von der Stadt. Er lauschte, auf dem schmalen Bett in seiner Zelle hockend, auf das eilige Schlürfen der Schritte, auf das Rasseln der Schlüssel, auf die halblauten Rufe: Zur Vernehmung. Das ganze Haus war voll von politischen Gefangenen. Von den Maikämpfen des Jahres waren im September noch Kommunisten da, die noch nicht abschließend vernommen waren. Täglich wurden Nationalsozialisten eingeliefert. Rot-Front riefen die einen beim Spaziergang, Heil die anderen, und sie sahen sich wütend an, indes die Beamten, die Pistole im Gürtel, den Säbel umgeschnallt und den Karabiner im Arm gleichmütig herumstanden. Nur wenige Kriminalgefangene waren im Bau, zumeist verrichteten sie die Kalfakterarbeit. Einer kam an Ive heran und erbot sich eifrig flüsternd, Kassiber durchzustecken. Ive verfertigte Kassiber für alle Kameraden, die er dem Gefangenen gab und die nur zwei Worte enthielten: Achtung, Müllspitzel. Bis spät in die Nacht hinein war es unruhig im Haus, Müllschippe vernahm. Dann drang nur das ferne Brausen der Stadt in die Zelle, die vielfältigen Schreie des steinernen Feldes, die sich vereinten zu einem einzigen, dunklen, orgelnden Ton, in dem alle Spannung und alle Drohung des Lebens eingefangen schien. Fast schien es unmöglich, daß die Mauern des Gefängnisses standhalten könnten der ständigen Brandung aus tausend Errungen, die die Stadt immer wieder in die Lüfte spie. Ive stand nächtens auf dem Kopfende des Bettes, an das Gitterfenster geklammert, mit allen Sinnen hingegeben an das Ferne, Lebendige, Gefährliche, das da unten, da draußen gefesselt tobte, das den schmutzigen Himmel graurot färbte, mit seinem Dunst selbst in den armseligen Winkel der Zelle drang. Durchsäuert vom metallenen Hauche der Stadt trat er morgens zur Vernehmung an. Der riesige rote Kasten des Polizeipräsidiums zitterte in Beschäftigung, die langen, hallenden Gänge wimmelten von eiligen Menschen, die selbst wartend noch wie gehemmte Maschinen schnauften, der ununterbrochene Rhythmus stetiger, peitschender Betriebsamkeit schwemmte ihn in das graue Zimmer mit den schmutzigen Tapeten, den schwarzbraunen, zerkerbten Tischen, den finsteren Schränken und dem eifrig schwitzenden Herrn Müllschippe. Wie lange gedenken Sie das noch zu treiben? fragte Ive nach ergebnislosem Frage- und Antwortspiel. Was? fragte der Kommissar scharf. Ihren ganzen Betrieb da, sagte Ive, er sagte nachdenklich, freilich, von diesem Zimmer aus sieht sich das Leben ganz anders an. Müllschippe stutzte. Wie meinen Sie das? fragte er, dann sagte er knapp: Ich tue meine Pflicht. Natürlich, sagte Ive und bat erneut, von einem richterlich vorgebildeten… Er wurde in das große Zellengefängnis in Moabit übergeführt. Der Landgerichtsdirektor Dr. Fuchs war kein hemdsärmeliges Allweltsgenie. Er war ein ernster Beamter in hoher Stellung, von weltmännischer Eleganz, würdig, Oberlandgerichtsdirektor zu werden. Sehen Sie, sagte er gepflegt, mit sonor verbindlicher Stimme, ich habe durchaus Verständnis für Ihre Tat. Er hob beruhigend die Hand. Aber ich halte es für ehrenhaft, einzustehen, für das, was man getan. Auch ich bin ein nationaler Mann, sagte er. Ich nicht, sagte Ive, ließ eine kleine Pause und fügte hinzu: Ich lasse mich nämlich nicht gern auf die Schippe nehmen, selbst wenn es eine Müllschippe ist. Dr. Fuchs blätterte mit gefurchter Stirn in den Akten, dann übergab er sie dem Assessor Matz. Dieser juxige Mann schien noch nicht recht ausgewachsen, was um so mehr erstaunlich war, als er schon eine beträchtliche Länge erreicht hatte. Wenn Ive ins Zimmer trat, klappte er in höflicher Verbeugung zusammen, und Ive ging mit immer größerer Enttäuschung zu den Vernehmungen. Statt Gegnern stellte ihm der Verwaltungsapparat Knallprotzen, Causeure und junge Hunde, und es mußten schon klare Tatbestände vorliegen, tun die Situation für ihn gefährlich zu machen. Der Tatbestand war klar, aber diese Leute wußten ihn nicht zu handhaben. Nur ein Geständnis kann Ihre Lage verbessern, sagte der Landgerichtsdirektor Dr. Fuchs. Wo sind Ihre Indizien? fragte Ive, er sagte, Sie wollen mir die Beweislast zuschieben. Gut. Jede der vier mich belastenden Zeugenaussagen steht mit den anderen dreien in Widerspruch. Jede enthält Widersprüche in ach selbst. Sie können zur Grundlage des Verfahrens nur die einzige Aussage machen, die keine Widersprüche enthält, die meine. Der Zeuge Luck, sagte der Landgerichtsdirektor, hat Sie gesehen. Der Zeuge Luck, sagte Ive, hat mich zur Stunde der Tat in der Nähe des Tatortes mit einem ihm nach der Tat natürlich erst verdächtigen Paket gesehen und nach drei Wochen wiedererkannt. Was gibt der Zeuge Luck zu Protokoll? Ich erkenne in Iversen den Täter wieder. Er gibt eine Kombination zu Protokoll, nicht einen Tatbestand. Ive spielte mit den auseinandergenommenen Teilen einer Bombe, die bei Grafenstolz gefunden wurde und nun als Beweisstück dienend auf dem Tische stand. Er setzte sie mit zerstreuter Miene zusammen. Sie wissen mit Bomben umzugehen, sagte der Landgerichtsdirektor. Ist das eine Bombe? fragte Ive, ich dachte, das sei ein Radioapparat. Er sagte, was von Zeugenaussagen zu halten ist, wissen Sie so gut wie ich. Sie wie ich wissen, daß jeder Zeuge madig zu machen ist. Warum wollen Sie ein Geständnis von mir? Weil Sie so gut wissen, wie ich, daß es keine Beweise gibt außer denen, die ich Ihnen liefere. Ich liefere Ihnen keine Beweise. Sie wie ich, sagte Dr. Fuchs, haben ein Interesse an der Klärung des Sachverhaltes. Ich bin, wie die Dinge liegen, von Ihrer Schuld überzeugt, überzeugen Sie mich vom Gegenteil. Ive sagte, da Sie überzeugt sind von meiner Schuld, warum wollen Sie ein Geständnis? Was verlangen Sie von mir? Männerstolz vor Richterstühlen? Aber ich fürchte, Ihrer Rechtsauffassung damit zu nahe zu treten. Sie würden das mit Recht als eine Anmaßung betrachten. Der Landgerichtsdirektor sagte, das ist Ihre Theorie. Das ist meine Theorie, sagte Ive, und Sie gestatten, daß ich nach ihr handele. Ich verlange Indizien, weil ich weiß, daß Sie verlernt haben, Indizien zu liefern. Nicht daß ich Indizien für unter allen Umständen beweiskräftig halte, aber ich will Ihr Spiel nicht spielen, nicht das neckische Spiel mit dem Geständnis als Trumpf, das Sie des Risikos und aller Verantwortlichkeit enthebt. Sie stehen für das Gesetz, ich gegen. Sie geben also zu? fragte der Landgerichtsdirektor schnell. Gar nichts gebe ich zu, sagte Ive noch schneller und beugte sich vor. Aber ich wenigstens will da gefragt werden, wo ich Verantwortung trage. Und so fragen, das können Sie nicht. Das ist mein Vorteil und „ich nutze ihn aus. Selbst wenn ich ein Geständnis ablegte, es könnte ja in einem Anfall von Verzweiflung sein, es könnte ja geschehen, um Ihrer Fragerei zu entgehen, Sie haben solche Fälle in Ihrer Praxis genug! Sie wissen wie ich, daß jedes Geständnis, mag es mit psychologischen oder zwangsmäßigen Mitteln erpreßt oder freiwillig abgegeben sein, den Tatbestand sogleich belastet mit einer geblähten Fülle auflösender Imponderabilien. Sie selber, die Sie ja aufgeklärte, liberale, humane und patriotische Richter mit modernen Ideen sind, und Ive schmeckte jedes seiner Worte genießerisch nach, haben die Psychologie ins Verfahren tragen lassen. Aber die historische Aufgabe der Psychologie, die Begriffe und Wertsetzungen von Jahrhunderten zu zermahlen, erfüllt ja wohl an sich nun die Entwicklung, der sie als Mittel gedient. Sie hebt sich selber auf. Von den Müllschippes will ich nicht reden, aber Sie, Sie und Staatsanwalt und Verteidiger und Sachverständiger, was lassen Sie noch übrig von Ihren eigenen Funktionen, was lassen Sie noch übrig vom Angeklagten, was lassen Sie noch übrig vom Gesetz? Der Medizinalrat hat den Richter überflüssig gemacht, der Kommissar den Staatsanwalt, und der Täter hat in Ihrem Verfahren weder eine gute noch eine schlechte, sondern überhaupt keine Position. Der Landgerichtsdirektor machte runde Augen. Sie haben hier die Position als Beschuldigter, sagte er. Was Sie beweisen können, sagte Ive, zerstört den Beweis: Die Beziehung des Täters zur Tat, Schuld oder Unschuld; denn Ihre psychologische Methode enthebt diese Beziehung ihrer einmaligen Gültigkeit. Was der Beschuldigte getan oder nicht getan, hätte jeder andere auch tun oder nicht tun müssen. Darum verlangen Sie ein Geständnis. Ihre Methode hat das Verfahren entwertet, und das Verfahren hat das Gesetz entmotiviert. Nehmen Sie meine Versicherung, daß mich das freut. Der Landgerichtsdirektor blickte auf die Bombe, dann sah er Ive vorsichtig von der Seite an. Sie sind also Anarchist? fragte er. Ive dehnte sich ein bißchen. Nein, sagte er gleichgültig, ich will bloß das Strafgesetz reformieren. Das ist ganz einfach. Man füge an den § 51 den Zusatz an… wird mit dem Tode bestraft. Der Landgerichtsdirektor überlegte lange, ob er den Gerichtsarzt bitten solle, Ive auf seinen Geisteszustand zu untersuchen. Er unterließ es aber. Beim Haftprüfungstermin setzte er alles ein, um Ives Freilassung zu verhindern; es gelang ihm auch, obgleich das Belastungsmaterial recht mager war. Er spürte wohl, daß bei Ive der Angelpunkt des ganzen Geheimnisses um die Bombenattentate lag, und Ive spürte, daß er es spürte. Der Landgerichtsdirektor hatte schon mehrfach in politischen Verfahren mitgewirkt, er war es gewohnt, daß ein Angeschuldigter den anderen belastete. Aber was blieb ihm hier außer der Aussage dieses einen komischen Grafenstolz? Von den hundertzwanzig Verhafteten, die ihm dieser Herr Müllschippe zugeführt, hatte er hundert entlassen müssen (und sich dabei mancherlei Unannehmlichkeiten durch das Innenministerium ausgesetzt) und das von IA gelieferte Material langte nicht hin und nicht her. Wenn auch nicht alle schwiegen, wie der finstere Claus Heim, so waren es im ganzen doch recht wortkarge Leute, und seine feinsinnig zugespitzten Überraschungsmomente funktionierten einfach bei diesen Bauern nicht. Sie hatten eine so merkwürdige Manier ihn anzusehen, wenn er sie schon dicht vor eine Falle gelockt. Immer hatte er das Gefühl, daß sie sich im Grunde über ihn lustig machten. Das Verfahren hakte an allen Ecken und Enden. Von oben wurde gedrängt, denn überall erhoben sich schon die Stimmen, die darauf hinwiesen, daß das Verfahren ungesetzlich sei. In der Tat wußte der Dr. Fuchs so gut wie die Regierung, daß nicht Berlin, sondern Altona zuständig war; einzig das Attentat am Reichstag konnte die Konzentration der Untersuchung in der Hauptstadt rechtfertigen, aber gerade das blieb völlig unaufgeklärt. Dieser Iversen, dachte der Landgerichtsdirektor. Aber dieser Iversen hatte gesagt, zeigen Sie mir einen Widerspruch in meiner Aussage, und wenn Sie mir einen zeigen, dann müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn ich ihn nicht plausibel machte. Ive zog jede Vernehmung nicht nur in die Länge, sondern auch ins Lächerliche. Er leugnete nicht und er gab nicht zu, er ließ offen. Ihre Spur ist falsch, sagte er zu Dr. Fuchs, je länger Sie sie verfolgen, desto mehr verwischt sich die richtige. Gerade das glaubte ihm der Landgerichtsdirektor nicht; er hatte Unglück in diesem Verfahren, immer dort, wo die Wahrheit lag, glaubte er sie nicht. Er biß sich an einzelnen Punkten fest, hartnäckig wie die Bauern, und er kam nicht weiter. Die Zeugen fielen der Reihe nach, wie sie aufgestanden waren, auch wieder um; und der Kriminalkommissar Müllschippe hatte alle Ursache, mit vielsagender Geste auf die Justiz hinzuweisen und sich mit Eifer auf einen neuen Fall zu stürzen. Sechs Monate nach seiner Verhaftung wurde Ive, obgleich noch unter Anklage, auf freien Fuß gesetzt, zugleich der Prozeß nach Altona zurückverwiesen. Claus Heim blieb weiter in Haft. Claus Heim würde verurteilt werden; und nach dem Sprengstoffgesetz war die Mindeststrafe fünf Jahre Zuchthaus. Der alte Reimann, der seinen verhafteten Sohn besucht hatte, erwartete Ive vor dem Tor des Gefängnisses. Er stand groß, die blaue Schirmmütze auf den weißen, strähnigen Haaren, den Handstock in der Faust, vor der Weinen eisernen Pforte und schaute unbeweglich die graue, abgeschliffene Straße entlang. Die Spitze seines Stockes bohrte sich in die schlierige schmutzigschwarze Erde, die in kleinem Viereck vom Pflaster freigegeben einem wie von Säuren angefressenen Baum mit nackten, feuchtglänzenden Ästen die kümmerliche Nahrung ließ. Na, da bist du ja, sagte der alte Reimann einfach, als Ive aus dem Tore trat. Er nahm ihm einige der lächerlichen, bis zum Platzen gefüllten und ungeschickt verschnürten Pappkartons ab, die Ives ganze Habe enthielten. Sie gingen an den hohen, düsteren Häuserfronten entlang, mit ruhigem, lang ausholendem Schritt, als marschierten sie auf der Klinkerstraße der Marsch. Ive, den Blick noch eingeengt von den grauen Wänden der Zelle, sah die Menschen, die sich an ihm vorbeipreßten, die Bäume, Wagen und Omnibusse wie Schatten, flächig wie Figuren im Film; er hörte, das Ohr noch angestrengt vom Lauschen auf die bedeutsamen Geräusche des Zellenhauses, den Lärm der Straße als eigentümlich hartes und kaltes Rollen, aus dem die Signale der Automobile wie helle Funken sprangen. Er war nicht benommen, wie er das wohl in den langen Nachtstunden der Zelle gedacht, vielmehr gefährlich und erregend leer, und bereit, mit allen Poren aufzunehmen. Er schnüffelte mit erhobener Nase den strengen Geruch der Stadt und verfiel unwillkürlich in denselben hastigen sicheren Gang, wie das Mädchen, das mit klappernden Absätzen, schmal und unpersönlich im nackten grauen Mantel vorüberstrich. Er sah auf seinen Begleiter, und die Marsch schien ihm plötzlich unter der kalten, blassen Vorfrühlingssonne der Stadt fern, fremd und weit; von weit her kam auch die Stimme des alten Reimann, der in den ruhigen Sätzen seiner Art Bericht von der Bewegung gab. Ich habe mit Hamkens wegen deiner gesprochen, sagte er – denn Hamkens hatten sie nach wenigen Wochen wieder frei lassen müssen – und wir haben eine Aufgabe für dich. Mit den Bomben, das ist ja wohl nichts mehr, sagte er und stieß den Stock hart aufs Pflaster. Nicht, daß ich meine, es hat nicht gelohnt. Wer viel will, muß auch viel einsetzen, und ich hab' mich mein Lebtag nicht vor einem Risiko gescheut. Mein Jung und der Heim und die anderen, das sind keine dummen Schulbuben, die nicht wußten, was sie tun. Es hat uns geholfen, und jetzt kann es nicht mehr helfen. Da ist noch der Prozeß in Neumünster, vor dem hab' ich keine Bange, und wenn es in Altona nicht klar geht, so haben wir doch genug Mittel, die Sache über kurz oder lang in Ordnung zu bringen. In Ostpreußen scheint es nun auch voranzugehen; das alles läßt sich an, und für all das mag die Zeitung, wie sie jetzt ist, auch genügen. Der Umbruch ist schauderhaft, sagte Ive und ärgerte sich. Ich weiß, sagte der alte Reimann, manches ist nicht in Ordnung, und es gibt auch Stänkerei, aber Stänkerei ist immer. Doch die Bewegung hält, und jetzt kommt es drauf an, wer den längeren Atem hat. Sie sind uns schon gekommen mit ihren Quacksalbereien, und das ist noch die größte Gefahr, aber solange wir da sind, Hamkens und die anderen und ich, werden sie uns nicht korrumpieren. Wir brauchen dich, Ive, sagte der alte Reimann und stupste ihn plötzlich mit einem Pappkarton, und Ive sagte mit trockener Kehle: Claus Heim. Der Bauer wandte ihm das ganze Gesicht zu und sah ihn mit seinen hellen Augen an: Was wirst du tun? Ich habe Claus Heim gesprochen. Er ist nicht der Mann, flüchtig zu gehen, und er ist rächt der Mann, um Gnade zu bitten. Nein, das nicht, sagte Ive, wir müssen ihn rauspauken. Was die Kommunisten mit ihrem Max Holz fertig kriegten, das sollte auch uns wohl geigen. Er gab sich einen Ruck und sagte, ich bleibe in der Stadt. Er redete hastig weiter. Da sind vorerst die Besprechungen mit den Anwälten, dann will ich die Presse bearbeiten; ich werde die Hilfe nehmen, wie sie sich bietet. Freilich, Heute wird jemals sagen, daß er unschuldig sei, und das ist mit das Schlimmste, daß sie mit ihm ein Pfand in der Hand haben, mit dem sie uns locken können. Das darf nicht sein, und er wird es selber nicht wollen. Es muß auch anders gehen. Und da ist noch etwas... Eines ergibt sich aus dem anderen, sagte der alte Reimann, wir wissen das, ich will nicht sagen, daß wir viele Freunde brauchen, aber je mehr auch von anderer Seite vorgestoßen wird, desto schneller kommen wir zum Ziel. Das ist es, sagte Ive und entwickelte seinen Plan. Sie sprachen bedächtig, wie sie es gewohnt waren, aber Ive redete sich heiß, denn er spürte, was die Bauern von ihm wollten, und er spürte auch, daß sie gefürchtet hatten, er könne das falsch auffassen, und so bemühte er sich, dem alten Reimarm in Ton und Meinung begreifbar zu machen, daß er wohl verstand, und daß auch ihm die Trennung keine Trennung sei. Ich bin kein Bauer, sagte er, und ihr wißt, warum ich auf eurer Seite stand, nichts hat sich geändert; nichts ändert sich, sagte der Bauer sofort, und noch einmal, wir brauchen dich, Ive, und von welcher Seite du uns nun kommen wirst, wenn du kommst, wir kennen dich, und sicher hast du von allem was zu tun ist, das bitterste Teil zu tun gewählt. Ich sag dir frei, es gab da einige Klaukschieter, die haben gegen dich gestänkert, und Hamkens dachte schon, du solltest lieber eine Zeitung in Schlesien übernehmen, aber das ist man alles halber Kram, du bist uns wichtiger in der Stadt als da unten, und du nützt uns mehr, wenn du dein freier Herr bleibst, so, wie die Dinge nun liegen. Die Dinge aber lagen nur so, daß aus der Bewegung doch eine Art Organisation geworden war, kein eingetragener Verein mit Schriftführer und Kassenwart, aber doch eine Art Organisation mit beschränkten Zielen und festen Grenzen, denn anders war die Bewegung nicht über die Haute zu bringen. Es ist Claus Heim, der uns fehlt, sagte der alte Reimann, aber das nützt nun nichts, es kommt doch alles zurecht. Sie gingen schweigend weiter, durch laute, enge Straßen, an zerbröckelnden Fassaden und schmutzigen Höfen vorbei, über nackte, klotzige Brücken, unter verrußten Stadtbahnbögen, die erzitterten und in den Trägern ächzten, wenn die Züge donnernd über sie rollten. Reimann sah nicht links und nicht rechts, er schritt stur seinen Weg, öha, sagte er zu einem Auto, das, fast seinen Ärmel streifend, an ihm vorüberfegte, und als sie vor dem Hause standen, in dem er wohnte – er wohnte bei einem seiner Schwiegersöhne, Universitätsprofessor in Berlin – einem weitgestreckten Neubau mit geraden, flachen Fensterreihen und eingebauten Balkons, klopfte er mit dem Stock gegen ein Sims, tot, sagte er, Beton, kein lebendiger Stein, der atmet, und blickte Ive vorwurfsvoll an. Am nächsten Morgen trennten sie sich. Es war aber der erste April, und der Pförtner des Rathauses fühlte sich angepflaumt, als ein junger Mann in seine Loge trat und Arbeit verlangte. Hier gibt's keine Arbeit, sagte er grob und drängte den Menschen vor die Tür; er trat noch einige Schritte vor das Tor, dem Davongehenden nachzuschauen, da klingelte das Telefon, er wurde im Hause verlangt. Er machte sich auf den Weg, und als er wieder in seine Loge trat, die er in der Eile nicht verschlossen hatte, fand er hinter der Tür ein längliches Paket. Er hob es auf und schüttelte es ein bißchen, betrachtete es von allen Seiten und wollte es schon öffnen, als er ein merkwürdiges Ticken vernahm. Er stutzte und lauschte, dann preßte er das Ohr gegen die Seitenwand der Kiste. Plötzlich zuckte es von seinem Herzen her, das Blut schien wie von elektrischen Strömen bis in die Fingerspitzen gepeitscht und heizte den ganzen zitternden Körper. Ersetzte das Paket mit angehaltenem Atem auf den Tisch, ergriff es wieder und rannte, stürzte, die Arme mit dem Paket weit nach vorne gespreizt, aus der Loge, aus dem Tor auf die Straße, mitten auf die Straße und legte es hin. Fünf Minuten später war das Überfallkommando da, ratterten die Schnellwagen der Polizei, klingelten und tuteten die Wagen der Feuerwehr. Schon war die Straße schwarz von Menschen. Was'n los? fragten die Hinzukommenden, die Polizisten sprangen von den Wagen und hakten die Gummiknüppel los. Eine Bombe, hieß es, die Feuerwehrmänner kreisten um das längliche schwarze Ding, das da einsam inmitten des freien Platzes lag. Weitergehen, sagten die Polizisten und riegelten die Straße ab, so daß keiner weitergehen konnte; Herr Müllschippe war auch schon da. Herr Müllschippe wartete auf den Sachverständigen. Eine Bombe, sagte er zu den Herren von der Presse. Die Straßenbahnwagen, die Autos stauten sich, Oberleutnant Brodermann von der Schutzpolizei telefonierte um Verstärkung. Zurück da, hieß es, und ein schwarzer steifer Hut kollerte unter dem Hieb des Gummiknüppels. Eine Bombe, jauchzten die Berliner und spielten Fußball mit dem Hut. Da kam das Auto des Herrn Polizeivizepräsidenten, am Kühler das weiße Fähnchen mit dem Polizeistern. Zurück da, und der Sachverständige nahte sich mit wehendem Mantel. Eine Weile lag das Schweigen über dem Platz. Alle Augen waren auf den Mann gerichtet, der sich vorsichtig über den Gegenstand beugte. Dann richtete der Mann sich auf. Ein frohes und befreites Murmeln durchlief die Reihen. Meine Herren, sagte der Kriminalkommissar zu den Berichterstattern, die Untersuchung des Herrn polizeilichen Sachverständigen, der soeben die Bombe unschädlich machte, hat einwandfrei ergeben, daß es sich bei der Sprengmasse um dieselben Bestandteile handelt, die bei den Bombenattentaten in Schleswig-Holstein verwendet wurden. Die Berichterstatter schrieben eilig, und die Zeitungen brachten es mit großer Überschrift. Der gerichtliche Sachverständige kam zu spät. Längst hatte sich die Menge schon zerstreut, war die Polizei, war die Feuerwehr schon abgefahren, telefonierte Herr Müllschippe mit dem Innenministerium, als der gerichtliche Sachverständige feststellte, daß die Sprengmasse der Bombe aus Blumenerde bestand, aus einfacher schwarzer, fettiger Blumenerde, deren Herkunft aus Schleswig-Holstein schwer zu beweisen war. Ive las das kleingedruckte Dementi am Abend des anderen Tages, vor dem Kiosk stehend, in dem er sich die Zeitung gekauft. Der Salzstangenverkäufer, der neben ihm mit heiserer Stimme seine Ware anpries, tippte ihm leicht auf die Schulter. Hinnerk! rief Ive erstaunt. Emil ist mein Name, sagte Hinnerk, er deutete auf die Nachricht im Zeitungsblatt. Zum Abgewöhnen, sagte er, das ist der Welt Lauf; so kommt man vom Pferd auf den Hund, vom Dynamit auf Blumenerde.

*

Ive kam in die Stadt, um sie zu erobern. Es geschah dies in jenen sonderbaren Jahren, die in unserer Erinnerung recht eigentlich namenlos geblieben sind. Zwar waren diese Jahre an heftigen Bewegungen reich genug, große Erschütterungen verwirrten das Netz der Beziehungen, in dem sich die Völker gefangen hielten, und es mangelte auch nicht an vielfältigen Versuchen ernster und verantwortungsbereiter Männer, im Dienste des weltöffentlichen Wohles einen erträglichen Zustand zu schaffen. Aber obgleich jedermann die Unerträglichkeit des allgemeinen Zustandes spürte, mehr noch, ihr fast unmittelbar ausgeliefert war, – und so sich bemühte, auf seine Weise abzuändern, – schien es doch, als würden alle Anstrengungen zu keinem der erhofften Ergebnisse führen. Wir befanden uns im Wirbel einer ungemein emsigen und vibrierenden Tätigkeit, die jeden kleinen Tag wohl auszufüllen, ihn in unserem Bewußtsein jedoch nicht bedeutend zu machen vermochte. Und wir erinnern uns, wie sehr richtungslos dabei uns alle Tätigkeit erschien und wie sehr dies unsere Unruhe vermehrte. Kein Ereignis und kein Name war groß genug, daß wir nach ihm jene Zeitspanne benennen könnten, und so mögen wir sie wohl als eine Atempause betrachten, wie sie sich die Geschichte zwischen zwei Epochen gönnt. Aber hüten wir uns, von diesen Jahren gering zu sprechen. Gewiß, sie waren klanglos trotz ihres Gelärmes und trotz ihrer Buntheit vermittelten sie kein Bild. Doch zwang gerade der Mangel an eindeutiger Erscheinung den suchenden Sinn, sich nicht auf Zustände und Verfassungen zu richten, deren fragwürdiger Charakter genügend offenbar war, sondern vielmehr auf jene inneren Abläufe, wie sie etwa zu ahnen sind hinter den erstarrten Zügen auf dem maskengleichen Antlitz eines Erschöpften, welcher in totenähnlichem Schlaf von wirren Träumen gepeinigt wird. Der Erwachte weiß nichts von der Arbeit, die sich in seinem Körper vollzog, und deren winzigste Erregung das zuckende Gehirn in hetzende Bilder verwandelnd aufnahm. Tief in den Träumen aber lag immer die Vorbedeutung, die der Tag uns vorenthielt, und wer sie zu suchen auszog, lernte, was möglich ist und fand alle Kammern aufgeschlossen, die der Zweifel so sorgsam verriegelt hatte. Und das ist es, vornehmlich das, was uns geneigt macht, auch jene unruhgefüllten Jahre für bedeutungsvoll zu halten: daß in ihnen plötzlich sich so viele fanden, die sich nicht mehr begnügen konnten, die getrieben waren, von allen versperrten Türen die Krampen abzuschlagen. Wenn wir uns auch immer darüber im klaren sind, daß alles, was damals geschah, in Stand und Widerstand durchaus notwendig war, so mögen es also doch nicht jene führenden Geister sein, denen unsere Aufmerksamkeit gebührt, nicht jene bekannten Namen, welche die ungeheure Apparatur der Meinungsverbreitung uns alle Tage vor die Augen führte und in die Ohren hämmerte, auch nicht jene, die mit durchkälteter Vernunft das Getriebe beobachteten und genau das berichteten, was sie sahen, nämlich die Oberfläche, alle jene nicht, die als die Repräsentanten ihrer Zeit galten, und von ihr aus gesehen es auch tatsächlich waren und vollkommen ihrer wert, – sondern jene, denen wir nächstens begegneten, jene anderen, die kein Amt hatten und keine Meinung, die sich aber aufgemacht, beides zu suchen, und darüber hinaus das, was ihnen Amt und Meinung erst suchenswert machte. Sie waren es, die vorbereiteten, und sie bereiteten vor, weil sie in sich vollzogen, was die drängende Zeit von ihnen verlangte, und sie vermochten dies, weil sie wie in der Bereitwilligkeit des Traumes von jedem Pendelschlag mitgerissen und allen Erregungen des Geistes preisgegeben, stürzend und steigend, und besessen von der Unmöglichkeit, auszuweichen, jene Masse sich eroberten, die das Leben selber im Besitze hat, und mit denen es auch einzig gemessen und gerichtet werden kann. Uns konnten sie damals als Gefährdete mehr noch als Gefährliche gelten. Sie verstanden freilich nicht, sich glatt einzufügen, sich all der bekömmlichen Sicherungen zu bedienen, welche die ordnungsliebende Gesellschaft zur Erhaltung ihres Wohles vorsorglich geschaffen hatte. Aber wie hätten sie dies auch tun können, da ihnen ja jegliche Sicherung sogleich wie eine Flucht erscheinen mußte? Freilich konnte niemand wissen, wie sehr bald auch alle Sicherung in Frage gestellt war; noch funktionierte der Mechanismus, und wenn auch seine Gesetze dem rechnenden Verstände nicht mehr erreichbar waren, so blieb doch das allgemeine Interesse, ihn in seinem glatten Gang zu erhalten. So mußte, wer sich außerhalb dieser Bemühung stellte, notwendig unzuverlässig scheinen. So lange es sich um Einzelfälle handelte, erledigten sie sich von selbst, und es war kaum nötig, den unbequemen Anspruch, wenn ein solcher sich kristallisierte, mit den Mitteln, die zur Verfügung standen, zurückzuweisen. Aber als die unverständige Haltung sich in immer größerem Masse, in immer weiterem Räume bemerkbar machte, begann die öffentliche Aufmerksamkeit, sich mit dem Problem zu beschäftigen. Denn ein Problem schien geworden, was vorher eine private Schwierigkeit gewesen, die im Trubel der Ereignisse einer besonderen Beachtung unwert war. Die Kausalitätsfanatiker waren mit Erklärungen schnell bei der Hand. Eine neue soziologische Zwischenschicht, sagten die einen, sei im Begriff, sich zu bilden, und sie gingen den Elementen dieser Schicht zu Leibe, obgleich sie nicht daran zu zweifeln wagten, daß sie so oder so doch zum Untergang bestimmt war. Absplitterungen aus dem aufstrebenden Proletariat, sagten sie, und aus dem absterbenden Mittelstand, und fanden die Ursache in der Überfüllung der Hochschulen, der Verminderung des stehenden Heeres, der zunehmenden Chancenlosigkeit des sozialen Aufstieges und anderen Erscheinungen dieser Art mehr. Und so konnten die Menschen dieser Schicht sich von den Zeitungen je nach deren Richtung in den gelehrten Auseinandersetzungen als Opfer entweder des Klassenkampfes oder des Kapitalismus oder des verlorenen Krieges, in den politischen Leitartikeln aber als faschistische Söldlinge, als arbeitsscheue Landknechtsnaturen oder als wurzellose Asphaltliteraten bezeichnet sehen. Andere wiederum verbreiteten sich über das Fronterlebnis, das ja den ganzen Menschen entscheidend umgewandelt haben soll, und von hier aus war es über das bekannte Wort von der Generation, die der Krieg zerstörte, auch wenn sie seinen Granaten entkam, nicht weit bis zu dem Bemühen, die schwierige Materie schlagwortartig als Generationsproblem zu umreißen. So konnte es denn nicht fehlen, daß auch eine Reihe von Vertretern dieser Schicht der Magie des öffentlichen Interesses unterlag und bald in eine langanhaltende Betrachtung des eigenen Bauchnabels versank, ihr tragisch umwittertes Geschick beweinend, während unter ihnen wiederum einige es verstanden, ihre tiefsinnigen Meditationen über das Thema in druckreife Manuskripte zu verwandeln und auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege bei einem interessierten Verlagsbetriebe eine wenn auch immer unsichere Pfründe zu erlangen. Für die große Masse aber blieb die Regelung gültig, auf die sich das System nach dem ergebnislosen und wohl auch nicht ernstgemeinten Schrei nach der jungen Generation wieder besann, indem es die abwegigen und darum für die Funktionen des Produktionsprozesses schädlichen Naturen auf die einfachste Manier der anscheinend von ihnen selbst gewollten wirtschaftlichen Misere preisgab. Denn nach wie vor konnte natürlich nur jene spezielle und sich spezialisierende Tüchtigkeit entscheidend sein, die weder an das Alter noch an die Herkunft gebunden war, und deren wesentlichstes Merkmal das Sichbescheiden auf den zugewiesenen Bezirk einzig sein konnte. Ihren Bedarf an Geist erzeugte sich die Maschinerie selbst, und jedes Darüberhinaus mußte sich notwendig in unfruchtbares Räsonnement verwandeln. Das beste Mittel, eine unmittelbare Bedrohung irgendwelcher Art unschädlich zu machen, blieb jedenfalls, sie aus der gefährlichen Nähe weg zu manövrieren, ihr ein genügend abseitiges Operationsfeld zuzuweisen. In der Tat konnte dies wohl leicht gelingen, denn da die Träger der Unruhe sich in allen Lagern fanden, war nicht einmal ein gemeinsames Vorgehen zu erwarten. In allen Lagern, und auch dort isoliert, so standen die einzelnen zwar unkontrollierbar, doch anscheinend auch ohne Hoffnung, die Ausflüsse ihres Weltschmerzes in einen großen Strom zu vereinigen und an eine positive politische Willensbildung zu gehen. Wo drei sich in noch so oberflächlicher Übereinstimmung befanden, proklamierten sie auch schon eine Front, und bald sah man vor lauter Fronten den eigentlichen Kampf nicht mehr. Da erhoben sich die Propheten der Querverbindung, jenes Versuches, nicht nur zum ersten Male eine organisatorische Zusammenfassung dieser bislang ungreifbaren Schicht, sondern auch durch sie das allmähliche Hineinwachsen in den Apparat und seine Umwandlung von innen heraus zu bewerkstelligen, ein Versuch, der jedenfalls nicht an Mangel großzügiger Parolen litt und demgemäß auch gründlich scheiterte. Wirklich bestand das einzige einigende Band, die einzige Gemeinsamkeit in der Denkweise. In der Denkweise beileibe nicht aber in den Resultaten, die sich durch sie erzeugten. Ideen waren billig wie Brombeeren, man konnte sie an allen Hecken pflücken, ob sie nun rassische Erneuerung, oder sozialistische Planwirtschaft oder Revolution der Mitte hießen. Jedenfalls aber war es nicht die sachliche Bedeutung der überraschend originellen Beiträge zu den Problemen, die uns aufhorchen ließen, sondern vielmehr die Art, in der sie abgefaßt waren. Ein neuer Geist schien in neuen Zungen zu reden. Die literarischen Manifestationen zum Beispiel erschienen in einer Art Geheimsprache, deren Raffinement darin bestand, daß alte und bekannte Begriffe plötzlich in einem ganz neuen Sinn gebraucht wurden, der eben nur von demjenigen zu enträtseln war, welcher sich von Anfang an in einem mehr oder weniger weitgehenden Einverständnis befand. So diente schon die Sprache gleichsam als Sieb, und diesem nützlichen Umstände war es wohl zu verdanken, daß eine eigene Enzyklopädie nicht jedesmal beigegeben war. Natürlich waren auch die Definitionen keineswegs einstimmig anerkannt, der Denkprozeß schien vielmehr mit einer Überprüfung der allerersten Voraussetzungen zu beginnen, und gemeinsam war nur der unerschütterliche Ernst und die ersichtliche Bemühung, selbst den plattesten und abgeschliffensten Erscheinungen von der Tiefe her beizukommen und aus deren neugewonnener Bedeutung neuerkannte Entwicklungen abzuleiten. So verschob sich bald offenbar der Schwerpunkt jeder Gestaltung von der nackten Tatsache auf das Erlebnis der Tatsache, und vom nackten Erlebnis auf dessen Sublimierung; wobei denn die innere Verwandtschaft dieses politischen Vorganges mit jedwedem künstlerischen Schaffensakt deutlich zutage tritt. Des politischen Vorganges, denn diese Menschen waren besessen von Politik, die ihnen sich freilich nicht als eine, einfache Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten mit all ihrem hartnäckigen Spiel und Widerspiel darbot, sondern als der große, das ganze Leben umfassende Geist, dessen Bewegung die Geschichte ist und dessen Substanz die Macht. Die Stadt als geistiges Gebilde, Konzentrationspunkt aller Willensrichtung, Schlachtfeld aller Interessen und Bestrebungen, schien mit ihrem ungeheuren isolierenden und verbindenden Druck für diese Spezies Mensch besonders günstig, und man konnte sie wohl mit einem Berge vergleichen, in dessem Inneren eine große Schar Wühlmäuse an der Arbeit war, Fels und Erde kreuz und quer durchbohrte, mit ihren wirren Gängen das Gebirge unsichtbar zu unterhöhlen, welche Tätigkeit nicht etwa einer besonderen Infamie entsprang – sie konnten gar nicht anders. Und Ive wühlte munter mit. Es war nur natürlich, daß Ive auf der Suche nach den aktiven Kräften, die sich gegen den gemeinsamen Gegner, das „System“ richteten, zuerst auf die Männer stieß, die von keiner festen, gültigen und anerkannten Position aus handelten, sondern auf allen Wegen zu finden waren. Übrigens spürte er wohl, daß er seiner ganzen Veranlagung und Haltung nach zu ihnen gehörte. Zwar mißtraute er, der als Abgesandter der Bauern schon eine gewisse Macht vertrat, der vorwiegend intellektuellen Einstellung seiner neuen Freunde, und wenn er auch ihre Vorurteilslosigkeit teilte, so schien ihm doch die allzu wache Beweglichkeit des Geistes als ein Zeichen mangelnder Härte; aber schließlich kam es auf die standhafte Härte in jenem Stadium des Kampfes nicht so sehr an, und so war er geneigt zu glauben, was ihm oftmals versichert wurde; daß jedermann auch bereit sei, auf die Barrikaden zu steigen, wenn es verlangt wurde; es verlangte aber kein Mensch. Ive glaubte noch ganz primitiv an die Nützlichkeit der Barrikade, zumindest an die Fruchtbarkeit ihres Bildes. Doch nur wenige Zeit in der Stadt, erkannte er, und alles, was ihm begegnete, belehrte ihn aufs neue, daß in ihr zu existieren, sicherlich die natürliche Einfachheit seiner Haltung genügen konnte, in ihr zu leben jedoch, das heißt, in ihr sich durchzusetzen, sie zu unterwerfen, eine andere Rüstung verlangte. Er war der Stadt als solcher nicht feindlich, er war bereit, sie als Wirklichkeit in sich aufzunehmen; doch wenige Gänge in ihren Straßen zerstörten schon, was er sich von ihr gedacht, und bald wußte er schon nicht mehr genau, wie er sie sich vorgestellt – jedenfalls ganz anders. Anfangs wehrte er sich noch gegen die Gewalt, die ihn überstürmte, gegen die ununterbrochene Flut von Gedanken und Bildern, deren jede eine in ihrer Fremdheit einen so hohen Grad von Verführung enthielt; aber gewohnt, Menschen, Dinge und Meinungen zuerst auf ihren Gehalt an innerer Kraft zu untersuchen, und auf dies hin einzuordnen, begegnete er in der Stadt, in dem Phänomen Stadt dem machtvollen Vollstrecker eines unbändigen Willens, vor dessen Dämonie zu bestehen, die härteste und glorreichste Probe bedeuten mußte. Hier auszuweichen ging nicht an, sich dem Schmerz zu versperren hieß, sich der Erfahrung eines neuen Wertes begeben, und nicht mangelnde Zuversicht durfte nach Rüstung verlangen, sondern das Bewußtsein, sich durch sie den letzten Möglichkeiten der Reife auszusetzen. Gewiß, und das stand ihm unumstößlich fest, mußte der Kern der Dinge einfach sein, aber welche Verwicklungen waren zu durchstoßen, um zu ihm zu gelangen! Ive lebte das Leben der Stadt. Und er weigerte sich nicht, um dies zu können, ganz von vorn zu beginnen. Anfangs versuchte er, sich an seinen Erinnerungen zu orientieren. Aber die Stadt war als Zeuge stumm. Sie schien keine Belastung zu dulden, die sich nicht aus dem Tag ergab, und darum auch keine persönliche Beziehung, die nicht unmittelbar ihrem eigensten Wesen zu tun hatte. Ive lernte, sie sozusagen als ein Individuum zu begreifen, dem sich Vor- und Nachwelt in der Gegenwart verknüpfte, und in dem nichts geschehen konnte, zu dem nicht der Grund in ihm selber lag. Die Stadt zu erkennen mochte also ein Maß von Selbstentäußerung verlangen, dessen Grenze sich nach den gewonnenen Resultaten verschob. Das hieß nichts anderes als die Forderung, die Totalität der Stadt zu erfassen, um der eigenen dadurch sicher zu werden. Angesichts der Stadt verstand er plötzlich, warum ihm dies, das Erfassen der Totalität, im bäuerlichen Bezirk nicht gelungen war: dieser Bezirk wurde längst durch die Ausstrahlungen der Stadt bewegt (selbst in seinem Befreiungskampf), und mochte die Bewegung auch an der Peripherie am heftigsten sein, sie wurde von der Mitte her bestimmt. Die Bauern hatten die Stadt gleichgesetzt mit dem System, die Kristallisation des Stoffes mit dem Stoff selbst. Das System aber war überall, und alles, was sich zuerst dem Leben verbunden fühlte, hatte sich in seinen Hohlräumen angesiedelt. Und von hier aus konnte auch einzig der Angriff vorgetragen werden, der den Bauern zur Erhaltung des Standes diente, der Stadt aber zur Erfüllung ihres Zweckes an sich.

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Ive hatte die Einsamkeit nie gescheut, aber nirgends, selbst auf dem Postenstand des großen Krieges und in der Zelle nicht, trug sie einen so brutalen und verwirrenden Charakter wie in der Stadt. Sie beherrschte ihn ausschließlich und überall. Konnte er sich im Kriege immer doch wieder in die warme Zone der Kameradschaft zurückfinden, war ihm die stille Marsch mit Göttern bevölkert, und wenn diese vor den Nebeln des Meeres wichen, mit Gespenstern, fand er in der Zeile sich selbst und das Klopfen im Stein, die Stadt bot ihm nichts als ihren isolierenden Druck. Das begann in seiner Behausung im fünften Stockwerk einer bürgerlichen Mietskaserne, deren höchste Stiege nichts mehr von der marmornen und gipsernen Pracht des herrschaftlichen Treppenaufganges unten ahnen ließ, in seinem möblierten Zimmer, das den Bewohner – aber er wohnte dort nicht, er kampierte dort – nur als Fremdkörper duldete. Er hatte in der Stadt nicht Wohnung genommen, sondern sein Lager aufgeschlagen, und es schien ihm ganz widersinnig, anders zu denken,- der Sinn des Lagers war, aus ihm aufzubrechen, und die Häuser der Stadt stellten ihm nichts anderes dar, als Verschanzungen, in denen zu leben den Troßknechten und den Frauen wohl immer, den Männern aber nur zum Zwecke der kurzen Ruhe gestattet war. Vor der Eingangstür seines Logis waren außer dem Messingschild der Vermieterin noch sieben Visitenkarten mit Reisnägeln befestigt, und Ive begegnete wohl gelegentlich auf dem dunklen Flur der einen oder der anderen Gestalt, die mit stummem Gruß vorbeiwischte, auf der Straße hätte er kernen von den Menschen, die neben ihm lebten, nur getrennt durch eine Mauer von fünf Zentimeter Dicke, wiedererkannt, und niemals auch verspürte er das leiseste Bedürfnis, mit ihnen in irgendeine Verbindung zu treten. Dicker als die Mauer des Zimmers war immer die Schicht Mißtrauen, die zu durchbrechen kaum einen Sinn ergab; was sich finden sollte, fand sich doch immer, und wenn es nicht ein Drittes war, das verband, so lohnte sich die Mühe des Verbindens nicht. Übrigens nahm Ive nur an, daß es das Mißtrauen war, das jeden einzelnen in seinen eigenen Dunstkreis bannte, er selber spürte es kaum bei sich, doch wußte er freilich um seine Unverletzlichkeit, durch die ihn jede Unruhe erneut bereicherte. Ernsthaft schaden konnte nur er sich selbst, und es erstaunte ihn, daß diese simple Gewißheit nicht ohne weiteres als allgemeingültig vorauszusetzen war. Ive lebte, er wußte selbst nicht wie. Er besaß nichts Pfändbares und füllte die Steuererklärung mit einer gewissen höhnischen Befriedigung aus. Er arbeitete nicht, weil jede Arbeit, die er tun konnte, völlig sinnlos war. Er schrieb für die Bauern gelegentlich einige Artikel, von denen er überzeugt war, daß sie geschrieben werden mußten, und die ihm so gut wie nichts einbrachten. Und er schrieb nichts über das Maß des unbedingt Notwendigen hinaus, es wäre ihm anders wie eine Art literarischer Hochstapelei erschienen. Übrigens fand er die Zunft der anständigen Armut weit verbreitet, und er lernte Männer kennen, die den Besitz eines Smokings für eine gesellschaftliche Hochstapelei hielten, Männer, die den Kopf hinreichend mit neuen und durchaus eigenen Ideen gefüllt, ihre revolutionäre Verkündigung mit einem Vorschlag zur Reform der Herrenkleidung einleiteten. Oft blieb er bei seinen nächtlichen Gängen durch die Straßen der Stadt vor den Torbögen der Häuser seines Viertels stehen, die Unzahl der Schilder zu lesen, die Namen und Tagwerk der Mieter verkündeten. Und er fand, daß es kaum einen Zustand gab, in dem man nichts mehr zu verlieren hatte; die Armut mußte immer Mittel haben, sich hinter einem Erwerb zu verstecken, denn wie wäre es sonst möglich, daß ganze Burgen des Elends bis unter das Dach angefüllt waren mit Menschen, die in der irrsinnigen Fiktion eines Berufes lebten, lebten und arbeiteten und aßen und Kinder zeugten? Lebten, von einer Gelegenheit, die ihnen in den Weg geworfen war, und an die sie sich klammerten, wissend, daß es die letzte sei, die ihnen noch den bürgerlichen Anstand ließ. Astrologen und Kammerjäger, Agenten für alles und nichts, Haarhändler und Hundewäscher, Hofsänger und Hausierer, ehrliche Leute ohne Chance, die nichts zu verlieren hatten und darum auch nichts riskieren konnten, außer dem erschütternden Bewußtsein, sehr nützlich Zu sein, ein Bewußtsein, daß sie mit allen teilten, mit denen Ive in der Stadt zusammentraf, und mit ihnen auch teilten die Überzeugung, daß sie recht eigentlich zu ganz anderen Dingen geschaffen und geeignet seien. Auch Ive überfiel zuweilen der Kleineleutetraum mit der Frage, was würdest du tun, wenn du plötzlich sehr reich würdest, und er überprüfte sich gewissenhaft und fand, daß er diesen Zustand sicherlich sehr angenehm empfinden würde, daß er aber im Grunde an seinem Stil, zu leben, nichts ändern konnte. Jedenfalls wehrte sich Ive gegen den Gedanken, auf die Armut als treibenden Faktor zu spekulieren, sie enthielt unter allen Umständen mehr sentimentalische als heroische Kraft. Nicht die ärmsten, sondern die reichsten Bauern im Lande hatten begonnen, zu rebellieren, und es war einfach nicht wahr, daß sich die revolutionäre Position der Arbeiterschaft mit der Verschlechterung ihrer ökonomischen Lage verbesserte, der bloße Zuwachs hemmte die Radikalität. Nirgends konnte Ive in der Stadt beobachten, was er eigentlich zu sehen erwartet hatte, die aufreizende Verschärfung der Gegensätze; vielmehr schien die steigende Not das Bestreben zu fördern, sich ganz allgemein auf eine schöne und stumpfe Mittelmäßigkeit hinauf- und hinunterzutäuschen, eine Erscheinung, die von den Zeitungen mit hörbarem Schmatzen als demokratische Errungenschaft bezeichnet wurde. Nicht nur das Gehaben und die Kleidung der Menschen auf den Straßen, auch die moderne Wohnung, die Ausstattung der Läden und Warenhäuser zeigte sich, gefällig der Tendenz, in einfacher Pracht, und wer Augen hatte, zu sehen, sah in Volksfest und gesellschaftlichem Ereignis die gleiche würschtelessende Angelegenheit. Die Stadt, groß als Erscheinung, zwang auch zur Anerkennung der Größe ihres Betruges; ihre Sensationen in Film und Fest, in Reklame und Verkehr ließen dieselben Zeichen erkennen, wie ihre beharrliche Betriebsamkeit der Arbeit, Zeichen eines unerbittlichen, alles in seinen Ablauf ziehenden Prozesses. Die Stadt zwang auch Ive, seine Armut als persönliches Problem zu ignorieren, sie schloß ihn, hätte er dies anders gewollt, einfach aus ihren faszinierendsten Bereichen aus. Sie zwang gewissermaßen, ihren Betrug mitzumachen, um ihr Wesen zu erkennen. So fühlte sich Ive täglich mehr in einen Knäuel stinkender Widersprüche verwickelt, den jede Entschuldigung, billig oder nicht, immer mehr verfitzte. Aber das war es eben, er war viel zu sehr beteiligt, als daß er wünschen konnte, den gordischen Knoten mit dem Schwert einer ideologischen Konstruktion zu durchhauen, und mehr als von der absoluten Wahrheit erwartete er vom Weg zu ihr. So stand er den Anstrengungen der Maischen, wie auch dem Zustand äußerster Verwirrung bei sich selber, mit einem kalten und scharfen Interesse gegenüber, und war weder erstaunt, noch bestürzt, derselben intellektuellen Leidenschaft zu verfallen, die ihm von der bäuerlichen Position aus als der Gipfel der verwerflichsten Asphaltkultur erschienen war, und die doch das einzigste Mittel der Begeisterung schien, die die Stadt erlaubte. Dies gefährliche Verhältnis bestimmte auch das Maß und die Art seiner neuen Freundschaften, die er schon um der bäuerlichen Sache willen zu suchen auszog. Er fand sie nicht dort, wo er sie zu finden gedacht, nicht in den Büros der nationalen Parteien, der landwirtschaftlichen Verbände, auch nicht in den Redaktionszimmern der Zeitungen, die er vergeblich um Verständnis für den Kampf des Landvolkes anging, er fand sie überall dort nicht, wo sie hätten nützlich sein können; er war so verwegen gewesen, zu glauben, Richtung und Eigenart der Landvolkbewegung müßten schon als neuartiges politisches Faktum genügen, ihr anders als mit der üblichen Sturheit und dem allgemeinen Schleim zu begegnen, er fand sich heftig getäuscht. Dort aber, wo er sich bestätigt fühlte, wo er auf die Aufgeschlossenheit stieß, die er voraussetzen mußte, waren es Menschen, die, gleichgültig unter welchen zufälligen Fahnen auch immer geschart, sich im Grunde in der gleichen Lage befanden, wie er selbst; Menschen, die er zu nächtlicher Stunde traf – denn es schien, als sei ihnen die Überwindung des Tages nur durch die Steigerung der Nacht gegeben – in obskuren Kneipen, wo sie mit breiten Armen hinter scharfen Getränken saßen, an rohen und zerschnitzten Tischen, in der warmen, rauchigen Luft dieser Kellerlokale, die mit ihrem niedrigen Einstieg an die Unterstände des großen Krieges erinnern, oder aber an jenen runden und niederen Tischen in kleinen Neubausalons, um die sich zu bestimmter abendlicher Stunde ernste Männer und störende Frauen zu umfangreichen Gesprächen bei Tee und Gebäck zu versammeln pflegten. Ihnen war die Landvolksache interessant genug, aber ein Problem unter hundert anderen Problemen, von denen keines ohne das andere gelöst werden konnte. So mußte sich Ive begnügen, hier und dort die spärlichen Rosen von den Dornensträuchern zu pflücken, hier mit den Herren in Amt und Würden zähe, ekelhafte und beschämende Verhandlungen um Claus Heim zu führen – nachdem sein Versuch, sie wenigstens zu einer schlagkräftigeren Verfechtung ihrer ureigenen Angelegenheiten dem von ihnen täglich beschimpften „System“ gegenüber zu veranlassen, an einem verblüffenden Mangel an Bereitwilligkeit schon in den Anfängen erstickt war – dort aber in phantastischen Gesprächen wenigstens seine eigene Stellung zu festigen und durch mannigfaltige Information an eine völlige Durchknetung seines Erfahrungsbestandes zu gehen. Ive war ehrlich genug, sich einzugestehen, daß sein Wissen von den Dingen, mit denen es sich zu beschäftigen galt, einfach nicht zureichte, und wenn er auch weiterhin den Grundsätzen huldigte, die in den Bauernstuben der Marsch gang und gäbe waren, und deren Weisheit, in die Sprache der gestickten Haussprüche übersetzt, etwa in der Feststellung gipfelte, daß überall nur mit Wasser gekocht würde, oder daß mit dem Amt auch der Verstand käme, so benutzte er doch gern die sich in der Stadt allerorts bietende Gelegenheit, Fakten als solche kennenzulernen, wobei dann das, was sie für ihn aussagten, sich von selbst einstellen mußte. Als durchaus unnützes Glied der menschlichen Gesellschaft, mehr oder weniger gezwungen, außerhalb des Produktionsprozeaaes zu stehen, vermochte er freilich nicht, seine Kenntnis aus unmittelbarem Anteil zu ziehen, doch gelang es ihm ohne Zwang, lediglich auf Grund seiner Bekanntschaften, hinreichend unterrichtet zu werden. Überall in der Stadt hatten sich Zirkel gebildet, welche die gefällige Aufgabe zu haben schienen, die nach abrupter Beendigung der Tagesarbeit freigewordenen Spannungen und Energien statt in den durch die fast völlige Auflösung der privaten Sphäre recht fragwürdig gewordenen Schoß der Familie in die interessierte Gemeinsamkeit einer wenigstens nicht offiziellen Zusammenkunft zu entladen. Besonders der Kreis um Dr. Schaffer, ein regelmäßiger, doch keineswegs geschlossener Kreis, war Ive recht wertvoll, da er aus Personen bestand, von denen jede einzelne sozusagen als vortragender Rat fungieren konnte, als Ansammlung ein lebendiges Konversationslexikon. Dr. Schaffer, ein Mann in Ives Alter, hatte nach Beendigung seiner nationalökonomischen Studien – seine Doktorarbeit behandelte die südsiamesische Zinnproduktion – das unerhörte Glück gehabt, sogleich eine Stellung zu finden, und zwar als Hilfsschauermann im Hamburger Hafen. (Dort hatte ihn Ive, Arbeiter in der Wollkämmerei, flüchtig kennengelernt.) Von unbeugsamem Ehrgeiz beseelt, gelang es ihm, allmählich bis in das Kontor der Reederei, die ihn beschäftigte, als Hilfskorrespondent vorzudringen, welche Stellung ihn sogleich veranlaßte, zu heiraten und sich aus den bemerkenswertesten Stücken des Hamburger Trödelmarktes mit Kunstsinn und Sparsamkeit eine Wohnungseinrichtung zu beschaffen. In seinen freien Stunden entwarf er, neben vielem anderen, den Plan zur Gründung des Orienttrustes, ein Projekt von größter handelspolitischer Bedeutung, das in den Kreisen der Interessenten beträchtliches Aufsehen erregte. Die Interessenten aber, kühl wägende Kaufleute, scheuten das Risiko des kühnen Schafferschen Entwurfs, sie führten ihn lieber nach ihren eigenen Ideen durch. Der Orienttrust machte kurz nach seiner Gründung pleite, welche Nachricht Dr. Schaffer, der inzwischen seine Stellung beim Kontor wieder verloren hatte, mit unziemlicher Schadenfreude erfüllte. Der junge Mann, der, wie er von sich selbst zu sagen pflegte, eine glückliche Hand mit Ideen hatte, versuchte sich als Reporter einer Wirtschaftszeitung, die eines Tag einging, ab Reklamechef einer Automobilfirma, die durch Fusion verblich, als Vertriebsdirektor einer Radiogesellschaft, gegen deren Patente von Amerika Einspruch erhoben wurde, er versuchte sich in allem, was sich ihm bot, und wenn er auch auf keinen grünen Zweig kam, so hüpfte er doch munter von Ast zu Ast. Eines Tages wieder arbeitslos, folgte er dem Rat seiner Freunde und schrieb die Matchen nieder, die er Abend für Abend seinem Töchterchen erfand und erzählte, einfache, bunte, spielerische Geschichten, die dem Kinde viel Spaß bereiteten. Das Kind selbst brachte ihn auf den genialen Gedanken, der die Grundlage seines Aufstieges werden sollte. Da dessen Geburtstag in die Zeit um Weihnachten fiel, empfand es bitter die Ungerechtigkeit, im Jahr einmal weniger Geschenke zu erhalten, als die anderen Kinder. Es hätte viel lieber mitten im Jahre Geburtstag gehabt. In der Tat, grübelte Dr. Schaffer, bestand der Krebsschaden der Spielwarenindustrie im Saisongeschäft: Zwischen Ostern und Weihnachten klaffte eine zu große festlose Spanne. An diesem Abend erzählte er dem Töchterchen das Märchen vom Johannismännchen, das am Johannistag (24. Juni) aus dem Walde kam, artige Kinder zu beglücken. Er zeichnete auch gleich das Johannismännchen auf ein Stück Papier, ein Zwergebübchen mit großem, langem Bart und einer schönen, goldenen Ährenkrone, einem knorrigen Stab in der Hand und auf dem Buckel einen dicken Sack. Er arbeitete nicht weiter an dem Märchenbuch, vielmehr führte er wichtige Verhandlungen, und eines Tages begann der große Feldzug für den Johannistag, dem Kindertag des Jahres (24. Juni). Macht Kindern Freude, schrieben die Zeitungen, und im Feuilleton erschienen freundliche Aufsätze über den alten deutschen Brauch, der nun eine neue Bedeutung erlangt hätte, im Handelsteil verbreitete sich Kommerzienrat X über die volkswirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Konjunkturaufschwunges der mitteldeutschen Spielwarenindustrie, im Rundfunk erzählte die Märchentante sinnige Geschichten zum Johannistag, und in den Warenhäusern, an den Spielzeugläden prangten die Plakate: Macht Kindern Freude, rund um das Johannismännchen, einem Zwergebübchen mit großem, langem Bart und einer schönen goldenen Ährenkrone, einem knorrigen Stab in der Hand und auf dem Buckel einen dicken Sack. Dr. Schaffer aber saß still in seinem Büro, Syndikus des allgemeinen Verbandes deutscher Spielwarenfabrikanten, der sich mit der Arbeitsgemeinschaft der Schokoladen-, Zuckerwaren- und Konfitürenindustrie Deutschlands und dem Reichsverband vereinigter deutscher Geschenkkartonnagenhersteller zur Dachorganisation des allgemeinen vereinigten Reichsverbandes deutscher Spielzeug-, Schokoladen- und Kartonnagenfabrikanten, kurz Spischoka, zusammenfand. Dr. Schaffer saß still in seinem Büro, – sein Töchterchen durfte ihm das Johannismännchen nicht mehr erwähnen, – und arbeitete ernst, gewissenhaft und fleißig an weitgespannten und vorausschauenden Plänen, eine geschätzte Kraft, deren Entsendung in den Reichswirtschaftsrat keine Bedenken entgegenstehen konnten. Jede Woche einmal aber kam abends in seiner Wohnung eine Reihe von Männern zusammen, die sonsthin nicht viel mehr verband, als die Lust, in offenem Gespräch, das von Dr. Schaffers unvergleichlicher Diskussionskunst geleitet und zusammengehalten so ziemlich alle Themen berührte, die es nur zu berühren lohnte, ihre Meinungen, Ansichten und Erfahrungen kundzutun und auszutauschen. Ive, der bei einem Vortragsabend (Gebt uns unsere Kolonien wieder, gehalten von einem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten; was es doch alles gibt, dachte Ive) Dr. Schaffer nach so langer Zeit wieder traf, folgte gern seiner Einladung, einen Abend in dessen Zirkel zu verbringen, von dem er schon einiges gehört hatte. Er fand im vierten Stock eines modernen Neubaus im Westen der Stadt etwa fünfzehn Herren, die in dem kleinen, niederen Zimmer mit hellblauen Wänden, durch gelbe Seide gedämpftem Lampenlicht und sehr einfachen und sparsam vorhandenen Möbeln rund um einen ovalen Tisch saßen. Als er eintrat, nahm niemand Notiz von ihm, nur der Gastgeber winkte ihn an seine Seite und beendete, ohne sich zu unterbrechen, den Satz, der eine beträchtliche Anzahl ineinandergeschobener und verwickelter Perioden enthielt. Soweit Ive begriff, handelte es sich um die neueste Erhöhung der Reichsbahnfrachttarife und deren Auswirkungen auf den deutschen Binnenhandel, unter besonderer Berücksichtigung des Verkehrssystems des rheinisch-westfälischen Industriereviers, und der durch sie dort hervorgerufenen Aktualität eines Kanalprojektes, dessen Linienführung durch den Konkurrenzkampf der Rohstahlgemeinschaft und der eisenverarbeitenden Industrie einerseits, der Hapag und des Norddeutschen Lloyd andererseits, welche letzteren in eine scharfe Fehde geraten waren infolge der notwendigen Erschließung neuer Absatzmärkte, wobei vornehmlich anläßlich der Unruhen in China und Indien der ferne Osten in Frage kam, dort aber wegen der kontinuierlichen Verkürzung der deutschen Kapitaldecke jede Finanzierung des Geschäftes nicht ohne Hilfe der beherrschenden englischen Banken bewerkstelligt werden konnte, diese jedoch wegen der voraussichtlichen störenden Einwirkungen des russischen Fünfjahresplanes ihre Interessen auf besagte Märkte zu konzentrieren gezwungen waren, nicht eindeutig festzulegen gelang, so daß die Entscheidung und Hilfe der staatlichen Instanzen und des Reiches letztlich unmöglich zu entbehren war, was natürlich einen entscheidenden Schritt zur Planwirtschaft bedeuten mußte, über dessen sozialistischen oder staatskapitalistischen Charakter jedenfalls aber noch erhebliche Differenzen der beteiligten Auffassungen vorhanden waren, und alle Anstrengungen durchaus darauf gerichtet werden mußten, die errungenen Positionen nicht durch privatkapitalistische Einflußstörungen in einem für alle Zukunft gefährlichen Masse bedenklich angreifen zu lassen, wobei denn die Erhöhung der Reichsbahnfrachttarife auch allein schon im Hinblick auf den zu erwartenden Ausbau des Automobilfrachtverkehrs, dessen volkswirtschaftlicher Schwerpunkt sich infolge der Monopolstreitigkeiten zwischen der Reichspost und der ja unter fremder Kontrolle stehenden Reichsbahn immer mehr auf private Unternehmerinitiative verlagerte, nicht das geeignete Mittel sein konnte. Ive kam sich sehr klein und unbedeutend vor. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und beobachtete die Männer, die lebhaft und mit einem schönen Ernst über die Probleme diskutierten, deren Bedeutung und Schwierigkeit er wohl von ferne ahnte, – auch ahnte er die Richtung, in der sich das Gespräch bewegte, – ohne das mindeste von ihrem sachlichen Inhalt zu verstehen. Von den Anwesenden war wohl keiner über vierzig Jahre alt, und wenn auch Ive wußte, daß sie den verschiedensten und entgegengesetztesten politischen Richtungen und Lebenskreisen angehörten, so war dennoch unmöglich, etwas anderes als eine im Dinglichen jedenfalls erstaunliche Einmütigkeit festzustellen, deren letzte Schlußfolgerung wohl in dem Satze zusammenzufassen war: Es muß alles anders werden. Und das freute Ive denn auch. Der einzige dunkle Punkt dieses Kreises war ein junger Mensch, wohl der jüngste unter allen Versammelten, der immer wieder in den angenehm rollenden Ablauf des Gespräches eingriff, an jeder Behauptung unerbittlich festhakte, zu ihrer erneuten Überprüfung zwang und mit seiner fast seminaristischen Pedanterie den störenden und somithin belebenden Faktor der Diskussion abgab. Ive, der sich darauf beschränken mußte, nicht Meinungen zu verfolgen, sondern vielmehr die Art, wie sie sich kundtaten, und die Bindungen, die sie vermittelten, fühlte sich naturgemäß durch den jungen Menschen besonders stark beansprucht. Er hatte genügend Muße, ihn zu beobachten. Jener saß in einer Ecke, die durch zwei im rechten Winkel aneinandergeschobene Ruhebetten gebildet war, dem ungemütlichsten Platz im ganzen Raume. Er hockte geduckt, ein Bein über das andere geschlagen, so daß Ive seine groben, breitgetretenen Stiefel sehen konnte, von deren Sohlen die eine einen bedenklichen Defekt aufwies, und die grauen, verwaschenen, in wulstige Falten gesunkenen Strümpfe. Die eine Hand hatte er auf das Knie gelegt, eine breite, ungepflegte Hand, mit viereckig geschnittenen und nicht ganz sauberen Fingernägeln, eine narbige und hornige Hand, die zweifellos grobe Arbeit zu verrichten wußte; als er sie einmal erhob, um zwischen zwei Fingern eine Nuss zu zerknacken, sah Ive, daß sie sonst nur auf dem Knie lag, um ein ungeschickt mit andersfarbiger Wolle geflicktes Loch in der Hose zu verbergen. Wenn er sprach, verstärkte sich der Eindruck von einer großen, fast klobigen Kraft. Er sprach gehemmt, und sehr leise, seine Worte formten sich nur mühsam in einem dicklippigen Mund voll gesunder Zähne. Sein ganzes starkkinniges Gesicht schien mitzuarbeiten, wenn er sprach, vornehmlich die nicht hohe, verbeulte Stirn, unter deren kräftigen Brauenknochen die tiefliegenden, kleinen, grauen Augen dicht beieinander standen. Er war nicht angenehm anzusehen, mit seiner blaßgrauen Haut, unter der man die Backenmuskeln arbeiten sah, mit den vollen, ungekämmten, dunkelblonden und etwas fettigen Haaren, deren Enden über den beschuppten Rockkragen ragten, mit seinem schlechtsitzenden Anzug, der mangelhaften Wäsche und dem verzerrten und verfärbten Binder. Aber er hatte eine Unbedingtheit des Wesens, die Ive augenblicks gefiel, und also auch die einzige Art Geist, mit der es sich für Ive zu befassen lohnte. Ive wünschte nur, er möge sich auch vom letzten Atavismus befreien, und die Hand vom Knie nehmen. Da Ive sich angewöhnt hatte, sich bei jedem Manne, dessen Bekanntschaft er machte, zu fragen, ob er ihn sich wohl als Kriegskameraden wünschte, dachte er hier: Den sofort. Nicht nur, daß sich in seiner Teetasse ein erheblich größerer Anteil von Rum befand, auch die Art seiner Redeführung hob sich deutlich genug ab. Und es war bemerkenswert, daß ihm, sobald er anhub, zu sprechen, stets die vollste Aufmerksamkeit zuteil wurde, selbst die von Männern, die sich soeben noch mit erstaunlicher Sachlichkeit und an Hand von sauberen Statistiken und sonstigem fachlichen Material über interessante ökonomische Erscheinungen verbreiteten. Denn es zeigte sich, daß, so ferne auch das von ihm gelegentlich Gesagte zu liegen schien, trotz allen widersprüchlichen Bemerkungen doch über kurz oder lang eine unmittelbare Beziehung zum eben Erörterten zutage trat, es sozusagen von einer ganz anderen Ecke her beleuchtete. Ive, der in seiner rasch aufblühenden Sympathie gefürchtet hatte, der junge Mensch wüßte auf dem verzwickten Gebiete wirtschaftlicher Probleme etwa nicht hinreichend Bescheid, hatte bald Gelegenheit, feststellen zu können, daß jener die Anwesenden durch seine genaue Kenntnis zum Beispiel von gewissen finanziellen Transaktionen der kanadischen Elektroindustrie verblüffte. Aber eben das war es: aus seiner ganzen Haltung diesen Dingen gegenüber war deutlich zu ersehen, daß ihn im Grunde die Fakten, von denen er berichtete, gar nicht so sehr wertvoll erschienen, sondern vielmehr etwas ganz anderes, ganz Unwägbares, über das die einwandfreien Berechnungen, die er vorlegen konnte, eigentlich nur für ihn Bemerkenswertes aussagten. Ive verstand sofort, daß er hinter einer Erscheinung herspürte, die auf einem ganz anderen Felde wuchs, als auf jenem, auf dem die gesunden Erwägungen der wirtschaftlichen Vernunft sonsthin zu gedeihen pflegten. Was es genau war, konnte Ive so wenig wie die anderen aus den kurzen und dunklen Andeutungen des jungen Menschen entnehmen, doch ergaben sich aus ihnen schon recht atemraubende Aspekte, die jedoch einzelne nach Phantasie und Temperament ohne weiteres dehnen und füllen konnte. Jedenfalls bestand das eigentlich Bedeutsame jener so unbestritten klar dargelegten Transaktionen in der Tatsache, daß sie sich den üblichen Mitteln der Betrachtung und Erklärung glatt entzogen, gewissermaßen sich vom Kausalitätsgesetz gelöst nun in einem luftleeren Raum um ihrer selbst willen abzuwickeln schienen, vielleicht als tolle und selbstzerstörerische Kapriole eines überglühten imperialistischen Willens, ganz sicherlich aber nicht, – und das war der springende Punkt, – als Folge einer noch so verfehlten oder überspitzten Kalkulation, zu der keine Prosperity-Berechnung auch nur den geringsten Anhalt geben konnte; sie entpuppten sich, wollte man sie immer in ihrer Bedeutung fassen, als erschreckendes Beispiel einer vollendeten Barbarei, wobei der Akzent mehr noch auf der Vollendung als auf der Barbarei lag, sich anscheinend sinnlos der allersubtilsten Mittel bedienend, die eine hochentwickelte Ordnung ihr zur Verfügung gab, diese selbe Ordnung in ihren Grundfesten in Frage zu stellen. Sehr turbulente Gewalten sah der junge Mensch hier am Werk, selbst hier, in einem so trockenen und phantasielosen Zusammenhang, und es war offensichtlich, daß er sie mit einer bestimmten und freundlichen Anteilnahme sah. Natürlich mußte eine solche Haltung heftig beunruhigen. Zwar erhoben sich sofort einige Stimmen, die erst einmal auf die unvermeidlichen Folgen des kanadischen Vorgehens – eine starke Erschütterung des Marktes – hinweisen wollten, aber die ganze Diskussionsbasis war mit einem Male verschoben. Denn mit dem Augenblicke, da die Präge nach dem Sinn am Horizont des Gespräches auftauchte, schien es, als ob fast jeder der Teilnehmer dieses recht bunt zusammengesetzten Zirkels sich plötzlich versucht fühlte, in tiefere Schächte der Erkenntnis herabzusteigen, um von dort her – was beinahe den peinlichen Beigeschmack einer Rechtfertigung hatte – noch einmal seine doch schon bekannte Stellungnahme zu erläutern. Jeder dieser noch eben so selbstsicheren Männer, vor deren Erfahrung und Kenntnis Ive sich eines starken Respekts nicht erwehren konnte, mochte wohl spüren, daß es nicht genügen konnte, Tatsachen festzustellen, sondern daß es auch wichtig war, über ihre Gründe hinaus auch ihre Hintergründe zu sehen und begreifbar zu machen und sie zwecks größerer Sicherheit der Entscheidung in das jeweilige Weltbild einzubauen. Aber je mehr sich die einzelnen Herren in das nunmehr erbitterte Redegefecht einbohrten, desto sonderbarer formierten sich die Gruppen, um schon bei der nächsten Streitfrage wieder auseinanderzufallen und sich in überraschender Neubildung wiederzufinden. In der heißen und bitteren Luft des kleinen Raumes schienen die Gesichter plötzlich ihre fahle Maskenblässe abzuwerfen, drängten sich durch den blauen Rauch, das Weiße im Auge des anderen zu sehen, wie getrieben von einer geheimen Angst, die deutlich genug aussagte, daß es nunmehr sich um Dinge handelte, die ernst genommen werden wollen. Die Männer, die soeben noch einträchtiglich die gleichen Steckenpferde ihrer wirtschaftlichen Einsicht geritten hatten, legten nun feindselig gegeneinander die Lanzen ein. Würdige Geschäftsleute mit strengen Erfahrungen tummelten sich auf dem schwankenden Boden der Metaphysik, ruderten mit verzweifelten Armen in mystischen Wolken, verstiegen sich mit jeder Behauptung in immer gefährlichere Gefilde, bis schließlich einer, von dem jungen Menschen listig gelockt, ein temperamentvoller Herr aus der Autobranche, den Gipfel erklomm mit dem schwer geladenen und plötzlich losgeschossenen Satz: „Im Anfang war der Verkehr!“

*

Es war schon spät, als sie aufbrachen. Die scharfe Luft der nachtdunklen Straße fuhr ihnen kalt ins Gesicht, sobald sie aus dem Hause getreten waren. Sofort verflüchtigte sich das Bild des Raumes, den sie soeben verlassen hatten, jenes hellblauen, kleinen Zimmers, dessen Rauchschwaden die Konturen der Gesichter und der Gedanken gespenstisch auflösten. Die ganze freigegebene Erregung des Gesprächs floß nun in dem Wunsch zusammen, sich am sicheren Leitseil ungehemmten Sprechens aus dem Labyrinth der Gedankengänge herauszutasten.

Ive liebte diese Stunde der Nacht, in der die hallenden Schritte auf der verlassenen Straße so trefflich die kühnsten Meditationen bis in den Rausch hinein begleiten. Der dünne Schweiß, der sich über die ganze Haut verbreitet, scheint auch jede Faser des Gehirns zu ölen, so daß sich selbst das Widersprüchlichste hell und leicht zusammenfügt. In solcher Stunde werden die schnellen Freundschaften geschlossen, die im grellen Licht des anderen Tages freilich auf dem Bodensatz einer leichten Verlegenheit nicht mehr recht gedeihen können. Ive sah seinen Begleiter von der Seite an. Er hatte Dr. Schaffer gefragt, wer der junge Mensch sei. Doch der wußte es auch nicht, eines Tages war er einfach erschienen und hatte sich mit schöner Unbefangenheit sogleich in das Gespräch gemengt, und da das, was er zu sagen hatte, jedenfalls das Produkt eigenen Denkens war, blieb er immer willkommen, und niemand fand Anlaß, ihn nach Weiterem zu fragen. Nun ließ sich wohl die immer für beide Teile lächerliche und beschämende Komödie des nachträglichen Sichvorstellens nicht vermeiden. Pareigat, Sohn eines von der vorrückenden Grenze vertriebenen Volksschullehrers, hatte begonnen, Nationalökonomie zu studieren, war zur Philosophie, dann zur Mathematik und Physik übergewechselt, konnte einfach, weil er die Kosten nicht beizubringen vermochte, in keinem Fach ein abschließendes Examen machen, und hätte dies auch selbst, wenn er es gekonnt hätte, nicht gewollt. Die Aussichten, auf Grund eines akademischen Grades irgendeine Stellung zu erhalten, waren sowieso gleich Null. Er blieb auf der Universität, deren Bildungsmöglichkeiten bis ins letzte ausnutzend, bis er wegen allzu aktiver kommunistischer Betätigung relegiert wurde. Kommunist war er aus Protest, aus Trotz, aus Sympathie für das russische Beispiel, aus hundert Gründen, nur nicht aus dem, weil er etwa die materialische Geschichtsauffassung teilen oder sich zur ökonomischen Doktrin bekennen könnte. Während seiner Studienzeit hielt er sich über Wasser, indem er sich als Taxichauffeur im Nachtdienst verdingte, später, als er die Nacht zum Arbeiten brauchte, zog er mit einem Bücherkarren durch die Stadt. Er bezog keine Erwerbslosenunterstützung, er hatte niemals eine feste Arbeitsstelle gehabt. Sein Artikel über die kanadische Elektroindustrie hatte ihm, nachdem er von einem Wirtschaftsmagazin gedruckt, in amerikanischen und englischen Fachblättern nachgedruckt und heftig diskutiert worden war, zusammen genau achtzig Mark eingebracht. Diese Summe erlaubte ihm, ein Werk über Ferngasversorgung zu beginnen, doch arbeitete er nun schon seit einem halben Jahre daran. Ive konnte sich kein Bild machen, wie Pareigat eigentlich lebte, alle Anzeichen sprachen dafür, daß er es selber nicht genau angeben konnte, auf jeden Fall schien ihm diese Angelegenheit nicht von grundsätzlicher Bedeutung zu sein. Was er über sich selbst sagte, klang einfach, nüchtern und ohne jede Spur sozialen Ressentiments. Er ging an der Seite Ives, den Kopf ein wenig gesenkt, das Gesicht von einem breitrandigen, schwarzen Hut beschattet, und den an den Ellenbogen und den Hüften abgeschabten Mantel hielt ein einziger Knopf, der an langem Faden baumelte, zusammen. Ive sprach von Claus Heim, und er wußte selber nicht, warum er den Gegensatz des Bildes, der sich von selbst einstellte, des Bildes vom inmitten der brennendsten Angriffe schweigenden Claus Heim und der nächtlich diskutierenden Gesellschaft, die sie soeben verlassen hatten, noch zu verschärfen suchte. Er rekonstruierte das Gespräch der Nacht und erwähnte beinahe gehässig, wie sehr er sich wundern müsse, daß diese Herren das, was sie sagten, vereinen könnten mit dem, was sie sind. Pareigat wunderte sich nicht. Alles ließe sich heute mit allem vereinen, meinte er und sprach von dem Phänomen der Bewußtseinsverlagerung. Ive hatte Mühe, dem Gedankengang Pareigats zu folgen. Wenn er aus dem Landvolkkampf und vornehmlich aus seiner demagogischen Tätigkeit – und die Demagogie schien ihm wirklich das einzige Mittel, die Demokratie unmittelbar in ihrer täglichen Lebensäußerung anzugreifen, – eine ihm persönlich gültige Lehre gezogen hatte, dann war es die, daß es gefährlich sei, der Magie des eigenen Wortes zu unterliegen. Es war gewiß innerhalb dieses Bezirkes nützlich und gut, mit den allereinfachsten Mitteln zu arbeiten, den Gegner und überhaupt jede sich in den Tagesablauf einschiebende Erscheinung sogleich abzustempeln, den Begriff sozusagen in ein Bild zu verwandeln, statt mit Abstraktionen zu jonglieren, fest umrissene Figuren handeln zu lassen; aber dies konnte mit Sicherheit nur geschehen, wenn er selber nicht das Leben mit einer seiner Formen verwechselte. Dieser Pareigat war nicht einzuordnen, und Ive wollte das auch gar nicht, aber immer wieder, bei fast jedem der Pareigatschen Ausdrücke und Feststellungen, ertappte sich Ive dabei, ihm flugs einen beglaubigten Platz anzuweisen, um schon beim nächsten Satz seinen Irrtum einzusehen. So fürchtete er, mit seinen Einwänden ins Leere zu treffen, obgleich Pareigat sie stets sofort aufgriff, sie gleichsam spielerisch eine Weile hin und her drehte, um sie dann gelassen auf eine neue Basis zu stellen. Es schien Ive, als ob jener die Terminologien jeder Richtung bedenkenlos benutzte, aber es gereichte zu keinem Erfolg, ihm die eigene entgegenzustellen, Pareigat wandelte sie gelenkig um, und Ive sich dagegen wehrte, zwang jener ihn, sich wie ein Habicht in seine Beute krallend, den umkämpften Ausdruck erneut auf seinen eigentlichen Sinn zu untersuchen, wobei denn Ive von einer Fragwürdigkeit in die andere stürzte. Trotzdem vermittelte Ive das Gespräch einen hohen Genuß; sie schritten hitzig redend durch die leeren, schattendunklen Straßen, deren Häuserfronten steil und schweigend in den schmalen Himmel starrten, sie beugten sich über kahle, eiserne Brückengeländer, über die schwarze, von gleißenden Schienensträngen wirr durchkreuzte Tiefe, aus der es kalt und dunkel heraufwehte, sie bohrten sich durch die plötzlich heranplatzende Lichtflut einsamer Laternen, strichen an den unbeweglichen Gestalten helmglitzernder Polizisten, an den aus dunklen Ecken müde und gespenstisch hervortretenden Mädchen vorbei, dem schmutzigroten Schein entgegen, in dem am Ende der breiten Straße die Kirche wie eine dunkle Drohung mit aufgerecktem, anklagendem Schwurfinger als massige Silhouette stand. Und nach jedem Seitensprung, nach jeder Abschweifung in das wirre Dickicht elastischer Definitionen fanden sie sich auf die schmale Bahn des Gespräches zurück, wie sie wieder, als habe es keine Unterbrechung des Weges gegeben, auf die Straße traten, eine Kneipe verlassend, in der Pareigat, an die Theke gelehnt, mit größtem Appetit einen saueren Brathering verschlang. Was nun das Phänomen der Bewußtseinsverlagerung anbetraf, so erblickte Pareigat es als die Folge des groß angelegten und durch das vergehende Zeitalter bedingten Versuches des einzelnen, sich aus der dynamischen Einheit des Lebens zu entlassen, welcher Versuch konstruktiv durch Sprengung dieser Einheit gelungen war. So mußten sich notwendig alle geistigen Kämpfe auf einer anderen als der Seinsebene abspielen, Kämpfe, deren Charakter sich vorzüglich darin andeutete, daß die Frage nach dem Sinn aus dem geistigen Bezirk heraus gestellt wurde, nicht aber aus dem seelischen, in welch letzterem sie einzig mit der Frage nach dem Sein zusammenfallen kann. Das Bewußtsein, sagte Pareigat, habe sich von der Seinsebene wegverlagert, so daß jede Orientation nunmehr nach einer hypothetischen Linie erfolgen müsse, auf die sich zu einigen der jeweilig wechselnde Interessengrad bestimme. So bliebe auch die sonderbare Erscheinung, daß sich Kapitalisten und Sozialisten einer unbegrenzten Anzahl von Verständigungsmöglichkeiten zu bedienen vermochten, ja, sich gegen alle Anstürme seelischer Konzeption in einer, wenn auch mitunter etwas stacheligen Einheitsfront befanden, lediglich als Erscheinung bedeutsam. Tatsächlich handele es sich aber doch, warf Ive ein bei allen diesen Kämpfen geistiger Art, – und von dem angezogenen Beispiel Kapitalisten – Sozialisten wolle er bei Anerkennung der Richtigkeit der Behauptung doch absehen, – um das Bestreben, eine Lebensidee auf eine Lebensrealität zu projizieren, oder umgekehrt. Eben dies, sagte Pareigat, müsse zwangsläufig scheitern. Denn eindeutig gehorche dies Bestreben nicht dem unmittelbaren Anruf der eigenen Substanz, sondern vielmehr dem ihrer Schattenseite, der Angst, die sich immer in den Willen umsetzt, sich neu zu orientieren, also eine bloße Positionsänderung vorzunehmen, ein Vorgang, der sich vielmehr als im Zustande des Bewußtseins recht eigentlich in dem der Bewußtlosigkeit abspiele, und dessen auflösende Tendenz klar auf der Hand liege und mit der Aufsplitterung des Gemeinschaftsgeistes unter der Parole, ihn zu zeugen, in eine Unzahl von Sekten und Konventikeln, politischer und religiöser Art, leicht zu beweisen sei. Ive sagte, für ihn habe immer, bei Bewertung einer Haltung, als ausschlaggebendes Kriterium die Frage gedient, ob sie auf Erfolg oder auf Erfüllung ziele, und unter diesem Aspekt vermöchte er die geschilderte Tendenz nicht so ohne weiteres als unfruchtbar betrachtet wissen. Doch Pareigat konnte dies nicht gestatten. Erfüllung sei nur eine der Quellen des Erfolges, sagte er, und es sei zu untersuchen, inwieweit heute überhaupt Erfolg möglich sei. Größe gleich welcher Art sei heute nur als Prominenz tragbar, und worin bestünde denn das Wesen der Prominenz? Doch jedenfalls nicht in der Entfaltung der eigenen Substanz, sondern gerade umgekehrt, in ihrer Entleerung, sie sozusagen als Hülle für eine größtmögliche Vielzahl fremder Wunschträume dienen zu lassen. Die Prominenz lebe nicht aus sich, sondern aus dem Echo heraus, ihre Leistung sei Mittel zu einem nicht ihrer eigenen Verantwortlichkeit unterliegenden Zweck, sie sei Vermittlung an sich, möge es sich nun im Bereiche der Prominenz tun Boxer, Tenöre oder Filmschauspieler, um Künstler, Prediger, Wirtschaftsführer oder Politiker handeln. Selbst in diesem Bereiche aber habe sich der höhere Grad der prominenten Bedeutung vom eigentlich Handelnden und Führenden immer mehr zum Vermittelnden verschoben, vom Schauspieler auf den Regisseur, vom Industriellen auf den Bankier, vom Staatsmann auf den Volksführer, vom Gelehrten auf den Schriftsteller, ein unerhörtes Prinzip der entwertenden Gegenauslese, das sich etwa in der Position eines russischen Volkskommissars in seiner schärfsten Prägung darstelle, eine Position, die seinem Träger grundsätzlich überhaupt nur gestatte, nacktes Instrument eines Massenwillens zu sein. Bestehen bleibt, sagte Ive, daß diese Haltung im Prinzip einem verpflichtenden Anspruch genügt. Bestehen bleibt, sagte Pareigat, daß die Verpflichtung dieses Anspruches in Frage steht, solange der Anspruch selbst nicht legitimiert ist. Wie legitimiert sich der Anspruch? durch den Massenwillen, der sich selbst jeden Augenblick in Frage stellt, und wie der Massenwille? Durch seine Existenz, und die Existenz? Durch die Verkündigung ihres Anspruches; ein reizvolles Spiel, ein geistiges Perpetuum mobile, das immer wieder erfunden werden muß, weil ohne die Frage der Legitimation eine Ordnung nicht denkbar ist. Aber die Frage nach der Legitimation ist eine Frage nach dem Sein, und die nach dem Sein ist eine seelische Frage, und jede legitimierte Ordnung muß eine seelische, das heißt, eine hierarchische Ordnung sein. Das ist reaktionär, sagte Ive schnell, und schämte sich gleich darauf. Das ist sicherlich reaktionär, sagte Pareigat und forderte Ive auf, nun auch von dem Rad der Geschichte zu sprechen, das nicht nach rückwärts gedreht werden könne. Es sei auch ganz unnützlich, es nach rückwärts drehen zu wollen, denn es besorge dies Geschäft schon ganz von sich alleine. Geschichte, sagte er, sei Ausdruck lebendiger Gestaltung, dem gleichen Ablauf unterliege sie in ihren Perioden, wie dem in der Spanne zwischen Geburt und Tod, mit Wachstum, Reife und Alter, und die dies leugnen, leugnen auch das Leben selbst. Da versuchen sie freilich, sagte er, und Ive erstaunte über den wilden Haß, den er plötzlich in der Stimme des anderen aufspringen hörte, da versuchen sie freilich, den Tod hinwegzudisputieren, da sie ihn einmal als Phänomen nicht leugnen können, hinwegzudisputieren den Tod als Grenz- und Schlußstein, in dessen Schatten doch das Leben sich zu seiner höchsten Potenz erhebt, der ganze Ablauf sich in dessen Schmerz, sich in den Schauern seiner Weihe adelt; das ist der große Betrug, sagte Pareigat und blieb «n Strahlenkegel einer Bogenlampe stehen und faßte, den Hut weit aus der Stirn geschoben, Ive an die Brust, den Tod erklären zu wollen, ihn zu erklären als eine einfache Verwandlung des Stoffes, als einen Akt der Materie, ihn hinauszuschieben durch ihre schmähliche Hygiene, ihn aufzuheben als söhnenden Vollzug, ihn zu ächten als Siegel heroischen Einsatzes, den heiligen Sinn der Ordnung schändend in schmutzige Sicherung im Namen ihrer Feigheit, die eine optimistische Feigheit ist, und darum die niederträchtigste und erbärmlichste, die zum Gesetz zu erheben ihnen notwendig erscheint, da sie wissen, daß unter ihm zu leben dem Würde Heischenden ganz unerträglich ist. Sie befinden sich, sagte er und ließ die Hand von Ive, und seine Stimme war ruhig, im Seinshabitus der Daseinsverleugnung. Sie leben nicht, sie erklären; bis nichts übrig bleibt als das schleimige Gespinst ihrer Gehirnfasern im luftleeren Raum. Aber ergibt sich nicht gerade, fragte Ive, aus Ihrer Forderung nach bedingungslosem Leben aus der eigenen Substanz die Unmöglichkeit verpflichtender Bindung, und damit die Unmöglichkeit jeglicher Ordnung überhaupt? Nein, Pareigat war unwillig, da sie das Leben in seinen Grenzen umfaßt, sagte er, umfaßt sie es ganz. Das bewußte Sein enthält alle Ordnung in sich und ist so ihr tragendes Element. In ihm und nur in ihm ist der einzelne Mensch zugleich Gesellschaft, zugleich Volk, zugleich Idee; denn er strebt notwendig nach aller Richtung, er ist dem unmittelbarsten Zwange unterworfen, die Synthese zu vollziehen, und so der eine Pol der Ordnung, zwischen welchem und dem anderen die einzig mögliche, die einzig erhabene, die einzig legitimierte Organisation sich einzig bilden kann. Welche? fragte Ive. Die Kirche, sagte Pareigat. Ive schwieg, er wollte fragen, aber er schwieg. Er hatte das Gefühl, als müßte er sich von einem Gipfel stürzen lassen, das ganze verwirrte Netz des unbeholfenen Gesprächs mit seinem Körper zu durchschlagen. Sie gingen in scharfem Wind, der die Mäntel an ihre Körper preßte, über einen Platz. Auf dem Dache eines der Häuser, auf das sie zuschritten, zuckte glühweiß, kaltblau eine Lichtreklame auf, floß in schweigender, mechanischer Eile wie durch Öl die Linie unsichtbarer Buchstaben entlang, um gleichgültig wieder zu verlöschen. Ein Auto fegte, ein schwarzer, huschender Schatten mit greifenden grellen Augen, um die Ecke und verschwand. Schließlich fragte Ive brüsk: Wie beten Sie? Pareigat stockte, er stand mit einem Fuß im Rinnstein, mit dem anderen auf dem Bürgersteig. Der Scheinwerfer eines zweiten Autos bestrahlte flackernd sein Gesicht, es war grau, und um die Augen lagen tiefe Schatten. Muß ich das sagen, fragte er leise. Sie müssen nicht, sagte Ive. Pareigat flüsterte: Dann möchte ich es lieber nicht sagen. Langsam gingen sie weiter. Sie bogen in eine Seitenstraße ein, in einen schräg abzweigenden Schlund mit spärlichen fahlgrünen Lichtern, die in ihrem Schein beziehungslose Ausschnitte von Asphalt, Fassade und Gosse zu einem Kreis Zusammenhielten. Die Menschen, die ihnen entgegenkamen, trugen andere Gesichter, wie jene, denen sie zuvor begegneten, Masken hier wie dort, genormt im gleichen Ausdruck einer angespannten kalten Versunkenheit mit toten, glitzernden Augen, doch dort mit Zügen aus intelligenter Beweglichkeit erstarrt, hier aber wie in Bereitschaft zu einem dumpfen und ziellosen Verharren ohne Aufbruch und Ende, Untergrundbahngesichter hier, wie Ive es nannte, und Taxigesichter dort, fremd so oder so, eine andere Rasse, die Rasse der Stadt. Ive hatte plötzlich eine irrsinnige Sehnsucht nach der Marsch, nach den blauen Schirmmützen auf roten, gesunden Köpfen, nach dem leisen Knirschen der Erde unter dem gemächlichen Schritt, nach dem warmen, strengen Geruch hingegeben wiederkäuenden Viehes. Plötzlich leer und müde, setzte er mechanisch einen Fuß vor den anderen, riß sich zusammen, als ihm der Gedanke kam, sein Gesicht müsse nun denselben Ausdruck tödlicher Verlorenheit tragen, wie die Wachspuppen in den hell beleuchteten Schaufenstern der Modesalons. Es war kurz nach Mitternacht. Ive sah stumpf auf die langen Ketten wartender Autodroschken an den Straßenecken, die sich im Dunkel verloren, horchte auf das ferne Brausen der Stadt, das der Wind über die schlafenden Häuserblocks trug, auf die zerflatternden Klänge des Saxophongewimmers, die aus den Türen und Fenstern kleiner Nachtlokale drangen, vor deren glatten, gelben, mit sonderbaren Metallemblemen verzierten Betonpfosten der Eingänge riesige Portiers in brauner, goldbetreßter Livree neben Plakaten standen, auf denen mit breitem, saloppen Strich wenig bekleidete Damen in affiger Tanzstellung neben clownhaften Smokingmusikanten abgebildet waren. Das ferne Brausen schien zu flackern, immer mehr Menschen kamen ihnen entgegen, bald füllten sie Bürgersteig und Straße in ihrer ganzen Breite. Sie stoben auseinander vor dem gellen Signal eines Feuerwehrwagens, das alle zwei Sekunden unbarmherzig, ein Schrei höchster Gefahr, die Straße bis in den letzten Winkel füllte, indes der Wagen, an seiner Stil ein giftrotes, mit Blut bedrohendes Auge, in schnellster Fahrt vorüberflitzte, hinter sich die Menge in breitem Strudel lassend. Plötzlich war auch Schupo da, in einer Nebenstraße, in die sich für kurze Augenblicke Ive und Pareigat von der anrückenden Hut der Menschen pressen ließ, standen die Polizisten, in dichter Geschlossenheit um einen Wagen, von dem noch Mannschaften heruntersprangen, an den Häuserfronten aufgereiht, und einzeln an den Straßenecken postiert, eine durcheinanderwogende Menge von Tschakos und plumpen Mänteln und Karabinerläufen. Ive schob sich vorwärts, die ganze Hauptstraße quirlte in Bewegung, im schweigenden Durcheinander zusammenhanglos marschierender Massen, die unterschiedlichen Tempos nach Streuung strebten. Es waren weitaus mehr Männer als Frauen da, viel junge Leute ohne Mantel und Hut, die herausfordernden Blicks und als einzige munter schwätzend in kleinen Trupps dahinzogen, vor der Schupoecke plötzlich schwiegen und einen kleinen Bogen machend Raum gaben. Aus dem weiten, auseinanderklaffenden Torbogen eines finsteren Gebäudes mit erloschenen Fenstern strömte die schwarze Menge, in ihr bildete sich der feste Kern eines Schwarms fast gleichartiger Gestalten, formierte sich in Reih und Glied zu einem Zug, der langsam antrat, gerade auf Ive zu. Ive konnte nicht erkennen, ob es Kommunisten waren oder Nationalsozialisten, es schienen bei all den häufigen Demonstrationen immer die gleichen, jungen, unbeherrschten Gesichter zu sein, die gleichen mageren und kleinen Körper der in der Hungerzeit des Krieges aufgewachsenen Jugend, die gleiche feldmäßig aufgemachte Kleidung aus billigem Stoff. „Deutschland“ schrie eine helle, sich überschlagende Stimme, der Chor antwortete mit knatterndem Schrei: „Erwache!“ Ive blieb stehen und suchte Pareigat, den er im Gedränge verloren hatte. Er sah rundum, spähte in die sich vorbeischiebenden Gesichter, eine Hand sauste hart mit freundschaftlichem Schlag auf seine Schulter, er wandte sich: Hinnerk! rief er aus. Emil ist mein Name, sagte Hinnerk. Seit wann bist du denn bei den Nazis, fragte Ive, Hinnerk sagte lachend, oh, schon lange, eigentlich schon seit Gründung der Partei, wußtest du das nicht? Nein, Ive wußte das nicht. Du kannst mir mal Verbindung mit dem Parteibüro verschaffen, sagte er, ich muß da vorsprechen, wegen der Landvolkbewegung. Gemacht, sagte Hinnerk. Er wedelte freundlich mit der Hand und reihte sich in den Zug, der nun schnellen Schrittes und mit brausenden Rufen sich die Straße entlangwälzte. Achtung Schupo! rief Ive noch Hinnerk zu und zeigte auf die Ecke, hinter der er die Mannschaft gesehen hatte. Da schob sich auch schon die Kette der Polizisten quer über die Straße. Bei ihrem Anblick spritzte sofort die gelöste Menge auseinander, preßte sich an die Häuserwände, so daß ein freier Raum entstand zwischen dem vordrängenden Zug und der Polizeikette, hinter der sich mit einigem Abstand eine zweite formierte, die, diesmal den Karabiner unter dem Arm, verhalten folgte. Schnell verringerte sich der freie Raum, plötzlich setzte sich die Polizei in schnellere Bewegung, die Arme der Schupoleute, großer, elastischer, kräftiger Gestalten mit dem Sturmriemen unter dem glattrasierten Kinn, faßten mit einexerziertem Griff nach dem Koppel, den Gummiknüppel loszuhaken, wie auf Kommando begannen die Polizisten schweigend zu laufen, die Knüppel hoben sich, schneller liefen sie, nun waren sie heran, Sekunden der Verwirrung an der Spitze des Zuges, Ive stand und sah. Die Schupoleute hoben die Arme, sie drangen wie Mauerbrecher in den geballten Haufen, riesig inmitten der schmalen jungen Leute mit den blassen Gesichtern, Menschenberge, die auf das Gewimmel sachlich und mit äußerster Präzision die Schläge prasseln ließen, wie der Fels sein Geröll ins Tal sendet. Behende glitschten die jungen Kerls in ihrem verschlissenen Zeug, die Arme zur Abwehr über dem Kopf gekreuzt, unter dem Hagel der Hiebe, zwischen den Gamaschenbeinen der uniformierten Athleten, mit rettendem Sprung die Kette zu durchbrechen. Aber die Kette war dicht. Schon war die Spitze des Zuges zersprengt, einzig noch Hinnerk hieb eingekeilt in blaue Mäntel von unten herauf mit geballter Faust unter die Helme, und Ive, dies sehend, sprang vor, ihm zu helfen. Ein Schlag sauste auf seine Schulter, er drehte sich, taumelte, fiel, raffte sich auf, sah das Gewimmel, den Trubel schwarzer, beweglicher Schatten im Kampf, verschwunden war Hinnerk, eine breite Mauer kräftiger Rücken, auf denen das Koppelzeug glänzte, drückte in gleichmäßigem Takt der Bewegung die anbrandende Woge, das wirre Gekreuz erhobener Arme, den flackernden Wirbel der Schreie zurück. Aus der Tür eines Hauses trat ein junges Mädchen, sehr schmal im enganliegenden Mantel, eine Anzahl Pakete sorglich im Arm. Es blickte rechts und links, stand unschlüssig, trat auf die Straße, wandte sich dann mit kurzer Wendung, sie schräg zu überqueren. Da war die zweite Kette der Polizei schon heran. Weitergehen, brüllte eine Stimme, das Mädchen verhielt den Schritt, sah sich um. Ive stand blöde inmitten der Straße und rieb sich die Schulter. Das Mädchen, hinter sich Polizei, vor sich Polizei, zögerte erschreckt, da klatschte ein Hieb ihm über den Kopf, es wankte und fiel, weithin kollerten die Pakete, eine Flasche zersprang mit schepperndem Knall. Ive rannte vor, zu der langhingestreckten Gestalt, die da in seltsam verkrümmter Stellung im Schmutze der Straße lag. Plötzlich war Pareigat da, er beugte sich mit Ive über das Mädchen. Weitergehen! knarrte der Ruf, Ive spürte den Hauch der Stimme im Genick. In unbändiger Wut riß er sich herum, starrte hoch. Ein Schupooffizier stand vor ihm, den Tschako tief in der Stirn, genau sah Ive das große, weitflächige Gesicht mit den kalten Augen, die nun erregt blinkerten, das weißliche Fett über dem silbergestickten Kragen. Brodermann, schrie Ive plötzlich. Der Offizier fuhr zurück, richtete sich auf und sah Ive verwirrt in die Augen. Weitergehen! sagte er mit ruhigem Ton, wandte sich und ging, fast träge, der vorrückenden Mannschaft nach. Das Mädchen hob Kopf und Schulter, Ive griff zu, es aufzurichten, es stützte den Körper mit gebeugtem Knie, rückte sich hoch, die Augen halb geschlossen, nahm ohne ein Wort die Pakete, die Pareigat aufgesammelt hatte. Dann klopfte es mit der freien Hand unbehilflich den Schmutz vom Mantel. Lassen Sie mich, sagte das Mädchen scharf, als Ive zum Sprechen ansetzte, machte einige Schritte, drehte sich nochmals um, sagte mit leiser Stimme: Danke, und ging unsicher davon. Sie kennen den Schupooffizier? fragte Pareigat. Ein Regimentskamerad, sagte Ive und blickte dem Mädchen nach.

*

Beim großen Bombenleger-Prozeß in Altona hatten sich die Angeklagten entschlossen, in der Hauptverhandlung dem Beispiel Claus Heims zu folgen und jede Aussage zu verweigern. So zogen sich die Tage der Verhandlung eintönig dahin, ausgefüllt mit dem Vorlesen der tausend Protokolle; Kriminalkommissar Müllschippe machte unter Eid die hurtigsten Aussagen, Landgerichtsdirektor Fuchs wurde zum Präsidenten eines Verwaltungsgerichtes befördert, was ihm eine Verbesserung des Gehaltes und die angenehme Aussicht eintrug, in politischen Prozessen nicht mehr mitwirkend zu sein, Hinnerk saß im Zuschauerraum und wunderte sich über den in den Protokollen öfters auftauchenden großen Unbekannten. Claus Heim aber wurde zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Bewegung erhielt durch dieses Urteil wenn auch nicht einen allzu starken Auftrieb, so doch eine große moralische Festigung. Schweigend, wie Claus Heim auf der Anklagebank gesessen hatte, ging er auch in die Zelle zurück, finster, und ohne sich umzusehen. Ive, freigesprochen, konnte noch einmal mit ihm reden. Der Bauer von St. Annen-Klosterfelde wußte, was er auf sich geladen hatte. Ive berichtete von seinen Versuchen, eine Agitation der nationalen Kreise zu Heims Gunsten zu entfachen, und von dem ziemlich niederdrückenden Resultat dieser Versuche. Heim forderte Ive auf, um seinetwillen nicht um Haaresbreite von den Forderungen der Bewegung abzugehen, und jegliche Aktion für ihn von allen sentimentalen Mätzchen freizuhalten. Auf keinen Fall, erklärte er, wolle er nicht auch nur einen Tag eher freigelassen werden, als einer der anderen verurteilten Bauern. Und Ive riskierte es erst gar nicht, mit Claus Heim die Möglichkeit eines Gnadengesuches zu besprechen. Er ging von dem einsamen Mann in gedrückter Stimmung; er hatte ihm nicht verschweigen dürfen, daß er bei seiner Reise durch die Provinz vor dem Prozeß an der Bewegung manche weiche Stelle gefunden hatte. Der Kern der Bauern hielt kompromißlos stand. Aber wenn auch der Landbund und die anderen Verbände der grünen Front, die nur nach außen bin, an den Verhandlungstischen der Stadt und in der offiziellen Presse, eine einheitliche Front war und auch dort nicht immer, dem Stoß der Bewegung begegneten, indem sie die Parolen des kämpfenden Landvolks zu ihren eigenen Parolen machten, ihre örtlichen Organisationen den Notausschüssen gleichzusetzen versuchten, sie manchmal an lauter Schärfe der Forderungen, an tönender Verkündigung von Kampfmaßnahmen sogar übertrafen, so blieben sie, deren eigentliche Funktionen ja nicht von den landsässigen Bauern, nicht von produzierenden Landwirten selbst ausgeübt wurden, sondern von eifrigen und flinken Geschäftsführern und Syndizis, von angestellten Herren ohne Ar und Halm, von pensionierten Offizieren und Beamten, doch immer geschickt, wie der alte Reimann sich ausdrückte, mit den Fingern in der Bewegung und mit dem Mars im System. Das war es eben, wo fing das System an, und wo hörte die Bewegung auf? Der Verlockungen waren viele; die Regierung ging erneut daran, den Teufel Verschuldung mit dem Beelzebub Kredit auszutreiben. Das konnte, jeder Bauer spürte es, nicht gut ausgehen, aber half es nicht über den bitteren Augenblick hinweg? Denn die Not stieg und stieg im Lande, unaufhaltsam stürzten die Agrarpreise, und wenn die Forderung einmal Höchsterzeugung lautete und ein andermal billigste Erzeugung, einmal Getreidezoll und ein andermal Futtermittelsenkung, die Preise stürzten, so und so, und eine Verminderung der Handelsspanne hatte eine Erhöhung der Handelskosten zur Folge, und stieg der Umsatz und mit ihm die Steuer, so stürzte der Preis und mit ihm die Kaufkraft. Da konnte es dem Bauern wenig helfen, daß es ihm nicht allein so ging, daß es der Industrie ebenso erging, und ebenso den Industrien anderer Länder, und den Bauern der ganzen Welt auch. Es gab kluge Leute, die in ihren Zeitungen den Bauern klipp und klar vorrechneten, daß sie weltwirtschaftlich gesehen gar keine Existenzberechtigung mehr besaßen, was die Liebe der Bauern zu den Zeitungen und zur Weltwirtschaft nicht gerade steigerte (von den klugen Leuten hatten sie sowieso nie viel gehalten), doch jede Berechnung, mochte sie kommen, woher sie wollte, zeigte ihnen« was sie von Anbeginn wußten, daß ihr Kampf ein Kampf war auf Leben und Tod. Krise hin, Krise her, sie wollten leben, leben mit vollem Sinn, und wer sie an diesem Willen hinderte, der war ein Feind. Das System war der Feind und in ihm die Regierung, die verstrickt in das gleiche fürchterliche Netzwerk, vom gleichen Strudel hin und her gerissen, doch das einzige tat, was sie tun konnte, und gerade darum eben unerträglich wirkte, nämlich mit formalem Recht und vorbildlich gezüchteter Polizei den Zustand schützte, den Weg nicht freigab, nicht freigab zu was? Zum Chaos? – aber die Bauern waren die einzigen, die das Chaos überstehen konnten, und von ihnen also mußte die neue Ordnung ausgehen, die neue Ordnung? aber es ging nicht um neue oder alte Ordnungen, es ging um Ordnung überhaupt. So strebten die Bauern zu einer Wirtschaftsautokratie, nicht weil sie diese wirklich für das einzige Allheilmittel hielten, sondern weil sie sie unaufhaltsam kommen sahen, und dies in allen Ländern, und sie hießen diese Entwicklung gut, weil der Rückmarsch ein Vormarsch war auf die natürliche Produktionsbasis – und die Bauern hatten diesen rückwärts gerichteten Vormarsch schon angetreten, das Landvolk, nicht .das System befand sich im Einklang mit den Tendenzen der Zeit; Krise hin, Krise her, es galt einen Nullpunkt zu passieren, um den Sinn der Ordnung Zu begreifen, es galt für ihn und darüber hinaus auf lange Sicht gerüstet zu sein, nicht aber den Kräften, die zu ihm führten, mit Apothekermittelchen zu begegnen, wie es das System tat. Denn das System wollte helfen, nur böser Wille konnte das leugnen, aber es war nicht böser Wille, den guten Willen des Systems für noch gefährlicher zu halten, als ihren bösen. Die Regierung war bereit, mit Subventionen einzuspringen, mochten sie Steuerstundung heißen, oder Kreditbereitstellung oder Lastensenkung. Das begann in Ostpreußen und den anderen östlichen Grenzgebieten, und in der Tat war dort die unmittelbarste Gefahr für das System selbst. Die Kapitalsüberfremdung in der Industrie, in den Kommunen schien noch erträglich, beinahe zu begrüßen, denn die dreißig Milliarden Mark fremden Kapitals, die nach Schätzung der Reichsbank in Deutschland investiert waren, kamen still und freundlich, geräuschlos rechnend, eine Transaktion, als Wohltat begrüßt, als Hilfe gerufen, und wenn die politischen Schulden der Reparationen belastet waren mit dem Gefühl, demütigend, entwürdigend, unter brutalem Zwang entstanden, kurzum Tribute zu sein, so beruhten die privaten Schulden – zu denen die politischen der Anlaß waren – doch auf freiwilliger Verpflichtung, und zudem: wo soviel fremdes Interesse auf dem Spiele stand, mußte es auf Sicherung bedacht sein, und das System garantierte sich selbst, wenn es die Sicherheit des fremden Kapitals garantierte. Anders aber stand es im Osten, anders mit der Landwirtschaft. Wie sieht es im Osten aus? schrieb Ive. Zu aller Bedrohung tritt noch die der willkürlich gezogenen Grenze. Die Bauern von Nordschleswig wissen, was es bedeutet, das Hinterland zu verlieren, für die Produkte des Hofes ein neues Absatzgebiet zu suchen, und die Dänen mögen mit Wehmut das Gras betrachten, das auf dem Marktplatz von Tondern so munter zwischen den Pflastersteinen sprießt. Ostpreußen aber ist abgetrennt vom Reich, Oberschlesien, die Grenzmark und das Wirtschaftsgebiet von Hinterpommern einschneidender noch zerstückelt als die Nordmark. Die Statistiken stellen fest, daß Ostpreußen, daß der ganze deutsche Osten verödet, daß unsere Provinzen dort auf dem Wege sind, Raum ohne Volk zu werden. Wie geht das vor sich? Da sind Gutsbesitzer, die den Hof nicht mehr halten können, da sind Großgrundbesitzer, die das Gut nicht mehr halten können, die vielleicht zwei Güter haben, und gezwungen sind, eines zu verkaufen, um das andere zu halten, und sie suchen naturgemäß den Besitz loszuwerden, der am gefährdetsten, der in der Nähe der Grenze ist. Wo finden sie Käufer? Wo selbst nur Pächter? Wer kauft, wer pachtet ein Unternehmen, von dem er weiß, daß es unrentabel ist? Die Regierung lehnt einen Ankauf ab, schon ist ihr die Domänenbelastung zu groß. Aufteilung in Siedlung ist nicht möglich, denn Siedlung verlangt Gebäude, und Gebäude verlangen Kapitalsinvestierungen, und Kapital ist nicht da. Aber da meldet sich eine „Deutsche Landerwerbsgesellschaft“ in Kattowitz und eine „Bodenankaufsgenossenschaft“ in Danzig mit vorteilhaftem Angebot. Der Gutsbesitzer zieht Auskünfte ein, und die Auskünfte lauten gut, die Gesellschaften scheinen sicher fundiert und verfügen über ausgedehnte Verbindungen; in Kattowitz, in Danzig und in Berlin ist nichts Nachteiliges bekannt. Und bald ziehen neue Herren auf den Gütern ein. Aber der Besitz wechselt oft, und über kurz oder lang steht im Grundbuch ein konsonantenreicher Name mit der Endung ... sky. Der neue Besitzer meidet jeden nachbarlichen Verkehr, er scheint ein stiller, nachdenksamer und tätiger Mann zu sein; ein frischer Zug kommt in die Wirtschaft, kostspielige Neuerungen tauchen im Betriebe auf. Woher der Mann das Kapital hat, weiß niemand, aber er hat. Denn Kapital ist notwendig, um hier großzügig aufzuforsten, dort eine Sägemühle einzurichten, oder ein Zementwerk oder eine Brennerei. Und Arbeiter sind auch nötig, und die Arbeiter, die kommen, sind polnische Arbeiter, mit vielen Kindern, die eine polnische Schule brauchen, und einen polnischen Lehrer, und einer zieht den anderen nach, und ein polnischer Bäckermeister taucht im Orte auf – und der deutsche Bäckermeister hält die Konkurrenz nicht aus und verschwindet – und ein polnischer Fleischermeister, und die Mehrheit des Gemeinderats wird polnisch, und der polnische Grundherr ist Patron der deutschen Kirche. Das ist nicht vereinzelt so, das ist überall so im Osten, und der deutsche Widerstandswille ist stark, das polnische Kapital, sehr bewußt angelegt, ist stärker. Was tut die Regierung dagegen? Ist sie blind auf diesem Auge? Ganz gewiß ist sie auf diesem Auge nicht blind, sie sieht schärfer auf diesem Auge als auf dem anderen. Denn dies eine darf ihr nicht Tatsache werden: der Verlust deutschen Landes zu seiner Zeit, der schlagartig und offenkundig zeigen muß, was im geheimen längst schon bittere Wirklichkeit geworden ist, offenkundig zeigen muß die fürchterliche Fiktion als Fiktion, daß in Deutschland noch irgend etwas den Deutschen gehört! Ive war überrascht von der Energie, mit der die Regierung auf Grund ihres Ostpreußen-Hilfe-Gesetzes den bedrohten Provinzen beisprang. Millionen wurden in das Danaidenfaß gepumpt, seit Jahren schon, nun sollte das Gesetz zu einem allgemeinen Osthilfegesetz ausgebaut werden, und wenn Ive die Gefahr auch signalisierte, so konnte ihr von der Bewegung aus doch nicht begegnet werden, denn an jeden einzelnen Bauer trat die Frage heran, die in ihrer Verlockung die gefährliche Frage war. Auch Schleswig-Holstein war Notgebiet, und das System gab, aber gab es nicht, um sich selbst zu retten? Nicht annehmen, wollte Ive sagen, und mit ihm der alte Reimann und auch Hamkens und der ganze alte Stamm. Aber durften sie das sagen? Die Verbände drängten und bereiteten vor, denn ihnen und dem Landwirtschaftsrat war letztlich die Verteilung der Subventionen in die Hand gegeben. Für den einzelnen Bauer aber hieß die Überlegung: Nehme ich nicht, so nimmt ein anderer, wir haben es alle nötig, und sollen wir zu Bruch gehen, bevor der Nullpunkt erreicht ist? Der Osten darf nicht zu Bruch gehen, sagte Ive, System hin, System her, aber ihr, wollt ihr mit der einen Hand nehmen und mit der anderen drein- schlagen? Denkt an Claus Heim! – Claus Heim würde sagen, nehmt wo ihr kriegen könnt, sagten die Bauern. (Claus Heim aber hatte zu Ive gesagt, ich kann das von hier aus nicht beurteilen, ich selber würde wohl nicht nehmen.) Das muß jeder mit sich selber ausmachen, sagte schließlich der alte Reimann, und die Bauern, nicht alle, aber viele, und natürlich gerade die, für die die Subventionen in Betracht kamen, sagten, das System hat nun seit Jahr und Tag von uns nichts erhalten, und doch müssen wir die private Verschuldung blutig abtragen, so soll uns das System dann helfen, daß wir aus der Verschuldung herauskommen, in die es uns hineingetrieben, oder sollen wir auch die private Schuld nicht mehr anerkennen? Dann können wir ja gleich Bolschewiken werden, dann sind wir die Schulden los, den Hof aber auch. Und Ive kehrte in die Stadt zurück, zweifelnd und aufgerührt, jede Frage und jede Überlegung traf ihn schmerzhaft wie ein Peitschenhieb, er war so sehr beteiligt, daß alles in ihm brannte, und es gab nichts, was in ihm, woher es auch kommen mochte, sich nicht sofort verdichtete, Teil seiner selbst wurde, und drückendes Gewicht.

*

Die Unterredung zwischen Ive und dem Funktionär der Nationalsozialistischen Partei führte zu nichts. Warum sind Sie nicht Parteimitglied? fragte der Funktionär sofort, ein noch ziemlich junger Herr, ein ehemaliger Offizier. Ich will Ihnen genau sagen, erklärte Ive, was mich von Ihrer Partei in erster Linie trennt, es ist dies das Legalitätsprinzip der Partei. Der Funktionär machte eine leichte Handbewegung, und Ive wartete gespannt, ob er etwas sagen würde, aber er sagte nichts. Dies Legalitätsprinzip, fuhr Ive nach einer kleinen, leeren Weile fort, hatte Ihren Führer veranlaßt, anläßlich der Bombenattentate eine Belohnung auszusetzen für denjenigen Ihrer Anhänger, der den Nachweis erbringe, daß die Attentate nicht von der Partei ausgingen. Diese Handlung Ihres Führers hat nicht ganz unwesentlich zur Aufdeckung des Komplottes und zur Verhaftung unserer Führer beigetragen. Ich komme zu Ihnen, um Sie zu fragen, ob die Partei bereit wäre, sich an unserem Propagandafeldzug für die Freilassung Claus Heims und der anderen verurteilten Bauern eindeutig zu beteiligen. Was haben Sie zu bieten, fragte der Herr mit einer Kürze, die er für sehr militärisch hielt. Ive erklärte, daß die Landvolkbewegung der nationalsozialistischen Werbung in der Provinz in keiner Weise entgegengetreten sei, auch bestünde keine Absicht, dies Verhalten in Zukunft zu ändern, doch hänge dies natürlich unzweifelhaft davon ab, welche Stellung die Partei in Lebensfragen der Bewegung einnehme. Er könne sich eine weitgehende Zusammenarbeit sehr wohl denken... Bedingung ist, sagte der Funktionär, eine bedingungslose Unterwerfung unter die Anordnungen der Partei. Die Landvolkbewegung, sagte Ive, habe kein Programm, die Partei habe eins... Der Funktionär machte eine leichte Handbewegung, und Ive wartete gespannt, ob er etwas sagen würde, er sagte aber nichts. Und da sie eins habe, fuhr Ive nach einer kleinen Pause fort, müsse sie es schon dulden, daß man sich daran halte. Das Programm der Partei, sagte der Herr, zielt unzweifelhaft auf eine ständische Gliederung. Das Programm der Partei, sagte Ive, kann erst nach Ihrem Siege... Wir werden siegen, unterbrach der Funktionär, und Ive beteuerte höflich, er zweifle nicht daran. Aber er bezweifle, daß nach dem Siege die ständische Gliederung sozusagen verfassungsmäßig fabriziert werden könne, etwa nach dem Schema: § 1) Das Dritte Reich ist ständisch gegliedert. § 2) Dies Gesetz tritt sofort in Kraft. Notwendig sei vielmehr, jetzt schon dort einzusetzen, wo die ersten Keime dieser Gliederung bewußt vorhanden sind und vorgerichtet werden, um von dort aus den Angriff vorzutragen. Das würde den Angriff zersplittern, sagte der Funktionär. Das würde dem Angriff die Reserven geben, ohne die er zersplittert, sagte Ive. Was fordern Sie von uns? fragte der Herr. Wir fordern von Ihnen eine konsequente Haltung in Verfolgung dessen, was Sie sich offiziell zum Ziel gesetzt, wir fordern also, daß Sie in bäuerlichen Dingen die Direktiven anerkennen, die der kämpferischste Teil der Bauernschaft erläßt. Und wenn, fragte der Herr, wir diese Forderung nicht erfüllen, nicht erfüllen können? Dann, sagte Ive, bestehen Zweifel an der Unbedingtheit Ihres Wollens, Zweifel, die uns nicht erlauben werden, Sie anders einzuschätzen als die, die Sie zu bekämpfen vorgeben. Der Funktionär stieß den Kopf aus dem Kragen: Wer sich uns entgegenstellt... Der wird erschossen, ich weiß, sagte Ive gelangweilt, und bei Philippi sehen wir uns wieder. Reden Sie doch keinen Zimt, Herr, Sie haben Dithmarscher Bauern vor sich und keine Ullstein-Redakteure. Übrigens, sagte der Funktionär, können bindende Abmachungen nur von der Reichsleitung, Abteilung Landwirtschaft, getroffen werden. Ich glaube, sagte Ive, das erübrigt sich, und ging. Willst du erfahren, was sich ziemt, so frage nicht bei Bonzen an, meinte Hinnerk, dem Ive vom Mißerfolg dieser Unterredung erzählte. Warum jagt ihr nicht eure Bonzen zum Teufel? fragte Ive. Weil wir eine Partei sind, sagte Hinnerk. Und warum seid ihr eine Partei? – Weil wir Bonzen haben; im Ernst, Bonzen sind immer, Bürger sind auch immer, lassen wir ihnen, solange sie herrschen, auch ihre Form, die Partei. Die Bewegung aber sind wir. – Wer ist „wir“? fragte Ive. Die junge Mannschaft, sagte Hinnerk, komm mit zu meinem Sturm, harte Burschen, sage ich dir, Kerle drunter, aus allen Bouillonkellern zusammengekämmt, sechzig vom Hundert gewesene Kommunisten, rausgeschmissene Gymnasiasten, relegierte Studenten, alte Frontschweine und junge Indianerhäuptlinge, und wer noch nicht erwerbslos ist, gilt nicht für voll. Schöne Aussicht, sagte Ive, seid ihr auch legal? Hinnerk grinste: Dem Legalen ist alles legal! – Und was tut die Bewegung? Sie marschiert, ich kenne das, sagte Ive erbittert, und es ist ihr wurscht, wohin sie marschiert, aber die Bonzen wissen, wohin sie marschiert, und es ist ihnen nicht wurscht; wir haben das ja wohl schon mal gehabt. – Und war das nicht gut so, damals, als wir das schon mal gehabt haben? fragte Hinnerk. Das war zum Teufel sehr gut so. Was kommt, das kommt doch nicht von ungefähr, und die einfache Tatsache, daß marschiert wird, hat noch immer die Dinge auf die Spitze getrieben. Wer weiß denn, ob eine Sache gut ist, oder schlecht. Sie soll sich bewähren, wenn sie gut ist, und wenn sie schlecht ist, dann soll sie wahrnehmbar stinken. Wir marschieren für eine Sache, solange sie gut ist, und wenn sie schlecht wird, so marschieren wir nicht mehr für sie; wer hält uns denn für so instinktlos, daß wir marschieren ohne Sinn? – Das heißt doch nichts anderes, sagte Ive, als daß eine Sache gut ist, solange ihr für sie tragbar seid. Begnügt ihr euch denn, nur Gewicht zu sein? – Das heißt, daß eine Sache gut ist, solange sie für uns tragbar ist, und wenn uns das Gepäck am Marsche hindert, so schmeißen wir es weg. – Der Sinn, der Sinn? fragte Ive, und Hinnerk sagte: Der Sinn ist, daß wir nötig sind, und daß wir immer mehr nötig sind. Wer kann denn auf eine kriegerische Vertretung verzichten? Und die einmal glaubten, uns begraben zu haben für alle Zeiten, die kratzen nun mit blutigen Fingern die Erde auf, uns wieder zu holen. In allen Lagern ist die junge Mannschaft nötig, und in allen Lagern trägt sie Uniform. – Und aus allen Lagern tritt sie an, sich gegenseitig die Köpfe blutig zu schlagen, damit die Bonzen sich mit breitem Popo besser in ihren Sesseln zurechtsetzen können. – Sollen sie, warum neidest du ihnen das? Und warum willst du nicht, daß wir uns hauen? das erhält frisch und Übung ist Übung. Hinnerk lachte. Komm zu meinem Sturm, sagte er, und schob Ive am Arm vor sich her. Warum hassen sich die Menschen? fragte Hinnerk mit schwer bekümmerter Miene, weil einer der Renegat des anderen ist. Wir stammen ja wohl alle von einer Mutter Eva ab, aber Meinung ist Meinung, und es kommt nicht drauf an, welche man hat, sondern daß man die, die man gerade hat, auch ernst nimmt und vertritt, und wenn ich einem Rotfrontmann eins in die Schnauze gebe, so tue ich das nicht, weil er Kommunist ist, sondern weil er nicht bei uns ist, und ihm geht es vermutlich genau eben so. Das Verkehrslokal von Hinnerks Sturm, im Norden der Stadt, war eine Bierkneipe, zu deren Tür eine schmale und geländerlose Steintreppe hinabführte, und deren Reklameschilder die Spuren von Steinwürfen zeigten. Vor der Tür patrouillierten zwei junge Burschen, die Hinnerk mit erhobenem Arm grüßten. Die Kneipe selbst, ein in mehrere Räume abgeteiltes Kellergewölbe, das nur von der Straße her natürliches Licht empfing, war angefüllt mit Bänken und Tischen, die so aufgestellt schienen, daß sie wohl als Verschanzungen dienen konnten, die Theke, ein Klotz starken Holzes, trug zum Schutze der Gläser ein Gitter. Fast an jedem der Tische saßen junge Leute, rauchend, Karten spielend oder schwatzend, Zeitungen vor sich, und in den Gesichtern jenen Ausdruck unbekümmerten Gleichmutes, wie er wohl Soldaten auszeichnet in der Ruhepause zwischen zwei Gefechten. Die ganze Luft, die ganze Stimmung des Raumes mit seinen Rauchschwaden, seinen Gestalten, seiner Atmosphäre beschäftigungslosen Tuns vermittelte Ive sofort das Bild einer Unterkunft des großen Krieges, und er war nicht erstaunt, zu hören, daß viele der jungen Burschen, die keine Bleibe hatten, auch auf den harten, schmalen Bänken der Kneipe zu nächtigen pflegten. Alle Stunden wurden die Posten vor der Tür vorschriftsmäßig abgelöst, und die kargen Gespräche drehten sich um den Dienst. Der Dienst war wichtiger als die Politik, er war unter allen Umständen auch näherliegend, denn die unmittelbare Bedrohung war vollkommen, ob sie nun von der bürgerlichen Gesellschaft ausging, und von deren Schutztruppe, der Polizei, oder von den Kampforganisationen anderer Richtungen. Draußen auf der Straße gingen eilig die Passanten, klingelten die Straßenbahnen, rollten die Fuhrwerke, aber überall in der Stadt lagen die Schlupfwinkel verstreut, die Höhlenunterkünfte des aktiven Teiles der Jugend, die bereit war, zu gegebener Zeit die Straßen der Stadt aufzurollen, ihre Banner auf den öffentlichen Gebäuden zu hissen, oder in mörderischem Kampfe in den finsteren Ecken und Torbögen der Stadt wie niedergeknüppelte Hunde zu verröcheln. Ive erkannte wohl, daß es hier sinnlos sein mußte, zu fragen nach dem Woher und dem Wohin, und wenn er sofort mit den Männern dieses Raumes eine starke Verbundenheit verspürte, so konnte es keine andere sein als jene, die er mit den heimatlosen Söhnen aller tollen Zeiten empfand. Schräg gegenüber, an der Ecke der Straße, belehrte ihn Hinnerk, befand sich das Verkehrslokal der Kommunisten, das, weil zur Tür einige Stufen heraufführten, nur schwer zu erstürmen war, desto leichter aber nach dem Sturm auszuräumen, während hier die Verhältnisse genau umgekehrt lagen; und Hinnerk demonstrierte, Tische und Bänke zurechtrückend, das letzte Gefecht, in dessen Verlaufe es den Kommunisten gelungen war, in die Räume einzudringen, von dort aber erst nach schweren Verlusten sich wieder hinauszuretten. Tag und Nacht lagen die feindlichen Heerhaufen auf der Lauer, bereit, den Gegner, von dem jeder jedem bekannt war, in rasendem Anlauf anzufallen, ihm an die Gurgel zu fahren, ihn in wütenden Gefechten der Nacht niederzuringen, Gefechte, die erst vor den heranbrausenden Wagen des Überfallkommandos zersplitterten. Zuweilen wechselte auch wohl der eine oder der andere hinüber oder herüber, wissend, daß gerade ihm dann von der Seite, die er verläßt, keine Gnade mehr winken konnte. Hinnerks Sturm hatte innerhalb weniger Monate vier Tote gehabt, wohl keiner der Männer war ohne Verletzungen bislang davongekommen, Hinnerk konnte zu seiner in Neumünster verstümmelten Hand noch manche Narbe hinzuzählen, und der Student, der mit ihm und Ive zusammen am Tische saß, ein zwanzigjähriger breiter Geselle mit hellen Haaren und Augen, hatte den tiefen Schmiß auf der Backe nicht einer Mensur zu verdanken. Was studieren Sie? fragte Ive den Studenten, und jener antwortete: I. F. Idioten- Fakultät, National-Ökonomie, International-Ökonomie, und warum er das studiere? um der neunundneunzigprozentigen Gewißheit der wissenschaftlichen Irrtümer willen. Um der Möglichkeit willen, alles, was er sich mühsam eingepaukt, blitzschnell als Nonsens erkennen Zu können, wo es ihm auch immer mit dem stolzen Mantel der Hochgelehrtheit entgegentrete. Dies sei es, was ihn nicht nur hatte wünschen lassen, was ihn sogar zwinge, Nationalsozialist zu sein: daß die Bewegung über eine festgebackene ökonomische Lehre nicht verfüge, daß der Führer dem Studium einen Sinn gegeben, indem er es frei gegeben habe, einfach, indem er durch die schlichte Wortverbindung National-Sozialismus den Generalnenner gegeben habe, auf den jedes Studium zu beziehen sei. Aber der Begriff Nation habe bereits lange Zeit bestanden, und der Begriff Sozialismus auch? – Aber der Wert Nation und der Wert Sozialismus eröffne erst durch die Verkündigung der Wortverbindung die atemraubenden Aspekte, wie die Parolen der französischen Revolution, als Werte schon jahrhundertelang gültig und erstrebt, erst durch ihre Verkündigung das Gesicht der Welt umgewandelt haben. Was biete denn seit dem Kriege das Studium dem einzelnen? Die blasse Aussicht, einen mageren Posten zu ergattern? Aber wir, wir studieren nicht, um einen Posten zu ergattern, wenngleich, und der Student verzog die Backe mit dem Schmiß, vielleicht einmal die Frage nicht mehr lauten werde: Welcher Verbindung haben Sie angehört? sondern: bei welcher SA haben Sie Dienst getan? Ich bin SA-Mann, sagte er, weil ich in der Bewegung stehe, und ich stehe in der Bewegung, weil ich Student bin. – Und wie, fragte Ive, legitimiert die Bewegung ihren Anspruch auf Macht? – Durch die Tatsache ihres Bestehens als Bewegung, sagte der Student, denn das tragende Prinzip jeder Bewegung liegt in ihrem ständigen, selbstschöpferischen Akt. Wir fordern nicht die Nation und den Sozialismus, sondern wir sind Nationalisten und Sozialisten und die Tatsache der Macht in unseren Händen verbürgt den Sozialismus und die Nation. – Sie begreifen also, sagte Ive und beugte sich vor, die Nation nicht als eine sozusagen statische Gegebenheit und den Sozialismus nicht als Plan? – Ich begreife die Nation als einen ständigen völkischen Willensakt, sagte der Student, und ich begreife den Sozialismus als diejenige Wirtschaftsform, die, auf jeden Fall der stärksten staatlichen Bindung unterliegend, diesem Willensakt die größtmöglichste Brisanz verleiht, – gerichtet nach einem Plan also, aber nach einem Plan, der immer den wechselnden Bedürfnissen der Nation elastisch entsprechen muß. Das Privateigentum ... wird abgeschafft, rief ein SA-Mann über drei Tische hinweg, und die anderen lachten, … existiert heute schon nur mehr als juristischer Begriff, sagte der Student, dessen Nutznießung in einem nicht der Nation dienenden Sinne erfolgt; wir werden das Privateigentum nicht abschaffen, sondern seine Nutznießung kontrollieren. Und er freute sich über das ganze Gesicht. Ich weiß nicht, sagte Ive zögernd, inwieweit das, was Sie sagen, den Intentionen Ihrer Partei entspricht, ich weiß auch nicht, ob es nicht im Grunde auf dasselbe hinauslaufen wird, was auch der Kommunismus zu tun gezwungen ist, ja selbst jede staatliche Macht zu tun gezwungen sein wird, wenn sie nicht willens ist, sich selbst aufzugeben; Sie müssen sich jedenfalls darüber im klaren sein, daß Ihre Diktion Mißverständnissen ausgesetzt sein muß, wenn Sie, zum Beispiel in der Werbung, die Sie erstaunlicherweise, ein politisches Mittel der Demokratie, nicht entbehren können, Ausdrücke benützen, wie Sozialismus, die im Bewußtsein der Öffentlichkeit, an die Sie sich wenden, bereits eindeutig festgelegt sind, und zwar im Sinne der programmatischen Erklärung Ihrer Gegner. Ich würde die Erwägung, sagte Ive, akzeptieren können, Mißverständnisse als Mittel zur Verwirrung zu gebrauchen, aber können Sie es wagen, dies zu tun, ohne daß diese Mittel sich gegen Sie selber kehren? – Wir können, sagte der Student, wir können, wenn wir diese Absicht haben, was nicht der Fall ist. Die Dinge liegen günstiger für uns. Die Begriffe eines ganzen Zeitalters haben sich selber ausgelaugt und stehen nun jeder Deutung frei. Dies, sagte er, sei unsere glückliche Erfahrung, daß alles, selbst wenn es im Geiste der Epoche gedacht sei, unmittelbar nach deren Höhepunkt sich gegen sie gerichtet. Seit dreißig Jahren habe jede Lehrmeinung zum Untergang der Epoche beigetragen, das tragende Gebäude unterhöhlt; und dies, eben dies sei nun die entscheidende Zäsur, daß erstmalig heute ganz unbelastet gedacht werden könne, unbefangen die Begriffe genommen, wie sie sich bieten, und ausgebeutet werden können. Wir sind, sagte er, aus dem letzten Abschnitt bereits herausgesprungen, aus dem Abschnitt greisenhafter Reflexion, und nicht mehr die Lehrmeinung ist uns wichtig, sondern der Lehrgegenstand, und dieser nicht mehr als Forschungsresultat der Wissenschaft, sondern als Rüstzeug gegen sie. Praktisch ist heute jeder wirklich nationale Akt ein sozialistischer Akt, und jeder wirklich sozialistische Akt ein nationaler, und was uns von unseren auchsozialistischen und auchnationalen Gegnern scheidet, das ist das Wissen um die Zusammenhänge, und das Aussprechen dieses Wissens, das ist die klare und vernünftige und einfache und nicht von verstaubten Theorien vernebelte Konsequenz: wir kämpfen als Proleten, denn das deutsche Volk ist ein proletarisches Volk geworden, gegen die Ausbeutung durch das Kapital, denn das Kapital ist fremdes Kapital geworden; und wer nicht mit uns kämpft, kann als Prolet nicht mehr und nicht als Deutscher mehr gelten. Heil! rief ein SA-Mann über drei Tische hinweg, und die anderen lachten. Auch der Student lachte. Ive lachte nicht. Sie verlangen also, sagte Ive, letzten Endes vom einzelnen, – natürlich mit allen Konsequenzen – nichts als eine einzige geistige Entscheidung? Der Geist, sagte er unruhig,... Der Geist ist eine Krankheit, sagte Hinnerk plötzlich, erhob sich und ging um den Tisch herum auf Ive zu. Auch unter die Gehirnakrobaten gegangen? fragte er leise. Mensch, sagte er, brich dir keine Brägenwindung ab. Geist ist eine Krankheit, eine unnützliche Schleimabsonderung, und es ändert nichts daran, wenn der Schleim auch noch so gepfeffert ist. Und übrig bleibt eine allgemeine Schwäche. Meinst du, ich habe nicht auch schon mit dieser Hure im Bett gelegen? Jeder tritt mal in die Scheiße, aber ein feiner Mann zieht den Fuß wieder Zurück. Da haben die klugen Leute mit ihrem Geist zwölf Jahre lang den ganzen Apparat in den Händen gehabt, da haben sie geredet und geschrieben und getüftelt und waih geschrien über uns dumme Idioten, und wo sind sie mit ihrem ganzen Geist gelandet? Im Dreck. Und da sielen sie sich noch, und die ganze Karre ist verfahren und kerne zehntausend kluge Bücher ziehen sie wieder heraus aus dem Morast. Das große Kotzen kann ich kriegen, wenn ich das Wort nur höre. Mit all ihrem Geist haben sie noch keinen anständigen Kerl hingestellt, aber manchen anständigen Kerl haben sie verrückt gemacht mit ihrem Geist. Geist, das ist der Anfang des Verrats. Sieh dich vor, Ive, Geist ist nur in Form von Flüssigkeiten gut. Prost, sagte Ive, und trank. Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschieren im Geist in unseren Reihen mit, sagte er und trank abermals, Prost Hinnerk, du kannst so bleiben. Hinnerk setzte sich. Na ja, sagte er und holte sein Notizbuch aus der Tasche. Sonntag früh, sieben Uhr, gab er bekannt, antreten zur Propagandafahrt. Treffpunkt Pankow, Verkehrslokal. Schneider... Hier!... Flugblätterempfang im Gaubüro, Schanzek... Hier!... Fahne mitbringen. Anzug: Dienstanzug. Daß ihr mir eure Kanonen zu Hause Laßt! Hermann... Hier!... du bist im Rückstand mit der SA-Versicherung, eine Mark vierundfünfzig, bis Sonntag! Ive, du mußt die Fahrt mitmachen, sagte er und Ive versprach es. Sie hockten bis in den Morgen beisammen und tranken und warfen die Zigarettenstummel auf den Fußboden, und Ive hatte große Lust, der SA beizutreten. Aber Hinnerk drängte ihn nicht, und Ive unterließ es, zu fragen. Aber er war pünktlich am Versammlungsort, mit Hinnerks Sturm die Propagandafahrt anzutreten, acht Tage vor jener für bedeutungsvoll gehaltenen Wahl, die den überraschend großen Anwuchs der nationalsozialistischen Stimmen brachte. Die Hakenkreuzfahne wehte breit über dem Lastauto, auf dem dicht gedrängt die vierzig SA-Leute standen; Hinnerk gab die letzten Anweisungen, und Ive stieg mit dem Studenten, der eine Karte auf seinen Knien ausbreitete, zum Chauffeur auf den Führersitz. Der Wagen setzte sich knatternd in Bewegung, und die Männer hüben an, ihre Kampflieder zu singen. Noch waren die Straßen leer von Menschen, aber die Fenster öffneten sich, aus den Türen der Barbierläden traten die Kunden, dem Wagen kurz nachzuschauen. Just als das Deutschlandlied in schnellem Tempo herausgeschmettert wurde, passierte der Wagen eine Gruppe Schupoleute, die sich an einer Ecke zusammengefunden hatte. Der Gesang brach ab, doch auf Kommando scholl der Ruf im Chor: Schupo! Mitsingen! Die Polizisten standen unbeweglich und sahen geradeaus. Deutschland! rief Hinnerk, erwache! kam die Antwort. Doch die Schupoleute schienen Deutschland nicht repräsentieren zu wollen, nicht eine Miene verzog sich in den starren Gesichtern. Allmählich öffnete sich die Straße ins flache Land, niedrig waren die Häuser, und Gärten schoben sich zwischen ihre Mauern, dann rollte der Wagen im hellen, klaren Licht des Septembermorgens in den Wald. Der Gesang brach ab. Ive sah auf das niedere Gebüsch am Straßenrand, auf die hohen, grad- stämmigen Bäume mit der rötlichen Rinde und den zerflederten Wipfeln, auf die gelben Placken des feinen Sandes zwischen den Strecken graugrünen und braunen Nadelbelags. An einer Biegung des Weges machte der Wagen halt, die Mannschaft sprang ab und an der Böschung flogen die Zivilkleider von den Körpern, indes die braune Kluft aus raschelnden Papieren sich entfaltete, nackte stämmige Beine in die Uniformhosen fuhren, Krawatten und Koppelzeug die plötzlich schlanker gewordenen Leiber umschnallten und die roten Binden mit dem schwarzen Kreuz auf weißem Grunde auf die Ärmel wehten. Gendarmen, sagte Hinnerk, sind sonderbare Wesen, sie treten nur vereinzelt auf, und der Arm des Gesetzes erlahmt auf dem platten Land; im Dritten Reich muß das ganz anders werden. Sie fuhren weiter. Wo ein Haus am Wege auftauchte, wo ein Fuhrwerk entgegenkam, flogen Flugblätter, es kam niemand vorbei, der nicht seinen Zettel empfing. Ein Dorf tauchte auf, es lag breit und geruhsam zwischen den weiten Feldern, die, von den dunklen Linien der Wälder umsäumt, in grünen und goldenen Flächen das Licht der Sonne saugten. Über den weißen, blendenden Mauern der Häuser, über den roten Dächern stieg dünn der Rauch. Ive empfand das Bild dieser Landschaft und dieses Dorfes mit dem gleichen Gefühl einer etwas unmutigen und doch reizhaften Scham, mit der er gewisse Arten von Kitsch zu betrachten pflegte. Bin ich schon so verstädtert? dachte er und atmete den heißen Benzindunst des Motors, indes der Chauffeur über das schlechte Pflaster der Dorfstraße fluchte. SA marschiert, sangen sie auf dem Wägen, Hühner stoben kreischend über den Weg, aus den niederen, von Blumen umsäumten Fenstern schauten neugierig Köpfe durch das blanke Glas. Der Wagen fuhr langsam die Hauptstraße durch, hielt auf dem freien Platze zwischen Kirche und Kriegerdenkmal, die SA trat in Reih und Glied an. Aus der Kirche tönte Orgelmusik und Choralgesang. Ive ging langsam um das Kriegerdenkmal herum. Ein breiter, viereckiger Sandsteinpfeiler, von einem Adler mit halbgebreiteten Schwingen gekrönt, drei Seiten des Steines mit den Namen der Gefallenen besät. Ive zählte die Namen, wandte sich dann, das Dorf zu überblicken. Nicht ein Haus konnte verschont geblieben sein. Aber an der Tür des Gemeindevorstehers hingen vier Aufgebote im Kasten. Die Tore der Kirche öffneten sich, die Dörfler traten in schwarzem Schwärm ins Freie. Sie stutzten ein wenig vor der braunen Mannschaft, dann schritten sie jedoch langsam vorbei. Hinnerk wartete noch eine Weile, schließlich trat die Gruppe in Gliedern zu dreien an und marschierte singend, die Fahne an der Spitze, auf Hinnerks Kommando los, die Hauptstraße zurück. Genau ausgerichtet, linke Hand am Koppelschloß, schritten die Mannen, Hinnerk an der Seite, und wenn er etwas zurückblieb, Richtung und Vordermann zu prüfen, dann geschah dies im Gleichschritt kurz tretend, wie es die Dienstvorschrift der preußischen Infanterie für den Feldwebel befahl. Der Emil ist richtig, sagte der Chauffeur zu Ive, er ist zwar kein guter Nazi, aber ein guter Führer ist er. Ive folgte dem Zug. Am letzten Hause des Dorfes machte die Kolonne, von einem Haufen Kinder begleitet, halt, die Mannschaft zerstreute sich und ging nun den gleichen Weg zurück, Haus für Haus besuchend, Propagandazettel abzugeben, „Bausteine“ zu verkaufen, kleine, viereckige Zettel mit der Aufschrift „Baustein für die SA.“ Stück dreißig Pfennig. Überall vor den Haustüren standen die Leute, schauten schweigend und mißtrauisch an den braunen Trupps vorbei, nahmen aber die Flugblätter, sie sorglich lesend, um sie nach dem Lesen zusammenzufalten. Noch einmal ratterte der Wagen mit seiner singenden Besatzung durch die Straße, jede Gruppe von Dorfbewohnern mit einem kräftigen Heil begrüßend, einem Ruf, der hier und da sogar beantwortet wurde. Sie fuhren kreuz und quer im Lande herum, zwischen Wäldern und Feldern, planmäßig jedes Dorf zu besuchen und zu bearbeiten. Von fünf Autos, die ihnen entgegenkamen, erwiderten die Insassen dreier den Heilruf. Dann flogen die Arme der SA-Leute hoch zum Gruß, für Sekunden wurden aus Soldaten Partisanen, und Ive hatte wieder, wie vorher beim Betrachten der friedlichen Landschaft, das leise Gefühl einer unbehaglichen Scham. Die Männer sangen sich heiser, immer wieder erklangen dieselben Lieder, angestimmt, sobald die ersten Häuser eines Dorfes in Sicht kamen, und es waren neue Worte zu altbekannten Melonen, und wenn wir's im Kriege dem Kaiser Wilhelm geschworen haben, so kam es jetzt nicht mehr so darauf an, ob wir's dem Karl Liebknecht noch einmal schwören, oder dem Adolf Hitler, es schmetterte immer kräftig genug. Zur Mittagszeit machte die Kolonne in einem großen Bauerndorfe Rast. Das Gasthaus füllte sich mit den braunen Uniformen. In einer Ecke hockten dichtgedrängt die Bauern vor ihren Gläsern, eine schweigende Festung im bewegten Gelärme, das plötzlich die Schenke füllte. Der Student benutzte die Gelegenheit, den Bauern die Ziele der Bewegung auseinanderzusetzen, sie hörten ihn ruhig an, aber es war unmöglich, aus ihren Gesichtern irgendetwas herauszulesen. Und Ive freute sich ein wenig. Bauern, dachte er, Bauern. Er setzte sich vor dem Gasthaus in die Sonne. Weit und leer lag der Platz. Aus den geöffneten Fenstern der Schenke tönte das Gewirr der Stimmen. Ive zog den warmen Geruch eines Misthaufens mit gespannten Nasenflügeln ein, er beobachtete intensiv das Schwein, das sich in einer dunkelbraun schillernden Pfütze wälzte. Achtzig Kilo Lebendgewicht, rechnete er, gerade schlachtreif, ab Hof siebzig Mark, und dabei sieben Monate Aufzucht. Im Laden, dachte er, kostet das Pfund Schweinebauch neunzig Pfennig. Die Differenz frisst der Zwischenhandel. Am Fenster stand der Student, ein Tramm schwarzen Brotes in der Hand. Stichwort Zwischenhandel, rief Ive zu ihm hinauf, der Student lachte, und schon legte er los. Der jüdische Zwischenhandel... hörte ihn Ive sagen, und Ive lächelte. Auch er hatte im „Landvolk“ vom jüdischen Zwischenhandel geschrieben, und er hatte das den Bauern nachgesprochen, und die Bauern sprachen es ihm nach. Bis Ive die Entdeckung machte, daß es in der Nordmark gar keinen jüdischen Zwischenhandel gab. Den Viehjuden wollte Ive einmal sehen, der den alten Reimann etwa beim Handel übers Ohr haute. Das internationale Finanzkapital... klang die scharfe, in turbulenten Versammlungen geschulte Stimme des Studenten. Das hat er schnell zusammengekriegt, dachte Ive und dröselte in der heißen Sonne des Mittags vor sich hin. Später, als der Wagen über einen Landweg schaukelte, sagte der Student, es würde am Abend wohl noch Keile geben. Ziel der Fahrt war eine Arbeiterkolonie, dicht am äußersten Straßengürtel der Stadt, die nach einer weitgeschwungenen Rundfahrt durch die Dörfer bei sinkender Sonne erreicht werden sollte. Schon am Vormittag hatte Ive von der Kolonie sprechen gehört; dort war noch nie eine nationalsozialistische Versammlung abgehalten worden. Der ganze Tag schien eine unausgesprochene Vorbereitung auf den Abend zu sein. Dorf für Dorf belebte der Wagen mit seiner Propaganda, Dienst ist Dienst, aber, obgleich niemand davon sprach, die Kolonie war das Ziel des Tages, und sie warf ihre Schatten voraus, und es war ein kräftiger Schatten, Ive spürte es. Das letzte Dorf war abgeklappert, Hinnerk sah auf die Uhr. Langsam fuhr der Wagen seinen Weg. Als er aus dem Walde trat, über die neu angelegte Straße knirschend rollte, die gesäumt war von mageren, kümmerlichen Bäumchen ohne Wipfel, zwischen schuttbedeckten Feldern, durch die graue, zerflederte Landschaft, in der, ferne noch, die Kolonie zu sehen war, unregelmäßige Reihen eintönig roter Häuschen im nackten Gelände, verstummte jeder Mund auf dem Wagen. Der Student rückte sein Koppel zurecht, sah gespannt geradeaus. Halt! kommandierte Hinnerk. Der Wagen fauchte vor die Tür eines Gasthauses, hielt. Einige Männer eilten aus dem Schenkzimmer, hoben, schallend begrüßt, den Arm, und sprachen dann eifrig auf Hinnerk ein. Sie, örtliche Parteimitglieder, hatten den größten Saal des Ortes für eine Versammlung gemietet, die Kommunisten aber hatten ihre Versammlung in demselben Saal genau eine Stunde früher angesetzt, hielten jetzt schon den Eingang und die Zur Verteidigung günstigsten Plätze mit ihrer jungen Mannschaft besetzt, hatten einen Relaisdienst eingerichtet, das Kommen der Todfeinde pünktlich Zu melden. Hinnerk studierte die Karte, fuhr mit dem Finger die krausen Linien entlang, fragte und überlegte. Einer der Männer zeichnete den Plan des Versammlungsraumes auf und den der näheren Umgebung, zeigte das Verkehrslokal der Gegner. Noch hatte der Nationalsozialismus vor der Kolonie sein Quartier, heute sollte er zum ersten Male in sie eindringen. SA trat an, die Reihen dicht geschlossen, die Fahne flatterte hoch, gedeckt von vier Mann. Eine Spitze von drei Mann marschierte voraus, rechts und links vom geschlossenen Kern der Truppe, auf den Bürgersteigen, schritt die Seitendeckung, (Ive mit ihr). Die Mannschaft, die Sturmriemen der Mützen unters Kinn gezogen, linke Hand am Koppelschloß, die Knie federnd bei jedem Schritt die Augen angestrengt geradeaus und die Münder mit gespannten Muskeln zum Gesang geöffnet, bohrte sich in die Straße, die ihren feindlichen Schlund mit einzelnen, noch verstreuten Häuschen öffnete. Hinter den Bretterzäunen dürftiger Gärtchen, hinter den Zementpfeilern schmaler Türen tauchten einzelne Gestalten auf, musterten blitzschnell die Truppe, verschwanden wieder. Radfahrer schössen aus Seitenstraßen wendeten beim Anblick des marschierenden Haufens und stoben in entgegengesetzter Richtung davon. Fenster öffneten sich, eine Frau in grauer Bluse, mit breitem rotem Gesicht unter strähnig zerzaustem grauem Haar, den mächtigen Busen ausladend auf das Fensterbrett gelegt, beugte sich grinsend über die Straße, begann zu lachen, ein gelles, schepperndes Lachen, das sich in Kreischen überschlug, Hohn, Schadenfreude und gnadenlose Erbitterung wie giftigen Speichel über die Männer und über ihre Fahne spritzend. Die Straße füllte sich, Kinder, junge Burschen, Männer in blauen Trikots begleiteten den Zug, schweigend zumeist, die Augen auf die Mannschaft gerichtet, dicht gedrängt um die Seitendeckung, die unbeirrt ihres Weges schritt. Jede Nebenstraße gab ihre Menschen ab, Gestalten, die sich mit blassen, verschlossenen Gesichtern und undurchdringlichen Augen, die Schultern hochgezogen, von denen die Arme unelastisch und mit geballten Fäusten niederhingen, schnellen Ganges vor, hinter, neben dem Zuge drängten. Immer dichter wurde das Geleit, eine echolose Masse, ein bewegtes Meer von Menschen, in dem erhobenen Hauptes die Truppe schwamm wie ein Schiff, vor dessen Bug sich die Wellen teilen. Ive zwang sich, auf die Menge nicht zu achten. Er betrachtete die Häuser, die Läden, er suchte unter den Öl-Reklame-Schildern einer Tankstelle aus alter Anhänglichkeit das schwarzrote Schild von Veedol, und ärgerte sich, daß er es nicht fand. Er erhielt einen derben Puff in die Seite, so daß er beinahe auf die Straße taumelte, er sah sich um, ein junger Bursche, die Mütze im Genick, ging neben ihm, sah unbeteiligt von ihm weg, dunkle Ölflecken um die Ohren, auf dem sich langsam rötenden Gesicht. SA sang. Ein Lied löste das andere ab. Je mehr sich die Menge um die Truppe schloß, desto lauter brüllte diese ihre Lieder heraus, zwischen jedem Vers dröhnte, von Hinnerk das „Deutschland“ über die Köpfe geschleudert, das „Erwache!“ der SA. wie ein Schlag gegen die Häuserwände. Ein Platz tat sich auf, das Gasthaus mit weißer Front, vor ihm in dunklen, geballten Haufen die wartende Menge, schweigend, vor der Tür des Anbaues am dichtesten massiert. SA schwenkte ein, die Spitze trat kurz, Hinnerk sprang vor. Die Fahne senkte sich, die Spitze mit dem Hakenkreuz stieß schräg und drohend in die Luft, dicht über die Köpfe der sich entgegenstellenden Menschen. Ive fühlte sich plötzlich gegen den Trupp gedrängt, geschleudert, der wie ein Sturmkeil vordrang, auf den Eingang zu. Schneller wurde der Schritt, Hinnerk hob den Arm, ein kurzer, stoßartiger Lauf, breit flatterte das Fahnentuch, dann war SA heran, Körper flogen beiseite, ein Tisch stürzte, Torflügel krachten auf, der dunkle Gang, leergefegt, verschluckte den braunen Haufen; Ive stand im Saal. Der Saal, hell, gelb und weit, die schmalen Fenster hoch an den nackten Wänden, an der Wand, dem Eingang gegenüber, ein Podium mit Tischen, Stühlen und einem Pult, war dicht gefüllt. Stuhlreihe stand hinter Stuhlreihe, schwarz besetzt, wie auf einen Zug drehten sich die Gesichter, blasse Scheiben im dunklen Wirbel dem Eingang zu, riesig blähte sich das rote Tuch, das, ein brüllendes Fanal quer und steil über den Köpfen hing. Deutschland! schrie Hinnerk in den Saal, Erwache knallte der Schrei, Hinnerk schnellte hoch, über die Stühle, sprang, ein schwirrender Pfeil über das Getümmel, SA hinter sich, halbrechts durch den Saal nach vorn, turnte über die Reihen, Kopf einer zuckenden Schlange, vor deren schneller, zupackender Bewegung der dumpfe Körper der Masse in erschreckter Krümmung wich. Dicht am Podium stürzte er, von einem Tisch in schneller Wendung springend, breitbeinig mit gespreizten Armen auf geräumten Platz, der sich stauenden SA die Stellung und die Richtung weisend, sah kurz sich um, die Mannen sich gruppieren, dann verbeugte er sich lächelnd vor der aufgesprungenen Menge, zuckte bedauernd die Achseln, wies höflich auf das Podium, die Männer dort an ihre Pflicht, an ihr Vorhaben zu erinnern.

Langsam legte sich der Tumult, blieb als zitternde Erregung, als gefährliche Spannung, den letzten Winkel des Saales mit Bereitschaft zu füllen. Die Lampen strahlten ihren grellen Schein über die Menge, färbten die Gesichter gelb und grün, Ive musterte ihre Anordnung und schien zufrieden. Auf dem Podium löste sich ein Mann von den Tischen, sprang hinter das Pult und rüttelte die Glocke. Er hub zu reden an, langsam, laut und ruhig, eröffnete die Versammlung, begrüßte die Anwesenden, mit Betonung alle Anwesenden, er vertraue auf den aufgeklärten proletarischen Sinn, der Wahres und Falsches, proletarisches Wollen und kapitalistische Verführung wohl zu unterscheiden wisse, Genosse Melzer habe das Wort. Genosse Melzer, ein noch junger Mensch, hemdsärmelig, robust, mit niederer durchgearbeiteter Stirn, hinter der man die Gedanken sich finden und zuspitzen zu sehen vermeinte, stellte sich neben das Pult, dicht an den Rand des Podiums, gerade über die Köpfe der SA. Genossen, sagte er, wartete, bis alles ruhig war, musterte die Ecken des Raumes, von denen her sich unmerklich eine Garde junger Arbeiter vorschob, griff mit weiter, umfassender Bewegung in den Saal hinein, gleichsam alle Kräfte auf sich konzentrierend, lächelte und beugte sich vor. Er begann zu sprechen vom entscheidenden Kampf des Proletariats, der nun in das letzte Stadium getreten sei, ein Stadium, welches sich schon dadurch ankündige, daß die Bourgeoisie der ganzen Welt sich ihre Hilfstruppen sammele, wo sie diese auch finde. Die SA sah aufmerksam auf den Sprecher. Der hob nur zuweilen ein wenig die Stimme, was er sagte, war einfach und bewegte sich um eine klare Linie, die selber nicht berührt wurde. In diesem Augenblick, sagte Genosse Melker, sei die ganze Anstrengung der kapitalistischen Welt darauf gerichtet, Verwirrung in die Reihen des Proletariates zu tragen, zu teilen, um weiterhin herrschen zu können, mit dem kurzfristigen Endziel, nachdem die Errungenschaften des organisierten Arbeitertums durch den Verrat der Führer schon sich als Errungenschaften gegen das Arbeitertum erwiesen hätten, die nackte Klassenherrschaft noch einmal, und diesmal für immer, zu errichten, das Proletariat mit dem Vorgeben, eine Krise überwinden zu müssen, durch brutalste Lohnsenkung, durch künstliche Vergrößerung der industriellen Reservearmee mit der Faust an der Gurgel in einem solchen Grad der Verelendung zu halten, daß aus der revolutionären Masse eine Armee halb verhungerter Sklaven werde, die, unfähig, sich dem Klassenstaate entgegenzustellen, dahinvegetiere wie eine fügsame Herde Vieh, um auf ewig das Zu schaffen, wovon die anderen leben. Zu diesem Bemühen, sagte Genosse Melzer, habe der Kapitalismus Söldlinge selbst in den Reihen des Proletariats gefunden. Die SA stand, hinter Hinnerk, in stummer Erwartung. Die Augen des ganzen Saales waren, wie von einem geheimen Band gezogen, auf die braunen Männer gerichtet, jeder Atemzug des tödlichen Schweigens in der Pause zwischen zwei Sätzen wehte gegen die Gruppe kalten, unerbittlichen Haß. Genosse Melzer sprach vom russischen Beispiel, vom Beispiel eines Volkes, einer Nation, die unter der roten Fahne der Weltrevolution mit der Befreiung des Proletariates auch die eigene Befreiung vollzogen habe. Nur durch die soziale Revolution, schrie der Genosse Melzer plötzlich in den Saal, ist eine nationale Befreiung möglich! Bravo! knallte Hinnerk ihm ins Gesicht. Mit einem Ruck sprang die Menge auf. Von den Ecken her drängte es vor. Nur die internationale Solidarität der Arbeiterklasse, deren Herz und Kopf Moskau ist, sagte Genosse Melzer lächelnd und mit fast leiser, jedes Wort akzentuierender Stimme, garantiert die soziale Revolution. Die Menge lachte befreit, sie platzte brausend los, steigerte sich in schallenden Beifall, in Getrampel und gellende Zwischenrufe. Die SA rückte zusammen, die Hände sanken vom Koppelschloß. Ive sah gespannt auf Hinnerk, der winkte lachend zum Genossen Melzer hinauf. Die Revolution wird eine marxistische Revolution sein, sagte Genosse Melzer, oder sie wird überhaupt nicht sein! Marx hat gesagt, schrie er in den Saal ...Haben Sie Marx überhaupt gelesen? gellte Hinnerks Stimme zu ihm empor. Genosse Melzer stutzte. Allerdings! rief er Hinnerk ins Gesicht. Haben Sie alle vier Bände vom Kapital gelesen? fragte Hinnerk ungläubig. Allerdings! zischte Genosse Melzer ihm vorgebeugt zu. Er hat nur drei geschrieben, stellte Hinnerk fest. Die SA brüllte in Gelächter los. Die Männer, mit weitgeöffneten Mündern schlugen sich auf die Schenkel, lachten aus voller Kraft in den Saal hinein, lachten gegen die schweigende, finstere Mauer an, gegen die drohenden, bestürzten Mienen. Nun hatte sich die junge Garde bis zu den vordersten Reihen hindurchgedrängt. Mit der Kritik der politischen Ökonomie, sagte Genosse Melzer achselzuckend, sind's vier. Die Glocke schrillte, Hinnerk winkte seinen Männern zu, sie schwiegen. Genosse Melzer fuhr ruhig fort, er sprach schneller, von Zeit zu Zeit zuckte sein Blick über die ersten Reihen, zwischen denen die jungen Burschen mit verkniffenen Gesichtern standen. Hinnerk sah auf die Uhr. Genossen, steigerte der Genosse Melzer seine Stimme: Der Kapitalismus schaufelt sich sein eigenes Grab. Nach unabänderlichen, nach ehernen Gesetzen läuft er mit Volldampf in seinen eigenen Untergang. Aber schon rüsten sich die Aasgeier und die Hyänen, sich seines Kadavers zu bemächtigen, euch, Genossen, um das Ziel eurer Sehnsucht, eures verzweifelten Kampfes, eurer heroischen Aufopferung zu berauben! Traut ihnen nicht, den Wölfen im – braunen – Schafspelz ... ein Ruck ging durch die Reihen, die Augen krallten sich ineinander... Traut ihnen nicht, die in alle Winde schreien, sie seien die Retter, sie sind aber die Verräter... ein Stöhnen schnob zitternd durch die eiskalte, nadelspitze Luft... Und eure Parole sei... für immer und jetzt... Schlagt die Faschisten tot, wo ihr sie trefft! – Auf! brüllte Hinnerk. Mit einem Satz flog er vor, sein Arm pfiff hoch, ein Stuhlbein wirbelte, krachend stürzte ein Tisch, aus allen Kehlen peitschte der Schrei, dann waren sie aneinander. Ive rannte vor, den Kopf in den Schultern gebeugt, einen Arm über den Kopf gewinkelt, ein Hieb sauste auf seinen Arm, die Faust schnellte vor, traf in einen weichen Bauch, es klatschte ihm von unten her ans Kinn, ein Stuhl kollerte ihm zwischen die Beine, er griff zu, packte, riß hoch, der Student klammerte sich an die Lehne, sie zerrten mit starkem Ruck, das Holz knirschte und brach, Ive schwang den eckigen Knüppel, kreiste ihn über dem Kopf und ließ ihn knallend auf eine Mütze niedersausen. Das Podium schien geräumt, SA sprang von den Brettern. In zwei Reihen arbeiteten sich die Männer vor, den Saal in seiner ganzen Breite teilend, die erste Reihe mit schmalen Zwischenräumen, in welche die Männer des zweiten Gliedes einsprangen. Von außen flogen Steine gegen die Fensterscheiben, klirrend splitterte das Glas zu Boden. Hinnerk sprang zurück, er beugte den Oberkörper nach hinten, schleuderte einen Stuhl, der, sich überschlagend, hoch durch die Luft flog, gegen die große Lampe in der Mitte des Saales, die mit dumpfem Knall zersprang; das Licht erlosch, die Splitter regneten auf das kämpfende Gewirr. In immer neuen Anstürmen schwemmte es sich vom Eingang her. Blind schlug Ive um sich, die Schreie verstummten, keuchend fuhren sich die Gestalten an den Hals, rangen, tobten, stolperten, kollerten, hin- und hergeworfen von wütenden Tritten. Ein Schuß peitschte die Luft, und noch einer, einen Augenblick lösten sich die Schatten voneinander, langgezogen flog ein Stöhnen ins Dunkel, dann prallten sie wieder aufeinander los, über zerrümmerte Möbel, über gefallene Leiber, mit einer einzigen, wahnsinnigen Anstrengung, den kaum sichtbaren Gegner zurückzudrängen. Leer gähnte der schwarze Raum hinter den Reihen der SA, dehnte sich langsam, schwer legte sich dort der heiße Staub. Plötzlich löste sich der Knäuel, eilige Schritte trampelten, die Tür krachte zu. Schwer atmend standen die Männer und lauschten. Was ist los? rief Hinnerk und: Licht! Taschenlaternen blitzten auf, die Strahlenkegel suchten. Unter den umgestürzten Tischen regte es sich. Der Student, rief einer. Da lag der Student, um ihn blinkerte Blut. Verbandzeug her! Was ist los? Brustschuß, sagte einer, und wischte sich das blutige Gesicht. Der Student bewegte schwach die Hand, wand sich ächzend unter den eiligen Händen, die ihm weiße Streifen Stoffes um die Brust zu winden versuchten. Lärm an der Tür, sie öffnete sich, die Strahlen aller Lampen richteten sich gegen sie. Ein Gendarm stand in der Tür, den Säbel eng an den Körper gepreßt. Er hob die Hand. Er sagte mit brüchiger Stimme: Die Versammlung ist aufgelöst! Die Taschenlaternen fuhren herum. Quer über dem Podium stand in ihrem Scheine groß das schwarze Hakenkreuz im weißen Feld auf dem riesigen roten Tuch.

In der Nacht nach dem Wahltag rief Ive Dr. Schaffer an. Er habe, sagte er lachend, soeben Herrn Salamander getroffen. Herr Salamander, ein Herr aus dem Schafferschen Kreise, schien sehr eilig, so, als brenne es ihn, schnell weiterzukommen. Er wolle seinen Koffer packen, sagte Herr Salamander, und nach Paris abfahren. Denn wenn er sich vorstelle, daß – nach dem Wahlergebnis – jeder sechste Mensch, dem er auf der Straße begegne, ihn, bei seinem prononziert jüdischen Aussehen, sofort totzuschlagen als einzigen Wunsch verspüre, so bleibe kein Mittel, als aus diesem unerträglichen Zustand zu fliehen, eine Grenze zu legen zwischen sich und einem Lande, in dem solches möglich sei. Ob Dr. Schaffer, fragte Ive, auch schon seinen Koffer packe? Dr. Schaffer lachte, nein, er packe nicht, und er gedenke das auch nicht zu tun. Sieh einer an, sagte er, auf einmal erkennt unser Freund Salamander den Wert von Grenzen. Wissen Sie was, sagte er, kommen Sie doch zu mir, wir können diese aufgeregte Nacht im Gespräch beenden. Ive sagte zu. Zwischen ihm und Schaffer hatte sich ein Verhältnis ergeben, das dem einer vorsichtigen Freundschaft nicht unähnlich war. Bei vollkommener Aufrichtigkeit der beiden Seiten blieb ein Rest von Fremdheit, ein Abstand, der nur mit dem Schmerz einer letzthin schamlosen Preisgabe hätte übersprungen werden können, und der gerade darum ihren Beziehungen den besonderen Reiz vermittelte. Ive, der für sich selbst nur ein sehr beschränktes Maß von Anteilnahme aufbringen zu können vermeinte, war allem Persönlichen nur schwer zugänglich. Er hatte immer nur als unmittelbar verpflichtende Bindung zwischen sich und anderen die Kameradie gekannt, selbst im Falle Claus Heim gründete sie sich nicht so sehr auf Zuneigung, als auf die Gemeinsamkeit des Einsatzes. Aber gerade Kameradie schien zwischen Ive und Schaffer unmöglich, und Ive wußte, daß dies nahezu vollständig an ihm selber lag. Eben dort, wo sich ihre Gegensätzlichkeit in der Anerkenntnis einer gemeinsamen Wertschätzung wesentlicher Dinge aufzulösen anschickte, fühlte er sich versucht, sie im Gegenteil zuzuspitzen. Dabei drängte er nicht auf ihre Entladung. Er ließ sich allein durch die Betrachtungsweise Schaffers verleiten, Positionen zu verteidigen, die gar nicht seine eigenen Positionen waren; er neigte dazu, dem anderen gewissermaßen die Berechtigung seiner Ansichten zu bestreiten, wenn er ihre Richtigkeit auch anerkannte. So verteidigte er einmal besinnungslos den Kaiser gegenüber Schaffer, der eine verletzende, im Kern richtige, Bemerkung über ihn gemacht hatte, ohne selbst auch nur im geringsten anderer Meinung zu sein als jener. Und so empfand er es fast als eine Anmaßung, daß Schaffer ein so starkes und inniges Verhältnis zur deutschen Kunst besaß, obgleich Ive ohne weiteres zugeben mußte, daß dieses Verhältnis bei jenem ganz sicher durch Wissen und Suchen stärker fundiert war als bei ihm selber. Und Schaffer duldete das ruhig, so daß Ive oft von ihm ging, im Bewußtsein, ein schlechter Kerl zu sein, der aber nicht zweifeln konnte, recht zu haben, indes Schaffer offensichtlich ihn für einen guten Kerl hielt, der im Unrecht ist. Dennoch suchte er oft Schaffers Gesellschaft, ihn zog vornehmlich der zähe Ernst an, mit dem jener jede seiner Handlungen, mochten sie auch noch so überraschend getönt sein, von überzeugenden Gründen herleitete. In der Tat entsprang selbst das Johannismännchen, Ive erfuhr es später, einem gründlichen und schwer durchgeführten denkerischen Akt, in dem gehaltvolle Untersuchungen über Volksmythen, Kinderseelen und künstlerische Schaffensvorgänge gewichtige Etappen bildeten, was freilich den Homunkulus nicht zu einem weniger läppischen Dasein verhelfen konnte. Ive fand Dr. Schaffer an seinem Schreibtisch, vor einer Sammlung alter Stiche. Wir wollen doch nicht, sagte er, die Blätter sorglich in ihre Mappe schiebend, der allgemeinen Hysterie verfallen. Sollte diese Wahl, sagte er, wirklich ein geschichtliches Ereignis sein, so bleibt es doch eines von höchst fragwürdiger Art. Täuschen Sie sich nicht, sagte Ive, selbst angenommen, die Bewegung zerplatze einmal unter der Wucht der getäuschten Erwartung, so ist eines doch sicher, was aus ihren Trümmern sich wiederum bildet, mag sein wie es wolle, eines wird es nicht sein; etwas, das schon einmal gewesen! Warum, fragte Schaff er, erwähnen Sie selbst die Annahme, diese Bewegung würde einmal zerplatzen? Ive grübelte und sagte: Es ist begreiflich, daß Sie – als Jude – sich gegen die Bewegung stemmen müssen; was hindert mich aber, mich ihr vorbehaltlos anzuschließen? Sie mögen wohl unruhig sein, wenn Sie es auch nicht zugeben wollen, aber um wieviel mehr muß ich unruhig sein, da ich sehe, daß die Bewegung alles das, was ich als richtig, als notwendig, als echt empfinde, alles, wofür ich gekämpft, nun in ihren schnellen Explosionen verschleudert und das Ziel, das ein glühender Traum ist, nun nicht in Wirklichkeit verwandelt, sondern in hohle und platte Formel verfälscht? Da ich sehe, daß sie, mag sie in sich auch noch alle Möglichkeiten bergen, einen Weg geht, mit dessen Marksteinen ich um keinen Preis die Zukunft gezeichnet sehen möchte? Da ich sehe, wie alle Werte, zu denen ich mich bekenne, nun von ihr, oder denen, die sie zu repräsentieren sich zur lauten Aufgabe gemacht haben, unerträglich um ihren tieferen, verpflichtenden Sinn gebracht werden, verfälscht werden, versimpelt, Werte, in deren Schatten es sich einzig zu leben verlohnt, zum Beispiel dem der Nation? – Dr. Schaffer sagte: Ich gebe Ihnen zu, daß ich unruhig bin, aber wer sagt Ihnen, daß ich dies als Jude bin? Wer sagt Ihnen, daß ich es nicht bin um der Werte willen, in deren Schatten es sich einzig zu leben verlohnt, zum Beispiel dem der Nation? Verstehen Sie mich recht, sagte er schnell, ich bin Jude gewesen, ich bin Deutscher heute, und ich bin es sicherlich nicht in jener platten liberalen Art, die Nationen wechselt, um besser existieren zu können, und diesen nützlichen Wechsel zum Anlaß eines bekömmlichen Prinzipes wählt, eines Prinzipes, das alle Nationen wenn nicht als gleichartig, so doch als gleichberechtigt hinstellt, also als auswechselbar, und so das Prinzip der Nation in seiner verfälschenden Anerkennung zugleich aufhebt. Wenn ich Jude gewesen bin, und heute Deutscher, so bin ich dies um des Prinzipes der Nation willen, das heißt, weil ich nur im verpflichtenden Bereiche der Nation zu leben vermag. – Was, fragte Ive, was verstehen Sie unter Nation? – Dr. Schaff er sah ihn schräge an. Ich vermag, sagte er schwer, die Nation nicht anders zu begreifen, als den Kraft und Form gewordenen Herrschaftswillen eines Volkes. – Ich vermag, sagte Ive, die Nation überhaupt nicht zu begreifen. Sie ist da und fordert, ein zwingender Anruf des Blutes. – Des Geistes, sagte Schaffer. Wenn es sich alleine um die Rasse handelte, so wäre die Entscheidung leicht. Ich bin nicht so unklug, Rasse als Wert zu leugnen, gerade, weil ich vom Judentum herkomme, kann ich das nicht, ohne mich tun meinen Standpunkt zu betrügen. Aber Rasse ist in der Frage der Nation nur eine zusätzliche Gewißheit. – Wenn das Klassenbewußtsein, sagte Ive, die soziale Revolution schafft, mit dem Ziel, die Klasse zur Herrschaft zu bringen, soll das Rassenbewußtsein nicht die nationale Revolution zu schaffen vermögen? – Mit dem Ziel, die Rasse zur Herrschaft zu bringen? Aber die soziale Revolution beseitigt die Klassen durch die Herrschaft der einen. Das ist ihr Ziel. Soll die nationale die anderen Rassen beseitigen? fragte Schaffer und fügte hinzu: Dies wäre eine letzte Konsequenz. Ich habe viel übrig für letzte Konsequenzen. Aber ich habe nicht die Zeit, auf einen deutschen Dschingis Khan zu warten. Sie wie ich sind verantwortlich für das, was zu geschehen hat. Und nur Ideen schaffen die Revolution. – Die Revolution schafft die Ideen, sagte Ive, der Krieg ist der Vater aller Dinge, der Bürgerkrieg die Mutter. Ich habe nicht die Zeit, auf Ideen zu warten. Gedanken mögen auf Taubenfüßen wandeln, aber es ist notwendig, den Käfig zu zertrümmern, um sie fliegen zu lassen. Schaffer sah Ive vorsichtig an. Zertrümmern, das ist ein Ausweg, sagte er, und einer, der sich leicht bietet; denn er schafft zugleich Vergnügen. Ich bin so weit nicht mehr Jude, daß ich diese schmerzliche Lust einfach als Gojim Naches bezeichnen könnte. Ich sehe wohl den Sinn der Zerstörung ein, nicht aber, jetzt und in diesem Augenblick, ihre rechnerische Notwendigkeit. – Verlangen auch Sie, fragte Ive, die einundfünfzigprozentige Gewißheit des Gelingens? – Die hundertprozentige, sagte Schaffer. Denn mit dem Risiko der Revolution hebt sie sich zugleich als gewalttätiger Akt selber auf. Glauben Sie nicht, daß ich den Terror als Mittel unbedingt ablehne. Er erleichtert die Aufgabe, und ich vermag nicht abzusehen, wie sich meine ganz persönliche revolutionäre Devise: „Schluß mit der Arterienverkalkung als einzigen Befähigungsnachweis“ einfacher und schneller und sicherer erfüllen könnte, als durch den Terror. Aber das Mittel ist noch nicht der Zweck, der Terror ist noch nicht die Revolution, die Folge noch nicht die Voraussetzung. Revolution ist geistige Verwandlung, dies vor allem. Ohne die Ideen, die vor 1789 in den Salons des französischen Adels diskutiert wurden, kein Sturm auf die Bastille, ohne Mirabeau kein Robespierre, ohne Marx kein Lenin. Die Revolution ist mit ihrem geistigen Zentrum da, der Kristallisation der Verwandlung, die sich durch die Verkündigung der Ideen, durch die neue Setzung, autorisiert. Dies Zentrum allein vermag das Maß der Zerstörung zu bestimmen, das zur Erreichung des Zieles notwendig ist. – Es ist die Frage, sagte Ive, ob wir den Ehrgeiz haben müssen, die erste hygienisch einwandfreie Revolution der Weltgeschichte hinzustellen. Es ist die Frage, ob sie sich, um das Elementarische gebracht, nicht um ihren eigenen Sinn betrügt. Beweisen Sie einem Gefangenen die rechnerische Unmöglichkeit, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Er wird nicht aufhören, an seinen Gitterstäben zu rütteln. Ich weiß, man kann nicht mit Spazierstöcken gegen Tanks anrennen. Aber wenn wir nicht jetzt und immer den Mut haben, mit Spazierstöcken gegen Tanks anzurennen, nicht bereit dazu sind in jedem Augenblick, so haben wir freilich nicht das Recht, von Revolution zu reden. – Wir haben nicht das Recht, von Revolution zu reden, also wollen wir es auch lassen, sagte Schaffer. Alle Welt gibt sich revolutionär. Seit ich erfahren habe, daß es selbst einen Bund revolutionärer Pazifisten gibt, vermeide ich es, mich als Revolutionär zu bezeichnen; ich würde mich sonst in zu peinlicher Gesellschaft befinden. – Das heißt ja wohl, um ästhetischer Gründe willen den Kopf in den Sand stecken, sagte Ive lachend, im Dritten Reiche... Im Dritten Reiche werden wir beide uns wohl auf demselben Sandhaufen wiederfinden, sagte Schaffer. Ive zuckte die Achseln. Möglich, sagte er. Doch scheint mir das kein Grund, um den Kerkern der Bourgeoisie zu entfliehen, sich's in ihren Erkern gemütlich zu machen. Sie wie ich sind verantwortlich für das, was zu geschehen hat. Wie genügen Sie Ihrer Verantwortlichkeit? – Ich bin Deutscher um des Prinzipes der Nation willen, sagte Schaffer langsam. Dies stellt mich vor die Verantwortung. Und ich genüge ihr, indem ich mich bemühe, die einzige Aufgabe, wenn Sie wollen, die einzige revolutionäre Aufgabe, zu erfüllen, die es heute nur geben kann: Mitzuwirken an der Bildung einer geistigen Elite, die aus der völligen Planlosigkeit der deutschen Lage herausführt. – Die Nation als Herrschaftswille des Volkes, so hieß es doch wohl, sagte Ive. Dann können wir es schon bei der parlamentarischen Demokratie bewenden sein lassen. Warum gehen Sie nicht in den Reichstag, Herr? – Schaffer lehnte sich zurück. Er schloß die Augen. Ive sah ihm voll in das bleiche gelbliche Gesicht, mit der von dicken, starken, schwarzen Haaren umsäumten knochigen Stirn, der scharfen Nase, dem breitlippigess Mund, dem von bläulichen Schatten umspielten, etwas fliehenden Kinn. Er sieht doch sehr jüdisch aus, dachte er und hatte plötzlich ein unbehagliches Mitleid, eines von jener Art, das er um keinen Preis und von niemanden sich selber angetragen wissen wollte. Schaffer sagte leise: So kommen wir nicht weiter. Letzten Endes ist die einzige Ebene, auf der sich Menschen begegnen können, die des Bekenntnisses. Und selbst da... jeder hat seine eigene Art des Bekenntnisses. Jeder hat seinen eigenen Weg zum objektiven Sinn, zur absoluten Wahrheit. Ihr Bekenntnis stammt aus starkem Gefühl. Aber glauben Sie nicht, daß das meine, eine Folge gedanklicher Unruhe, aufrichtigen Suchens, weniger glühend ist, weniger heftig, weniger unterworfen einer strengen Forderung, weniger Verpflichtung kennt. – Stellen Sie sich selbst die Frage, sagte Ive, ob Sie nicht mehr das Prinzip der Nation lieben, als die Nation! – Schaffer sagte: Ich glaube an das Prinzip der Nation, also muß ich die Nation lieben. Die Nation, die noch gar nicht da ist, die es erst zu schaffen gilt. Ich befinde mich, sagte er, in der seltsamen Lage, Ihnen gegenüber den Nationalsozialismus verteidigen zu müssen. Allein durch sein Vorhandensein hat er gezwungen, die Nation, wenn nicht als Prinzip, so doch als Wirklichkeit anzuerkennen. Die Verfälschung liegt allein in der Übertönung der Tatsache, daß sie erst eine zu schaffende Wirklichkeit ist. Das ist es, was mich beunruhigt: Die Verschleierung der Erkenntnis, daß wir vor einem Beginn stehen, vor einem unerhörten, zugleich weltgültigen Anfang. Der Nationalsozialismus träumt von einem Dritten Reich, und so kann es ihm unbenommen bleiben, wie etwa bei den verschiedenen Internationalen, jede Zwischenstufe zweckentsprechend mit Reich 4 a und 5 b zu bezeichnen. Er hob die Hand. Lassen Sie mich weitersprechen, sagte er. Er sagte: Sie wissen, daß der Konvertit immer die religiöse Frage schärfer stellt, als der im Glauben Aufgewachsene. Ich bin nationaler Konvertit. Ich habe versucht, als Jude glauben zu können. Ich habe den schmerzhaften Weg durch das Dickicht gewagt, wagen müssen. Die Menschen der Grenze sehen nicht halb, sondern doppelt, stereoskopisch sozusagen. Sie können niemals der Entscheidung ausweichen, ohne sich im nationalen Sinne aufzugeben. Es ist eine geistige Entscheidung. ich habe mich entschieden. Ich stelle die Frage schärfer, weil ich sie schärfer sehe. Mein Weg ist privat, ich weiß, aber der Aspekt ist nicht privat. Ich habe mich für das Deutschtum entschieden. Warum? Ich liebe die französische Literatur, den englischen Machtwillen, die russische Weite, die chinesische Ethik, die deutsche Tiefe, i sagt man ja wohl in diesem Fall, ich liebe das S alles als Erscheinung; aber die Erfüllung sehe ich im Deutschtum. Den Sinn der Welt sehe ich hier, nachdem ich ihn, sagte er gequält, im Judentum nicht gefunden habe. Wenn der Nationalsozialismus konsequent wäre, sagte Schaffer, dann müßte er die Nation als eine jüdische Erfindung brandmarken. Moses war der erste Nationalist, und im deutschen Strafgesetzbuch finden sich die zehn Gebote wieder. Nicht billiger Triumph läßt mich dies so zugespitzt sagen. Doch bestehen bleibt, daß die erste Manifestation des Judentumes, die des Stammes Israel am Berge Sinai, bereits in sich alle Elemente der Nation enthält, bereits sich darstellt als Summe der Erfahrungen eines Volkes aus Rasse und Geschichte, seinen ganzen Ausdruckswillen umschließt, seine Kultur, und darüber hinaus jenes eigentlich nationsbildende Element, den Herrschafts- i willen, der im Bewußtsein einmaliger Besonderheit nach Gott greift, nach einem einzigen Gott, nach dem Gott, der dies Volk auserwählt sein läßt, zu herrschen, um in seinem Namen erlösen zu können. Das Bündnis eines Volkes mit Gott, das macht es zur Nation.      

Das Bündnis und sein Gesetz:

Und jetzt, hört ihr gehorsam auf meine Stimme

und wahrt ihr meinen Bund

dann seid ihr mir

aus allen Völkern ein Sonderschatz.

Denn mein ist die ganze Erde.

Ihr aber

sollt mir sein

ein Reich von Priestern,

ein heiliger Stamm.

Schaffer erhob sich und ging hin und her. Zweitausend und abermals zweitausend Jahre lang! sagte er. Man sollte den Plattköpfen das Wort Nation aus ihren frechen Mäulern reißen. – Man sollte! sagte Ive, wer gibt Ihnen das Recht zu dieser Formel; und welche Sirenenstimme hat Sie aus dem Bunde gelockt? – Antisemit? fragte Schaffer. Ive sagte: Der Jude ist heute der sichtbarste Verteidiger auf der liberalen Bastion. Ich bekämpfe ihn, weil ich die Bastion gestürmt wissen will. – Tatsächlich, sagte Schaff er, ist der liberale Jude der gefährlichste Feind des Judentumes selber. Sie wie ich haben das Recht, ihn zu bekämpfen, solange das Judentum nicht bereit ist, ihn in seinen verpflichtenden Bereich zurückzupfeifen. Und das ist es, was mich am Judentum verzweifeln ließ: Daß es in seinem Herrschaftswillen brüchig geworden ist; daß es sich einschmiegt, wo es unter allen Umständen widerstehen sollte, im Geistigen; daß es seine Stunde nicht erkennt, nicht aufsteht, noch einmal zu zeugen, noch einmal das Gesetz zu schleudern; daß es seine Kraft zerbrechen läßt, nachdem es seine Form zerbrechen ließ. Dies und vieles andere. Ich bin nicht leichtfertig herausgesprungen; ich weiß, was sich heute im Judentum begibt, und vornehmlich im deutschen Räume, dessen Luft nicht die Erstarrung im Gesetz wie im Osten, nicht die Verbreitung des Gesetzes, wie im Westen, begünstigt hat. Ich weiß von den Zeichen und Wundern, von Herzl und Buber; ich weiß, daß der berauschende Strom, der nach Gestaltung verlangt, heute auch das Judentum durchflutet. Aber ich weiß auch, daß das Gefäß zerbrochen ist, die geistige Form, die Theokratie; ich weiß auch, daß die Voraussetzung einer Neubildung nicht da ist – noch nicht wieder da ist: der unbefangene, tiefe Glaube aus dem Wurzelgrund der Seele heraus; ich weiß auch, daß alles, was sich das Judentum national erringen muß, im besten Falle geboten wird, erbettelt und nicht erobert. Ich bin herausgesprungen, weil ich nicht mehr glauben kann. Weil ich die organische Gemeinschaft nicht mehr finde. Die Propheten schweigen mir nun, wenn Goethe redet. Ich kann mich nicht freuen darüber, ich kann es nicht beklagen; es ist so. Viertausend Jahre! In nochmals tausend Jahren vielleicht! Wer glauben kann, soll verharren, soll in sich die Renaissance leben, von der er träumt. Jetzt und heute ist die Stunde des Deutschtums. Was ich im Judentum, in der Tradition meines Volkes an geistigen Gütern gesucht, fand ich im Deutschtum voller und lebendiger – und jünger – wieder. Schaffer sagte: Freilich vermochte ich das nicht aus der Perspektive eines Morgenblattes. Sondern in der Verpflichtung zu einer Gegenwart, die als Schnittpunkt der Geschichte zugleich ihren Kern enthüllt. Schon in der ersten Regung eines Volkes liegt seine Bestimmung; es kann sie anerkennen oder verwerfen, es wird eine Geschichte haben oder wechselnde Existenzbedingungen. Verzichten wir doch endlich auf die altbackenen Begriffe, die seit der französischen Revolution die Köpfe verwirren und jedem europäischen Völkerkraal erlauben, „nationale Belange“ anzumelden, ohne der Welt auch nur eine einzige bindende Idee geschenkt zu haben. Als Nation legitimiert sich ein Volk, wenn es seine universale Verantwortlichkeit proklamiert. Eine kontinuierliche Verantwortlichkeit, die sich in den heroischen Gestalten der Geschichte erfüllt. Krieg, Mord, Pest und Höllenbrand hat es zu allen Zeiten und in allen Völkern gegeben; dies aber ist das Kriterium der heroischen Gestalt: daß sie einer Aufgabe genügt, die im Wesen der Nation beschlossen liegt, selbst wenn das Volk von ihr nichts weiß. Jeanne d'Arc ist die französische Nationalheilige und Heldin; denn sie handelte lange vor dem Akt der Nationswerdung ihres Volkes in der französischen Revolution bereits in deren Auftrag. In einem göttlichen Auftrag, gewiß; sie verwirklichte das Wort von der allerchristlichsten Tochter der Kirche, und die Kirche hat nicht anders gekonnt, denn sie als Heilige anzuerkennen, und sie hat damit den Nationsanspruch ihrer allerchristlichsten Tochter anerkannt. So, wie sie jeden Nationsanspruch anerkennen kann und muß, wenn er sich christlich orientiert. So, wie sie den deutschen anerkannte, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Aber das ist es eben: hier war die universale Verantwortlichkeit nicht vom deutschen Volk gesetzt, sondern von der Kirche: Die Nation als Mittler, nicht als Erfüller. Wo sie erfüllen wollte, stand sie im Protest. Und in ihrem heftigsten Protest, in der Reformation, dem bislang nationalsten Akt der deutschen Geschichte, griff sie die Grundlagen der Kirche an, die Grundlagen des Heiligen Römischen Reiches um der deutschen Nation willen. Und es ist mir ein Zeichen, daß in diesem Augenblick auch die tiefste Verknüpfung geschah mit dem Volk, das als einziges sich in unerbittlicher Ausschließlichkeit seinen nationalen Anspruch rein bewahrte: mit dem jüdischen. Durch die Bibelübersetzung. Durch die Hereinnahme des einzigen universalen Dokumentes der Welt in das eigene Kulturgut, ein bewußter Akt, die eigene universale Verantwortlichkeit gegenüber dem Anspruch der Kirche festzustellen. Nichts ist natürlicher, als daß dieser Vorgang nur für den deutschen Kulturkreis seine tiefere Bedeutung bewahren konnte, die religiöse. Daß alle Völker, die in den Wirbel dieses Aktes gerissen wurden, vornehmlich andere als religiöse Konsequenzen zogen. Daß Gustav Adolf in Deutschland kämpfte und fiel; daß Cromwell in puritanischem Gebot der Verkündigung des Evangeliums sofort an die imperiale Ausweitung der Macht gehen mußte, die überall dort ihre Grenzen fand, wo die Kirche ihren politischen Raum bereits gewonnen hatte; daß die Verkündigung der Menschenrechte, die letzte gewaltige Missionsidee einer Nation, die ganze Stoßkraft des französischen Volkes zuerst gegen das Römische Reich Deutscher Nation richtete und es in Trümmern schlug, aber niemals aufhörte, niemals aufhören durfte, sie gegen das Deutschtum zu richten – und in den Kirchen Frankreichs hängt überall die Trikolore mit einem goldenen Kreuz auf dem weißen Grunde. Jede Nation reicht so weit, wie ihre Kraft reicht. Wie denn, gründet das faschistische Italien nicht seinen Anspruch darauf, Erbe des Römerreiches zu sein, so mithin heute Verwalterin des Lateinertumes der Welt, und morgen der stolzeste Sohn der Kirche? Und ist die Weltrevolution nicht die Missionsidee des russischen Volkes, und hat es nicht seine Irredentenarmeen in jedem Lande der Welt? Das Prinzip der Nation ist immer das gleiche, nur die Nationen sind verschieden; sie unterliegen, Teil eines Ganzen, den Abläufen, die das Leben diktiert, sie werden und wachsen, unterworfen ewigen Weltgesetzen, raffen auf und strahlen aus und geben weiter, verwandeln und verwirklichen und vergehen und unauslöschlich ist die Spur ihres Geistes. Wenn die Zeiten schwanger gehen, erwartet die Welt die Geburt einer neuen Idee. Heute geht die Zeit schwanger; die Welt wartet. Es gibt nur eine Idee, die geboren werden kann, die berufen ist, neu zu ordnen, dem kommenden Jahrhundert, vielleicht dem kommenden Jahrtausend das Gesicht zu geben. Und es wird eine deutsche Idee sein. Schaffer sagte: Es ist mir ein Zeichen, daß sich heute überall im deutschen Bereiche die Seelenwende anzeigt, und nur im deutschen. Inder und Chinesen kämpfen um ihre nationale Befreiung. Und was proklamieren sie als Ziel? Was bedeuten die Thesen Sun Yat Sens, des indischen Kongresses? Wovon träumt Gandhi, wovon spricht der chinesische Student? Selbstbestimmungsrecht der Völker, Neuordnung im Sinne der westlichen Demokratie. Von einem neuen Lebensgefühl sprechen die Russen und verweisen auf den gewaltigen, berauschenden, das Antlitz eines Erdteiles verwandelnden ökonomischen Plan. Die völlige Verlagerung des entscheidenden Wertakzentes allein auf die ökonomische Basis, das mag dem Russen wohl den Anbruch eines neuen Zeitalters bedeuten. Aber Amerika hat diese Verlagerung schon längst vollzogen und zappelt in den Rädern seines Mechanismus, indes der gleiche Ehrgeiz, der diesen Mechanismus geschaffen, die Sowjets ihr Land in ein Paradies von Eisen und Beton, von Trekkern und Bohrtürmen verwandeln läßt, und ihre Menschen in amerikanische Menschen. Dies ist mir ein Zeichen, daß heute zum ersten Male wir Deutsche den französischen Anspruch, an der Spitze der zivilisierten Nationen zu marschieren, nicht mehr bestreiten, sondern bestreiten: die Zivilisation als erlösende Kraft! Daß wir, das höchst industrialisierte Volk der Erde, im Besitze der größten Anzahl technischer Erfindungen, begonnen haben, die Grundlagen dieser Entwicklung anzugreifen, den Geist kehren gegen eine seiner Formen. Dies ist nur ein Zeichen, daß wir gegen den Nutzen zu denken wagen, zu suchen nach anderen Wertgesetzen, das technische Denken zu substituieren durch metaphysisches Denken, die geistigen Energien zu richten auf den seelischen Bereich. Überall in der Welt wird um die Lösung gegrübelt; aber wenn irgendwo, dann steht in uns die Gewißheit, daß keine Lösung genügen kann, es sei denn, sie komme aus diesem Bereich. Wenn irgendwo, dann ist es möglich in uns, die Kämpfe der Erde auszutragen, den Schmerz des Schlachtfeldes zu spüren, jene Läuterung zu erfahren, die allein berechtigt, für die Welt das Wort zu ergreifen. Es ist kein Zufall, daß die Krise des Kapitalismus eklatant wurde durch das deutsche Gewicht; daß sich nur in der deutschen soziologischen Schichtung ein Zeitalter von vier Jahrhunderten liquidiert, nur im deutschen Bewußtsein die Geschichte des Abendlandes sich anzeigt als ein einziger Akt der Vorbereitung. Es ist kein Zufall, daß keiner unter uns, wenn er gegen sich selber verantwortlich handeln will, sich dem Zwang entziehen kann, universal verantwortlich zu handeln, daß für uns die Freiwilligkeit des Handelns aufgehoben ist, die Berufung nicht als Chance kommt, sondern als Gebot. Die Welt ist in Unruhe, sie wartet. Die Welt ist offen für uns, seien wir offen für die Welt. Schaffer schwieg, er sah Ive nicht an. Und Ive sah ihn nicht an. Ive durfte nicht an der Aufrichtigkeit des Bekenntnisses zweifeln, aber gerade diese verleitete ihn zu der Annahme, daß die confessio ohne eigentlichen Schwerpunkt sei, oder wenigstens ohne Gefühl für einen Schwerpunkt. Er sagte: Seien wir offen für die Welt. Kann das etwas anderes bedeuten als: Lassen wir die deutsche Frage offen? Er zögerte und sagte: Was uns auch gesetzt sein mag, notwendig ist, daß wir erst einmal um unsere Existenz kämpfen. Schaffer sagte: Notwendig, ist, daß wir vorerst einmal zu einem Bewußtsein gelangen, durch das sich unsere Existenz rechtfertigt. Offen für die Welt zu sein, das heißt, die deutsche Frage um ihretwillen zu lösen. Ich könnte mich nicht als Deutscher bekennen, wenn ich es anders sähe. Und wir lösen die deutsche Frage in diesem Sinne, alle Anzeichen deuten darauf hin. Lassen Sie es mich sagen, – durch den deutschen Sozialismus. Durch einen metaphysischen Sozialismus also, der nicht wie der russische nur einen Teil der Wirklichkeit umgreift und den Menschen in diesen Teil zwingt, sondern die ganze Wirklichkeit, und Gott als die höchste Realität in ihr; und diese höchste Realität dokumentiert sich durch ein Gesetz, das vor allem erst einmal vom Menschen das unbedingte Verhalten zum Menschen verlangt, durch eine ethische Forderung also, die einzige, die das Judentum immer an die Umwelt erhob, die einzige, die das deutsche Volk als einziges heute erheben kann. – Ive sagte: Ich wußte es. Und hier liegt der Irrtum. Ich befinde mich in der sonderbaren Lage, Ihnen gegenüber den Nationalsozialismus verteidigen zu müssen. Allein durch sein Vorhandensein hat er gezwungen, einen deutschen Sozialismus, wenn nicht als Prinzip, so doch als Möglichkeit anzuerkennen. Die Verfälschung liegt allein in der Obertönung der Tatsache, daß dies kein Sozialismus ist. Das ist es, was mich beunruhigt: Die Verschleierung der Erkenntnis, daß jede Form der Angleichung, – und jeder Sozialismus, mag er gebaut sein, wie er will, muß, auf den Menschen angewendet, eine solche Form zum Prinzip erheben, – dem deutschen Ausdrucksgehalt widerspricht. In der Tat konnte die Bewegung in ihrer Propaganda mit ihrer Parole des nationalen Sozialismus, ob sie ernst gemeint war, oder nicht, ob sie sich nach den Gelegenheiten wandelte oder nicht, fast überall werbende Wirkung haben. Selbst wo der Besitz in Frage steht, und gerade dort, schreckt die Parole nicht; nicht im Groß- und nicht im Kleinbürgertum, im Beamtenmittelstand nicht und nicht im Unternehmertum, selbst in der Großindustrie nicht; denn auch im Falle der radikalsten Verwirklichung der Parole wird, wie die Dinge heute liegen, und wie sie morgen noch eindeutiger liegen werden, lediglich ein de facto Zustand in einen Zustand de jure verwandelt. Jeder Besitz ist ja schon längst bankrott. Wie kommt es aber, daß die Bewegung n gezwungen ist, gezwungen, um Erfolg zu haben, auch nur jede Andeutung von Sozialismus zu vermeiden dort, wo, wenn auch der reine Besitzzustand genau der gleiche ist, die, wenn auch nicht heftigste und glühendste, so doch natürlichste Bindung zur Nation besteht, auf dem Lande, im Bauerntum? Weil diese natürlichste Bindung wesentlich nicht geistiger Art ist. Weil sie keiner ethischen Forderung bedarf, um das zu sein, was sie ist. Krieg, Mord und Höllenbrand hat es zu allen Zeiten und bei allen Völkern gegeben; letztlich aber handelte es sich immer um das Land. An den Grenzen entflammt sich, was ein Volk zum Einsatz zwingt, und an den Veränderungen der Grenzen läßt sich der geschichtliche Ablauf lesen. Warum ist das Judentum seit der Zerstörung Jerusalems immer nur Objekt der Geschichte gewesen? Und warum drängt der Zionismus, der Beginn der jüdischen Renaissance, nach Palästina, nach dem Land, das dem Judentum ein Heiliges Land ist, seit Moses, dem ersten Nationalisten, ein Land der Verheißung, Kanaan? Die Geschichte des Judentumes seit der Zerstreuung ist eine geistige Geschichte, gewiß, und es ist nur eine geistige Geschichte, und es ist im Grunde immer dieselbe geistige Geschichte, die der Bewahrung seiner geistigen Substanz. In der Tat, das Judentum hat in sich alle Elemente der Nation ausgebildet, – außer einem. Im Judentum ist die gesamte Erfahrungssumme in positivem Sinne der Nation dienlich, Glaube, Rasse, Geschichte und Kultur, von der Offenbarung der Auserwähltheit bis zur Missionsidee der Erlösung der Welt durch eine ethische Forderung, vom Kampf um eine Ordnung bis zu ihrer Legitimierung durch das verwandelnde, in sich aber unwandelbare Gesetz. So stark ist die jüdische Nationsidee, daß sie bis zu ihrer äußersten Gefährdung durch den Liberalismus sogar auf eine Staatsbildung verzichten konnte. Und sie mußte auf die Staatsbildung verzichten, weil das jüdische Volk kein Land besitzt. Diese eine Tatsache aber bestimmt. Was dem Volk als solchem geschah, geschah ihm sicher nicht von ungefähr, und es geschah ihm aus Quellen, die ihm nicht erreichbar waren. Wenn es eine ethische Forderung gibt, die das Judentum an die Welt zu erheben legitimiert ist, dann ist es die der Gerechtigkeit. Es ist eine alttestamentarische Forderung, ich weiß, erhoben schon, als das Judentum nicht nur fordern, sondern auch gewähren konnte. Gott als höchste Realität hat sie gesetzt, diesem Volke und keinem anderen. Diesem Volke und keinem anderen auch die Auserwähltheit, sie zu verwirklichen. Ich weiß nicht, wie das Judentum seine Zerstreuung begreift, als Strafe oder als Probe. Aber ich weiß, daß einzig durch die Zerstreuung die jüdische Missionsidee ihr furchtbares Gewicht erhält. Und dies, dies ist die wahnwitzige Verführung, der das deutsche Volk heute Zu unterliegen droht: in seiner verzweifelten Lage, an Land beschnitten, in der Existenz gefährdet, und überall, nur nicht in seinem Kern besiegt, die Forderung nach Gerechtigkeit zu erheben! Eine Verführung, denn diese Forderung ist für uns nicht zwingend. Gerade diese, die vom Menschen das unbedingte Verhalten zum Menschen verlangt, ist es für uns nie gewesen. Wenn sich das Judentum zu entschuldigen vermag, dem Rattenfängerruf der Menschenrechte im Liberalismus gefolgt zu sein, da die Verkündung dem eigenen Ruf so ähnlich sah, wie aber können wir uns entschuldigen? Wenn das Judentum der Gefahr einer Täuschung unterlag, die das menschliche Recht setzte, statt das göttliche, das es suchte, um wieviel größer ist die Gefahr für uns, die wir nicht in der Setzung, sondern im Wesen angegriffen sind? Wenn wir einmal wagen, nicht nach Ideen zu forschen, sondern nach dem Geschehenen, nicht nach den Zielen, sondern nach den Wegen, nicht nach den Abstraktionen endlich, sondern also nach dem Ur- und Eigentümlichen, so war es deutlich genug nie auf Gleichung, sondern immer auf Gliederung bedacht. So stark ist diese Kraft, daß sich selbst der Protestantismus, eine religiöse Form der Demokratie, in die politische Form eines evangelischen Kaisertumes setzte. Das kann uns freilich ein Zeichen sein, daß selbst im weitesten öffentlichen Bewußtsein unsere gesamte Geschichte nur als Vorbereitung gewertet wird; letzten Endes hat sich an Gewolltem auf die Dauer nichts erfüllt. In der ständigen Hoffnung liegt zugleich die ständige Gefahr, und je größer die Kraft eines Glaubens, um so größer auch seine Verführung. Was wir auch immer angenommen haben, haben wir in unserem besonderen Sinne angenommen. Gerade dort, wo wir in fremden Zungen reden, in angenommenen Begriffen, sind wir unverständlich. Nicht daß wir anders sind, sondern daß wir anders sind und trotzdem sein wollen wie die anderen, das, scheint mir, macht uns unbegreiflich, schlimmer noch, gibt uns den Anschein der Unaufrichtigkeit. Wir balgen uns um einen Sozialismus, der im Effekt als Sozialismus nirgends mehr begriffen wird. Wir nennen uns Nation und erkennen ihre kontinuierliche Verantwortlichkeit nicht an, 186 indem wir Verträge nicht achten, die, wenn auch unter veränderten Umständen und von verschwundenen Regierungen, so doch immerhin im Namen der Nation unterzeichnet worden sind. Wir preisen uns im Zeitalter des Liberalismus, nehmen seine Formen an, suchen seine Verfassungen, und sind – wer zweifelt heute noch daran? – unfähig, unter diesem Zeichen zu jener Ausgeglichenheit zu gelangen, die das französische Volk in vollkommenster Natürlichkeit auf einem schönen und erstrebten Durchschnitt zivilisatorischen Niveaus erreichte. Von diesem Niveau aus und heute für heute gesehen ist freilich unsere gesamte Wertsetzung eine Barbarei, unsere Literatur eine Kakographie, unsere Disziplin mit dem Bild des vor einem Vorgesetzten die Hacken zusammenschlagenden Rekruten ein Greuel, das Gespräch, das wir beide eben führen, der Gipfel der Narrheit, und alles, was sich auch laut oder leise anmeldet, Zeichen des Chaos, des abendländischen Unterganges. Ich finde, damit können wir schon zufrieden sein, wenn wir nur den Mut haben, die Folgerungen daraus zu ziehen. Wir eifern gegen die Verfälschung durch den Westen, durch Rom, durch den Osten, und wahrhaftig, sie muß tief genug in uns selber sitzen, da alles, was wir zu sagen imstande sind, Räsonnement bleibt, unsere Polemik in jedem Falle eine Polemik ist gegen uns selbst. Wir kehren gegen die weltwirtschaftliche Verflechtung, durch die wir bankrott geworden sind, und wir wollen uns nicht kehren gegen die weltgeistige Verflechtung – durch die wir geistig bankrott geworden sind, trotzdem uns auf allen Wegen die dünnflüssigen Produkte der allgemeinen literarischen Diarrhöe als prima Kulturgut angepriesen werden? Wir können keine Politik treiben, weil wir keine Nation sind, und wir sind keine Nation, weil wir ihre Voraussetzungen noch nicht besitzen; eine dieser Voraussetzungen, jetzt und heute die -wichtigste, ist die Integrität des Landes. Des Landes, des greifbaren, festen Bodens, Herr Dr. Schaffer, zu dem Sie wie ich die unmittelbare Beziehung verloren haben, eine Beziehung, die alle Welt bei denen, die sie noch besitzen, nicht ohne Erfolg hinweg zu kommerzialisieren sich bemüht, eine Beziehung, die wahrhaftig mehr in sich an Konsequenzen nationaler, metaphysischer und ethischer Art enthält, als wir zu ahnen vermögen, wir, die wir auf dem Asphalt leben, wir, deren Liebe zur Natur praktisch angewandt höchstens zu dem unzulänglichen Versuch gedeihen kann, einen Ochsen zu melken. Bevor die Integrität dieses Landes nicht erreicht ist, gesichert für alle Zeiten und mit was für Mitteln auch immer, kann jeder Versuch, eine universale Verantwortlichkeit zu proklamieren, nichts weiter bedeuten, als transzendentale Unzucht treiben. Wie die deutsche Geschichte in Zukunft aussehen wird, das weiß ich nicht; aber das weiß ich, daß wir nicht eine Sekunde ruhen dürfen, daß wir alles daransetzen müssen, um als Volk überhaupt wieder in die Geschichte eintreten zu können. Es ist das Land, das uns dies diktiert, das mit unerfüllter Geschichte beladene Land, es ist die latente, noch nicht erschöpfte Kraft des Landes, die uns treibt. Deutsche können nicht in der Zerstreuung leben, und wo Deutsche in der Zerstreuung leben, blieb jeder Versuch, über eine Wahrung des Eigenlebens zu einer Eigenmächtigkeit zu gelangen, im Ansatz stecken. Ein geistiges Jerusalem mochte für das Judentum genügen; ein geistiges Deutschland genügt für das Deutschtum nicht. Der kräftigste deutsche Stamm außerhalb der Grenzen, der der Balten, zerbrach in seiner Herrschaft nach siebenhundert Jahren, als das Deutsche Reich in seiner Herrschaft zerbrach. Und die Balten gründeten ihre Herrschaft auf den Besitz an Land, wie es überall die Deutschen in fremden Ländern auf das Land treibt, und wo sie in Städten siedeln, verloren sie die Herrschaft schneller, gründlicher, gaben sich schneller und gründlicher in den Dienst fremden Volkstumes ab. Bismarck wußte, warum er zum Kanzleramt Ar und Halm verlangte. Und wir, die wir Ar und Halm nicht besitzen, nie besitzen werden, die wir in der Zerstreuung der Städte leben – soll uns in Gottes oder in des Teufels Namen nicht daraus noch eine stärkere Verpflichtung zum Lande erwachsen? Unterliegt der Jude in der Fremde, der Katholik der Diaspora nicht dem heftigeren Zwang zur geistigen Verankerung? Und wir in den Städten also dem Zwang zur Verankerung, zur geistigen, meinethalben, zur seelischen, zur sittlichen im Land? Nicht das Verhältnis vom Menschen zum Menschen kann uns entscheidend sein, sondern jenes, das er sich selber setzt, zum Lande, zu der Gemeinschaft, die an das Land und durch das Land gebunden ist, gleich nur, in welcher Art. Das ist die einzige Forderung, die uns unter allen Umständen gültig sein kann, wenn wir von der Nation reden. Eine deutsche Forderung, und keine jüdische. Ive hob die Hand. Lassen Sie mich weitersprechen, sagte er. Ob ich Antisemit bin oder nicht, tut hier nichts zur Sache. Tatsächlich ist der Antisemitismus immer nur eine Angelegenheit sekundären Ranges, und der Umstand, daß er stets von beiden beteiligten Parteien als ein Problem der anderen betrachtet, der Verantwortlichkeit der anderen zugeschoben wird, Laßt wohl den Schluß zu, daß er gar kein Problem ist, sondern eine nicht immer eindeutige Erscheinung, die einzuordnen, oder mit der fertig zu werden, der Weisheit der staatlichen Führung überlassen bleiben muß. Es erscheint mir ziemlich unnützlich, nachdem es eine Zeitlang Gewohnheit war, einander als Juden zu verdächtigen, nun einander als rechten Nazi zu beschimpfen. Es lenkt dies heitere Spiel nur ab. Und müßig ist letzten Endes auch die Frage, ob ein sommersprossiger pommerscher Inspektorsohn, biologisch gesehen oder nicht, einen größeren Wert besitzt für die Nation, als ein deutscher Jude von hohem geistigen Rang. Die Nation setzt Werte, gewiß, aber wie kann man Funktionen vergleichen? Ob einer seine Funktion gut oder schlecht erfüllt, das entscheidet seinen Wert. Wenn ich sagte: eine jüdische Forderung, so ist das natürlich ein Werturteil. Sie begriffen es so, und ich habe es so gemeint. Entscheidend ist, daß die Funktionen erfüllt werden nach den Werten, welche die Nation setzt. Jüdische Forderung, das will besagen: Sie kann als primäres Gebot niemals gültig sein; sie kann unsere Lebensordnung, und ihr Gefüge, den Staat, niemals bestimmen und nicht bestimmenden geistigen Inhalt des Staates, das Gesetz. Das Judentum hat die Konsequenz daraus gezogen, daß es kein Territorium besitzt; es konnte auf den Staat verzichten und mußte sich wenden: gegen die Gewalt. Wir aber besitzen Territorium und können auf den Staat nicht verzichten, und nicht auf die Staatsgewalt und unter keinen Umständen bleibt der deutsche Herrschaftswillen, in welche Kraft und in welche Form und in welche Richtung er sich auch bringen mag, nur auf das geistige beschränkt. Das ist so, und wir wollen es nicht ändern. Wenn sich für uns eine universale Verantwortlichkeit ergibt, so dürfen wir sie nicht antreten, sobald sie als erstes ein Aufgeben unserer eigentlichen Kraft verlangt. Wir können diese Verantwortlichkeit nur von uns aus stellen, und nur aus unserer Fülle heraus, nicht aus einem mehr oder weniger freiwilligen Mangel. Denn dies hieße doch, aus einer guten Not eine schlechte Tugend machen. Wenn wir uns auf unseren Gehalt an extremen Möglichkeiten prüfen, so steht an beiden Polen immer die Macht. Unsere Lebensgrundlage ist das Land, also kann unsere Universalität sich nicht anders als imperialistisch verwirklichen. Warum sollen wir uns scheuen, auszusprechen, was jedermann uns vorwirft? Völker machen ihren Anfang mit der heroischen Epoche, die höchste, die sie erreichen können. Sie enden mit der Abstraktion einer Weltweisheit. Wenn wir jetzt und heute an einen deutschen Anfang glauben, so wollen wir denn unbekümmert handeln. Wie sich unser Tun rechtfertigt, das wollen wir dem Leben überlassen, nicht der Reflexion über das Leben. Ive schwieg. Schaffer in seiner Ecke rührte sich nicht. Sie sahen aneinander vorbei. Schaffer erhob sich und füllte den leeren Raum, für Ive Tee einschenkend, mit großer Herzlichkeit. Als Ive im Morgengrauen das Haus verließ, legte Schaffer ihm, ihn die Treppe herunter begleitend, den Arm auf die Schulter. Was ist deutsch? fragte er und gab ihm die Hand zum Abschied. Und fragte noch einmal: Was ist deutsch?

*

Der Kampf um Neumünster endete mit dem fast vollständigen Siege der Bauern. Die Stadt, vornehmlich unter dem Drucke der Gastwirte und Gewerbetreibenden, nahm die bäuerlichen Bedingungen an, die Fahne wurde zurückgegeben, – in feierlichem Akt – , der Polizeimeister pensioniert und Verhandlungen wegen der Rentenzahlungen an die verletzten Bauern angeknüpft. Der Bürgermeister, von seiner Stadt und nicht zuletzt auch von seiner Partei im Stich gelassen, wegen der Scherereien, die sein streng aufrechtes Verhalten verursachte, bei vorgesetzten und untergebenen Behörden unbeliebt, zog die Konsequenzen und trat von seinem Posten zurück. Der Sieg löste bei den Bauern keine unziemliche Freude aus. Nicht, daß er etwa zu teuer erkauft gewesen wäre, im Gegenteil; aber mit dem Nachgeben der Stadt fehlte es den Bauern an ihrem bildhaften Ziel. Es konnte nicht ausbleiben, daß die Provinz, im wesentlichen hart und geschlossen verharrend, der wütenden, mit Fahnen, Uniformen und Aufmärschen, mit rauhen und deutlichen Worten und von jedem einzelnen ein hohes Maß von persönlichem Einsatz, persönlicher Arbeit im Dienste der Partei fordernden suggestiven Wirkung der nationalsozialistischen Werbung unterlag. Ive hielt es für notwendig, sich gegen diese Wirkung Zu wehren; die Bauern hatten dasselbe Interesse, wie die Nationalsozialisten, das System zu stürzen, aber Ive wollte sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß es über kurz oder lang doch für das Landvolk unabänderlich notwendig sein mußte, sich gegen den Nationalsozialismus zu richten, und er vermochte nicht einzusehen, welcher Vorteil für die Bauern darin liegen konnte, statt gegen ein weiches gegen ein voraussichtlich hartes System kämpfen zu müssen. Zwar erwartete er vom stärkeren Widerstand auch einen stärkeren Auftrieb, aber das Ganze war letzten Endes eine Frage des Zeitverlustes, und gerade den Zeitverlust konnte die Bewegung nur schwer ertragen. Es mußte also, und das war eine bittere Erkenntnis, ein Mittel gefunden werden, ein Weg, der sich nicht nur gegen das System, auch gegen die Bewegung richtete, die sich als der stärkste Gegner des Systems erwies. Nach einem Gegengewicht suchte Ive, und er tat dies ungern; er spürte wohl, daß, sobald es sich nicht mehr um die Kraft der bäuerlichen Bewegung allein handelte, und sich auf sie allein zu verlassen war, wie die Dinge nun lagen, nahezu unmöglich geworden, fast mit Sicherheit auf die falsche Karte gesetzt wurde, – und Ive, gewohnt, in Zeichen Zu denken, fand sich unter dem lähmenden Druck einer schwankenden Sicherheit des Sieges. Das verminderte auch den Eifer, mit dem er in der Stadt die Verhandlungen führte, zumal er, wohin er auch kam, nichts zu bieten, immer nur zu appellieren hatte. Er stieß nirgends auf Bereitwilligkeit, und es konnte ihn nicht trösten, daß es den bäuerlichen Führern, in das südliche, westliche und mittlere Deutschland gesandt, beim Landvolk selbst ganz ähnlich erging. Überall gab es offene Ohren, aber diese Ohren waren auch auf andere, und immer wieder andere Geräusche abgestimmt, unter denen die Stimme der Vernunft, also die der völligen Ratlosigkeit, ihren hervorragenden Platz einnahm. So glitschte Ive bei seiner Tätigkeit wie durch Seifenschaum, der Boden, auf dem er ging, die Hände, die er drückte, die Worte, die er hörte, waren weich und unverbindlich. Wo er nicht auf einen mit dem Efeu schöner Phrasen bewachsenen Baum im Urwald der nackten Interessen stieß, verfitzte er sich im üppigen Dickicht gehaltvoller und haltloser Gespräche, im geistigen Unterholz des steinernen Forstes. Selbst auf dem dürrsten Boden wucherten die Ideen, lockten mit seltsamen Blüten, die mit ihrem betäubenden Geruch die Wege füllten, ach einen buntfarbigen Kranz zu winden, der zuletzt doch zu nichts anderem nutze war, als ihn auf dem Grabe einer Hoffnung niederzulegen. Das Klima der Stadt schien einer tollen und großartigen Fruchtbarkeit günstig, unvermutet formulierten sich Gedanken, entfalteten im ersten Anlauf eine Kraft, die eine Welt aus den Angeln heben zu können schien, und dann vor der Aufgabe erlahmte, den Pfropfen aus einer Flasche zu ziehen. Die einfache Erkenntnis, daß die Welt nicht schlecht sei, sondern voll, berechtigte zu den schönsten Hoffnungen, schleuderte aus sich eine unübersehbare Fülle von Konsequenzen, von denen jede einzelne folgerecht weitergeführt, zu der unbezweifelbaren Tatsache gelangte, daß die Welt nicht schlecht ist, sondern voll. Ive verirrte sich in diesem Zaubergarten, in den er doch nur widerstrebend hineingegangen war; er verirrte sich in seinem Widerstreben. Er sah so viel Ernst am Werke, so viel heilige Zuversicht, daß er nicht zu denken wagte, die ganze ringende Bemühung sei an nichts gesetzt; er verfiel den gerunzelten Stirnen und den Behauptungen, die wahr oder falsch sein konnten, es war nicht zu kontrollieren, und es kam ja für ihre Durchschlagskraft nicht so sehr darauf an, waren sie nur kühn, – und sie waren kühn. Nur, daß sie zu nichts verpflichteten, daß aus ihnen keine Tugenden abzuleiten waren, daß sie aus sich keine besonderen Gesetze entließen, die eine ganz bestimmte und unerschütterliche Haltung verlangten, verlieh ihnen eine sehr unfüllige Wirkung; waren auch manche Ideen strenge in sich, so zeigten sie doch Toleranz gegenüber dem, der sich zu ihnen bekannte, man konnte Kommunist mit Bankkonto sein, und als Jude oder Schupoleutnant sich zum Nationalsozialismus schlagen; da die Ideen sich selbst zu genügen schienen, kam es auf die Positionen nicht so sehr an. Es kam überhaupt auf alles nicht so sehr an, Ive spürte es an sich selbst. Er, der wie fast alle, mit denen er nun lebte, zu einer festen Ordnung drängte, zu einer immer mehr geschlossenen Ordnung, die jeden einzelnen an seinen Platz bannte, entschied sich das größte Maß persönlicher Freiheit; da er nur in Alternativen denken konnte, bekannte er sich zur Kehrseite dessen, was er ersehnte, nur, weil ihm das Ersehnte noch in keiner Form annehmbar war. Er konnte sich nicht bereitfinden, sich einen nützlichen und nahrhaften Beruf zu suchen, – Dr. Schaffer hatte ihm die Hilfe seiner Verbindungen angeboten, – weil er sicher war, ihn nur mit halbem Herzen ausüben zu können; er trat Hinnerks Sturm nicht bei, weil er sich zu sehr Soldat fühlte, um so Soldat zu sein; er schloß sich keiner Partei an, weil er, selbst da die Aussicht bestand, für seine Bauern besser wirken zu können, dort nicht einzig und allein für seine Bauern wirken konnte. So stürzte er, ein unzufriedener Mensch seiner unzufriedenen Zeit, von einer Problematik in die andere, wobei er sich obendrein auch da hüten mußte, aus dieser Problematik ein Problem zu machen. Die völlige Aufsplitterung der allgemeinen Denkrichtung, die Atomisierung des sich täglich vergrößernden Heeres von Menschen, die, aus irgendeiner Sicherheit herausgeschleudert, sich zu Massen ballten, deren Stimmzettel-Gemeinschaft niemanden über den brüchigen Kern täuschen konnte, die Farbe dieses Bildes, ein tödliches, aus dem vibrierenden Wirbel von Schwarz und Weiß entstehendes Grau, das alles ließ Ive das Stadium der Entwicklung immer weiter vor, den Augenblick des großen Aufbruches immer weiter zurück bestimmen. Je mehr er die Fühlung mit den Bauern verlor, desto schwerer war es für ihn, sich nach irgendeiner Richtung hin zu orientieren. Er lebte und handelte in Notbehelfen; und niemals wurde allenthalben mehr von Werten gesprochen, als zu dieser Zeit, in der Oberhaupt keine Werte gültig waren. Weil alles, was ihm begegnete, hunderterlei Deutung zuließ, ließ es überhaupt keine Deutung zu. Er spürte durchaus die Berechtigung des freundlich herablaßenden Vorwurfes, der ihm und seinesgleichen von klugen und nüchternen Leuten mit aufgeklärten Köpfen gemacht wurde: daß es ein Zeichen mangelnder Reife sei, sich aus den Unwägbarkeiten, den Ungreifbarkeiten, nach denen er auf der Suche war, die er, kaum im Glauben, sie gefunden zu haben, schon verwerte, sich ein gültiges und festes Weltbild zu bauen, ein Zeichen sozusagen gehemmter Pubertät. Ive war noch viel strenger gegen sich, verdammte stets von neuem seine ganzen, wütenden und hier und dort unzulänglichen Versuche, zu einer klar und umfassend fundierten Haltung zu gelangen; wobei er nur mit gleicher Heftigkeit den klugen und nüchternen Leuten die Möglichkeit bestritt, ihrerseits um die dürre Achse ihrer Statistiken herum jenes strahlende Gebäude aufzurichten, in dessen Mauern zu leben einzig sinnvoll war. Freilich leugnete niemand den großen, den unendlichen Zusammenhang, und mußte also von jedem Punkte aus möglich sein, zu ihm, zu den Gesetzen der Ganzheit zu gelangen, es handelte sich nur um den Weg, wie überall brüderlich versichert wurde, wo mithin denn jedermann gestattet war, sich im stillen Kämmerlein für den Retter zu halten, im Augenblick der Verkündigung des Anspruches aber dem öffentlichen Gelächter zu verfallen. Gestalten, das war es, schienen nicht mehr ertragen zu werden. Selbst die verachtetsten Epochen der Geschichte waren reicher an Gestalten, als diese, an Männern, um die der Kampf entbrannte, die in sich eine Welt verkörperten, in Nutz- oder Missbrauch, Leuchttürme der geistigen Schiffahrt, eisengepanzerte Brustkästen, in denen das Blut ihrer Zeit tobend verkochte, kalte Hirne, die im tödlichsten Hohne noch wie im furchtbarsten Ernst als Motore der Wirklichkeit, und selbst noch in ihrem Leerlauf, dienten, Gestalten, die nach vollster Kapazität brüllenden Maschinen glichen – aber nun glichen die Maschinen nur sich selbst. Doch im Weltkrieg, durch Maschine und Material zusammengeschmettert, erlebte der Mensch wiederum die große Wende, die brausende Gewißheit einer neuen Bestimmung, so hieß es doch? Und zwölf Jahre nach seinem Ende lebte der Weltkrieg in einer Million Zentner bedruckten Papiers, in Monumenten, errichtet irgendeinem Unbekannten Soldaten, in feierlichen Erklärungen von hundertfünfundzwanzig schwarzberockten Ministerpräsidenten, die niemand ernst nahm, – indes in den Straßen der Städte der brutalste Kleinkampf wütete, ein Kampf von im Grunde Gleichgestimmten, die sich gegenseitig niedermetzelten, und nirgends wurde ein Großer dieser Erde aufs Schafott, vor die. Gewehre geführt: weil es keine Großen dieser Erde gab, um die es sich verlohnte, – wer zweifelt daran? An Gestalten könnte sich pulverisierte Masse dieser Welt entzünden, könnte der Gasdunst, der erstickend über den Ländern lagert, in wilden Explosionen zerknattern und verglühen, an Gestalten, nicht aber an Gespenstern und Masken, die unauffällig durch die Straßen gleiten, Heroen der UFA-Wochenschau und von drei Uhr dreißig bis vier Uhr fünfzehn auf Welle 1634,9. So unwirklich schien Ive seine Umgebung, so unwirklich er sich selbst, daß er sich oftmals, vorm Spiegel stehend, ertappte in einem mitternächtlichen Erstaunen, sich sein Gesicht, seine Glieder befühlte, erschreckt in der Gewißheit, daß er noch wirklich da war, in Fleisch und Muskel, in Knochen und Sehne, in Blut und Hirn, kein Schatten, wenn auch etwas bläulich, kein Gespenst, wenn auch im Gefühl, aufgelöst zu sein. Er erinnerte sich jener Augenblicke an der Front, da nach tagelanger, wochenlanger marternder Vorbereitung plötzlich aus der Leere des Feldes der Gegner sprang, aus den Wolken der Gase, aus den Schatten der zerwühlten Erde der Mensch ins Blickfeld trat, furchtbare Augenblicke, vor denen alle Gegenwart zersprang, reißende Ströme sich im angespannten Körper entfesselten, von den Zehenspitzen bis zu den Haaren die gewaltige Erregung brauste, das Herz gegen seine Wände tobte, bis sich die sengende Erwartung bannte zu steinerner Sicherheit. Einen Abglanz jener Erfahrung suchte er in den Straßen der Stadt. Feindschaft suchte er oder Freundschaft, jedenfalls ein lebendiges Stück Wirklichkeit, an der sich seine zerfledernde Leidenschaft brechen und formen konnte, eine Gestalt inmitten des Karnevalszuges geschäftig lärmender Zeitgenossen, blasser Untergrundbahngesichter, abgestandener Gefühle und fleischloser Gedanken, ein Bild, fesselnd, springend aus dem Grau der Stadt, ein Beispiel, schweigend und fordernd, heroisch verdichtet, sinngebend durch Dasein, – einen Menschen. Schon dünkte ihn dieser Wunsch zu privat, schön fragte er sich, ob er nicht auf der Flucht sei, ob dies nicht Verrat bedeute, nichtbestandene Probe, aber so weit war er, daß er sich vor der Antwort scheute. Wenn er sich bis zum Augenblick seiner Verhaftung zurückdachte, blitzte kein Licht über ein Bild, außer über dem des ehernen Claus Heim im Dämmer der nackten Zelle, und über dem einer am Boden, auf schmutziger, nächtiger Straße liegenden schmalen Gestalt, über der drohend ein Gummiknüppel schwirrte. Ive wußte nicht, wer das Mädchen war, aber Pareigat hatte gesucht und gefunden. Er kam zu Ive, ihm zu sagen, daß er erwartet werde. Das Mädchen, – Ive nannte es Helene, weil er, wie Pareigat sagte, es bald in jedem Weibe sah, – wohnte im Dachstuhlatelier eines schmutzigen Hinterhauses der westlichen Stadt, zusammen mit einem Maler. Helene, nun nahezu dreißig Jahre alt, stammte aus vermögendem Hause. Ihr Vater, ein 198 bekannter Gelehrter, Schüler Haeckels und Freund Ostwalds, starb früh. Die Mutter, der Verwaltung des Erbes nicht gewachsen, rettete nichts als fern der Stadt ein kleines Haus, aus dem Helene, sechzehnjährig, flüchtete. Sie brannte mit einem zwei Jahre älteren jungen Menschen durch, den sie heiratete. Ive sah später mit Rührung eine Aufnahme aus der ersten Lebenszeit Helenens: Sie, etwa zweijährig, hockte, einer beliebten Aufnahmepose für Kinder jener und nicht nur jener Zeit gemäß, auf dem Nachttöpfchen. Aber sie hockte nicht, wie Kinder dieses Alters bei dieser Gelegenheit wohl zu tun pflegen, in lächelnder Sattheit vortäuschend, das bekömmliche Werk zu verrichten, sondern gespannt, vorgebeugt, die junge Stirn zusammengezogen, mit einem gefährlichen, sprungbereiten Ernst, sichtbar entschlossen auch, sich mit der Pose nicht zu begnügen, vielmehr wirklich zu tun, was der Photograph nun doch nicht von ihr zu tun erwartete. Dies Kind duldete keine Täuschung, und so mochte es, hurtig und mit langen Beinen durch den Garten tobend, das Haus erfüllend mit rascher Bewegung und ungeduldigem Schrei, wenn es liebte, wirklich lieben, und wenn es haßte, hassen mit einem letzten, wilden Haß. Die Spanne zwischen Hoffnung und Gefahr, in der sich jedes wahrhaft junge Leben zerrt, drohte hier bei kleinsten Proben schon zu reißen, und liegen alle Möglichkeiten eines Lebens zwischen dem Verbrechen und der Heiligkeit, hier lagen sie nur an den beiden Polen. Da gab es nicht die kleine, heimliche Lust an unschuldsvollen Spielen, an halben Träumen und halben Versuchen, da waren Träume ganze Wirklichkeiten, oder die Wirklichkeit ein ganzer Traum, und hüten und bewahren konnte einzig die völlige Natur. Sicherlich war Helene es, die den Spielgenossen aus der Enge eines Gartens mit sich trieb, den Zögernden mit peitschenden Worten aus seinem Bereiche riß, die volle Kühnheit forderte, da er mit der halben seiner knabenhaften Schwärmereien gaukelte; so wie sie es war, die einem Zustand ein Ende machte in dem Augenblick, da sie erkannte, daß er unhaltbar wurde. Sie erwartete ein Kind von dem Manne, den sie nicht mehr lieben konnte, den sie nicht mehr achten konnte, dem sie sich entfremdet fühlte, nur noch verbunden durch eine Erinnerung, die sie nahm wie sie war und bejahte, aber nicht mehr verbunden durch die heiße Gewalt, die das Kind schuf, das in ihr wuchs, und so trieb sie es ab. Sie gab sich dabei nicht in die Hände eines Arztes, sondern in dunklem und doch bewußtem Drange in die einer jener Frauen, deren Tun, vom hygienischen Zauber sachgemäßer Operation entblößt, die Gewalt des Verbrechens nicht überdeckte, ganz zugewendet der blutigen Gefahr, sich in ihr mehr auszubrennen, als das Kind. Im Zeichen dieses Brandes, sich hingeworfen einer mitleidlosen Anarchie, trieb sie sich weiter, unersättlich prüfend im Genuß, in starkem Wissen, daß die nicht fallen konnte, dies Wissen aber stets von neuem auf seinen Grad an Macht erprobend, befleckt und durch übersteigert harten Schmerz gereinigt; sie wich nicht aus und wollte niemals dulden, daß ausgewichen wurde, im Panzer unzähmbaren Stolzes griff sie zu, zu leben, wo sie unabhängig leben konnte, niemals käuflich also, unbequem in ihrer Forderung, suchend über die Gelegenheit hinaus, durch die Gelegenheit hindurch, in Schmutz und Glanz nicht einen Augenblick vergessend, daß irgendwo heranzwingbar die volle, die einzige, die wirkliche Aufgabe wartete. Sie kam als sie, nach tollem und verrücktem Leben, auf den Maler traf. In einer jener Kneipen, in denen sich Künstler und Literaten treffen, sich von der Höhe ihrer Grade kollegial gemein zu machen, schon durch die Leichtheit ihres Grußes anzudeuten, wie, hockte er, verwahrlost, breit und bäuerlich, das angegraute Haar wirr in der Stirn, die dunklen Augen blinzelnd hinter großer Brille, inmitten der geschmeidigen, behenden, eleganten Schar, ein zerzauster Uhu, belacht, mit leichtem Witz gestoßen, sehr einsam, wie auf einem Ast, der Nacht mehr gehörend als dem Tage. Helene sah ihn und verglich. Er, scheuen Blicks, die Schultern hochgezogen, die Hände ineinander gelegt, in Abwehr und Verlangen ihrer starken Nähe, brach plötzlich durch die eigene Verkrustung. Er stieß mit tollen, groben Anekdoten ins Gespräch, und da er anstieß, gab es hohlen Klang; mit Kraft prallte seine unbeholfene Lustigkeit an die Kette schneller Sätze, blecherner Vorform künftiger Artikel unterm Strich. Was er erzählte, in kräftigem, gerundetem Dialekt, schien ohne Pointe, ohne Witz, man lachte mehr wohl über ihn als über seine Worte, verlegen, und verlogen ihn ermunternd. Helene hörte und verglich. Der Maler, in naiver Freude, sich mehr um seinen eigenen Ausbruch kümmernd als um dessen Echo, deklamierte weiter in die feindliche Luft, einfache Geschichten, die das Bild einer kräftigen Landschaft in sich trugen, gespickt mit überzwerchen, plumpen Wortspielen, derben Situationen, folgte mit schwingendem Vergnügen den Verschrobenheiten, deren Ton alleine schon das brillierende Gespinst der blassen Unterhaltung jäh zerriß. Helene spürte den verwandten Saft, das Gift in diesem Saft; sie selber war mit ihm sofort vom geschwätzigen Hochmut, vom spritzenden Gelächter dieser Leute angegriffen, sie fuhr mit scharfer Klinge in den Hohn, ergriff mit einer Heftigkeit Partei, die keinen Spott mehr wagen ließ. Der Maler kroch ungläubig in sich zusammen, Helene hatte später Mühe, ihn abzusondern, ihn aus dem Gehäuse zu zerren, in dem er sich, erschreckt, ihr alleine ausgeliefert zu sein, verschanzen wollte. Sie zwang ihn zu mehreren Zusammenkünften, zu denen er kam wie ein furchtsamer Schulknabe, endlich zog sie zu ihm in das Atelier. Der Maler stammte aus einem engen Tal des Schwarzwaldes, da, wo das Gebirg noch nicht in seinen dunklen Höhen prunkt, sondern mit steilen Hängen krauser und zerklüfteter Schluchten im breiten Hochland ausholt zum mächtigen Anstieg. Die kleine Stadt, in deren letztem Hause am strudelnden Fluß, schon auf halber Höhe der Bergnase, er geboren wurde, sammelte in ihren schmalen Gassen den Abschub des Waldes, das, was die letzte Armut des kargen Landes nicht mehr nähren konnte, und das, was sich über sie schon hinauszuschwingen vermochte. So, geklammert an einige Industrie, gebreitet als das Handwerk des ganzen Gaues, gliederte sich die Bevölkerung in stolzer Scheidung, aus rein bäuerlichem Blut gespeist, doch rein städtisch schon in der Lebensform. Die gewachsene und erstarrte Form, die jeder sozialen Umschichtung spotten mußte, krümmte auch, was in der vollen Kraft des noch nahen Erbteiles nach eigenem Wachstum strebend gegen ihre Wände drängte, die Fesseln widerspenstig zu sprengen suchte. Die Abgeschlossenheit des Tales schien mißgünstig dem, der in der Fülle ihrer natürlichen Besonderheiten voll frevelhaften Übermutes kein Genügen fand. So diente die kleine Stadt als ein treffliches Sieb, nur die kräftigsten Naturen konnten sich ihren Maschen entpressen, und verhalfen ihr zu sprödem Ruhm, indes der leichte Überdurchschnitt in originaler Verknorrung im Talboden wurzeln blieb und üppige Zweige breitete. Und jeder Anhauch, der aus der Welt hinter den Bergen stammte, jeder Wille erfuhr im Tal, in 202 der beharrlichen Eigenwilligkeit des Bürgerstandes seine skurrile Veränderung, jede Macht, die über das Hochland griff, mußte sich der Eigenmacht der Lager fügen. Dies war der Boden, einer Kunst wohl immer glücklich, doch keinesfalls dem Künstler, wollte er, auf ihm verharrend, von den dunklen Tannenzweigen Lorbeeren pflücken. Der Junge, in strenger Armut aufgewachsen, sandte seine Träume weit über jene schwarzen, waldbedeckten Wände hinaus, nicht die Hänge und Matten, nicht das Dickicht der wilden Forste, nicht Fluß und Fels reizten ihn zu anderem, als zu ausschweifenden und heimlichen, scheuen und verwegenen Spielen, die freilich schon wie die Landschaft, in der sie sich bewegten, in sich im Grund enthielten, was später durch das Filter eines unbestechlichen künstlerischen Willens sich zu einer neuen Wirklichkeit entfaltete, – Geschichten ferner Kämpfe, blutiger Gefechte, heroischer Aufstände und Massakers, die schrecklichen Leiden der Heiligen in ihren bunten Gewändern, die strotzende Pracht der Königshöfe, die atemraubenden Abenteuer einsamer und edelmütiger Briganten und Landfahrer und endlich Winnetou und Old Shatterhand mit Henrystutzen und Bärentöter entstanden mit spitzen und scharfen Strichen, die später wohl neue Sicherheit erlangen, doch nicht bewegter sein konnten, auf allen Bogen schlechten Papieres. Keine Zierde der Schule verstrickt in ein Gestrüpp leidenschaftlicher Phantasien, blieb er natürlich seiner Umgebung unverständlich. Die seltenen Gelegenheiten, bei denen durch Ventile, die jedem Kinde offenstehen, sich der mit höchsten Spannungen geladene Druck seiner innersten Welt entließ, konnten ihn nur lehren, sich noch fester abzuschließen. So kehrten sich die kochenden Ströme gegen ihn selbst, in wütenden Exzessen, Fleisch, Geist und Seele zugleich bis zur Erschöpfung peinigend. Als Lehrling in die Fabrik geschickt, wo seinem augenfälligen Talent Gelegenheit geboten war, sich an den kunstvollen Formen holder Blümchen und zarter Engelsköpfe auf Email in nahezu vierjähriger Arbeit zu entfalten, als Kunstgewerbeschüler dann, Gipsköpfe und ausgestopfte Kakadus von vierunddreißig verschiedenen Seiten zeichnend, von den Kameraden gehänselt und gehöhnt, auf der Kunstakademie endlich, in bitterer Beschränkung seiner eigentlichen Fähigkeiten, die ihn aber doch auf seinen Weg zwang, im Kriege als ganz untauglicher Trainsoldat, seinen Unteroffizieren ständiges Ärgernis, geschah ihm alle wesentliche Ausbildung auf der haarscharfen Schneide zwischen Traum und Wirklichkeit; das gab seinem Strich die ätzende Bitterkeit einer Gott und die Welt angreifenden Pamphletik, seiner Palette, in der das Rot glühenden Metalles dominierte, die grausame Realistik, das gab seiner eigenen Welt, in der jede Unruhe mit unbeschreiblicher Gewalt gegen die dünne, gläserne Wand seines Bewußtseins schlug, die ständige Explosivkraft, die nach außen sich in ekstatischen Stößen gegen jeden Zwang, gegen jede gesellschaftliche Autorität entlud, innen aber den fleischigen Boden der wuchernden Erotik, – die jede Abseitigkeit, zuletzt aber keine endgültige Verirrung gestattete, – zerriß, den Knäuel lebendiger Fasern immer wieder erneut zersprengte zu einem Gewirr toller, düsterer Phantasmagorien, über deren Substanz mit Hilfe keiner psychologischen Methode auszusagen gelingen konnte, denn sie offenbarte sich bereits geläutert durch das Medium der Seele, die Kunst. Nichts war natürlicher als der langanhaltende Ausbruch dieser Kraft, in dem Augenblick, da die Schranken, welche die Umwelt setzte, schwächer wurden. Der Maler, hineingewirbelt in die von revolutionären Stößen erschütterte Stadt, stürzte sich in den Brand, dort, wo er in Stichflammen flackerte. Aber keine Aristokratenköpfe wurden auf Piken durch die Straßen getragen, keine Kapitalistenbäuche schaukelten an unter dem Gewicht geneigten Laternen, das Blut, das in den Gossen floß, war das von Kriegern und Proletariern, und nicht der mächtige Sturmhauch der Freiheit kündete den Anbruch eines neuen Zeitalters, sondern der Gestank des verwesenden Leichnams der noch in der Zersetzung Verderben bringenden Epoche. Vom rasenden Zentrum der Bewegung, dem Terror, allmählich an die Peripherie verschlagen, in den matten Bezirk großmäuligen Bonzentumes, literarischer Barrikadenspiegelfechterei, drängt er in nie Genügen findender Gier zu glühenderer Manifestation seines revolutionären Willens. Aber der wankende Zug der Erniedrigten und Beleidigten war nichts weiter, als Kumpanei im Dreck, schrankenlos allein in der Erbärmlichkeit, ihn betrügend um den heiligen Gehalt der Solidarität, der er diente. Im Dadaismus, der einzigen großen Farce künstlerischer Erhebung, entlud sich für ihn noch einmal der gesammelte Hohn einer unbändigen, bald sich bändigenden Elite vor einem Parkett angenehm gegruselter Bürger, das die Verächtlichmachung des Heeres, nebst sämtlicher heiligster Güter, die schändliche Verkündigung des Maschinenzeitalters in der Kunst durch aufgeklebte Stoffetzen, Zahnbürsten und Hufeisen auf zackig verschmierter Leinwand in schöner Bereitwilligkeit zum Verständnis gerade noch vertrug, um dann bei einer frechen, durch eine Kindertrompete herausgeschmetterten Sentenz des Malers gegen die erhabenste deutsche Gestalt sich wie ein Mann zu erheben und mit dem Rufe: Unser Goethe! entrüstet den Saal zu verlassen. Das Atelier wurde zur Spelunke, Sammelpunkt von Huren und Zuhältern, Verbrechern und Wahnwitzigen, Nachtasyl verfolgter ehrlicher Arbeiter und Terroristen, eine Hölle unter dem riesigen verstaubten Glasdach, über dem grauen Steinklotz voll gedrängter, muffiger Kleinbürgerbetriebsamkeit, und inmitten der Hölle stand der Maler in beharrlicher Arbeit vor der Staffelei, mit peinlicher Genauigkeit, – Verismus, neue Sachlichkeit war schon die nächste Stufe, – haarfein die Farbe setzend, umschwirrt von Zoten und dialektischen Gespinsten, von berauschenden Proklamationen und erpresserischen Drohungen, in der stickigen Ausdünstung von Staub, Schweiß und Kot, hungernd, zerlumpt und von allen Flammen angezehrt. Helene kam, sie sah und griff zu. Sie griff zu, ein Fanal leidenschaftlichen Protestes, stemmte fest die hohen Absätze ihrer schmalen Stiefel auf den vermorschten Grund, und in einem einzigen Wirbel flog die ganze süße Kameradie zum Tempel hinaus. Sie fegte, gellende Furie, durch das weite, plötzlich mit elektrischen Spannungen geladene Gemach, kreischende Weiber füllten zerzausten Haares mit ihrem Gezeter das Treppenhaus, Revolverschüsse knallten, Scherben flogen, die Luft erstarrte unter dem Gesause messerscharfer Beleidigungen, mit grollendem Gepolter, in eisig schweigendem Haß räumten die Männer das ungastlich gewordene Feld. Helene blieb, setzte, den Sieg zu sättigen, alle Reserven ein. Das begann mit Strömen klaren Wassers, von ihr in unzähligen Eimern durch den Raum geschwemmt, mit Schrubben und Fegen, die letzte Spur des Schmutzes zu tilgen, mit Nadel und Zwirn, keinen fehlenden Knopf, keine zerrissene Hose zu dulden, mit Farbtopf und Pinsel, mit Hammer und Nagel, und mit Schriftsätzen und Telefongesprächen, die Storch alle Instanzen hindurch den Einbau eines Wasserklosettes erzwangen. Das hörte nicht eine Sekunde auf. Der Maler verlor sofort auch die Verbindung, die ihm schließlich das Brot gegeben, so sicherte Helene ihm durch ihre Arbeit die Existenz; sie schrieb, übersetzte, filmte, griff jede Möglichkeit mit dem fest zupackenden Stoß ihrer schlanken Hand, sie saß, aufgerichtet und verschlossen, in den Vorzimmern der Redaktionen, drängte sich in den schmalen Gängen der Filmateliers, preisgegeben dem Kreuzfeuer der unverschämten Blicke, unberührt vom wohlwollenden Tätschelgriff der Feuilletongötter, vom träufelnden Speichel der Kitschregisseure. Das Zentrum ihres Denkens, ihres Handelns, ihrer brennenden Sorge, ihres strahlenden Stolzes blieb der sonderbare Mann im Atelier. Der Maler hatte alles versucht, zu widerstehen. In Nächten voll tobender Angst, in Stunden bittersten Zweifels bäumte er sich auf, noch einmal und immer wieder, in maßlosen Ausbrüchen gegen den Zwang, bebend um die fruchtbare Fülle seiner künstlerischen Substanz, dann aber, hingeworfen vor dem festen, dem marternden Willen Helenens, in furchtbarer Gier nach dem unerhörten Geschenk, brach er in sich zusammen, wand sich vor ihrem Schmerz, klammerte sich an den metallen strengen, elfenbeinfarbenen Leib, in wahnwitziger Furcht, das eben wie Gnade vom Himmel gefallene Stück Wesenheit, und damit sich selbst für immer zu verlieren. Helene schonte ihn nicht. Alles, was er bis jetzt gemalt, sei Mist, erklärte sie, führte ihn vor die Bilder, wies nach, hier die Verfälschung durch Mode, dort die Verzerrung durch Doktrin, kratzte unbarmherzig mit schnellen, tödlich verletzenden Worten herunter, was vor ihren Augen nicht bestand, um dann ihm, der hingeschmettert in rasender Verzweiflung schon den eisigen Anhauch des Nichts um die zitternden Glieder spürte, den wunderbaren Mut zu geben, durch eine Geste, durch eine Träne, durch besinnungslose Hingabe, durch schreiende Erfüllung selbst des wüstesten Traumes, daß in ihm sich das Verkrampfte plötzlich löste, die Verstrickung aufflog wie durch Zauberschlag, alle Qual und Finsternis in köstlichen Strömen verbrauste. Nicht einen Augenblick ließ sie ihn außer acht, drei Jahre dauerte der Kampf. Helene, gleichsam den fühlenden Finger auf jedem zuckenden Nerv, gab nach, wo echter Wille nach Erfüllung drängte, hemmte mit würgendem Griff den Strahl, der schmählichen Ausweg suchte, blieb immer der einzige, spitz gegen und für ihn gekehrte Pol. Und es erwies sich, daß der Maler in Schmutz und Verworfenheit, in Wirrsal und Verführung, im Kerne unzerstört geblieben war, daß er in der Stadt sich gleichsam eine Glocke umgestülpt, unter der er mit sich allein und in seinem Reiche gelebt, und daß, sobald die Glocke gehoben wurde, oder zerschellt, der Knabe aus den schwarzen Wäldern sprang, die Arme dehnte und von ach aus wiederum begann. So war es nicht eigentlich eine Heilung, die Helene an ihm vollzog, denn nirgendwo war er krank, nicht eine Veränderung, denn das Wesentliche an ihm blieb unwandelbar; und Helene hatte dies gewußt, und darum hatte sie es wagen können, darum wagte sie es noch, durch völligen Einsatz, in untrennbarer Verknüpfung den zügellosen Geist zu führen, die sprudelnde Kraft zu richten, die Ordnung zu setzen dem unweltlichen Drang. War er als Künstler unbestechlich, so war sie es als Mensch; nun aber, da in kühnen Spiralen sich sein Schaffen befreit schraubte aus dem geheimnisvollen Grund, geschah die letzte Verschmelzung. Helene, um zu zeigen, begann, von ihrem unbedingten Willen befeuert, selbst zu malen , und dies war die Probe: daß sie nicht malte wie er, und er nicht wie sie, daß selbst der Weg anders war bei ihm wie bei ihr, daß er, der plastisch sah, und in Worten nur plastisch wiedergab, im Bilde graphisch setzte, im Aquarell erprobte und bewies, jedoch die heftigen Gesichte in zähe Ölfarbe erst nach einer letzten Sublimierung bannte; während Helene mit unbekümmertem Pinsel breit die Farbe auf die Leinwand strich, mit nie getrügtem Sinn für Mischung, ohne zu verwischen das Gerüst der Zeichnung missen konnte. So war diese Frau diesem Manne alles das zugleich, was eine Frau einem Manne nur sein kann, und sie war es in steter Unermüdlichkeit. Der Maler, nun bald vierzigjährig, erlebte seine Renaissance, jedoch eine, die ihn nicht von Bindungen befreite, sondern ihm die glückliche Entfaltung erst gewährte durch Maß und Richtung, so daß er hoch, doch nicht von seiner Linie gerissen, unbeirrt den Gürtel der Grenzen, der sich wie eine Schicht von Häuten um ihn gelegt hatte, durchbrechen konnte, das ferne Ziel vor Augen, das sein Ziel war und Helenens, und immer näher rückte, immer schärfer sich zum düsteren Vordergrund heranstrahlte; wobei denn jede Etappe ganz 2u durchkosten, mit ihrem peinigenden Zweifel wie mit ihrer Verheißung, erst durch die immer bereite Zweisame Gegenwart nützlich gelang. Als Ive das erstemal das Atelier betrat, fand er Helene, mitten im Zimmer vor der Staffelei sitzend, das Gesicht beschmiert mit Farben, unbeweglich, in einem Zustand starrer, angestrengter Versunkenheit, zwei große Katzen neben sich, indes der Maler, die Rohrfeder in der Hand, über ein großes Blatt gebeugt stand, gehüllt in seinen weißen Mantel, und nichts war zu hören, als das Kratzen der Feder auf dem Papier. Immer, wenn Ive wiederkam, und er kam oft, so oft, daß es offenbar wurde, wie sehr er eines in sich ruhenden Raumes bedürftig war, sah er dies Bild. Zum ersten Male, seit er in der Stadt war, traf er auf Menschen, deren ganzes Leben in Form und Führung sich von einem unsichtbaren Mittelpunkt aus aufbaute, so alles zeitliche Geschehen einbezog in einen Kreis und nur in ihm überwand und alle echte Kraft zu ihrer Geltung brachte. Helene war es, die zu einer dramatischen Geschlossenheit drängte, welche das produktiv füllige Temperament des Malers immer wieder zerriß, in Frage stellte, so daß sich der Kreis durch das innige Wechselspiel stetig erweiterte, von welchem Kampf denn die Bilder an den Wänden des Ateliers, in den Mappen auf dem Tische beredte Kunde gaben. Ive, dessen Leben völlig amusisch verlaufen war – auch in der Musik hatte es bei ihm nur zu einer sehr zufälligen und rein auf das Handwerkliche beschränkten Ausbildung gelangt, in der Literatur mußte er sich begnügen, planlos und begierig aufzusammeln, was ihm die Gelegenheit zutrug; in den Jahren der Entwaldung, die besonders günstig sind, sich einen reichen Fundus an hohen Gütern anzueignen, hatte er und viele seinesgleichen sich in Speck und Dreck herumgeschlagen, sein Glück nicht vor den Bücherschränken, nicht in Theater und Konzerten suchen können – stand im Bewußtsein seines Mangels vor den Bildern. Doch konnte er bei ihrem Anblick nicht schweigen, und es war ihm nur ein Zwang zur Unbefangenheit, wenn er, der sich manchmal natürlicherweise und gedrängt vom Ansturm der Gefühle Zu der kleinen Verlogenheit, in terminis technicis zu reden hinreißen ließ, das schmerzliche Zucken um die Mundwinkel des Malers sah, dessen sich wohl der Jäger nicht enthalten kann, wenn ihm ein harmloser Spaziergänger erzählt, er habe ein Reh mit Geweih am Waldrand grasen gesehen, das bei seinem Anblick eilig weggelaufen war. Tatsächlich spürte Ive, der so spät erst mit dem heiligen Gebiet in innigere Berührung kam, hier mehr den sonderbar verschlungenen Wegen, den inneren Abläufen nach, als daß er sich ganz unmittelbar dem betrachtenden Genuß hingab, war er doch selber auf dem Wege und mußte sich zu allem, was ihm erreichbar dünkte, mühselig vorarbeiten, nur beflügelt durch das Glück, die waltenden Gesetze im Spiel mit seinem Willen tiefer zu erfahren. Es war Ives ungeschultem Auge im Anfang nicht möglich, an den Bildern die zeitliche Verschiedenheit der Entstehung, irgendeinen Weg der Entwicklung festzustellen, überflutet von der Fülle der Eindrücke registrierte er in sich, in voller Naivität auf seinen eigenen Weg beziehend, datierte vor und zurück und erfuhr so die Parallelität des Schicksales, in der sich hier dargestellt, was er selbst nur zu denken wagte. Vor diesen Bildern löste sich seine Scheu vor allem Privaten auf, aus ihnen zog er sich die verdichtete Forderung, daß jeder Mensch Künstler sein sollte, da alles zur schönen Kunst werden konnte, gelang es nur, sich vom Gemeinen zu isolieren, dem „Mittelmäßigkeit zur fertigen Natur geworden war“. Politik als Staatskunst gewann ihm neue Bestätigung mit ihrem riesig gewölbten Bogen der Verpflichtung, der alles in sich einbegreift und mit der Mühsal auch die Kraft ins Unendliche vermehrt. Er erfuhr erneut, und diesmal in sinnlich wahrnehmbaren Gebilden die glückhafte Gewißheit, daß überall die gleichen Gesetze gültig waren, entsprossen dem gleichen unsichtbaren Nährboden, gerichtet vom gleichen wunderbaren Trieb, dem auch die höchste Form fragmentarisch bleiben mußte, das Klassische selbst ein Gipfelabbruch, von Wolke und Sturm geschliffen, ein Denkmal der verwandelnden Natur, in dessen eisigen Schatten zu wohnen der drängende Geist des Menschen nicht lange erträgt, wenngleich es ihm auch widerstreben muß, zu sehen, wie geschäftige Hände sich mühen, der leuchtenden Schönheit Wunden zu schlagen. So mag die höchste Leistung nur dem erreichbar sein, der das glühende Ziel weit über ihr schweben sah, dem gewalttätigen Träumer. Wo Ive Spuren eines solchen Geistes fand, hatte er sich stets verbunden gefühlt. Hier nun, vor dem Werke seines neuen Freundes, wich er anfangs freilich erschreckt zurück. Aber die verlangende Freude, gleichsam in gargekochten Bissen zu sich nehmen zu können, was in roher Gestalt zu schlucken sich vieles in ihm weigerte, trieb ihn bebend wieder vorwärts, und war der Wunsch auch groß, vor Helenens forschender Kontrolle zu bestehen, so war der Trieb doch kräftiger, sich selbst in Widerspenstigkeit zu bereichern, und seine aufnehmende Begeisterung war echt. Ive wußte nichts vom Maler, außer, daß er aktiver Kommunist gewesen war, und er glaubte beim ersten Anblick, einen gutmütig spintisierenden Bohemien zu sehen, dessen unbeholfenes Lächeln zu einiger Rührung reizte, und dem er um alles in der Welt nicht weh tun mochte. Doch das, was er, das Atelier betretend, gefürchtet hatte, nämlich musealer Atmosphäre modernen Staubes ausgeliefert zu sein, konnte nicht einen Augenblick eintreten; beim ersten Hinwenden sah er, wie sehr ihn im Innersten anging, was von den Wänden leuchtete, und als der Maler ihm die Mappen öffnete, die Leinewände von der Galerie herunterholte, als er selber, in häufigen Besuchen, die bald nicht mehr den Charakter von Besuchen hatten, sondern den von Heimkehren, sich immer mehr einlebte in die fremdartige, geheimnisvolle Welt voll aufreizenden Anspruches, blieb er beteiligt bis in den letzten Nerv. In der Tat sonnte es nur verwundern, daß der Aufstand der Dämonen, der jeden Federstrich des Malers bestimmte, tragbar geblieben sein sollte, für die, denen die unterirdischen wie die überirdischen Gewalten längst schon gebändigt und überwunden waren, die das Gebild der Phantasie doch aber akzeptieren zu müssen glaubten, weil es gerade in ihre soziale Tendenz gepaßt. Auf die Unwürde dieser Haltung deutete Helene, den Maler aus seiner ideologischen Fessel zu befreien, und es gelang ihr – nicht so sehr, weil er in seinem Hochmut sich beleidigt sah, sondern weil er die Wurzeln seiner Kunst in diesem Boden schon verdorren spürte; denn das Leben von der Seele trennen heißt es auch scheiden von der Seele höchstem Organ. Der Maler war durch seine Karikaturen bekannt geworden, durch die Absprengsel seines Werkes, die er nur widerwillig preisgab, durch Blätter, die zu verfertigen ihm lästige Fron bedeutete, und die durch ihre unerbittliche Realistik sich ihres Charakters als Karikaturen schon wieder begaben. Ive blieb das Lachen in der Gurgel stecken, als er diese Fratzen sah, Fratzen, denen er doch auf allen Straßen begegnete, die ihm als Autoritäten, als die Gewalthaber der Erde entgegentraten, und die ihm hier nicht in ihren Verzerrungen, sondern in ihren Tugenden angegriffen waren, gleich, in welchen Zauber sie sich auch zu hüllen liebten. Diese Zeichnungen waren unbequem, gerade weil sie nicht Anklage bedeuteten, sondern die substantielle Erkenntnis eines Zustandes. Und darin lag für Ives bohrende Frage das Dämonium des Malers, daß er im Zusammenprall zwischen nackter Gier und gewalttätigem Postulat noch apokalyptische Träume walten sah und so nicht in billige Anarchie auflöste, sondern die Ahnung einer höheren Ordnung Hess, wie denn, wäre es anders, dem Edlen nichts übrig bliebe, als sich schweigend zu erschießen. So konnte den Blättern nicht so sehr Vorwurf und Szene die bannende Härte, die aufsplitternde Wirkung geben, als vielmehr der kalte Niederschlag eines Lebens, das in brutaler Selbstzerfleischung einer Seele, die sich nie genügen konnte, Schlachtfeld war, auf dem Legionen freigelassener Geister miteinander bis zur Vernichtung rangen, von den Wolken gestürzt, aus dem Schlamm gestiegen, die Welt in Schreck und Entsetzen zu jagen, in Trieb und Widertrieb, in Wuchs und Verwesung; Gelächter der Hölle und Posaunenstöße des Himmels, ein Leben in dramatischer Lyrik, die vor den Sieg erst den Untergang setzt und keine Sicherheit gelten läßt, als jene, die dies gestalten konnte. Die wie auf Eis geritzte Darstellung des bethlehemitischen Kindermordes durch die römischen Soldaten des Herodes ließ offensichtlich den Schluß zu, daß es keineswegs wilde Blutgier war, sondern durchaus sachlicher Eifer, der preußische Schupo in den proletarischen Straßen der Stadt Mann, Weib und Kind wie Hasen abschießen ließ; also zeigte sich in der Begrenzung die weite Spanne der menschlichen Möglichkeiten, und der Grad der Betäubung, welcher notwendig scheint, um in den Zangen einer erstarrten Ordnung handeln zu können, indes hinter allen Mauern schon die Dämonen lauern, sich durch die klaffenden Spalten in die dünnluftigen Räume der hohlgewordenen Zucht zu stürzen, der erschreckten Sattheit erste Boten einer Weltenwende. Nichts von jener suspekten Verlogenheit, die den Armen sofort mit der Gloriole eines neuen Helden umgibt, die er gar nicht tragen kann; sondern die nackte Häßlichkeit des Gebrechens mit ihrem vernichtenden Anspruch, die erbärmliche Sucht der Nachäffung des Glanzes, die dürre Hoffnungslosigkeit einer Lage, die in sich keine Spannung mehr aufweist, und die eine Schmach bedeutet für den, der ihr verfällt, und eine Schmach für den, der sie als Erscheinung duldet. Welch ein verhängnisvoller Irrtum, welch ein Irrsinn, hier noch Ordnung zu suchen, hier im Inferno einer aus den Fugen geratenen Zeit, einer Welt, die aus faulem Munde stinkt, mit ihren Geschwüren prunkt, stolz noch auf den Mißbrauch, den sie mit ihren noch gesunden Säften treibt, sie das verwesende Gewebe durchbluten zu lassen, bis auch sie als gelber Eiter die verschorfte Haut durchstoßen, einer Welt des Trottoirs mit ihren raschelnden Huren, die Huren bleiben, und wenn sie sich noch so pompös in bürgerliche Pose setzen, mit ihren Zuhältern des Films, der Presse und der Finanz, mit den Sechsgroschenjungens der Politik, den Rittern des Bridgetourniers, den Helden der American-Bar, den Arschpaukern der öffentlichen Ordnung, einer Welt des Schleims mit ihren Leitartikeln und short stories, ihren Revuen und Tagungen, ihren Rivierafilmen und Verfassungsfeiern, ihren Regierungserlässen und gefälschten Bilanzen. Und doch nur Außenwelt, das walte Gott. Denn wo bliebe Hoffnung, wenn nicht in der Gewißheit, daß selbst die plumpesten Akteure auf der scheinwerferbestrahlten Bühne, die Nachtgestalten der Gosse, die erschöpften Leiber auf dem Verdeck des Omnibus, die apoplektischen Fleischmassen vorm kleinen Hellen, daß der ganze Maskenzug, aus Tür und Tor auf die Straßen gespien, Objekt ist einer unbändigen Kraft, hin- und hergezerrt von dunkel drohenden Gewalten, ausgeliefert und preisgegeben, schwankend in der Wahl, Salz der Erde oder Asche und Staub zu sein, gepeitscht vom übermächtigen Willen, der schon an alle Gehäuse pocht, umbrandet wie die Insel vom Meer. Wo bliebe Hoffnung, wenn nicht in der Qual der eisigen Verlassenheit, im rasenden Kampf der Geisterheere in der eigenen Brust, die wirbelnd aus mythischen Schlünden steigen, wo der hohe Funke des Lebens noch nicht erstickte in kleiner heuchelnder Geschäftigkeit? Wo bliebe Hoffnung, wenn nicht im Leben selbst, wohin es sich auch schlagen möge, in das Treiben der Märkte, in die grauen Höfe der Fabrik, in Maschinenhallen oder Amtsstuben, in die Freßpaläste oder in die Hungerquartiere, in die gehegten Zonen der Museen oder in die Laboratorien der Wissenschaft, in die geschmückten Gotteshäuser oder in die neutrale Redaktionswüste der platten Vernünftelei? Wo Menschen schweigen, reden die Steine, und nicht sie allein. Busch und Feld, Wald, Fels und Wasser zeugen, aus zerrissenen Schluchten kriecht es zähe die schrägen Abhänge hinan, in toller, wuchernder Vegetation aus dunklem, feuchten Grau zu intensivem Grün, die letzte Wurzelfaser klammert sich an den braunen Stein, der vom stürzenden Wasser geschliffen, vom kollernden Fall zackig gekantet im Fleische der Erde steckt, von Mooshaut prächtig überzogen, die in ihrem zierlichen Faserwerk Milliarden glitzernder Tröpfchen gefangen hält, dem mächtig strebenden Stamm zur Nahrung, Todesessenz dem faulenden Holz. Fahl stehen im dunklen Hochwald die Säulen der Bäume, stürzen im Wind, der um die Kuppen der Berge fegt, fallen im Tal vom lehmigen Bach unterspült, die schwarze, rutschende Erde des Hanges reißt sie hinunter, bis sie sich neigen, die federnden, splitternden Äste sich im Wipfel des gleich bedrohten Nachbarn verfangen, stützend und stoßend, stemmend und lockernd, hoch klettern die zähen, dünnen Ranken, schnüren den Atem, die Heere der wichen Pilze verkleben die Poren, die Risse der Rinde, in Fetzen fällt die verschorfte Haut, bleichen Knochen schimmern krank, indes tausendfältiger Samen in seinen harten, schützenden Gehäusen verlangend auf den Boden klopft. Es ist nicht der Pan der dunklen, vom leisen, heißen Wind bewegten Olivenhaine, der hier dem Menschen wehrt, es ist der große Widersacher selbst. Er läßt die blutenden Wunden der Bäume sich in geilen Wülsten schließen, aus denen durch Haargespinst und Borkenzotteln der Saft quillt, den einfältigen Sinn versuchend mit den Träumen phantastischer Wollust, er zaubert das quellende Holz zu brünstigem Fleisch, das durch den Wald nach Liebe schreit, er füllt Gebüsch und Dickicht mit heißen, zerrenden Gebärden, die helle Lichtung mit tanzenden Schleiern, den Sumpf mit den Fackeln nächtlicher Feste. Er jagt die schmale, vom Blau des Himmels scharf in den Schatten geschnittene Schneise herunter, auf zerflederten, huschenden Stelzenbeinen, den Flüchtenden in den Nacken zu greifen, er haucht den feuchtkalten Atem aus Höhlen und Felsen, er senkt sich in giftigen Nebeln über die schlafende Wirrnis, in der schrecklichen Stille läßt er die Gelenke knacken, scheucht kichernd die Blätter aus ihren Verstecken auf, schleicht durch die Ruinen, über die breiten, zerbröckelnden Wälle und Mauern, die mit ihren Gewölben und Pfeilern unter der lebendigen Decke finsteren Grünes langsam ersticken, er stöbert mit heimtückischem Stoß in die morschen Geniste, beschwört das zornige Gesumm, den tausendfüßigen Ekel, die Schrecken der Insektenwelt, er frisst die Hänge der Berge kahl, bis ihre Haut zerrupft, zerzaust in greisen Strähnen um die zerfurchten Häupter hängt, er erhebt seine Stimme zu brüllendem Gelächter des Sturms, läßt die Blitze heulend in die kreischende Erde fahren, zerschlägt den Busch, zerkracht den Stamm, zerhagelt das Feld, peitscht die brausende Angst zum letzten, gepreßten Schrei aus gewürgter Brust, der knatternd gegen die prallen Häute des Irrsinns drängt. Aus diesen Wäldern brachen die Horden auf, überschwemmten die Täler, füllten mit den wilden Stößen der Hörner, mit den gellenden Rufen des Krieges die Ebenen, überstiegen die Eismauer des Gebirgs, die Speere bis zu den fernen, glänzenden Städten zu tragen, zu sengen und zu rauben, zu fechten und zu fallen, den Brand zu legen an die strotzenden Fassaden königlicher Paläste, prunkender Tempel, an die Stätten funkelnder, verführender Kostbarkeit. In diesen Tälern schritten die Männer in weiten Kutten mit suchendem Stab, errichteten die Bollwerke des ordnenden Geistes, heilige Hallen und geräumige Scheunen, geschmückte Gänge und Gärten, rodeten und gruben und zogen den Zehnten ein, wehrten mit dem Klang freudiger Glocken, mit zarter Musik und köstlichen Gerüchen dem Aufstand der bösen Geister, verbrannten Hexen und Zauberer, ihre Seele zu retten. In diesen Felsen und Höhlen hausten einsam die erhabenen Gestalten, wurden heilig in hartem, unmenschlichem Versieht, ganz hingegeben dem Dienst des allumfassenden Geistes, wanden sich in zitternder Qual vor den Gesichten, die frech aus Spalt und Wölbung mit obszönen säuischen Gesten, behaart, gehörnt, mit aufgetriebnen Bäuchen, prallen Brüsten, gierigem Geschlecht, breit lachend und begehrlich lockten, sie im letzten bebenden Gebet durch Selbstaufgabe zu überwinden. Noch stehen die Wälder, noch glänzen die Täler, noch ragen die Felsen und öffnen die Höhlen den feuchtkalten Schlund; doch auf den staubigen Straßen knattern die Explosionen der Benzingase, die Räder mit dem surrenden Ton guten Stahls zu schneller Umdrehung treibend, Sprengschüsse donnern in die Felsen, große Blöcke des Gesteins herauszubrechen, sie zu schichten, zu zertrümmern, zu zermahlen, den Fels nutzbar zu machen als Baumaterial für Häuser und Fabriken, als Wegeschotter, als Füllsel des grauen Betons; in breiten Strichen kollern die Stämme zu Tal, die Äxte krachen in das zitternde Holz, hurtige Messer schälen die braune Borke, die Sägen kreischen, zerschneiden die Stämme zu Brettern, zu Planken, zu Spanten und Leisten, zu Klötzen für den Asphalt, Maschinen zerkleinern, vermanschen das Holz zu Brei, pressen und walken die kochende Masse zu Scheckbüchern und Zeitungspapier; in den Berg gräbt sich die Schiene, Fabriken stehen stämmig im Tal, senden den Rauch ihrer Essen steil in die Höhe, und in den kühlen Gewölben der Klöster streichen die Reisenden, kodakbewaffnet, stehen spitznasige Jungfern in hochmütiger Trockenheit um den Führer, fremd und feindlich vor den steinernen Grüften stolzer Äbte, vor den düsteren Zellen, dem dämmrigen Refektorium, vor der ganzen, versunkenen strengen Ordnung mit seinen nächtlichen Gebeten und seiner täglichen Pönitenz, indes in der Hitze des Mittages vorm Kurhaus die Rundfahrtautos mit ihren glatten Polstern schmorend warten. Dieselbe geheimnisvolle Macht, welche ihre eifernden, furchtlosen Sendboten in den heidnischen Wäldern die Kultstätten vernichten, die heiligen Bäume fällen ließ, zerstören ließ den hilflosen Bann, der trachtete, sich mit den Geistern zu verbünden, statt sie in Dienst und Ordnung zu zwingen, dieselbe Macht, welche die Klöster, die Stätten des kämpferischen Friedens immer weiter vorschob in das drohende Land, welche in den Städten den gläubigen Sinn in himmelan strebenden Kathedralen und Domen, in deren segensreichen Schatten sich die Häuser der Menschen drängten, zur Verherrlichung Gottes und zur Zuflucht jeglicher Qual errichten ließ, errichten ließ die glänzende Herrschaft, bändigen ließ die leidenschaftlichen Süchte, vereinigte die auseinanderstrebenden Kräfte in eine lenkende Hand, dieselbe Macht stand nun in den Zentralen der weltlichen Hybris, und nicht nur dort, in bitterem, nagendem, fast aussichtslosem Abwehrkampf gegen die andrängenden Mächte einer Zeit, welche sich ihr in frevlem Stolz entzogen, einzig fest im Glauben an die Verheißung, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden. Zu jenen Zeiten, da ein Abglanz heiterer Gewißheit, unerschütterlichen Vertrauens noch auf dem pfäffischsten Gesicht zu sehen war, verließ kein Ding die Werkstatt, das nicht ein Meister sorgsam zu seinem Zwecke geformt hatte, den Zweck selbst noch unterstellt hatte der Einheit eines großen Sinnes, kunstvoll geformt hatte, bestrebt, dem Gegenstand die volle Würde schönen Dienstes zu verleihen, durch Kunst gebändigt hatte also, was über Zweck und Dienst hinaus nach eigener Wirksamkeit gespenstisch drängte, sei es Tiegel oder Topf, Haus oder Handel, Werkzeug oder Schmuck. Doch mit der Emanzipation des weltlichen Geistes von ihrer ordnenden Gewalt – ein Prozeß, der mitten im Bereiche dieser Gewalt selbst begann – emanzipierte sich notwendig alles, die individuellen Gestalten wie die Dinge, miteinander und voneinander, strebte ohne ein anderes als durch den immerwährenden Kampf bestimmtes Maß zur eigenen höchsten Ausbildung, unbesorgt um das allgemeine Gleichgewicht, um jene weise Ausgewogenheit, die der wahrhaft religiösen Seele die irdische Erlösung heißen mußte. Was die Natur aus sich entläßt, noch einmal freigelassen, spottet der Hand, die es geformt und leiten will, unterjocht mit einer stärkeren und bitteren Tyrannei, als sie jemals ein Menschenhirn ausdenken konnte, das Leben, in dessen Mitte es sich zum Absolutum erhebt. Den Wert, das erste Element der Ordnung, nicht kennend, lebt es gefräßig seinem Bedürfnis, dem quantitativen Bedürfnis des mechanischen Wesens, fremd dem königlichen Stolz der Macht in der Übung seiner blinden Kraft. Gleich dem Widersacher, dem großen Affen Gottes, der sich heimlich wandelt in jeder Wandlung, sein Reich zu errichten in jedem Bereich, den Menschen zum Affen des Menschen zu machen und dessen Werk zum äffischen Werk, nahte sich das mechanische Wesen mit dem alten, plumpen Trick, sich als gefälligen Verbündeten zu empfehlen, wo es bald unbehindert herrschen will, solange, bis es sich alle Trümpfe in die Hand gespielt, sich in die volle Gewalt und dann die volle Gewalt den Menschen zu setzen. So, im Scheine einer Ordnung, die die Größe statt des Wertes als Element bestellt, im Scheine eines Gesetzes, das die bunte Schöpfung einzwängt in die platte Formel von Ursache und Wirkung, vermochte es freilich mit seinem selbständigen Spiel das Antlitz dieser Erde zu verändern bis in die letzte Falte, in ein Scheinantlitz, das hinter der Maske das fressende Ungeheuer nur mühsam verbirgt. Hier muß jede Gegenwehr zerfallen in einen Kampf der dämonischen Einheiten untereinander, in einen fruchtlosen Kampf für den Menschen, solange er sich nicht des besonderen Sinnes bedient, der ihn unter allen Geschöpfen auszeichnet; denn bis zu jenem Augenblick der Besinnung entscheidet allein, welche Einheit sich aus größeren Reservoiren speist, und da kann kaum ein Zweifel sein: die des Menschen nicht. In der Tat hat er sich schon längst ergeben, sich ausgeliefert mit dem einen Hebeldruck, den er als den Akt seiner Wiedergeburt feierte, und der ihn freilich aus allen Bindungen riß, aber nicht ihn allein, auch das, was ihm Mittel dünkte, da er selber Mittel war, und Selbstzweck wurde, da er sich selbst zum Zwecke setzte. Nun trat ihm, dem wieder absolut Gewordenen das wieder absolut Gewordene entgegen, und ist seiner Entfaltung die biologische Grenze gegeben, welche Grenze kennt die mechanische Natur? Sie überwältigt ihn mit ihrem einen Willen zum Plus, der vom Kapital verlangt, daß es Zinse und Zinseszinse, von der Arbeit Mehrarbeit, der von der Erfindung, die eine Leistung dreifach steigert, nicht dreifache Entlastung bringen läßt, sondern das dreifache Tempo, und das dreifache Tempo die dreifache Leistung, in den Mahlstrom der Produktion alles Leben saugend, um es als Surrogat wieder von sich zu speien, von keiner Gewalt gebannt, solange noch Stimmen murmeln können, daß Wirtschaft Schicksal sei. So ist es an der Zeit, daß ein neuer Orden sich bilde, der im Besitze des hierarchischen Geheimnisses den Kampf erneut aufnehme und fordernd tritt an jeden verwandten Geist. Die Zeit ist reif, und soll es nicht der Künstler sein, der ihren reifen Zustand am ersten spürt? Von den Dreckgestalten der Gosse, die mit der irrsinnigen Angst der Brutalität im Blick Zeugnis geben und Warnsignal, wandte sich das Auge zum blutig verzerrten Christus am Kreuz. Aber dies war nicht jene Gestalt eines sanften Dulders, die einzige, welche die Gläubigen nun zu ertragen schienen, nicht jenes süßblasse Antlitz, das über den Opferstöcken der Kirche, milde klagend und verfertigt am laufenden Band an den Altären hängt, nicht jener verwaschene Heiland, der, käme er nun noch einmal auf die Erde, vor keinen Hohen Rat, vor keinen Pontius Pilatus geführt würde, sondern vor den Medizinalrat Sauerbogen, nicht zum Kreuzestod verurteilt würde, sondern lebenslänglich verwahrt in der Landesheilanstalt Buch, das war schreckliche Gesicht einer letzten, ringenden Qual, die im vollen Begreifen der Welt und in voller Erkenntnis des göttlichen Willens in sich mehr zerrissen spürt als Muskeln und Sehnen, voll eines tieferen Schmerzes noch als jenen, der die brechenden Augen auseinanderzerrt, Blut und Schweiß in zähen Tropfen treten läßt auf die grünlich verfallende Haut. Hier stockte Ive, fiel in sich zurück wie in der atemlosen Pause zwischen Blitz und Donner. Wiederum war es nicht so sehr die Gewalt des Bildes, die nun in ihm die Gegenwehr auslöste, sondern der unabwendbar scheinende Zwang, der zu dieser letzten Sublimierung, gerade zu dieser, geführt hatte. Für Pareigat schien es selbstverständlich, er fand die Bestätigung seiner gedanklichen Konstruktion, und ob es das Erlebnis des objektiven Seins war, das durch die Ontologie zu diesem Resultate führte, oder das Erlebnis des Teufels durch das widerspenstige Fleisch, nur die Komponenten waren verschieden; aber Ive fühlte sich nicht im Besitze auch nur einer Voraussetzung, die ihm hier zuzustimmen befahl. So scheute er vor der plötzlichen Lösung, die ihm ein Zurück bedeutete, und wenn dies Zurück ein Anfang war, so war es doch einer, der eine Situation verlangte, die es erst nochmals zu schaffen galt, und die herbeizuführen unter allen Umständen nicht nur gegen die Widersetzlichkeit der historisch gewordenen Welt, sondern auch gegen die der in dieser Welt historisch gewordenen Kirche selber gelingen konnte. Nicht daß sich ihm die Aufgabe – und nach ihr fragte er zuerst – zu weit gespannt hätte, sie verlor sich ihm nur in einer zu weit gespannten Zeit, indes es ihm auf allen Nägeln brannte. Er wußte dunkel, daß dies kein Grund war, der ihm erlauben durfte, auszuweichen; er wußte, daß diese Lösung, mochte sie sich auch dargeboten haben als einzige Folge des gewaltigsten inneren Befehls, jetzt und heute nichts anderes als eine private Lösung sein konnte, und daß seine Scheu vor der privaten Lösung, gerade, weil sie so fest in ihm verankert war, letztlich doch sehr scharf egoistischen Charakter trug, aus einem Hochmut stammte, der unter dieser Lösung zerbrechen mußte – aber dieser Hochmut war seine ureigenste Kraft; er wußte auch, daß, wenn sein Ohr jedem Anruf offen war, es nicht dieser sein konnte, der ihn mit vollem Ton durchdrang, nicht dieser sein konnte, weil er aus schon geborstener Stimme klang, daß er nicht folgen durfte, da er in sich das Erbe eines immerwährenden Protestes trug, der selbst im Banne der ordnenden Macht niemals den eigenen nie erfüllten alles umfassenden Anspruch auf Setzung vergessen hatte und nun nach allen Stürmen zum letzten Sturm anhub, und daß der Verpflichtung dieses Erbes sich versagen, dies allein, ausweichen hieß. Dunkel wußte er dies, und er lebte in der wahnsinnigen Furcht, daß, da die Heftigkeit des künstlerischen Bekenntnisses von ihm ein klares Ja oder Nein verlangte, sein Nein ihn mit tiefem Schnitt scheiden mußte von der hohen, fruchtbaren Freude eines eben geborenen Gefühls, das voller und reiner war, als er es jemals empfunden hatte. So, gepeitscht vom Traume einer innigen Vereinigung, versuchte er, sich um das Nein zu betrügen, auch der Scham auszuweichen, daß er es nur dumpf stammelnd hätte begründen können, sich hineinzuschlagen in die Welt seiner Freunde, sich und sie zu bereichern, die Brücke zu finden endlich, die mehr als das Persönliche verband, auch – weit unterhalb der Oberflache öffentlicher Bemühung, doch hier mit klaren und beglückenden Konsequenzen – die widerstrebenden Reiche näherte. Dies konnte ihm um so eher gelingen, als Helene und der Maler selber, dynamische Naturen wie Ive, wie er im Lichte eines ersten Aufbruches standen, so daß sich ihnen das eben noch dunkel verhüllte Feld mit den hinreißenden Fanalen einer fast unerschöpflichen Menge von Möglichkeiten belebte, von denen jede einzelne angegangen werden mußte, weil jede einzelne einen notwendigen Teil der Erfüllung versprach. So schien es Ive gleichgültig, von welcher Basis aus der Angriff geschah, gelang es ihm nur, sie mit den Waffen seiner Vorbehalte zu betreten. Tatsächlich war der Grad ihres Einverständnisses groß. Wo sich ihre Wege zu gabeln drohten, zwangen sie sich in erbitterten Gesprächen, die Nächte hindurch währten, zur Präzision ihres Verlangens, aufnehmend und abstoßend, und wenn Ive den Freunden folgte, ohne ganz so ergriffen zu sein, daß er hätte unbedingt folgen müssen, geschah es, weil er den Segen ihrer strengen Kraft nicht mehr missen zu können glaubte, da er ihn täglich von neuem zwang, zu sich selbst zu finden, ihn so noch bereicherte, daß er sich zuweilen bei der kalten, schurkischen Freude der wachsenden Gewißheit ertappte, sich so zuletzt doch distanzieren zu können, und erschrak über den Verrat, der in jeder nicht besinnungslosen Hingabe lauert, wie ein sprungbereites Tier. Aber da es zurückzuscheuchen er immer mehr der Nähe Helenens bedürftig war, fand er sich allmählich in einer Verstrickung, die zu lösen ihn die Furcht hinderte, damit mehr zu lösen als sie; denn das eine Mittel, sich von der Last zu befreien, das dem Maler zur Verfügung stand, die Beichte, stand ihm nicht zur Verfügung. Es stand auch Helene nicht zur Verfügung. An jenem Tage, an dem Ive zum ersten Male Helene vor ihrer Staffelei versunken sitzen sah, hatte ihr die Kirche die Aufnahme und den ersten Genuß des Sakramentes verweigert. Sie, die dem Maler die schützende Glocke weggezogen hatte, ihn so bereit machte für die Entfaltung seiner keimenden Fülle, mit der Stichflamme ihres reinen Willens den ganzen gemeinsamen Bestand an Meinungen und Vorstellungen zusammenschmolz, bis auf den unzerstörbaren Kern eines Glaubens, der in glückhafter Entdeckung sich plötzlich. als der allumfassende, der katholische Glaube erwies, sie sollte die Tür versperrt finden, zu der sie sich und den Maler geleitet. Der ganze schmerzhafte Vorgang, dem sie mit ihrem vollen Einsatz gedient, konnte für ihn, katholisch getauft, mit der einfachsten Handlung der Beichte sich krönen; für sie bedeutete die einfachste Handlung den Verzicht auf die Früchte der Aufgabe, in deren Erfüllung sie den Sinn ihres Lebens gesehen hatte. Im letzten Augenblick richtete sich vor ihr die Schranke auf: eine halbe Stunde vor der Konversion trat hemmend dazwischen, was sie fast schon vergessen, was sie unbarmherzig gegen sich selbst auszubrennen versucht hatte: daß sie verheiratet und geschieden war. Ihre Ehe mit dem Maler war ungültig vor dem strengen Gesetz der Kirche. Sie achtete das Gesetz der Kirche, wie hätte sie anders gekonnt? Ive verstand nicht, er verstand nicht die unheimliche Ruhe, mit der sie anerkannte, was sie, so oder so, vernichten mußte. Sie hatte den Weg allein gefunden, kein Priester hatte sie geführt, kein Gnadenmittel hatte ihr Stärkung verliehen, kein Wort Bresche für sie geschlagen. Und nun sagte die Kirche: non possumus. Sie sagte es durch den Mund eines jungen Kaplans, eines lächelnden Knaben, der jenseits stand und das blitzende Gebäude einer Macht verteidigte, das keine Ritze dulden konnte, und Helene anerkannte dies. Ihre erste Ehe war in ihren Augen ungültig, in denen der Kirche nicht. Sie war nie kirchlich getraut, aber die Kirche hatte einmal nachgegeben und die naturrechtliche Ehe a& Ehe anerkannt, und diese scheinbare Inkonsequenz erwies sich als geeignet, die Fessel noch härter anzuziehen, noch weiter den Bereich auszudehnen, dem Zugriff ihrer Macht noch größere, unsichtbare Kraft zu verleihen. Und Helene anerkannte dies. Ihr Katholizismus war wesentlich anderer Art als jener muffige Altweibertrost, der von den Kanzeln herunter gepredigt wurde, anderer Art auch als jener der weltgewandten Vereine, Kongregationen, Gewerkschaften und Parteien, anderer Art schließlich als jener der aufgeschlossenen, zuerst wild emporstrebend Erneuerung fordernden, dann sachte gebändigten und geleiteten und sich mit neuer Durchseelung der Liturgie begnügenden Jugend, es war ein kämpferischer Katholizismus, der letzte Strenge gegen sich und gegen die Welt verlangte, fast mittelalterlich in seinem kompromißlosen Anspruch, jedenfalls verpflichtend bis in die letzte Handlung hinein – ein sehr einsamer, eigengewachsener Katholizismus, vor dessen begieriger Frage die Priester einzig mit dem Dogma antraten, mit ihm begründend verweigerten oder besänftigten, einigermaßen hilflos vor diesem Ansturm brandender, kochender Gläubigkeit, demgegenüber benediktinische und jesuitische, ganz sicher aber die modernen Mittel, Argumente und Definitionen versagen mußten, und der doch untrüglich aus echtem und keine Verfälschung duldenden Verlangen stammte. Dies Verlangen war 80 heftig, daß Helene auf den Empfang der Sakramente nicht verzichten zu können glaubte. Einmal das Wesen der Ordnung, das einzige, welches ihr faßbar, mehr noch, zwingend dünkte, erkannt, wollte sie seiner ganz teilhaftig werden, sich gleichsam im Brennpunkt des Strahlenbündels finden, mitten im Feuer des Himmels und ganz ergriffen vom täglichen, ewigen Wunder der Transsubstantiation, das diese Ordnung überhaupt erst möglich und ertragbar macht. So war ihr die Kirche keine Zuflucht mehr, sondern der heilige vaterländische Boden, von dem ausgeschlossen zu sein die ahasverische Qual des Emigrantentumes bedeutet, die ihre Liebe ins Nichts verschleudert sieht. Also mußte ihr ein Greuel sein jede christentümliche Bildung, die aus dem einmaligen Akt der Reformation eine permanente Abtrünnigkeit konstituierte, von der Untrennbaren gewaltige Stücke lebendigen Fleisches riß, mit dem Angriff auf die ganze Heiligkeit des Sakramentes des Altares auch den eigentlichsten Kern der Ordnung bedrohte und jede tiefere Erregung des Glaubens an den kalten, auslegbaren Buchstaben bannte, und so schon in der Wiege die Schlangen hegte, die später mit ihrem Gift das Blut der Welt verpesteten; ein Abscheu jene kalte intellektuelle Spielerei, die sich in Bewunderung verbreitet vor der prächtigen, bis in den letzten Pfeiler durchorganisierten Macht, ohne sich zu ihr ganz zu bekennen, vielmehr von der hohen Warte zeitgeistiger Objektivität mit lächelnder Herablassung immer noch ein wenig päpstlicher zu sein als der Papst; ein Ärgernis endlich der dumpfe Kleingeist, der sich weithin in der Kirche selbst angesiedelt hatte und mit seiner dicken Ausdünstung allmählich den Dom füllt bis unter den höchsten Spitzbogen. Aber eben dies schien Ive die Gefahr, die Helenen drohte: sich selber zum Greuel, Abscheu oder Ärgernis zu werden. Denn was sie auch tun mochte, hier hob sich ja jede Konsequenz durch die andere auf; die einzige Möglichkeit, zum Sakrament zu gelangen, schied sie nicht nur von ihrem Gatten, mußte auch notwendig eben den heiligen Sinn zerstören, der getrieben hatte, für ihn wie für sich an die «orten der Kirche zu klopfen, mußte gerade durch Vernichtung ihrer Aufgabe den katholischen Geist ihrer Ehe vernichten. Die Priester, zu denen sie kam, die lächelnd das Atelier betraten – (und vor den Bildern des Malers schwiegen) – spürten dies wohl mit anteilnehmendem Schmerz, um Helene endlich mit forschendem Zuspruch auf die unendliche Gnade des Himmels zu weisen, da die der Kirche nicht eintreten konnte, und ihr die Aufgabe zu lassen, die sie sich schon selber gesetzt: die Fackel ihres gläubigen Willens zu tragen in der weiten Finsternis und sie weiterzugeben an den, der sich ihrem Lichte verlangend näherte. Die Kraft aber mußte ihr allein kommen durch das Gebet. Helene, die mitten im Tage stand, in jenem zermürbenden Kleindienst, der sie mit den Sorgen der nackten Bedürfnisse belastete, fand inmitten der auf brennende Minuten eingeteilten Zeit noch zwischen Kunsthändler und Filmatelier, zwischen Kochen und Waschen und Schreibmaschine den Weg in die kahle, inmitten des häßlichen Viertels voll grauer Häuser mit abblätternden Fassaden, ärmlichen Spelunken und Läden gelegene Pfarrkirche. Ive begleitete sie oftmals. Dann lag sie eher als daß sie kniete auf dem kalten, schmutzigen Stein, indes Ive hinter ihr stand, immer wieder, zuerst bedrückt von der gleichsam hallenden Stille und von der Scham, daß er am Weihwasserbecken die Finger nur zum Scheine getaucht, dann überwältigt von dem warmen, schmerzlichen Gefühl für die Kniende, um endlich, die Augen an die Nasenwurzel gezogen, aus angestrengtem Grübeln in den Zustand einer kalten, aushöhlenden Betäubung zu verfallen. Er prüfte sich und fand, daß nichts ihn überwältigte, was auch' nur von ferne das Gefühl einer Andacht sein konnte. Er zwang sich zum Gebet, erschrak vor dem sinnlosen Ablauf der Formel, die trotz des Volllanges der Worte nicht eine Saite in ihm zum Schwingen brachte, peinigte sich mit der Vorstellung der katholischen Ordnung, in der sich, ihm intellektuell faßbar, alles Widersprüchliche so unendlich leicht lösen ließ, mit einem Ruck das Bild der zerrissenen Welt in eine berauschende Perspektive schob, und fühlte doch, wie die brausende Flut noch vor seiner Bereitschaft zerstäubte, und was in ihn eindrang, in Leere tropfte. Nichts packte ihn, riß ihn nieder auf die Steinplatte, keine göttliche Gegenwart beugte ihm den Kopf. Er fühlte die Angst in ihm sich schwellen, daß er verworfen war, daß ihm der heilige Sinn verdorrt sei, jedes religiöse Gefühl, daß also ihm die Frage nach dem Sinn eine feige Flucht sei, vor der Wirklichkeit, vor der standhaften Forderung des Tages, daß also er kein Recht habe zu einem anderen Bekenntnis als zu dem, welches die Kanaille jeden Tag in stinkenden Strudeln von sich spie. Aber hier rettete ihn die Gewißheit, daß er des Einsatzes fähig war; daß ihm andere Glocken läuteten, ihn hochreißen konnten zu unbedingter Erwartung; daß in ihm die Ahnung lebte eines anderen Reiches, welche seinen Weg bestimmte und auf Erfüllung drängte. Und so lange, sagte er sich, diese Ahnung nicht aufhörte, ihn vorwärts zu traben, konnte sich hinzuwerfen in den Staub, wie Helene es in gläubiger Inbrunst tat, für ihn nur der symbolisch sichtbare Beginn einer Unterwerfung in entsetzlichen Irrtum sein. Fast freute ihn, daß die Verführung so locker gewebt war; ihm fehlte der letzte Ruf, der das Herz brennend macht. Und er hatte diesen Ruf schon vernommen, auf den Postenständen des Krieges war er ihm sengend in die Brust gefahren, in den Straßenschluchten des Ruhrgebietes hatte er ihm das Gellen der Clairons übertönt, aus den Höfen der Marsch, aus den Kellern der Stadt war er zu ihm gedrungen. Hier aber vernahm er nichts als das Murmeln eines Gebetes, das zu hören ihn in Beschämung setzte, als sei er widerrechtlich in den stillsten, privatesten Bereich eines anderen getreten. Aber noch sagte er Helene nichts davon, und wenn sie aus dem dämmerigen Schiff der Kirche in das nackte licht des Platzes traten, wagte er nicht, sie anzusehen.

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Das Verhalten der Öffentlichkeit dem Maler gegenüber bewies deutlich, daß der Kommunismus eine Angelegenheit der feinen Leute geworden war. Die Fluoreszenz der bewegten Materie der Stadt – von den Feuilletonisten Geistigkeit genannt – besaß als hervorragendstes Merkmal die Möglichkeit, alles zu akzeptieren, was aus ihrem Gehalt heraus gedacht werden konnte, selbst, wenn es gegen sie gerichtet war – und hob es so in seiner ursprünglich gewollten Wirkung wieder auf. Aber eine Haltung, welche aus einem anderen Boden stammte, von anderen Voraussetzungen ausging als der ihr eigentümlichen, vermochte sie nicht zu akzeptieren, vermochte sie auch kaum anzugreifen, sie ignorierte sie. Sie ignorierte sie selbst da, wo sie ihre Nahrung sog: die gewaltige Arbeitsleistung der Stadt blieb anonym, die nächste, auf die Stadt hingeordnete Provinz blieb anonym, ihr ausgewogener Lebensfundus eine Gleichung mit lauter Unbekannten, so daß oft genug der Verdacht laut werden konnte, die Stadt existiere eigentlich rein aus der Bewegung heraus, habe weder eine Tradition noch eine wertbeständige Kultur der Gegenwart, dafür aber vermutlich eine unermeßlich reiche Zukunft, und sei in der Funktion jedenfalls ganz unabhängig von der Volksseele von Klein-Dittersbach bei Böhlau. Wenn aber jene Volksseele zu kochen begann, und ihre Düfte übel in die Nase der Stadt stiegen, sichtbarlich bereits in den Hohlräumen schwelten, schien sich die Stadt in die große Klagemauer zu verwandeln, an der das Wehegeschrei gräßlich widerhallte, indes die allein berufenen Hüter des Geistes wie vor einem Naturereignis vollkommen hilflos alle Positionen räumten, um dann, sobald das Gewitter sich vollzogen zu haben schien, munter wieder auf genau dieselben Podeste zu klettern und in der alten Leier fortzufahren, was denn als ein Zeichen sieghafter Lebenskraft zu preisen nicht vergessen werden kann. Die Fluoreszenz der Stadt war sehr modern, die Stadt selber war gar nicht modern, nur alt und häßlich und sagenhaft tüchtig, wie ein gewaltiges Gebäude aus grauem, verrußtem Stein, in deren Räumen der emsige Betrieb so wenig rastete, wie die auf die Fassade geklatschte Lichtreklame. Jedermann sah die Lichtreklame, und der mächtige, schmutzigrote Schein, der nächtens über dem Zentrum der Stadt am Himmel stand, konnte wohl die Brust schwellen lassen vor Stolz, indes in den harten, staubigen Betrieb hineinzudringen, nur bei besonderen Anlässen geboten war, etwa, um der Symphonie der eigenen Lobpreisung die Grundgewalt des werktätigen Basses nicht ganz ermangeln zu lassen. Freilich schien eine gewisse Kenntnis von den unterflächigen Vorgängen geradezu unentbehrlich, sie diente sozusagen als aktuell konstruierter natürlicher Ausgangspunkt der Betrachtung, gab das Füllsel her für die Behandlung sozialer, wirtschaftlicher und technischer Probleme, ja allmählich richtete sich die Qualität eines Berichtes nach der Quantität des Materiales. Das gesamte Schrifttum strebte nach der Kunstform der Reportage, die nackten Tatsachen sollten möglichst für sich selber sprechen, und so blieb die Meinung des schlichten Mannes auf der Straße wohl erforschenswert; das einfache Faktum des Eindringens in einen Güterbahnhof, in eine Markthalle, in eine Arbeiterkneipe vermittelte dem kindlichen Erstaunen eine beglückende Fülle neuer Einsichten, die Reporter aller Grade bis zum Mitglied der Akademie der Dichtung hinauf lernten das Leben in seinen Höhen und Tiefen in angenehm konzentrierter Form von den Gerichtssälen her kennen oder in halbstündigem Aufenthalt vor einem Arbeitsnachweis, in einer Eisengießerei, im Obdachlosenasyl, und vermieden es keineswegs, von Zeit zu Zeit inmitten gepflegter Prosa plötzlich in der Sprache des Volkes zu reden, weniger tun der sachlichen Ausfertigung des Lokalkolorites willen, als um zu demonstrieren, daß sie tatsächlich bis in die Quartiere des Elends und der handfesten Tüchtigkeit vorgedrungen waren, welche Vorstöße durchaus den Charakter von einigermaßen gefährlichen Exkursionen hatten. Es war einfach unerläßlich, sich einige Male in der Gegend hinter dem Polizeipräsidium aufzuhalten, um überhaupt mitreden zu können, und das Hochgefühl der getanen Pflicht entschädigte reichlich für die peinliche Scham, mit der es sich gelegentlich nach einer heiteren Nacht in Frack und Lack den finsteren Blechkännchenbataillonen der Arbeit begegnete. Solch nützliches Bemühen bereitete eine wohltuende Atmosphäre der Duldsamkeit gegenüber jeglichem sozialen Bekennermut. Nirgends verstieß Radikalität gegen den Ton, sie sicherte sogar ein bescheidenes Brot, sie war sozusagen gesellschaftsfähig geworden, fast ein Bedürfnis, und auch in den feinsten Salons konnte man dem einen oder dem anderen Renommierkommunisten begegnen, vorausgesetzt, daß sich sein Rot nicht gar zu indanthren erwies und in Tateinheit mit schmutzigen Fingernägeln befand. Jedoch deuteten manche Anzeichen darauf hin, daß der Stern mit Hammer und Sichel bald vor dem Glänze des neuaufstrahlenden Hakenkreuzes verblassen würde. Denn schließlich gründete sich die Resonanz der revolutionären Deklamationen lediglich auf der allgemeinen Bereitwilligkeit, keine Wahrheit unbequem zu finden, und diese löbliche Tendenz wiederum gebot keineswegs, vor der unerschrockenen Feststellung längst bekannter Tatbestände und vor der Schlüssigkeit einer bereits etwas angestaubten Beweisführung ein leichtes Gähnen zu unterdrücken oder auf die schneidige Kritik sozialer Mißstände in der bürgerlichen Gesellschaft und auf den hohen Ernst düsterer Prophezeiungen anders als wie auf einen im ganzen nicht unangenehmen Kitzel zu reagieren. So konnte selbst die unverhüllte Drohung, gelegentlich einmal das Privateigentum abzuschaffen, weiter keine Schrecken erzeugen, denn jedermann wußte, daß der Kapitalismus dies Geschäft langsam, aber sicher schon ganz von alleine besorgte, und selbst die kühn gesagte Sentenz: erst kommt das Fressen, dann erst die Moral, vermochte nicht so sehr als der Durchbruch einer unerhört neuen Erkenntnis zu interessieren, sondern erhielt vielmehr das sensationelle Gewicht durch die nackte Brutalität, mit der ausgesprochen wurde, was bereits Allgemeingut war, und durch die Ungewißheit, für wen das denn nun eigentlich also eine Pflaume sein sollte. Der überraschende Vormarsch der Nationalsozialisten aber wartete nun doch mit tieferen Erregungen auf: hier war im Gegenteil gar nichts greifbar und geklärt und selbstverständlich; hinter jedem Wort und hinter jeder Geste blieb das Feld der Vermutungen weit und hinter dem sportpalastdimensionalen Pathos konnte sich ebenso der heiße Atem einer neu aufbrechenden Welt, wie die kalte Berechnung wohltätiger Zertrümmerer verstecken; jedenfalls vermittelte es wohl einen neuartigeren Reiz, statt eines hornbebrillten Jünglings aus Ungarn, Polen oder Rumänien nun schon einen leibhaftigen Fememörder herumzureichen, und ging vorher der Ehrgeiz darum, sich von niemanden in der subtilen Ausbildung des sozialen Gewissens übertreffen zu lassen, so entbrannte mm der Wettstreit, wer mit Recht behaupten konnte, einzig wahrhaft national zu sein. Als das Gerücht sich verbreitete, der Maler habe sich vom Kommunismus losgesagt, war kaum eine andere Annahme möglich, als die, er sei, wieso denn auch nicht, Nationalist geworden, und nichts konnte tiefer betrüben als die Nachricht, daß dies in dieser Form nicht zutreffe, und so blieb nichts weiter übrig, als über den Fall des Sonderlings mit einem bedauernden Achselzucken hinwegzugehen. Die Produktion des Malers hatte plötzlich ihren Markt verloren; nicht etwa, daß in ihr eine Wandlung sichtbar geworden wäre, die religiösen Motive kamen nicht an die Öffentlichkeit, es genügte, gerüchtweise zu erfahren, daß der Maler hatte Meinungen laut werden lassen, die sich jeder bürgerlichen Kontrolle entzogen, um ihn mitsamt seiner Kunst außer Kurs zu setzen. Denn mit welchen Emblemen auch immer die Bürger kaschieren mochten, in welchem Ausmaße sie Bürger waren, sie blieben doch immer empfindlich gegenüber einem geistigen Hochmut, der ihre gesamte Erscheinungsform als recht fragwürdig betrachtete, und jedes Streben nach einer hierarchischen Lebensform konnte einfach nur erbittern, denn wo bliebe da, bitte sehr, der Rechtsanwalt Meyer III vom Landgericht Mitte? Die Kirche aber hatte sich längst ihrer hohen Stellung als Auftraggeberin begeben, und wo sie sich getrieben glaubte, etwelcher Modernität den schuldigen Tribut zu entrichten, wurde es fürchterlich. Der zahme Werksgeist benediktinischer Prägung schien das Höchstmaß zu erreichen, welches der Kirche gerade noch tragbar dünkte; eingeklemmt zwischen die Gewalten der verweltlichten Erde hatte sie darauf verzichten müssen, auf irgendwelchen Gebieten einen ersten Schritt zu tun, wenn sie auch als zweite einen Schritt zu tun nur selten versäumte. So befand sich der Maler, solchermaßen isoliert, in einem fast aussichtslosen Kampf um seine Existenz, und Ive beobachtete dies mit einer Erbitterung, die ihn zeitweilig bedauern ließ, daß jener den Bruch mit seinen früheren Freunden so abrupt und unwiderruflich vollzogen hatte. Sicherlich bot sich bei der allgemeinen und rapiden Verschlechterung der ökonomischen Bedingungen in keinem Lager für die Kunst eine erträgliche Aussicht, aber gerade wegen des völligen Versagens auch aller Standesorganisationen schien es Ive doch nützlich, zumindest in tätiger Korrelation mit einer der angreifenden Gruppen zu stehen, mochte späterhin daraus werden, was es wolle. Immer mehr war Ive dazu gekommen, in der Politik den Wert von Theorien gering zu achten, – und Politik war schließlich jede Lebensäußerung geworden. Darum bestand bei ihm keine grundsätzliche Abneigung gegen den Versuch, der sich ihm oft genug als Versuchung nahte, wie mit jeder beliebigen anderen Richtung auch mit dem Kommunismus zu paktieren, wenn solches Beginnen nur irgendwelche Aussicht auf augenblickliche oder weitergespannte Erfolge ließ. Doch jedes Zusammentreffen mit den mehr oder weniger approbierten Vertretern dieses Lagers war nur geeignet, Ive einigermaßen zu entmutigen. Er stieß auf einen Grad von Wohl-wollen, der es ihm leicht machte, frères et cochons zu spielen, und er wäre auch gerne bereit dazu gewesen, wenn es sich nur gelohnt hätte; aber gerade das, was ihm hätte nützlich sein können, mangelte gänzlich: die Bestimmtheit des Handelns selbst in den eigenen Angelegenheiten, – und am Ende kam es auf ein und dasselbe heraus, ob er sich nun an Hugen- oder an Münzenberg wandte, was er zu hören bekam, konnte er ebensogut in den Leitartikeln lesen, und es hatte auch genau dieselbe Wirkung. Es ist nicht alles Gold, was wie Scheiße aussieht, sagte Hinnerk, zu dem Ive mit seinen Betrübnissen kam. Du mußt auch immer in der falschen Ecke landen, sagte er, warum kommst du nicht zu uns? – Zu den Nazis? fragte Ive mit Mißbehagen. Zu den Proleten, sagte Hinnerk, zu den klassenbewußten Proleten. – Seit wann bist du denn Kommunist? fragte Ive. – Seit langem, sagte Hinnerk, eigentlich schon seit Gründung der Partei, wußtest du das nicht? Nein, Ive wußte das nicht, und er machte runde Augen. Auf welcher Seite, zum Teufel, stehst du denn nun eigentlich, wenn es zum Schlagen kommt, fragte er, und Hinnerk sagte: Immer auf der Seite, auf welcher die Schupo nicht steht. Im Ernst, sagte er, wenn etwas entschieden wird, so wird es in einer anderen Gegend als auf dem Kurfürstendamm entschieden, und es ist schließlich wurscht, auf welcher Seite man sich schlägt, wenn man nur auch wirklich auf dem Schlachtfeld steht. – Ach Hinnerk, sagte Ive, kann man es sich so leicht machen? Komm mit zu uns, sagte Hinnerk und schob Ive am Arm vor sich her, ich habe es gleich gewußt, daß das nichts taugt, als ich dich zu den Füllfederartilleristen gehen sah. Ihr seht vor lauter Problemen die einfachsten Dinge nicht mehr. Du bist eben zu fein geworden, um dich klipp und klar entscheiden zu können. Aber hast du denn, verdammt nochmal, nicht genug davon, den Hanswurscht zu spielen? Und jetzt machst du auch noch in Tragik und hüpfst mit hängenden Ohren herum – wie ein Kaninchen, das sein Loch verloren hat. Du mußt wissen, ob du zur Bourgeoisie gehörst oder zur jungen Mannschaft, und alle deine Bedenken sind einfach für die Katz. – Du vergißt, sagte Ive sanft, daß ich mein Loch nicht verloren habe, daß meine Mannschaft eine alte und ewige Mannschaft ist, daß ich mich für die Bauern entschieden habe, und daß es für mich nichts zu verlieren, sondern alles nur zu suchen, gilt. – -Was denn, sagte Hinnerk, deine Bauern in Ehren, aber du kannst dich nicht mit ihnen zwischen den Fronten im Niemandsland herumdrücken, und kein Aas weiß, wohin du eigentlich gehörst. Ich will dir sagen, was notwendig ist: die junge Mannschaft aus allen Lagern zusammenzuführen, und wenn es dabei auch manchmal Prügel gibt, das macht der Freundschaft kein Loch und mit den geeinten Bataillonen die längst bankerotten Beutelschneider der Großindustrie und der Finanz zum Teufel jagen mitsamt ihrem korrupten Anhang von Speckjägern und Schleimscheißern, und dann das einzig anständige Gesetz der Kameradschaft an die oberste Stelle setzen, das ist notwendig, und das andere, mein Lieber, das kommt ganz von alleine. Und das kannst du nun Sozialismus nennen oder Nationalismus, das ist mir heilig wurscht. – Und mit der roten Armee siegreich Frankreich schlagen, und mit der weißen Armee Polen erobern, ich weiß, sagte Ive, und ein Bündnis mit Rußland und Italien, ich weiß, wollen doch mal sehen, ob das nicht im Handumdrehen gemacht ist. Ach Hinnerk, der Napoleon war ja soweit ein ganz guter Kerl, nicht wahr, aber eben dumm, dumm, wir werden das alles viel besser machen. – Na ja, sagte Hinnerk, du sprichst, als seiest du schon Redakteur bei Ullsteins, sieh doch mal zu, ob sie dich nicht nehmen bei der Grünen Post. Wir können nicht alle so schlau sein wie du. – Und wir können nicht alle anfangen zu scheringern, und die Internationale singen, weil das der einzige Weg ist, national zu sein. – Das ist alles Gewäsch, sagte Hinnerk und blieb stehen und packte Ive an die Schulter. Mensch, man möchte dich hernehmen und schütteln,... Das besorgt die Stadt schon zur Genüge, sagte Ive kleinmütig, und ich möchte wohl, daß du recht habest. Es sieht wahrhaftig so aus, als ob alles, was ich hier tat, für die Katz ist, und wenn ich die Bilanz ziehe, so bleibt vielleicht ein Plus nur für mich. Aber mir scheint, wir treten alle ein bißchen auf der Stelle, du auch, mein Lieber, und wenn das nicht zum Weinen ist, so ist es zum Kotzen, und ich habe große Lust, dir eine in die Fresse zu schlagen, vielleicht wird mir dann besser. – Immer in die falsche Ecke, sagte Hinnerk besorgt, komm mit mir, wir halten heute Gericht. Kennst du den Bauern Hellwig? fragte er schnell, der hat auch gescheringert und fühlt sich sehr wohl dabei, der arbeitet jetzt in der kommunistischen Bauerngewerkschaft, und vielleicht hat er dir mehr zu erzählen als so ein Gehirnakrobat von der Weltbühne oder als so ein saudummes Luder wie ich. – Was haltet ihr, Gericht? – Ja, Erwerbslosengericht. Über das System. Das tun wir öfters. Es wird wohl wieder einige Todesurteile geben, sagte Hinnerk befriedigt, und wollte Ives Einwand, das scheine ihm doch etwas verfrüht, nicht gelten lassen. Hinnerk ging lachend und schwatzend an seiner Seite, groß, blond, stämmig und mit weiten Schritten. Er bewegte sich kraftvoll und unbekümmert in seinem grünwollenen Hemd, und Ive, der in seiner mm schon überall schäbig gewordenen Talmieleganz sich selbst nach Staub, Schweiß und Mühe zu riechen vermeinte, beneidete ihn kräftig- Jenem schien die, Stadt nichts anhaben zu können, er blieb im Grunde immer der gleiche, nur seine Stimme war etwas heiser geworden vom Anpreisen seiner Salzstangen, oder was er gerade sonst noch vertrieb. Und Ive mochte dem sich und aller Welt immer treuen Kameraden wohl zutrauen, daß er es lückenlos verstand, sich mit den Mächten der Zeit auseinanderzusetzen, indem er sich auf die einfachste Manier und von keiner intelligenten Blässe angekränkelt zu ihnen schlug, ohne auch nur einen Augenblick etwas Wesentliches seines eigenen Gehaltes aufzugeben, während Ive, der letzten Endes genau dasselbe versuchte, immer doch das Gefühl hatte, als rutsche ihm der Asphalt unter dem Hintern weg. Mit dir kann man Pferde stehlen gehen, hatte Ive einmal zu Hinnerk gesagt, – Autos, antwortete Hinnerk sofort, und Ive zweifelte nicht, daß er auch einmal: Flugzeuge! antworten würde. Weil die Zeit ihm nichts anhaben konnte, ging er immer mit der Zeit, und seine ganze Kraft beruhte zuletzt doch einzig in der simplen Bereitschaft, das gerade im Augenblick Notwendige zu tun, wobei es sich dein freilich stets erwies, daß das gerade Notwendige sich ewig gleich blieb und nur die Formen wechselte. Hinnerk machte auf die primitivste Art Politik, die es überhaupt geben konnte, aber er machte Politik, und Ive machte gar nichts, sondern redete Kaff, wie Hinnerk sich ausdrückte, und Ive fragte sich selbst, wie er wohl seinen Hochmut gegenüber seinem Freunde hätte rechtfertigen können. Wen« Hinnerk: „klassenbewußt“ sagte, meinte er vermutlich den Stolz einer Zugehörigkeit, und es war ihm wohl gleichgültig, welche Zugehörigkeit es sein mochte, er hätte auch „rassenbewußt“ sagen können, jedenfalls glaubte er unerschütterlich an die große Genossenschaft der anständigen Kerle, und er hätte wohl ebensogut Führer einer russischen Arbeiter-Stoßbrigade, wie der faschistischen Miliz sein können, ebensogut Capitain einer englischen Rugbymannschaft, wie SA-Mann im Wedding, das Feld war weit für ihn und seinesgleichen, nirgends war er unvorstellbar, außer vielleicht als Mitglied der Liga für Menschenrechte. Woher er kam, aus welchen Verhältnissen er stammte, wußte Ive nicht, Hinnerk sprach nie davon, und sicher nicht, weil er Scheu gehabt hätte, sondern weil er dem keinerlei Bedeutung beimaß; er war da, und wo er schied, hinterließ er mit Sicherheit Spuren seines Wirkens. Im übrigen bestand kein Zweifel, daß er immer bereit war, gegen alle gesetzgebenden Mächte der Welt zu handeln, nur nicht gegen die der Kameradschaft, und also konnte ihm auch nichts fehlschlagen, denn Hinnerk beging niemals einen Verrat. Wenn er nun die Trupps junger Erwerbsloser vor dem Versammlungslokal im Zentrum der Stadt mit einem schallenden Rot Front! begrüßte, oder im Norden die SA mit Heil, so war und blieb doch der Gedanke absurd, er könne sich jemals als Spitzel betätigen. In der Tat kamen die Gestalten von hier und dort doch fast alle aus einem Topf, und der Haß, der zwischen ihnen stand, war der von verfeindeten Blutsbrüdern, die aus der Einheit des Gefühles handeln, heiß, unerbittlich und notwendig, doch ohne die Fremdheit, die den Haß erst kalt und unauslöschlich macht. Hinnerk bewegte sich unter ihnen mit unbekümmerter Sicherheit, «ad Ive hatte ein überaus schlechtes Gewissen; er kam sich selber verdächtig vor, nicht etwa deplaciert. Im Grunde ist es eine Schweinerei, dachte er, daß ich nicht handele wie Hinnerk. Und nachdem er sich so beschimpft hatte, konnte er sich mit dem Gedanken beruhigen, daß ihm alle Möglichkeiten der Wahl gegeben waren, solange ihn noch nichts zwingend ergriffen hatte, und bis dahin mußte er den schändlichen Zustand des freien Willens, den er sich naiv für Zeit gesetzt sah, als härtende Probe betrachten. Der Bauer Hellwig, mit dem ihn Hinnerk bekannt machte, stammte aus dem Hannoverschen und war ein mittelgroßer, noch junger Mann mit schmalem, aber gesundem Gesicht und abwartenden Augen. Ive entsann sich, mit ihm schon einmal anläßlich der Gründung der Landvolkpartei gesprochen zu haben. Damals wollte jener die Partei als eine Gegenorganisation des Landbundes betrachtet wissen, wünschte auf alle Fälle eine Verschiebung des politischen Schwergewichtes in der Bauernschaft und trug sich mit Plänen, die auf eine enge Verbindung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften mit den Konsumgenossenschaften des Arbeitertumes hinzielten. Ive hatte ihm seine Bedenken nicht verhehlt, weniger, weil er etwa die Hegemonie des Landbundes nicht angetastet wissen wollte, als weil ihm in der Form einer eigenen Partei die Voraussetzungen einer bäuerlichen Machtbildung zu fehlen schienen. Die Entwicklung der Partei hatte Ive recht gegeben, und Hellwig gab ihm das, sich mit Ive und Hinnerk zwischen den Stuhlreihen und loschen drängend, mit Lächeln zu. Der Saal, der sonst zu kleinbürgerlichen Festlichkeiten dienen mochte, war dicht gefüllt. Etwa tausend Erwerbslose, Männer und Frauen, saßen und standen in dichten Gruppen herum, doch nicht in jener dumpfen Erwartung, die sonst politischen Versammlungen die Atmosphäre gab, sondern wie in der trotzigen Bereitschaft zur Erfüllung einer selbst gesetzten Pflicht. Auf dem Podium an der Schmalseite gegenüber dem Eingang des Raumes standen unter der roten Fahne mit Hammer und Sichel drei Tische, der mittlere in Front zum Saal, die beiden anderen rechtwinklig ihm zur Seite. Als sich an diesen Tischen einige Personen niederließen, verstummten alle Stimmen im Saal und alle Gesichter richteten sich nach vorn. Vier Männer und eine Frau nahmen an dem einen Seitentisch Platz, an den beiden anderen Tischen je ein Mann. Der Mann in der Mitte erhob sich und sagte: Ich eröffne das proletarische Gericht der Erwerbslosen. Der Ankläger hat das Wort. Der Ankläger trat, die Hände in den Hosentaschen, an die Rampe. Er sagte: Zu den widerlichsten Verbrechen des kapitalistischen Systems gegen die Arbeiterklasse und damit gegen die Entwicklung der Menschheit überhaupt gehört der vollkommen gelungene Versuch, die Machtinstrumente des Staates zu Machtinstrumenten der besitzenden Klasse zu machen. Wer an diesem Versuche teilnimmt, kann, bei dem Stande der proletarischen Aufklärung, über den Charakter seines Handelns nicht im Zweifel sein. Das arbeitende Volk setzt der Waffe der Klassenjustiz die Waffe seiner Justiz entgegen. Es urteilt über die Verbrecher, und das Urteil wird von den Exekutivorganen Sowjetdeutschlands vollstreckt werden. Ich rufe den Zeugen Nr. 1 auf, vorzutreten und auszusagen. Der Ankläger setzte sich, und ein Mann vom Seitentisch trat vor die Menge. Genossen, sagte er, ich bin gelernter Eisendreher und seit zweieinhalb Jahren arbeitslos, neununddreißig Jahre alt, Kriegsteilnehmer, verheiratet, drei Kinder. Er sprach wie ein Mann, dem es nicht fremd schien, vor einem Gericht zu stehen, doch hatte seine Aussage nichts Angelerntes. Er habe eine Wohnlaube, sagte er und fügte hinzu, deswegen sei er aber noch nicht als Großgrundbesitzer zu bezeichnen. Vor einer Woche nun, gerade an dem Tage, an dem, wie er später erfuhr, einige Lebensmittelgeschäfte geplündert – und verbesserte sich: angegriffen – wurden, habe er mit seinem Arbeitsgerät, das er nicht in der Wohnlaube lassen könne, weil es sonst geklaut würde, an der gewohnten Trambahnhaltestelle gewartet. Er habe wohl gemerkt, daß es in den Nebenstraßen unruhig sei, aber er habe sich darum nicht gekümmert. Dann seien einige Schupoleute gekommen, mit langsamem Schritt, wie gewöhnlich, auch ein Offizier sei dagewesen, den er vom Sehen kenne, der habe aber weiter weg gestanden. Zwei Schupoleute seien an ihm vorbeigegangen, und der eine habe zu ihm gesagt: Weitergehen. Da habe er sich umgewandt und nur gesagt: Ich warte hier auf die Tram. Und in demselben Augenblick habe der eine Schupomann auch schon mit dem Gummiknüppel zugeschlagen, mit voller Wucht auf den Kopf, – und er zeigte die Stelle – und er sei sofort hingestürzt und alles habe sich vor seinen Augen gedreht. Der Ankläger fragte, ob er nicht doch vielleicht ein bißchen mehr gesagt hätte, als: Ich warte hier auf die Tram? Nein, er habe bestimmt nicht mehr gesagt. Ob er nicht mit seinem Arbeitsgerät vielleicht eine Bewegung gemacht hätte, die der Schupomann als Bedrohung hätte auffassen können? Nein, er habe seine Hacke und die Schaufel auf der Schulter gehabt, und an der Hacke hing noch das Bündel mit den Saatkartoffeln. Ich habe nichts weiter gemacht, als mich umgedreht und gesagt: Ich warte hier auf die Tram. Doch müsse er hinzufügen, daß er vielleicht nur darum gestürzt sei, weil er Kriegsbeschädigter wäre, aber der Schlag sei jedenfalls auch ohne das kein Vergnügen gewesen. Wie er nun am Boden gelegen habe, sei der Offizier gekommen und habe mit lauter Stimme gesagt: Machen Sie, daß Sie fortkommen, Sie wollen wohl noch mehr Senge haben. Das habe er gesagt, und habe gewartet, bis er sich hochgerappelt habe und sein Arbeitszeug aufgesammelt und in einen Hausflur getreten sei. Der Ankläger fragte, ob er, vom Schlage betäubt, den Offizier nicht vielleicht falsch verstanden habe? Nein, er habe ihn genau verstanden, und es sei ihm der Ausdruck „Senge“ besonders genau im Gedächtnis geblieben. Du hast, Genosse, sagte der Ankläger, vorhin gesagt, daß du den Offizier vom Sehen her kennst. Wer war es denn? Das war der Oberleutnant Schweinebacke, sagte der Zeuge, und der Ankläger hieß ihn sich setzen und rief den Zeugen zu auf, vorzutreten und auszusagen. Dies war ein blasser, schmaler Mensch, Beruf: Büroangestellter, seit drei Jahren ohne Stellung, verheiratet, zwei Kinder, sechsundzwanzig Jahre alt. Er sprach leise und stockend. Meine Dame und Herren, sagte er, nicht „Genossen“. Ja, er sei aus seiner Wohnung exmittiert worden. Er konnte die Miete nicht von der Unterstützung zahlen. Er habe gehofft, daß die Wohlfahrt die Miete zahlen werde, weil die Frau krank sei. Aber er habe nur das bekommen, was die anderen auch kriegen. Lungenkrank, ja, und darum habe er auch nicht ausziehen wollen. Doch, er habe an die Hausverwaltung geschrieben. Wem das Haus gehöre, fragte der Ankläger. Einer ausländischen Gesellschaft, die mehrere Häuserblocks im Besitze habe. Da könne er nichts machen, habe der Hausverwalter gesagt und auf Räumung geklagt. Er habe sich aber nicht darum gekümmert, weil er nicht habe glauben können, daß er einfach auf die Straße gesetzt werde, mit der kranken Frau und den beiden Kindern. Der Ankläger fragte und fragte. Er habe den Leuten gesagt, die seine Möbel heraustrugen: Kollegen, warum tut ihr das? Da habe ihm der Schupo gesagt, er solle gefälligst die Schnauze halten. Aber wo soll ich denn um Gottes willen hin mit der kranken Frau und den beiden Kindern? Das ginge ihn nichts an, sagte der Schupo, und die Packleute trugen die Möbel hinaus. Da sei er zur Gastwirtschaft gelaufen, um mit der Polizei zu telefonieren. Es habe sich auch der Offizier gemeldet. Er habe nicht gewußt, wer der Offizier gewesen war, aber es war nicht der Reviervorsteher, den kenne er gut, weil er öfter dort was habe unterschreiben müssen. Wo soll ich denn um Gottes willen hin, mit der kranken Frau und den beiden Kindern? – Das hätte er sich vorher überlegen können. Die Exmittierung würde vollstreckt, es bliebe dabei. Und dann habe der Offizier angehängt Da habe er die Geschichte seinen Freunden, die in der Gastwirtschaft waren, schnell erzählt, und sie seien alle miteinander zu seiner Wohnung gegangen. Vor der Türe haben schon die Möbel gestanden. Drinnen habe seine Frau furchtbar geschrien und die Kinder auch. Die Frau lag zu Bett. Nein, er sei allein in die Wohnung gegangen, die Freunde haben draußen gewartet. Dann sei der Schupo an das Bett getreten und habe gesagt: er kenne das, das sei alles simuliert. D« Frau habe noch mehr geschrien. Der Schupo habe auch geschrien, aber mehr zu ihm, als zu der Frau. Da sei er herausgelaufen und habe die Leute draußen gerufen, es waren eine ganze Menge geworden, ja, auch solche, die er gar nicht kenne. Und dann hätten sie die Möbel wieder hereingetragen, und sogar einer von den Ziehleuten habe mitgeholfen. Es seien aber gar keine richtigen Ziehleute gewesen, sondern Arbeitslose. Nun habe der Schupo gedroht, und als sich niemand um ihn kümmerte, sei er zur Gastwirtschaft gelaufen und habe Verstärkung herbeitelefoniert. Die sei dann auch im Auto gekommen. Ja, der Offizier wärt dabei gewesen. Und sie haben mit dem Gummiknüppel auf die Leute im Zimmer und auf der Treppe eingehauen und die Menge zerstreut. Dann haben die Polizisten die Wohnung ganz ausgeräumt, alles einfach auf die Straße. Auch das Bett, mitsamt der Frau. Er sei zu dem Offizier gelaufen und habe geweint, und der Offizier habe ihm gesagt, auf die Manier würde er auch noch zu einer Anzeige wegen Widerstand und Aufhetzung kommen. Schließlich sei doch noch ein Wagen von der Wohlfahrt gekommen, und die Frau habe sofort ins Hospital gemußt. Drei Tage später ist sie dann gestorben. Der Ankläger fragte, ob die Stimme am Telefon und die des Offiziers bei der Exmittierung dieselbe gewesen sei? Ja, es sei dieselbe Stimme gewesen. Ob er immer noch nicht wüßte, wer dieser Offizier gewesen sei? Doch, einer von den Kollegen habe gesagt, das sei der Oberleutnant Schweinebacke, sagte der Zeuge und der Ankläger hieß ihn sich setzen und rief den Zeugen 3 auf, vorzutreten und auszusagen. Das war ein junger Kerl, stämmig und braun, ein Hübscher, wie die Frau neben Ive sagte, und grüßte nicht mit „Genossen“, sondern mit einem kräftigen „Rot-Front“. Zweiundzwanzig Jahre alt und hatte in seinem Leben noch nie eine feste Arbeit gehabt. Er ließ dem Ankläger keine Zeit zu fragen und erzählte seine Geschichte, als habe er sie schon oft erzählt, lebendig und mit saftigen Bemerkungen geschmückt. Beim Metallarbeiterstreik sei er in Siemensstadt gewesen, natürlich nur so, aus reinem Zufall, denn Streikpostenstehen sei ja verboten, und etwas Verbotenes tue er grundsätzlich nicht. Wie ich da komme, traue ich meinen Augen kaum, alles blau. Wieso ist denn blauer Montag heute, habe er ganz freundschaftlich einen von den Schupos gefragt. Scheren Sie sich weg. Das habe er nicht gewußt, daß es auch verboten sei, spazieren zu gehen, ob der Herr Schupo nicht sagen könne, wie er seine Zeit besser anwenden könne? Wenn Sie sich nicht sogleich wegscheren... Da sei er in eine Kneipe gegangen, um auf den Schreck einen zu nehmen. Die ganze Bude war voll, aber es hat keiner eine Runde schmeißen wollen. Sein Kumpel Paul sei auch dagewesen, und der habe ihm gesagt, es seien einige Kollegen da, denen ginge es noch nicht dreckig genug. Also sei er aufgestanden und habe gefragt, ob es wahr sei, daß der eine oder der andere von den werten Anwesenden vielleicht unter die Arbeiterverräter gegangen sei? Ei weih, da hatte er richtig ins Fettnäpfchen getreten, lauter Gelbe. Das ist ein Roter, habe einer in braunem Hemd geschrien, und alles ging hoch. Ich hinter die Theke, der Paul ran an den Abwasch und „Abservieren“ – und fünf Minuten später sei einer gelaufen, die Grünen zu holen, und da war denn richtig der ganze Regenbogen beisammen. Ehre, wem Ehre gebührt, aber die blauen Grünen seien sehr liebenswürdig gewesen, sie hätten gleich zu ihm gesagt: Dich kamen wir schon lange. Und dann haben sie ihn als vornehme Leute eingeladen, in ihrem Auto Platz zu nehmen. Da er aber ein verträglicher Charakter sei, habe er gebeten, doch auch den jungen Herrn in braunem Hemd die Annehmlichkeiten einer kleinen Spazierfahrt teilhaftig werden zu lassen. Dies taten sie jedoch nicht, vielmehr schoben sie ihn und Paule auf den Wagen, und dann stiegen noch etwa zwanzig Mann Schupo dazu, und ein Offizier, alles Kerle, zwei Koppe größer als ich. Und dann fuhren wir ab mit einem wehmütigen Blick auf das Lokal, in dem kein Glas und kein Stuhl mehr ganz war. Der Paule aber wollte sich nicht zufrieden geben. Genossen, sagte er, das ist doch ungerecht... Halt Schnauze, sagte der Schupo neben ihm, wir sind deine Genossen nicht, und ich sagte: Paule laß das, du kennst die Herren doch nicht, man muß nicht gleich so intim werden. Ihr sollt eure dreckigen Schnauzen halten, sagte der Schupo neben mir, und ich gab dem Paul ein Zeichen, still zu sein, denn ich, ich kannte die Herren. Auf der Wache seien sie dann zum zweiten Male visitiert worden, und er habe sich gleich ganz ausgezogen und vorgebeugt, um zu zeigen, daß er keine Kanone im Arsch habe. Denn wenn er auch ein uneheliches Kind sei, so wisse er doch sehr wohl, was sich bei feinen Leuten schickt. Da habe der Paul trotz allem Winken wieder angefangen Krach zu schlagen. Zu zehnen sind sie über ihn hergefallen. Aus den Nebenräumen sind sie gekommen und haben den Paul herausgezerrt aus seiner Ecke, und dann ging's los mit den Gummiknüppeln und den Koppelriemen. Hoch Liebknecht, habe, der Paul gerufen, da sei er auch schon am Boden gelegen, und um ihn herum die Kerle, und haben ihn verrollt, bis er Blut spuckte. Natürlich sei er vorgesprungen, um dem Paul zu helfen, aber vier Mann haben ihn gehalten, und mit dem Gummiknüppel immer rein in die Fresse, drei Zähne haben sie ihm ausgeschlagen. Und er öffnete den Mund weit und zeigte auf die schwarzen Lücken in seinem Gebiß. Gebt ihm Saures, er röchelt noch, habe ein Schupo geschrien, als die anderen aufhören wollten, auf den Paule loszudreschen. Ein Arm war dem Paul gebrochen und die Visage sah aus wie ein Mutterkuchen. Sie haben den Paul dann ins Polizeikrankenhaus gebracht, und ihn selber auf den Alex, wo er sich dann wieder in anständiger Gesellschaft befunden habe. Nach drei Wochen haben sie ihn wieder entlassen müssen, denn er sei ein vorsorglicher Mann und habe sich seinen Jagdschein schon vor vier Jahren besorgt. Der Paul aber läge noch im Spital, und es werde zum Prozeß kommen. Und das käme davon, wenn man immer so merkwürdige Bekanntschaften mache, kein Aas wolle es nachher gewesen sein. Natürlich könne der Paul nichts machen, denn Mann für Mann würden sie ja wohl vortreten und den Finger heben, und aussagen, der Paul sei schon in Siemensstadt so sauber zugerichtet worden, und alles, was er erzähle, sei nicht wahr, und er selber käme ja als Zeuge wegen §51 nicht in Frage. So könne der Paul dem Ball nicht die richtigen Züge geben und könnte singen nach dem schönen Wort des Dichters: Bricht auch des Schiffes stolzer Mast und reißen alle Segel, wir aber schieben unsern Knast in Plötzensee und Tegel. Der Ankläger fragte: Und der Offizier, was tat der Offizier während der Prügelei? Ja, der sei die ganze Zeit anwesend gewesen und habe sich umgedreht und das Inventarverzeichnis der Wachstube sehr aufmerksam durchstudiert. Ob er wisse, wer der Offizier gewesen sei? Aber gewiß doch, er habe die Ehre schon öfters gehabt, es war der Oberleutnant Schweinebacke, sagte der Bursche und der Ankläger hieß ihn sich setzen und rief den Zeugen 4 auf, vorzutreten und auszusagen. Hinnerk aber notierte sich den Namen des Zeugen 3, den er sich von seinem Nachbarn sagen Hess; ein knarscher Bursche, sagte er, den muß ich kennen lernen. Der Mann, der nun vorne sprach, war der Typus des in Ehren grau gewordenen Werktätigen, Kassenwart der Arbeiter-Liedertafel, Lokomotivführer, seit einem Jahre abgebaut Witwer und im schwarzen, langen Rock. Er könne nicht allem zustimmen, was der Vorredner gesagt habe, und er müsse betonen, daß er kein Kommunist sei, er gehöre keiner Partei an. Wenn er sich bereit erklärt habe, hier zu sprechen, so geschehe das aus Freundespflicht. Denn er könne nicht zulassen, daß in der Welt jetzt ungestraft Zustände einreißen, wie die, denen sein Freund zum Opfer gefallen sei. Fünf Jahre lang sei er täglich mit seinem Heizer auf derselben Maschine gefahren, und er habe ihn kennen gelernt als einen treuen, braven, arbeitsamen und ruhigen Mann, mit dem er sogar Freund geworden sei, und zu dem er immer das Vertrauen haben konnte, daß alle Pflicht getan wurde. Auch nachdem er selber abgebaut wurde, sei sein Heizer oft zu ihm gekommen, und als der Heizer dann eines Tages von der Reichsbahn fristlos entlassen worden sei, wegen unzulässiger Propaganda, habe er weiterhin zu ihm Vertrauen gehabt und habe ihn sogar bei sich aufgenommen. Sie hätten zusammen ihren Haushalt gehabt, gerade gegenüber dem Arbeitsamt. Täglich sei der Heizer zum Arbeitsamt gelaufen, zu fragen, ob er nicht eine Stelle frei finde, aber immer sei er vertröstet worden. Es sei wahr, der Heizer habe oft unten mit den anderen diskutiert, aber er sei ein ruhiger Mann gewesen, und habe auch immer die Beamten entschuldigt, die eben auch nicht mehr machen könnten als ihre Pflicht, wo doch bei den schrecklichen Zuständen alles so nervös geworden sei und überall so viele notwendige Ansprüche gestellt würden. Auch an dem Tag, wo die Arbeitslosen in das Amt eingedrungen seien, habe der Heizer davon abgeraten, sei zu ihm heraufgekommen und habe gesagt, das sei eine große Dummheit, einfach alles kaputt zu schlagen, und damit sei niemand gedient, öfters sei er auch mit einem Mann heraufgekommen, den er da unten kennen gelernt habe. Heinrich, laß die Freundschaft mit dem Mann, habe er zu ihm gesagt, ich traue dem seinem Gesicht nicht, aber der Heinrich meinte, das sei ein echter Genosse mit guten Ansichten, der was übrig habe für die Arbeiter, und mit dem man frei sprechen könne. An dem Tage aber habe es sich gezeigt, was dieser Freund wert war. Dieser Mann sei es gewesen, der die anderen aufgehetzt habe, endlich zu Taten zu schreiten. Wie der Heinrich oben war, hat er gesagt, ich muß jetzt runter und mit dem Mann reden, so geht das nicht, und er ist wieder runter gegangen. Aber da war alles schon in vollem Gange. Sie haben die Internationale gesungen und die Fenster eingeschlagen, und ich konnte von meinem Fenster aus alles genau sehen. Mein Heizer war nicht dabei, er hat den Mann gesucht, aber der war plötzlich verschwunden. Wie dann die Polizei gekommen ist, da war auch der Mann plötzlich wieder da, und hat mit dem Offizier gesprochen, und sie haben den Heinrich gleich festgenommen. Ich bin gleich runtergelaufen, um dem Heinrich zu helfen, aber wie ich zu dem Offizier gegangen bin und habe angefangen, ihm alles zu erklären, hat er sich einfach umgedreht und ist weggegangen. Den Heinrich haben sie dann zu dem Wagen geführt. Da sind die anderen aber aus dem Arbeitsamt herausgelaufen gekommen und die Polizei immer hinter ihnen her, und wie sie gesehen haben, daß sie den Heinrich festhalten, haben sie Steine aufgesammelt und auf die Polizei geschmissen und sind auf den Wagen vorgestürmt. Und da hat der Heinrich sich losgerissen und wollte weglaufen. Da hat der Offizier gepfiffen und die Polizisten, die noch im Haus waren, sind herausgelaufen, mit den Karabinern in der Hand, und dann haben sie auf die Arbeiter angelegt. Der Heinrich war schon ein Stück weg, und sie haben auf ihn gezielt, das nicht, habe ich gerufen, das nicht, und da haben sie mir einen Stoß gegeben und dann knallten die Schüsse, und der Heinrich ist gleich umgefallen. Sie haben mich gar nicht rangelassen, wo er lag, und es war ein fürchterlicher Tumult. Dann habe ich erfahren, daß der Heinrich tot war und im Polizeibericht stand, er sei ein Haupträdelsführer gewesen, und habe die Polizisten tätlich angegriffen, und sie hätten in der Bedrängnis die Schüsse abgegeben. Ich weiß aber, wer der Rädelsführer war, und wie alles zugegangen ist, und ich bin zur Polizei gegangen, da haben sie mir aber gesagt, ich käme selber wegen Aufruhrs in Frage, und ich solle zufrieden sein, wenn gegen mich nichts unternommen würde. Und so komme ich denn zu Ihnen und frage: Ist das Recht, daß einfach so ein Menschenleben nichts mehr gilt, und die Wahrheit unterdrückt wird? Und ist das notwendig, daß gleich, bums, geschossen wird, als sei das nichts? Und ist das anständig, so einem Spitzel mehr zu glauben, als einem ehrlichen Mann? Ob er den Offizier kenne, fragte der Ankläger. Nein, er kenne den Offizier nicht. Ob das der Offizier sei, fragte der Ankläger und zeigte eine Photographie. Ja, das sei er. Es ist der Oberleutnant Schweinebacke, sagte der Ankläger und hieß den Mann sich setzen und forderte die Frau auf, vorzutreten und auszusagen. Sie sprach leise und zum Ankläger gewandt, so daß dieser oft wiederholen mußte, was sie gesagt hatte und immer wieder Fragen stellte. Sie mochte sechzig Jahre alt sein, und sah aus, als ob sie noch einmal schwanger wäre, mit dem dürren Leib und dem vorquellenden Bauch, und Ive, der immer mit einigem Verdacht vor den plakathaften Zeichnungen der Käte Kollwitz gestanden hatte, spürte hier die starke Wirkung der typisierten Kunst, da das lebendige Modell sogleich die Empörung aus gewolltem Mitleid weckte. Siebzehn Jahre sei der Junge alt gewesen, und hätte keine Stelle gefunden, nachdem seine Lehrzeit um war. Zu Hause hätte er aber auch nicht rumliegen wollen, und so sei er zu der kommunistischen Jugend gegangen, und jeden Samstag raus an die Seen mit seinem Zelt, und sie hätte immer Angst gehabt, daß er da in schlechte Gesellschaft kommen könne, aber er habe immer so begeistert erzählt, daß sie ihn habe auch weiter laufen lassen. Der Vater sei ja im Kriege tot geblieben, und er sei der Jüngste gewesen, und viel Freude habe er ja doch nicht gehabt in seiner Jugend. Sie hätte ihr Auskommen, es sei schwer, aber sie hätte die Rente, und wenn sie sich einrichte, ging es. Aber der Junge sei nicht zufrieden gewesen, er habe überall rumgefragt, ob sie ihn nicht nehmen wollten, aber nein, es war nichts zu machen. Sie habe immer Angst gehabt, daß er in die Kneipen laufe, aber nein, das tat er nicht, im Hause habe er alle Arbeit gemacht und ein- i geholt und das Geschirr gespült, aber das alles war keine Arbeit für einen Jungen. So sei er immer mehr mit seinen Freunden zusammen gewesen, und einmal habe sie in seiner Schublade einen Revolver gesehen. Sie sei sehr erschrocken gewesen, und habe ihn gefragt und er habe gesagt, das sei für den Tag der Abrechnung, und habe dabei ganz wild ausgesehen. Da habe sie Angst gehabt, und den Revolver weggenommen und ihn ihrem Schwager gegeben, und der habe gelacht und gesagt, mit dem Ding könne der Junge nicht mal einen Spatzen totschießen, es sei ja ganz verrostet und die Feder wäre auch kaputt, und habe den Revolver dem Jungen zurückgegeben und ihm gesagt, er solle kein dummes Zeug reden-. Und sie habe den Jungen noch oft gefragt, ob er nicht dummes Zeug mit seinen Freunden triebe, und er habe sie offen angesehen und gesagt, nein, und weil er immer die Wahrheit gesagt habe, so habe sie ihm auch geglaubt. Sie habe vier Söhne gehabt, einer sei im Betrieb verunglückt, zwei seien verheiratet in einer anderen Stadt, und den Jüngsten. Sie habe ganz allein mit dem Jungen gelebt. Er sei immer gehorsam gewesen, nur immer so unruhig. Am Tage, wo die Schießerei war, habe sie ihm verboten, aus dem Haus zu gehen, und er habe gesagt, Mutter, ich muß zu meinen Freunden, ich darf sie nicht im Stich lassen. Sie habe ihm aber gesagt, das seien keine guten Freunde, und habe ihn gebeten, und ihm gesagt, daß sie nicht zu allem Unglück auch ihn verlieren wollte, denn sie habe schon so eine schlimme Ahnung gehabt, und habe ihn den ganzen Tag nicht aus den Augen gelassen. Er war sehr unruhig und ist immer zum Fenster gelaufen und hatte auch eine rote Fahne zum Fenster herausstecken wollen, sie habe aber alles rote Tuch weggeschlossen. Da sei er wütend gewesen und habe geschrien, und sie habe ihm gesagt: so ist es recht, vergreif dich nur an deiner Mutter, da habe er geweint und sei in seine Kammer gegangen. Sie habe sich gar nicht getraut, einzuschlafen am Abend, aber am Morgen war er weg. Die Nachbarin habe ihn weggehen sehen, ganz früh, und sie habe so schreckliche Dinge erzählt, daß sie geweint habe und nicht gewußt habe, was sie tun solle, und nur gehofft habe, daß alles vorbei sei, und er seine Freunde nicht finden werde. So sei sie die Treppe heruntergelaufen auf die Straße, und da habe es auch schon wieder angefangen. Alle Leute wären schrecklich erregt gewesen, und hätten gesagt, man solle die Polizei totschlagen wie Hunde, so hätten sie gehaust, und sie solle ja alle Fenster schließen, denn sie schössen gleich in die offenen Fenster. Und an der Ecke hätte es auch schon geknallt. Da seien die Leute alle weitergelaufen, und ein P^ Männer sind gekommen und haben gesagt, daß die Polizei auf die Dachschützen feuere, und mein Sohn sei auch dabei. Ich war ganz verzweifelt und wollte auf die Straße rennen, da sah ich den Jungen um die Ecke laufen und ich war ja so froh, ich habe ihn gerufen und bin schnell in den Hausflur und habe mich umgedreht und gesehen, wie er auf mich zurannte. Gott sei Dank, habe ich gedacht und wollte schon die Treppe hoch, da knallte es ein paarmal und der Junge läuft in den Hausflur und schreit: schnell, schnell, und ich wußte gar nicht, wo mir der Kopf stand, da schrien sie draußen: hier, hier, und dann schössen sie in den Hausflur, immer in den Hausflur, immer in den Hausflur. Und weil die Tür zugeflogen war, sah ich nichts und habe gerufen, Otto, Otto, und habe nichts gehört, weil es immerzu knallte, ganz furchtbar, und dann haben sie die Tür aufgerissen, und da lag mein Junge. Da lag mein Junge. Der ganze Saal saß vorgebeugt. Der Ankläger trat auf die Frau zu. Ob sie bei dem Jungen einen Revolver gefunden haben, fragte er. Die Frau zögerte und der Ankläger sagte, sie müsse wissen, daß die Partei den individuellen Terror ablehne. Die Frau sagte, sie wisse nichts, als daß ihr Schwager, der dann gekommen sei, zu den Polizisten immer gesagt hätte: aus dieser Waffe ist nicht geschossen worden, die Feder war schon kaputt. Und der Offizier habe gesagt, das könne er gar nicht beurteilen, und die Waffe sei konfisziert. Ob sie wisse, wer der Offizier gewesen sei? Der Oberleutnant Schweinebacke, schrie eine Stimme im Saal und ein Mann erhob sich. Ich bin der Schwager, schrie der Mann, und der Ankläger hieß die Frau sich setzen. Der Vorsitzende stand auf und fragte, ob im Saal jemand sei, der etwas zur Verteidigung des Angeklagten Oberleutnant Schweinebacke oder etwas zur Verteidigung des Polizeipräsidenten vorbringen könne. Er stellte fest, daß sich niemand melde und der Ankläger habe das Wort. Der Ankläger trat, die Hände in den Hosentaschen, vor die Rampe. Das Bestreben der modernen Polizei im modernen Staate, sagte er, richte sich nach dem Wort des sehr ehrenwerten Herrn Innenministers darauf, Popularität zu erlangen. Von den Mitteln, welche die Polizei zu diesem schönen Beruf anwende, zeuge das was das Erwerbslosengericht soeben gehört und erfahren habe. Es läge ihm ferne, das bekannte Pathos anzuwenden, daß vor den bürgerlichen Gerichten der berufsmäßige Verdachtschöpfer zur Erbauung seiner Auftraggeber und eines getäuschten Publikums mit solcher fülligen Leidenschaft vortrage. Hier sprächen die nackten Tatsachen für sich. Er füge hinzu, daß er jede der Aussagen sogleich protokolliert habe und ihnen nachgegangen sei. Es sei ihm nicht gelungen, einen Widerspruch zu entdecken, und er habe sich darauf beschränken müssen, von einer großen Anzahl ähnlicher Aussagen nur fünf Fälle vor das Gericht zu bringen. Er habe Anklage erhoben gegen den Oberleutnant Schweinebacke und gegen den Polizeipräsidenten, der für alle Handlungen seines Untergebenen selbst nach bürgerlicher Auffassung verantwortlich sei. Er müsse nochmals betonen, daß das klassenbewußte Proletariat jeden individuellen Terror ablehne, ablehnen müsse, niemals aber könne es darauf verzichten, die Feinde der Arbeiterklasse vor Gericht zu ziehen. Er klage an den Oberleutnant Schweinebacke und den Polizeipräsidenten wegen Mordes und wegen konterrevolutionären Handelns. Und er beantrage gegen beide Angeklagte die Todesstrafe. Der Vorsitzende erhob sich und sagte: Ich fordere denjenigen, der für den Antrag des Anklägers stimmt, auf, die Hand zu erheben. Rauschend fuhren die Hände in die Höhe. Mit zackigem Ruck stieß Hinnerk den Arm hoch, der Bauer Hellwig hob lächelnd die Hand und Ive, der das Blut in die Ohren schießen spürte, zögerte, um dann mit einem Stoß den Ellenbogen geradezubiegen und die Hand über den Kopf zu strecken. Die Angeklagten, sagte der Vorsitzende, sind einstimmig zum Tode verurteilt. Gegen das Gericht der Erwerbslosen gibt es keine Berufung. Das Urteil wird am Tage der sozialen Revolution von den Funktionären Sowjetdeutschlands vollstreckt werden. Die Sitzung ist beendet. Mit großem Stühlescharren erhob sich die Menge, mit einem Schlag füllte das Gewirr von Stimmen den Raum. Die Türen zum Eingang öffneten sich. Am Eingang entstand Verwirrung. Das Rattern von Autos erdröhnte. Eine scharfe Stimme schrie in den Saal: Achtung! Überfallkommando! Gelächter scholl auf. Im Eingang erschien der Tschako eines Polizisten. Die Versammlung ist aufgelöst. Langsam schob sich die Menge hinaus. Ive, Hinnerk und Hellwig, von der Menge gepreßt, rückten Schritt für Schritt vor. Neben ihnen, vor ihnen erhob sich gleichmäßiges Gemurmel. Schweinebacke, Schweinebacke, Schweinebacke, sagten die Leute, Männer und Frauen. Schweinebacke, murmelte Hinnerk, und Ive rückte vor. Er blickte durch den Eingang, über die Köpfe hinweg. Draußen stand Mann neben Mann das Kommando, Sturmriemen unterm Kinn, Karabiner in der Hand. Der Offizier stand allein neben dem Eingang, ein großer, etwas fetter Mann, mit blitzendem Silberkragen und einem breitflächigen Gesicht. Brodermann, sagte Ive halblaut. Schweinebacke, sagte Hinnerk wie vor sich hin und strich an Brodermann vorbei. Schweinebacke, sagte Hellwig und ging vorüber. Ive hob den Kopf, Brodermann ins Gesicht. Der blickte steinern geradeaus, keine Muskel bewegte sich, nur um die Nase grub sich ein tiefer und verächtlicher Zug. Schweinebacke, sagte Ive sehr laut und blickte Brodermann direkt an. Brodermann wandte die Augen ihm zu. Er schüttelte leise den Kopf, dann sah er wieder weg, ließ den Strom der schlappen Rache an sich vorüberspülen, mitten im Gedränge, allein, von seiner Mannschaft getrennt.

*

Es erstaunte Ive nicht sehr, daß sie, Hinnerk, Hellwig und er, nun sofort sicheren Schrittes auf eine der geräumigen Freßpaläste der Zivilisation zusteuerten, sich an einem Mahl zu erquicken, welches außer dem Vorsitzenden und dem Ankläger, die sich nicht weit von ihnen in einer Ecke niederließen, niemanden von den tausend Erwerbslosen, deren Gerichtsakt sie soeben verlassen hatten, verstattet war. Ive hatte es längst aufgegeben, Bedenken zu pflegen, die nicht anders als mit dem Schimpfwort „liberal“ zu bezeichnen waren, und fand im übrigen, nun ginge es schon in einem hin. Immerhin lag seine und Hinnerks finanzielle Situation so, daß sie beide nur ein kleines Helles bestellten, in der leisen Hoffnung, Hellwig werde es bezahlen, und sich über die Brötchen hermachten, indes Hellwig die Menükarte beiseite schob und ein Rinderfilet bestellte. Pudding, sagte er, und wies auf die Karte, das heißt, ein unverschämter Preisaufschlag und eine quabbelige, undefinierbare Pampe, sicher nur geschaffen, um die notleidende Stärkemehlindustrie nicht die Pforten schließen und Tausende von Arbeitern brotlos werden zu lassen; kein Mensch kann den Dreck verdrücken. Ab das Filet kam, eine handtellergroße Scheibe Fleisch und drei kleine Kartoffeln, die sich ihrer Verlassenheit schämten, begann Hellwig eifrig mit dem Bleistift auf der Rückseite der Karte herumzurechnen. Er schnitt sich ein Stück Fleisch ab und sagte: Keine fleischige Kuh, nach der heutigen Berliner Notiz, einschließlich Fracht und Gewichtsverlust sechzehn Mark der Zentner, kriegt der Bauer also ab Hof etwa hundertzehn – für eine Zehnzentnerkuh, die drei Jahre Aufzucht verlangt. Das da ist noch nicht ein Viertelpfund; Preis nach der Karte einssechzig. Im Laden kostet das Pfund Rindsfilet einssechzig. Rechne ich hoch, sagen wir sehr hoch, den günstigsten Fall, so kriegt der Bauer für das Pfund sechzehn Pfennig. Rechne ich ab die Differenz zwischen Lebend- und Schlachtgewicht, guter Durchschnitt fünfzig Prozent, rechne ich weiter ab zwanzig Prozent für Knochen und die ungleichwertigen Schnitte, so ist die Handelsspanne immer noch dreimal höher als der Verkaufspreis ab Hof. Zwischen Verkaufspreis und Ladenpreis je Pfund, wohlgemerkt! Das da ist nicht ganz ein Viertelpfund und kostet mich einssechzig, zwölfhundert Prozent dessen, was ich zu Hause dafür kriege. Wie nennt man das? Das nennt man Volkswirtschaft. Ich nenne das eine Schweinerei. Sie haben mir damals. Herr Iversen, gesagt, daß eine großzügige Genossenschaftspolitik mit Hilfe einer reinen Agrarpartei nicht durchgeführt werden könne, und ich habe Ihnen heute zugegeben, daß Sie recht behielten. Und Sie behielten auch recht mit Ihrer Vorhersage, daß sich jede Agrarorganisation innerhalb des kapitalistischen Systems, solange sie sich allem um die landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse bemüht, zwangsläufig in kapitalistischen Bahnen bewegt, sei es nun Landbund, oder Landvolkpartei, oder die weitverzweigteste landwirtschaftliche Genossenschaft. Was der Bauer fordern muß, im kapitalistischen wie in jedem anderen System, ist die Rentabilität seines Betriebes. Wie aber garantiert sich diese Rentabilität? Doch nur durch die Setzung der mittleren Linie zwischen den Ansprüchen der Produktion und des Konsums. Garantiert, sagte ich, das heißt, um die mittlere Linie herum darf nur ein genau auskalkulierter Spielraum sein, so groß, daß jeder naturgegebene Vorstoß elastisch aufgefangen werden kann. Also nicht das Gesetz zwischen Angebot und Nachfrage mit Konjunktur und Baisse darf maßgebend sein, sondern das Erfordernis eines gemeinsamen Etats. Unter dem kapitalistischen System ist das natürlich nicht möglich. Denn an der herrschenden Überproduktion ist ja nicht der mangelnde Konsum schuldig, sondern die mangelnde Organisation der Verteilung, und bei der einzig möglichen Wirtschaftsreform der Zukunft können die beiden Partner auch nicht Landwirtschaft und Industrie heißen. – Sondern? fragte Ive. – Sondern Bauern und Arbeiter, sagte Hellwig. Denn heute ist die Industrie durch die Zollpolitik der Agrarorganisationen gezwungen, ihren Arbeitern den Lohn zu senken, also den Konsum der Agrarprodukte zu verringern, was wiederum zu erhöhten Zollforderungen der Landwirtschaft treibt. Diesem neckischen Spiel ein Ende zu machen, bedarf es freilich einer Reihe von Konsequenzen, die unter dem Zeichen einer blutigen Voraussetzung stehen, Konsequenzen, welche mit der völligen Ausmerzung des privaten Zwischenhandels beginnen, also den mehrfachen, unnütz verteuernden Werbeprozeß ausschalten, den mehrfachen Umschlag der Produkte auf einen allerhöchstem zweifachen beschränken, den vom Erzeuger zur Genossenschaft, und von der Genossenschaft zur Konsumverteilung, und enden mit d6m Außenhandelsmonopol. – Die Voraussetzung, sagte Ive, – wäre der Sieg des Kommunismus. – Natürlich, sagte Hellwig. Glauben Sie mir, sagte er plötzlich mit Heftigkeit, daß für mich der Weg zum Kommunismus nicht mit Illusionen gepflastert war, und daß ich ihn nicht gegangen bin mit dem Hochgefühl des Neides oder des Hasses auf die großkotzigen Herren vom Landbund. Ich bin Mittelbauer, gewiß, aber ich bin Hofbesitzer. Ich treibe Veredelungs- und nur geringe Bodenproduktion, gewiß, aber ich bin Hofbesitzer. Ich habe meinen Hof da unten, und mein Vater hat ihn gehabt und mein Urgroßvater, ich bin niedersächsischer Bauernstämmling seit Jahrhunderten her, und wenn ich etwas verstehe, so ist es jene Zähigkeit, mit der der Herr von Itzenplitz auf Itzensitz seine dreitausend Morgen mit allen Mitteln verteidigt, und seine dreihundert Morgen Wald und seine Rehböcke dazu. Ich bin kein Brandstifter, weder von Profession, noch aus Leidenschaft, noch aus dem verbrecherischen Leichtsinn größenwahnsinniger Cafehausliteraten. Ich bin Hofbesitzer und Deutscher und will beides bleiben, und mein Weg ist ein verdammt bitterer Weg, und ich trage auf meinem Buckel einen Sack voll Verantwortung, der mich schwerer drückt bei jedem Schritt als ein Doppelzentner Buttergerste. Aber gerade darum schaue ich mich um und achte auf jeden Stein vor meinen Füssen, und mögen Illusionen angeflogen kommen, noch so federleicht, ich kann sie nicht mehr tragen, ich habe zu prüfen, und ich habe geprüft. Ich habe mich umgeschaut, und ich weiß, was gespielt wird, hier und dort, und ich kenne meinen Einsatz. Hier tut mir keiner was meinen schönen blauen Auge zuliebe, um des Reichsverbandes der deutschen Industrie willen könnte ich auf meinem Misthaufen verrecken, wenn ich nicht Maschinen und Kali kaufen müßte, und wenn der Bergarbeiter Kacszmareck nicht sein Rührei aus meinen Eiern und meinem Schinken machte, so ginge mich sein Schicksal einen Dreck an, und das von Rechts wegen. So ist das heute, und das ist gut so, denn das mag mich zwingen, den ganzen Ballast verlogener Vorurteile dahin zu werfen, wo er hingehört, in die Abortgrube, und jedem Mann und jeder Meinung, die mir begegnen, durch den Zinnober von Theorie und Phrase hindurch auf den eigennützlichen Grund zu schauen. Ich verteidige meinen Hof, wie ihn die Kollegen in Holstein und in Oldenburg verteidigen, aber es kann und darf dem Bauern nicht genügen, zu erhalten, was gefährdet ist – das versucht der Kapitalismus auch, und verliert durch seine kurze Sicht. Wenn wir jetzt auf dem Hof stehenbleiben, Gewehr bei Fuß, so werden wir immer auf dem Hof stehenbleiben müssen, Gewehr an der Backe; wenn wir jetzt und heute, da die Stunde einzigartig günstig ist, nicht aufmarschieren und die Position einnehmen, die uns von Rechts wegen zugehört, dann werden wir sie niemals mehr einnehmen können. Wir haben zu ergreifen, was sich an Möglichkeiten bietet, und auszuwählen, welche uns für alle Zukunft am vorteilhaftesten ist. Noch, und gerade jetzt ist es Zeit, den Vormarsch zu tun, das Hinterland zu sichern, das Vorfeld abzupatrouillieren; wer der Gegner von heute ist, das wissen wir, und wir wissen, daß der Freund von heute der Gegner von morgen sein kann, also machen wir uns heute mit seiner Hilfe so stark, daß er sich morgen hüten wird, uns anzugreifen. Ich bin durch die ganze Kirchweih gegangen und habe gesucht, und habe jede Bude abgeklopft, wie Sie es nun noch tun, Herr Iversen, und da ich weiß, was uns Bauern notwendig ist, und da ich weiß, was den anderen notwendig ist, und nun wirklich notwendig, das heißt die Not wendend, so sah ich auch, und alles Für und Wider in die Rechnung setzend, wo für uns die Möglichkeiten liegen. Ich weiß nicht, ob der Kommunismus in Deutschland siegreich sein wird, wenn auch viele Anzeichen dafür sprechen, aber ich weiß, daß nirgends als im Kommunismus, so, wie er sich bei uns und mit unserer Arbeit entwickeln müßte, die Möglichkeiten einer radikalen Bauernrettung gegeben sind. Er schwieg und vertilgte die letzte Kartoffel. Hinnerk sah Ive erwartungsvoll an. Das Geklapper der Messer und Gabeln auf den Tellern schrillte Ive nun sehr laut in den Ohren. Er spürte, daß er etwas sagen mußte, aber er hatte auf einmal nicht mehr viel Mut. Wie sonderbar das ist, dachte er, da sitzen wir drei mitten in der Stadt und sprechen, sprechen um der Bauern willen, die zu dieser Stunde draußen, fern in ihren Höfen hundemüde in den dicken Federbetten liegen und das Geräusch des kettenrasselnden Viehs dumpf gegen die Wände der Kojen schlägt. Da sitzen wir drei, dachte er, und sprechen von den Bauern, alle drei furchtbar allein in der Verantwortung, gerade in der Verantwortung, die uns doch keiner glaubt, uns, die wir hier sitzen, indes der Kellner in seiner weißen Jacke wütend darauf wartet, daß wir endlich besser konsumierenden Gästen den Platz räumen. Was zum Teufel, dachte Ive, gehen mich die Bauer an, ich habe noch einsfünfzig in der Tasche, und was gehen sie Hinnerk an, der da schweigend und mit gerunzelter Stirn an seinem popeligen Bier nuckelt und in einer Stunde losziehen wird, sein Brezeln zu verkloppen am Kadewe, und was gehen sie den Hellwig an, den sie nun schon zweimal verprügelt haben, als er in den Landvolkversammlungen sprach? Was geht das alles uns an, die wir langsam verbrennen und verkohlen, und die Karre läuft doch ihren holpernden Gang? Verantwortung, dachte Ive, Verantwortung, und es fragt uns kein Schwein da, wo wir sie tragen. Wo habe ich das schon gesagt? fragte er sich, „ich will da gefragt werden, wo ich Verantwortung trage“, ach so, während der Voruntersuchung zum Landgerichtsdirektor Fuchs, mit dem ich sprach, und mit dem Claus Heim nicht sprach. Claus Heim. Ive gab sich einen Ruck und sagte: Vielleicht haben Sie recht. Der Bauer Hellwig schob die Hand langsam nach vorn und ließ sie auf der Mitte des Tisches liegen. Kommen Sie doch zu uns, sagte er leise. Und plötzlich überfiel Ive eine wahnsinnige Furcht, eine fauchende Angst, die ihn mit ihren Stichflammen am Halse und unter den Augen sengend kitzelte, die giftige Pein einer komischen, himmelstürzend ernsthaften Frage. Das, das wird sein, daß wir nun noch einmal um uns selbst betrogen werden – hundert Jahre verloren durch die Schmach, der westlichen Lockung verfallen zu sein und hundert Jahre nun noch verfallen dem östlichen Ruf – wird das sein? Und wenn – Ive stierte auf das fleckige Tischtuch, und eine Sekunde lang blinkte ihm das Lächerliche seiner Situation auf, um vor dem Ansturm der Furcht gleich wieder zu verlöschen, – und wenn, Laßt sehen, was haben wir verloren und gewonnen? Verloren fast alles und gewonnen fast nichts. Gewonnen die Einheit des kleindeutschen Reiches und die Gewißheit eines neuen Beginns. Das ist alles? Gewonnen alles, was gegen die Zeit gedacht wurde, von Novalis und Hölderlin über Goethe zu Nietzsche. Das ist alles. Ist das nicht genug? Das ist nicht genug. Das ist wahrhaftig nicht genug, wenn wir es an der Hoffnung messen, die uns zu leben verstattet und an der Kraft, die wir in uns spüren. Und nun, da Gottes Mantel noch einmal vorüberweht, ihn wiederum nicht am Zipfel fassen können, aus Dummheit, Trägheit, Feigheit, gehemmt vom schon verdorbenen, verfaulten und verhurten Saft? Noch einmal für hundert Jahre und für hundert Irrungen verzichten sollen, das Ziel schon vor den offenen Augen und in den glühenden Herzen, die Botschaft schon auf den Lippen spüren, an der sich die ungelenke Zunge übt, und abermals versinken, und wer weiß, ob nicht für immer? Was denn, und wir schnappen hinter der Zeit her, wie ein gieriger Hund hinter dem davonkollernden Brot? Also immer wieder anfangen, immer noch einmal wieder anfangen; kleistisch leben, das ist es, dachte Ive und fuhr mit der Hand an seinen Hals, kleistisch leben, das soll dann, muß dann auch kleistisch sterben heißen! Kommen Sie zu uns, sagte der Bauer Hellwig und Ive richtete sich auf. Er schob seine Hand bis an die Mitte des Tisches, beugte sich vor und sagte: Ich will Ihnen genau erklären, was mich von Ihrer Partei in erster Linie trennt. Es ist dies das Prinzip der Internationalität der Partei. Und Ive wartete gespannt, ob Hellwig etwas sagen würde, aber er sagte nichts, er machte auch keine Handbewegung, er wurde ein wenig bleicher und sah Ive offen in die Augen. Dies Prinzip hat Ihre, hat die Partei veranlaßt, fuhr Ive nach einer kleinen, gespannten Weile vorsichtig fort, die verschiedene Lagerung der agrarischen Produktionsverhältnisse in den einzelnen Ländern nicht in dem Maß zu beachten, welches zum Beispiel der leninischen Taktik die lebendige Beweglichkeit gab. Die Partei versucht so, mit ihrer Propaganda in die Bauernbewegung Elemente hineinzutragen, die nicht eigentlich zum Wesen der Bewegung gehören, und arbeitet so im Effekt auf eine Zersplitterung hin, die unserem, beiderseitigen vorläufigen Ziel, einer Zerschlagung des Systems, durchaus hinderlich ist Natürlich kann niemand erwarten, daß die Partei ein für sie lebenswichtiges Prinzip aufgibt, aber es muß erwartet werden können, daß sie zur Erfüllung ihres Prinzips sich Mittel bedient, die den Bauern erlauben, mit ihr etappenweise gemeinsam zu handeln, das will besagen, Mittel, die Lebensfragen der Bewegung nicht gefährden. Und es muß dies erwartet werden können, weil ganz zweifellos – um in der kommunistischen Terminologie Zu reden – der Agrarsektor der Partei nur durch die enge Bindung an den kämpferischsten Teil der deutschen Bauernschaft aus dem Stadium der theoretischen Beschlüsse in das der praktisch revolutionären Aktion treten kann. Das ist so, und diese Tatsache genügt, um der Bauernbewegung eine Position zu geben, von welcher aus sie ihre Bedingungen nachdrücklich genug stellen kann. – Eine Lebensfrage der Bauernbewegung wäre, fragte Hellwig, der kommunistische Verzicht auf Aufhebung des Besitzstandes? Nun, aus meiner genauen Kenntnis der Verhältnisse heraus und als verantwortlicher Funktionär der Partei kann ich Ihnen erklären, daß dieser Verzicht möglich ist unter der Voraussetzung einer Neuordnung des Besitzstandes, die alleine vom verantwortlichen Gremium der Bauernschaft geregelt werden kann. – Aber das ist ein faschistischer Gedanke, sagte Ive. – Das ist ein marxistischer Gedanke, sagte der Bauer Hellwig, denn die Bauernschaft lebt unter Existenzbedingungen, die sie zu einer Klasse machen, weil sie sie grundsätzlich von denen anderer Klassen trennen. Darum nimmt sie auch grundsätzlich am Klassenkampf teil, besitzt aber vor Proletariat und Bourgeoisie die auszeichnende Eigentümlichkeit, daß sie um ihrer Klasseneigenschaft willen wechselnde Fronten einnehmen kann. Mit derselben Leichtigkeit, mit der sie, ohne als Klasse von ihrer Eigentümlichkeit etwas Wesentliches aufzugeben, an der kapitalistischen Entwicklung teilnehmen konnte, vermag sie, darüber besteht kein Zweifel, sich auch auf die sozialistischen Produktionsformen einzurichten, sie muß es sogar, denn ihre eigene Tendenz treibt sie darauf hin. So wird die Neuordnung des bäuerlichen Besitzstandes von der Veränderung der eigenen, nicht aber der fremder Klassenlagen bestimmt. Das Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands verweist die Bauern lediglich darauf, wer seine Konsumenten sind. – Die Frage ist, sagte Ive, inwieweit die Kontrolle der agrarischen Produktion in der Händen der bäuerlichen Klasse – und nehmen wir dabei an, der Kommunismus könne tatsächlich eine solche anerkennen – verbleiben kann. – Sie verbleibt unter der Kontrolle der Kommunistischen Partei, sagte Hellwig, und die einfache Tatsache, daß ich, der Hofbesitzer Hellwig, Funktionär der Partei sein kann, müßte Ihnen zeigen, einen wie großen Spielraum nicht nur die leninische Taktik läßt. – Ive sah den anderen nachdenklich an. Ich bewundere Ihren Mut, sagte er, nicht nur den, mit dem Sie Dinge und Absichten in die marxistischen Theorien hineininterpretieren, die nicht unbedingt und logischerweise in ihnen vorhanden sind, sondern auch den, mit dem Sie an die praktische Ausgestaltung glauben herangehen zu können. Hinnerk sagte plötzlich: Weißt du, bei den Bauern gefielst du mir besser. – ich mir auch, sagte Ive wütend, und Hellwig winkte Hinnerk, den Mund zu halten. Er lehnte sich etwas zurück und begann zu sprechen. Ive betrachtete die Hand des Bauern, die auf dem Tische lag, eine große, braune und feste Hand, die sich während des ganzen Gesprächs nicht mehr bewegte, und die Ive zwang, seine blassen, weichen und nervösen Finger in strengerer Zucht zu halten. Ive horchte auf die Stimme des anderen, die weder Anklägerisches noch Rechtfertigendes im Ton enthielt, auch nichts Bekennerisches, sondern einfach die ruhige Gewißheit eines Mannes, der seinen Weg gefunden hat und jedenfalls nicht mehr gewillt ist, sich auf das Eis dialektischer Erörterungen führen zu lassen, auf dem die Esel tanzen gehen, wenn sie übermütig geworden sind. Er sei, sagte er, vom sachlichen Eifer eines Rindsfilettheoretikers immerhin ebensoweit entfernt, wie von der augenrollenden Schwärmerei eines langhaarigen Revoluzzers, der mit der Umwertung aller Werte beginnt und günstigenfalls damit endet, die Erneuerung der Welt durch irgendeinen neuen Eros oder durch die ethische Wirkung des Wurzelfressens zu propagieren, ungünstigenfalls aber als junger Mann bei Mosse heute eine innige Betrachtung über hungrige Kinderaugen und morgen einen funkelnden Bericht vom letzten Modenball zu schreiben. Dies zur Person; zur Sache könne es sich doch bei allen politischen Entscheidungen auf weite Sicht nur darum handeln, das Parallelogramm der Kräfte zu berechnen, um Gewißheit über seine Linie zu erlangen. Eine einfache Rechnung, Herr Iversen, bei der die einzelnen Faktoren genügend bekannt sind, um die Möglichkeit eines Irrtums auf ein Minimum herabzudrücken. Nun denn, es werde die augenblickliche Krise wohl nur von den Interessenten, – und somit aus durchsichtigen Gründen, – für eine Strukturwandlung des Kapitalismus gehalten und nicht für eine Strukturwandlung der Wirtschaft überhaupt. Er setze um der Fruchtbarkeit des Gespräches willen voraus, daß Ive sich nicht den Interessenten rechne. Gut; er gebe zu, daß es für die Bauern nicht wirtschaftliche Gesichtspunkte allein seien, die sie wünschen ließen, eine Veränderung ihrer Lage herbeizuführen, aber es seien die einzigen, die jetzt und sofort zu einer eindeutigen politischen Entscheidung zwingen. Ab ausschlaggebende Träger einer veränderungswilligen Gewalt aber kämen zuletzt doch nur zwei Bewegungen in Betracht, die nationalsozialistische und die kommunistische. Die ganze vielfältige Regung unter der Oberfläche, die er nicht geringschätzen wolle und könne, müsse und werde in eine dieser beiden Bewegungen einmünden und nur in diesem Rahmen einen Teil der Willensbildung ausgestalten. Außerdem stehe fraglos fest, daß nach dem Siege der einen Richtung und mit größter Wahrscheinlichkeit sogar schon vorher, wichtige Elemente der anderen in ihr bei der Bestimmung des Kurses ihr Wort mitzusprechen haben. Es handle sich also letzten Endes, das retardierende Moment der in Deutschland ja nicht mit einem Schlage auszurottenden Einflußnahme der Bourgeoisie einbezogen, nicht so sehr um eine extreme Tendenz nach einem der beiden heute rivalisierenden Pole, sondern nur um die Verlagerung der Schwergewichte, die allerdings von niemals zu unterschätzender Bedeutung sei, und die es allein zu untersuchen gelte. Er sagte: Wenn wir vom Kommunismus sprechen, so sprechen wir zwangsläufig vom russischen Beispiel, das heißt: von einem nationalen Phänomen von internationaler Gültigkeit. Wenn wir von der russischen Revolution sprechen, vergleichen wir zwangsläufig mit der französischen. Wir können gar nicht anders, sobald wir versuchen, geschichtlich zu sehen. Denn das geschichtliche Phänomen ist das gleiche, und es ist national. Man könnte sagen, jedes Volk kommt einmal dran, heute ist das russische dran. Gewiß ist es bitter, daß die Masse der deutschen Zukunft von Moskau aus bestimmt werden sollen; die Masse, nicht die Geschicke, das wäre unerträglich. Heute werden die Masse und die Geschicke von Paris, London und New York aus bestimmt. Und daran vermag auch ein Sieg des Nationalsozialismus nichts zu ändern. Wir brauchen auf Bekenntnisse nicht allzu viel Wert zu legen, und der moderne Sport des Rätselratens: Bekennt sich der Nationalsozialismus Zum Sozialismus oder zum Privatkapitalismus, zum Monopol oder zum Staatskapitalismus?, bewegt sich auf einem Gelände, auf dem die einzige Frage, auf die es ankommt, nämlich: Wie sehen die Produktionsformen der deutschen Zukunft aus?, überhaupt nicht beantwortet werden kann, und nichts anderes übrig bleibt, als anzunehmen, daß der Nationalsozialismus sich im Endeffekt zum Privatsozialismus bekennt. Denn die Frage ist, ob Deutschland in Zukunft überhaupt alleine über den Charakter seiner Produktionsformen bestimmen kann. Es kann nicht, es ist vor die Alternative gestellt. Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob der Nationalsozialismus über mehr Möglichkeiten verfügt, weil er mehr offen läßt, aber der Kommunismus verfügt über präzisere Möglichkeiten, und auf die kommt es an. Denn das Haus brennt, und wir können uns nicht erst die Prospekte der Feuerlöschapparatindustrie zuschicken lassen, und da die löcherig gewordenen Schläuche des westlichen Nachbarn versagen, nehmen wir die neuen Eimer des östlichen. – Um in hundert Jahren genau wieder an derselben Stelle zu stehen, sagte Ive. – Früher, sagte Hellwig, – aber da nützt der Völkerbund so wenig, wie die Heilige Allianz. Wenn es nach den Türhütern der materialistischen Geschichtsauffassung ginge, hätte die bürgerliche Revolution nicht in Frankreich geschehen müssen, sondern eben dort, wo die ökonomischen und politischen Voraussetzungen günstiger lagen, bei uns, und die proletarische nicht in Rußland, sondern wiederum bei uns. Wir aber hatten fünfzig Jahre später den schwächlichen Abklatsch von 1848 und die Demokraten von damals sind die Nazis von heute, die Masse von Moskau sind diesen schon so geläufig, wie jenen die von Paris. Heute können und müssen wir uns diesen Umweg sparen. Je radikaler die Entscheidung, desto besser, und desto mehr an urtümlichen Kräften werden freigelegt. Der ganze Rattenschwanz von politischen Fragen, der sich nach einem nationalsozialistischen Siege sofort um Deutschland ringelt, und jedes Thema noch einmal zur Diskussion stellen läßt, verschwindet automatisch mit einem kommunistischen Siege. Denn der Kommunismus stellt keine Themen zur Diskussion, er ist um seiner Existenz willen gezwungen, sofort und planmäßig zu handeln, und die einfache Tatsache seiner Existenz, der Herrschaft des Kommunismus in Deutschland, legt in Bewußtsein und Verhalten der ganzen Welt die deutsche Position eindeutig fest. Alle die Probleme, an die die Ära des Nationalsozialismus, sie zu lösen, sofort und mit dem Einsatz des ganzen Bestandes herangehen muß, sind mit dem Siege des Kommunismus schon gelöst. Das hat sich erwiesen, daß für die westliche Welt, also für die absterbende, der Widerstand sich regelt umgekehrt proportional dem Grade der Bedrohung. Das kommunistische Deutschland ist die stärkste Bedrohung der Welt, das nationalsozialistische Deutschland, das am stärksten bedrohte Land der Welt, das ist der Unterschied. Mag unter dem Hakenkreuz der Versailler Vertrag zerrissen werden, unter dem Sowjetstern ist er schon zerrissen, und wir haben uns nur zu fragen, ob es besser ist, russisches Vorfeld zu sein oder wenn nicht französische, so amerikanische Kolonie. Ein drittes gibt es nicht, denn das setzte einen unabhängigen deutschen Wirtschaftsraum voraus und noch etwas mehr als dies. – Nun, sagte Ive, wir wollen hier im Pschorr-Bräuhaus die Welt nicht verteilen, aber der deutsche Wirtschaftsraum, sagen wir, das deutsche Wirtschaftskraftfeld der Zukunft wäre Mitteleuropa. – Natürlich, sagte Hellwig, und einem Sowjetdeutschland fiele Mitteleuropa jedenfalls leichter zu, als einem Hakenkreuzdeutschland, und würde unter den allergünstigsten Umständen eine rein deutsche Lösung versucht, so hielte sich und müßte sich nicht nur der gesamte Westen, sondern auch der Osten bereit halten, hier ein Wörtchen mitzureden. – Das gab Ive zu und grübelte angestrengt vor sich hin. Er dachte nicht daran, dem anderen Zu bestreiten, was ihm selber Binsenweisheiten waren, da die Einwände, die er hätte mobilisieren können, aus ganz anderen Gefilden stammten, als die zur Rede standen. Trotzdem vertraute er auf eine Position, in der er sich schon befand, ohne ihre Stärke genau zu kennen, wie etwa nach der nächtlichen Besetzung eines Grabenabschnittes, dessen Lageplan er beim Lichte eines Kerzenstümpfchens studierte, indes sich die drohenden Geräusche des Vorfeldes mit den ruhigen Atemzügen der Männer vermischten, die zur sachgemäßen Verteidigung ebenso wie zum angreifenden Sprung bereitstanden. Und doch wünschte er Hellwig zu entgegnen, denn er fürchtete, daß jener, wenn er sich auch keineswegs den Anschein gab, als erwarte er es von Ive, denken könne, auch er habe Einwände auf Lager, wie sie Hellwig sicher schon oft genug zu hören bekam. Er brauchte sich zum Beispiel nur in den Bezirken, mit denen er in Berührung kam, in den Ämtern und Parteien, in der Presse und in den Kinos, auf der Straße und in den Salons umzusehen, um mit der Drohung eines Massenterrors eine Vorstellung zu verbinden, die durchaus geeignet war, ihm ein beträchtliches Maß von Vergnügen zu vermitteln; auch die Szenen, deren er sich vom Baltikum her entsann, stachelten seine Empörung nicht wegen des Faktums, sondern wegen der Methode, die einmal die bedauerliche Tatsache zur Folge hatte, daß sie meistens die Falschen traf, und die zum anderen als Massenfabrikation von blutigem Fleisch durch Maschinengewehrfeuer von hinten den Tod selbst entwürdigte. Die beispiellose Roheit seines Empfindens verstand er also immerhin, wie er sich selber zugeben zu können glaubte, durch das Verlangen nach qualitativen Unterschieden zu veredeln, und was den zweiten großen Vorwurf der zivilisierten Welt gegen die bolschewistische Barbarei betraf, sie unterdrücke die geistige Freiheit, so bemühte er sich ernsthaft und vergebens, in den letzten dreißig Jahren der deutschen Literatur etwa Dinge zu entdecken, um deren radikales Verschwinden es schade gewesen wäre, wenn sie sich hätten unterdrücken lassen. Es ist ein liberaler Irrtum, hörte er Hellwig sagen, zu glauben, die Institution der Internationale beweise, der Kommunismus leugne die Nation überhaupt. Was er leugnet, ist ihre kontinuierliche Organisation, den Staat. Das nationale Prinzip in dem Wertgehalt, den wir heute mit ihm in Verbindung setzten, sei praktisch – zum Beispiel habe sich dies zuletzt in China erwiesen – vom Kommunismus positiv anerkannt. Aber selbst, wenn dies nicht so wäre, so könne doch der kritischste Betrachter des Aufbaues der Sowjetunion nicht bestreiten, daß alle Maßnahmen, politischer und wirtschaftlicher Art, wenn sie von vornherein einem nationalen Zweck unterstellt worden wären, nicht besser hätten erwogen und vollzogen werden können. Was unter diesem Gesichtspunkt für Sowjetrußland gültig wäre, müßte unter allen Umständen auch für Sowjetdeutschland gültig sein. In der Tat schlüge sich der Kommunismus selber ins Gesicht, wenn er von seinen tragenden Prinzipien abginge, aber ebenso selbstangreiferisch wäre es, wenn er bei der Realisierung der Prinzipien die Eigenwilligkeit des Stoffes nicht beachte. Schon die durchaus anders gelagerten ökonomischen und politischen Verhältnisse in Deutschland garantierten zumindest die Dezentralisierung der Verwaltung von Moskau für die Zeit des planmäßigen Überganges, so wie dann die in die Formen der neuen Zeit gebrachte eigenwüchsige Kraft des Volkes, deren Vorhandensein sich hier erprobe, den Fortgang einer deutschen Geschichte garantiere. Dieser Blickpunkt möge wohl den Ökonomiepharisäern ärgerlich sein, und der Chor der intellektuellen Greise möge in Wehklagen über Reformismus ausbrechen; aber wenn dies Reformismus sei, so sei es gewissermaßen einer mit umgekehrtem Vorzeichen, also nicht wie Kautsky, sondern eben wie Stalin von Trotzky entfernt. Von einer gewissen Periode nach dem Nullpunkt der Revolution an könnten und müßten revolutionäre Maßnahmen und Ansichten wohl konterrevolutionären Charakter haben und umgekehrt. Das russische Beispiel sei immer einleuchtend, fruchtbar aber erst, wenn es nicht in der in der westlichen Welt allgemein beliebten Weise betrachtet würde, wobei also jedermann ganz privatim eine abstrakte Generallinie „Sozialismus“ ziehe und jede Abweichung von dieser Linie entweder mit durch nichts gerechtfertigter Schadenfreude und wildem Triumphgeheul, oder mit blutendem Herzen und mehr oder weniger verkrampften Gehirnwindungen begrüße. Eine abstrakte Linie Sozialismus aber existiere nicht, sondern vielmehr handfeste Wirklichkeiten und Erfordernisse, die mit wenigen und aus der allgemeinen Entwicklung abgeleiteten Prinzipien zu Nutz und Frommen eines weitgesteckten und von einer in blutigen Proben gehärteten und gestalteten und darum organischen Denkweise getragenen Zieles in Einklang gebracht werden müßten und gebracht wurden. Nun denn, sagte der Bauer Hellwig, sehen wir von der internationalen Begleitmusik des russischen „Experimentes“ ab, so bleibt doch festzustellen, daß der russische Anspruch, Träger der Weitrevolution zu sein, nicht von ungefähr kam, und nicht von ungefähr aufgegeben werden kann. Er bestimmt die gesamte russische Haltung. Hätte es sich allein darum gehandelt, in Rußland „den Sozialismus einzuführen“, also nun doch nicht, wie es sich die kindliche Vorstellung selbst einer Reihe bürgerlicher Gelehrter immer noch ausmalt, einfach die Einkommensunterschiede zu beseitigen und die vorhandene Produktion gerecht zu verteilen, sondern wirklich neue Produktionsformen einzuführen und den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung auf ein hohes Niveau zu heben, das „Kommunistische Paradies“ zu schaffen also, von dem die Anfänge der Arbeiterbewegung, und nicht nur die Anfänge träumten, dann hätte dies trotz der unerhörten Zerstörungen durch Krieg und Bürgerkrieg allein durch die außerordentlichen Möglichkeiten der Ertragsteigerung des Bodens und der Erweiterung der Anbaufläche, die auch heute nur etwa zehn Prozent des Sowjetbodens ausmacht, durchaus mitsamt der auskömmlichen Ernährung des auf das notwendige Maß anwachsenden Industrieapparates bewerkstelligt werden können, ohne das Bauerntum aus seiner mehr oder weniger individualistischen Produktionsweise in dem gewaltigen Maße herauszureißen, wie es tatsächlich geschehe ist. Und das russische Problem wäre kein Problem für die Welt, wenn heute, zehn Jahre nach dem restlosen Zusammenbruch der Interventionsarmeen die friedliche, gesittete und gesättigte Bevölkerung des Russischen Reiches mit ihrer autarken oder nicht autarken Wirtschaft dem sanften Hüpfen der Lämmer auf den Steppenweiden gedankenvoll zusehe. Erst der weltrevolutionäre Anspruch, der natürlich nicht nur durch den Stand, sondern auch durch den Widerstand des russischen Phänomens bestimmt ist, setzt die Gefahr eines neuen Interventionskrieges, und nicht nur das, gibt jedem unausbleiblichen Konflikt sofort den verschärfenden Charakter. Dieser Gefahr zu begegnen ist die umfassendste Rüstung notwendig, die „totale Mobilmachung“, von der Ernst Jünger spricht, ein Akt, der nun tatsächlich das gesamte russische Leben ergreift zur Vorbereitung einer kriegerischen Leistung, die nicht mit den Waffen alleine ausgeübt wird, und der das Leben des ganzen Volkes selbst zu einem heroischen Akte macht, vom ersten aufspringenden Funken im Gehirn eines Mannes, dem Entschluß zur Industrialisierung des Landes, bis zum letzten Hammerschlag, vom ersten zweckbewußten Samenerguß des aufgeklärten jungen Genossen bis zu den Hinrichtungsschüssen der GPU. Das rasende Tempo der Industrialisierung erst machte die Erweiterung der Ernährungsgrundlage durch Revolutionierung der Landwirtschaft notwendig. – Ive sagte: der Kulak Hellwig – Der Diplomlandwirt und Hofbesitzer Hellwig, sagte der andere, verfügt über offene Augen und Ohren und war zwei Jahre in Rußland. Ich spreche russisch, Iversen, und war in Rußland Kriegsgefangener. Ich kenne den bäuerlichen Zustand dort vor und während der Revolution, soweit ihn ein Kriegsgefangener, der darauf achtete, kennen kann, und ich kenne den bäuerlichen Zustand von heute dort, soweit ihn ein Fremder in zwei Jahren kennen kann, und was ich genau kenne, das ist die bäuerliche Lage in Deutschland. Und dies letztere ist das wesentliche. In Rußland gilt es zu prüfen, was in Rußland gut, und hier, was hier gut ist. Wie lagen dort die Dinge denn? Die Revolution auf dem platten Land war eine Agrarrevolution nur durch den Anreiz der fetten Beute, die den ärmeren Bauern winkte. Im übrigen war sie mehr oder weniger ein Aufstand gegen Willkür und Hilflosigkeit und rollte sich ab nach dem Gesetz eines den Berg herunterkollernden Steins. Die Revolution gab den Bauern Land, mehr Land, als sie schlucken konnten und wollten, und die schlucken konnten und wollten, später die „Kulaken“, wurden von bäuerlicher Seite kaum als „Ausbeuter“ betrachtet Die individuelle Produktionsweise mit ihren primitiven Arbeitsmethoden konnte bei immer weiterer Landaufteilung genügen, Rußland langsam wieder zur Großmacht zu machen, Rußland zur Weltmacht zu machen, konnte sie nicht genügen. Denn der Industrialisierungsprozeß braucht Mensch, und das platte Land gab sie ab, und eine wahllose Besiedlung des platten Landes hätte die Ernährungsgrundlage auch sicher stellen, aber die Industrialisierung nicht einleiten und Exportüberschüsse nicht erzielen können. Also ist intensive, nicht extensive Landwirtschaft die Parole, Modernisierung, Kollektivierung, Getreidefabriken in drei Teufel Namen, das alles ist einfach und klar und man schämt sich, es immer wieder darlegen zu müssen.

Ive sagte mit roten Ohren: Der Diplomlandwirt Hellwig aus dem Hannoverschen will Hofbesitzer bleiben und legt Wert auf die Feststellung, daß der Bauer im kapitalistischen wie in jedem anderen System die Rentabilität seines Betriebes fordern muß. – Das will er und das fordert er, sagte Hellwig und beugte sich vor. Ich weiß, Iversen, daß Sie fürchten, mich für ein verirrtes Schaf halten zu müssen, weil ich bislang vermied, von den Dingen zu sprechen, die Ihrer Ansicht nach für jeden Bauern die tragende Bedeutung haben müssen, von den, sagen wir, irrationalen Werten, die dem Bauerntum erst die Berechtigung oder den Auftrieb geben, als lebendige Einheit mit eigenwilliger Kraft, als Klasse, oder besser: als Stand aufzutreten, Werte, deren verpflichtende Qualitäten ich Ihnen so gerne zugebe wie deren nackte materielle Wirkungen, die selbst der eingefleischteste Materialist in Rechnung setzen muß, will er nicht zumindest auch die ganz irrationale Kraft des proletarischen Solidaritätsbewußtseins leugnen. Nun, ich habe es vermieden, weil diese Dinge ganz einfach bei der Betrachtung des russischen Exempels gar nicht, oder wenigstens in keiner ausschlaggebenden Weise in Erscheinung treten. Es ist, wenn wir Produktionsform und Betriebsgröße allein vergleichen, ein verdammter Unterschied zwischen dem Herrn von Itzenplitz und mir, und zwischen mir und dem Kleinhäusler Lohmann mit seiner ewig kranken Kuh und den vier Dutzend Hühnern. Es ist aber kein Unterschied in der Bindung, der wir uns zum Boden unterwerfen, mag er dreitausend oder dreihundert oder drei Morgen groß sein, kein Unterschied der Bindung zum Besitz, Schloß, Hof oder Anwesen, keiner in der Verantwortung der Arbeit, keiner in der Haftung gegenüber dem ganzen Land. Ich weiß nicht und kann nicht wissen, wie diese Dinge in Rußland liegen; aber wenn es auch nicht den Anschein hat, als ob die Kollektivierung, also die radikale Aufhebung des Besitzstandes, so ganz freiwillig erfolgt ist oder gar von Bauernseite ausging, so waren die genannten irrationalen Werte doch sicher nicht an Dinge gebunden, die bei uns den eigentümlichen Akzent geben, nicht an Blut und Boden, an Erbe und Scholle, oder aber sie waren ohne die verpflichtende Kraft, die lieber sterben, als sie aufzugeben fordert. Jedenfalls haben wir nirgends von klassen- oder standesbewußtem Widerstand gehört, wie er bei uns sofort und noch bei weniger Anlaß aufflammt, und nur dort, wo religiöse Haltung noch gebot, bei den Methodisten, erfuhren wir von der Bitternis der Agrarrevolution. Hier glaube ich, an diesem Punkte, könnten wir auf uns vertrauen, wenn es nötig wäre. Es ist aber nicht nötig. Denn bei uns fehlt zu dieser Form der Agrarrevolution der Anreiz; sie wäre ein Verbrechen nicht nur gegenüber dem Bauerntum, sondern auch gegen die arbeitende Klasse, gegen Sowjetdeutschland selbst, gegen den heiligen Geist des Sozialismus überhaupt, es wäre der Versuch, ein Kraftwerk zu bauen, wo kein Wasser ist, oder eine Sägemühle, wo kein Wald. Denn der Industrialisierungsprozeß ist in Deutschland längst beendet, der Sozialismus hat die Aufgabe, mit Übernähme der Produktionsmittel den industriellen Apparat planmäßig neu zu ordnen, aber mit diesem einfachen. Faktum ist die gesamte Skala der Erfordernisse umgekehrt. Denn die Industrie ist es nun, welche Exportüberschüsse erzielen muß, unmöglich noch mehr Menschenmassen heranziehen, höchstwahrscheinlich sogar die aus dem umorganisierten Produktionsprozeß freigesetzten Kräfte zurückgeben, und mit dem Bestand des ganzen Landes auch den der Landwirtschaft garantieren muß. Unsere Anbaufläche kann nennenswert nicht mehr ausgedehnt, unsere Arbeitsmethoden können bedeutend nicht mehr modernisiert, der Bodenertrag kann erheblich nicht mehr gesteigert werden. Da gibt es noch Ödländereien, die erschlossen, Großbetriebe, die aufgeteilt werden können; aber hier schon treten die Bedürfnisse nach einer Neusiedlung, nach einer schlicht produktiven Menschenunterkunft mit den Bedürfnissen einer intensiveren. Wirtschaft durch Kollektive in Kollision. Kollektivbetriebe sind nur im Ackerbau möglich, nur dort können sie – vielleicht – wirtschaftlich von Nutzen sein, nur dort sind einige wenige Maschinen- und Traktorenstationen mit einer genügenden Anzahl von Kollektivbetrieben überhaupt denkbar. Die reine Ackerproduktion beträgt aber in Deutschland nur ein Viertel der gesamten Agrarproduktion, und wer weiß, wie eng die einzelnen Betriebsarten zusammenhängen, kann sich Illusionen über die Möglichkeiten einer Agrarrevolution nach russischem Muster nicht machen. Was zu tun übrig bleibt, ist eine nach deutschem Muster. Sie ist abhängig von Wesen und Ausgang der Gesamtrevolution. Darum meine ich, daß es für uns Bauern notwendig ist, nicht wie der Großgrundbesitz, den ich bekämpfe, nicht weil er leben, sondern weil er im kapitalistischen System leben und gleichzeitig Wortführer und Dirigent der gesamten Bauernbewegung sein will, auf der einen Seite das herrschende System zu bekämpfen, und auf der anderen Seite sich an es zu klammern, nicht wie die Nazibauern alles Heil von größenwahnsinnigen Klaukschietern zu erwarten und auf die schlechten Zeiten zu schimpfen, nicht wie Ihre Bauern, Iversen, verzweifelt aber in stolzer Isolierung vor dem Hof zu stehen und blind gegen alles anzukämpfen, was sich nur von ferne naht, sondern sich zur einzigen Bewegung schlagen, die Bauernrettung möglich macht, wenn sie auch noch selber im einzelnen Falle nicht weiß, wie, und damit sie es baldigst wisse – mitzuarbeiten. Das ist notwendig, und sonst nichts. Das Proletariat hat in Rußland das Bauerntum befreit; das Bauerntum kann auch in Deutschland nur durch das Proletariat befreit werden. – Er redet wie ein Buch, sagte Hinnerk und grinste, und Ive winkte ihm, den Mund zu halten; der Kellner kam, zu fragen, ob die Herren noch ein Bier wünschten, aber die Herren dankten, und Ive dachte: wie bringe ich es Hellwig bei, daß es nötig ist, für Claus Heim einzutreten? Denn keinen Augenblick zweifelte er daran, daß es wichtiger war, jetzt und hier Hellwig gegenüber in der angeschnittenen Frage grundsätzlich zu widerstreben, als mit der immer wieder peinlichen Bettelei für Claus Heim einen unbestimmten Erfolg zu erzielen. Schließlich sagte er, er wolle von vornherein offen zugeben, daß jeder Versuch seinerseits, sich hier ein hochdiplomatisches Air zu geben, nichts anderes als eine Farce sein könne, denn er befände sich in einer Situation, die es ihm gar nicht erlaube, etwa von Macht zu Macht zu verhandeln. Unterläge er dieser schon durch die ganze Art des Gespräches hervorgerufenen psychologischen Versuchung, so könnte, selbst wenn es ihm gelänge, den Partner übers Ohr zu hauen, dies letztlich natürlich doch von keiner praktischen und positiven Bedeutung sein. Es bliebe ihm nichts übrig, als darzulegen, daß er persönlich an die Notwendigkeit eines taktischen Zusammengehens glaube, und sich verbürge, persönlich für die zu besprechenden Mittel dieses Zusammengehens einzutreten. Als Zeichen einer allerersten Vereinbarung, das sofort die notwendige Vertrauensbasis herstellt, sagte ersten Sie bereit sein, sich an unserem Propagandafeldzug für die Freilassung Claus Heims und die anderen verurteilten Bauern eindeutig zu beteiligen. Welcher Vorteil dabei für die KPD herausspränge, müßte diese selber wissen. – Das könne, sagte Hellwig, ohne weiteres Gegenstand eingehender Besprechungen werden. Ive holte sein Notizbuch vor und legte die Besprechung fest. Ich muß sofort an den alten Reimann schreiben, dachte er und sagte: Hellwig sei sich wohl im klaren, schwierig es sein würde, bei der magischen Wirkung, die das Wort Kommunismus immer noch besitze, das Bauerntum, und gar das kämpfende Landvolk der nördlichen Provinzen zu einem Verständnis der Ideen zu bewegen, die Hellwig vertrete. Bei genauerem Hinsehen aber sei es eben tatsächlich nur das Wort Kommunismus, das im Wege stehe. Ich weiß nicht, sagte er, ob sich das, was Sie sagten, mit der Ansicht und der Haltung Ihres Parteivorstandes deckt. Es würde mich sehr wundern, denn was bis jetzt die Partei an Parolen und Proklamationen von sich gab, ist nicht sonderlich geeignet, vor der weltumstürzlerischen kommunistischen Intelligenz allzu große Hochachtung zu erzwingen. Aber das tut nichts zur Sache, ich werte das, was Sie sagten, als eine innerhalb des Kommunismus mögliche Meinung, und wenn wir uns auf dem Felde bewegen wollen, welches Sie betraten, so bin ich in der Lage, Ihnen sehr weit zuzustimmen. Es wird niemand umhin können, den Marxismus zumindest als einen wertvollen Erkenntnisfaktor zu betrachten, so weit schon ist die Situation für den Kommunismus günstig. Auch die nationale Lockung ist stark, und ich möchte sogar noch etwas weiter gehen als Sie, und möchte annehmen, daß selbst im Falle eines von der westlichen Welt abgetrennten Mitteleuropas mit der gleichzeitigen Tendenz zum von Moskau aus dirigierten weltrevolutionären Vorstoß der deutsche Macht- und Einflußbereich sich notwendig von Rußland abkapselt, ohne daß das Gewicht nationaldeutscher Forderungen zur Erwägung steht, sondern schon durch den produktionstechnisch günstigen Standort des deutschen Industrieapparates. Es ist kaum denkbar, daß der Kommunismus, gerade weil er die Aufgabe hat, vollständig neue Produktionsformen einzuführen, nicht auch die volle Kapazität des Apparates erstrebt und ihm damit eine freiere Bewegung verschafft, als sie die Verflechtung des kapitalistischen Systems gestattete. Es geht jedenfalls nicht an, an Stelle der westlichen Bindung und Beschränkung, nun einfach die östliche treten zu lassen, das hieße sonst, den nationaldeutschen Teufel mit dem nationalrussischen Beelzebub austreiben. Ich bitte Sie, das, was ich sage, nicht als Hohn aufzufassen, gerade weil ich mit Ihnen an die unzerstörbare Gewalt der Nation als Wirklichkeit, als immer wirkendes Element jeder Theorie und jeder Form gegenüber glaube, vermag ich mit Ihnen so weit gemeinsam zu gehen, und so ist das russische Beispiel mir tatsächlich wertvoll – als Bestätigung. Ich weiß, daß Sie wie ich von den Patentkaffern aller Grade und Richtungen als Ketzer gebrandmarkt werden, aber ich weiß auch, daß zumindest jetzt und heute es wichtiger ist, jede Querverbindung der Oberfläche, mag sie sich welche Form auch immer geben, fahren zu lassen, sich zu einer tieferen Gemeinsamkeit hindurchzugraben, als die Straße mit Fahnenwäldern und die Märkte mit Programmgeschrei zu füllen Ive sagte: Wenn ich also die Nation als urtümlich wirkendes Element, als erste geschichtliche Kraft anerkenne, so ist die Aufgabe damit eigentlich schon gesetzt: es handelt sich darum, sie zu ihr« vollen und ungefälschten Wirkung zu treiben, sie sozusagen zu ihrer gewollten Einheit von Form und Inhalt gelangen zu lassen. Missverstehen Sie mich nicht! Auch ich vermag nicht einzusehen, warum sich in ihr nicht soziologische Umschichtungen vollziehen sollten. Wenn das Proletariat sich anschickt, die immer noch auf gesund geschminkte Leiche der Bourgeoisie trotz des Protestes gutgläubig bestochener Ärzte, die vorgeben, noch einen Puls zu fühlen, hinwegzuräumen und zwecks Vermeidung von Pestgefahr schleunigst unter die Erde zu bringen, wenn es die Macht fordert, die uneingeschränkte Herrschaft, um den Klassenkampf mitsamt den Klassen zu beenden, und dabei Pläne in der Tasche trägt, die sich mit den Forderungen der Nation in Einklang befinden, so müßte dies Vorgehen nur allgemeinen Beifall erregen, und es besteht kaum ein Grund, den unmittelbaren Trägern der Produktion, die also auch an der Produktion am unmittelbarsten interessiert sein müssen, nicht ohne weiteres zuzutrauen, daß sie um die Erfordernisse und notwendigen Umformungen der Produktion am besten Bescheid wissen und sachlich am richtigsten handeln. Wenn es aber dem Proletariat rechtens ist, die längst von Wind, Wasser und Wetter zernagten individualistischen Inseln der Wirtschaft zu überschwemmen, so muß es dem Bauerntum unbenommen bleiben, in seinem eigenen Bereiche Ordnung zu schaffen. Daß diese Ordnung unter der Herrschaft des Kommunismus nicht individualistisch sein kann und darf, werden Sie mir zugeben, und wenn Sie dies getan haben, werde ich Ihnen zugeben, daß sie unter überhaupt keiner Herrschaft der Zukunft individualistisch sein kann und darf. Schon wenn wir die primitivste Möglichkeit eines sinnvollen Zusammenhandelns von Industrie und Landwirtschaft, oder wenn Sie lieber wollen, von Arbeitern und Bauern annehmen, die eines simplen Austausches, etwa der Art, daß die Bauern sagen: Gebt uns Maschinen und Kali, und wir geben euch Rührei und Schinken, so muß doch Zumindest eine Stelle da sein, die Wert und Gegenwert festsetzt. Nach welchen Gesichtspunkten? Doch einzig nach solchen, die sich auf die größtmögliche Leistung zugunsten der Gesamtheit richten. Diese Stelle wird also, möge sie sich nennen, wie sie wolle, echte staatliche Funktionen ausüben, nur, daß sie eben nicht dem einzelnen die größtmögliche Freiheit des Gewinnstrebens garantiert. Das hat natürlich mit dem Neubau der Wirtschaft auch einen völligen Neubau der Gesellschaft zur Voraussetzung, von dem das Bauerntum nicht isoliert werden kann. Das Proletariat wird durch diesen doppelten Neubau die Produktionsmittel verwalten können; zwar werden sie dem einzelnen Proletarier nicht in die Hand gegeben, aber zuletzt wird die Maschine doch die Dienerin desjenigen sein, der sie bedient. Wieso, ist mir an Hand der kommunistischen Rezepte zwar noch einigermaßen nebelhaft, aber ich bin gewillt, nicht daran zu zweifeln. Das Bauerntum aber hat das wichtigste Produktionsmittel bereits seit Anbeginn an Hand, den Boden, und versucht, aus ihm eine Rente zu liehen. Im Zeichen der individualistischen Methode Ist dem Bauern dies in steigendem Masse nicht mehr gelungen, selbst dort nicht, wo er unter teilweiser Aufgabe aber unter Verfolg der Methode versuchte, sich genossenschaftlich zu organisieren. Tatsächlich kann ihm unter diesen Umständen jede andere Methode recht sein, wenn sie ihm nur das Wesentliche seines Tuns, die Produktion, garantiert. Warum sollte eine Kollektivierung der Landwirtschaft nicht möglich sein? Warum sollte es nicht möglich sein, im Osten Getreidefabriken zu errichten, w der Marsch eine riesige Ochsen-, und in der Heide eine gewaltige Schaffarm, mit leitenden Direktoren, einem fachmännischen Beamtenstab, Maschinen- und Traktorstationen und Kalilagern und Verschiebebahnhöfen? Es ist fraglich, ob es ratsam ist, aber möglich ist es. Hat der Bauer ursprünglich sein Stück bewirtschaftet und die Produkte allein verkauft, hat er dann sein Stück bewirtschaftet und die Produkte gemeinsam verkauft, so ist es nicht einzusehen, warum er nicht in Zukunft gemeinsam wirtschaften und die Produkte gemeinsam abgeben können soll. Es ist nicht einzusehen, warum dies nicht möglich sein soll, aber es ist fraglich, ob es notwendig ist. Der Angelpunkt der ganzen Frage ist und bleibt das Privateigentum. Nun, es abzuschaffen, dazu bedarf es des Kommunismus nicht. Vielleicht ist die Behauptung, daß es längst nicht mehr existiert, ein Verrat an der Revolution, weil geeignet, die Fronten zu verschleiern. Für den Bauern aber liegt es doch so: er kann aus seinem Besitz keine Rente mehr ziehen, weil das kapitalistische System ihn überlastet hat, und er kann ihn nicht mehr verkaufen, weil er keinen Käufer findet. Ich weiß nicht genau, wie es in den anderen Wirtschaftszweigen steht, jedenfalls gibt aber die merkwürdige Erscheinung zu denken, daß allenthalben das Privateigentum, wenn, dann nur mit hörbar schlechtem Gewissen verteidigt wird. Das hat vermutlich seinen Grund. Es hat auch seinen Grund, daß der Bauer, wenn sich ihm durch Zufall die Gelegenheit bietet, seinen Besitz zu verkaufen, und er vom Hofe geht, zumindest von seinen Berufskollegen verächtlich betrachtet wird. Denn das Privateigentum ist eben nicht nur ein ökonomisch-rechtlicher Begriff, sondern auch, ja, ich kann mir nicht helfen: ein sittlich-verpflichtender. Wie denn, was ist wohl der Anteil des Einzelproletariers an dem von seiner Klasse, also dem gesamtproletarischen Kollektiv, in Besitz genommenen Produktionsmittel anders als ein sittlich-verpflichtender Begriff? Dem Bauern aber ist der Hof die Verkörperung dieses Begriffes, auch, wenn er ihm ökonomisch-rechtlich gar nicht mehr gehört. Ursprünglich trug der Besitz in seiner reifsten Form, im Mittelalter, wohl in diesem Sinne einheitlichen Charakter, – und nicht wahr, wir verweilen sinnend einige Augenblicke bei dem Phänomen der katholischen Mönchsorden. Erst der Kapitalismus hat, und ich setze den Beginn seiner Voraussetzung in die Renaissance, die wohltätige innere Bindung zerstört. Der sittlich-verpflichtende Begriffnes Besitzes ging jedenfalls zuerst verloren, sicher nicht bei allen einzelnen zugleich und in gleichem Masse, aber in der Tendenz des Kapitalismus, und es ist reichlich naiv, zwischen einem guten und einem schlechten Kapitalismus unterscheiden zu wollen, der gute läßt jedesmal immer noch ein bißchen auf sich warten. Heute ist der Kapitalismus auf dem Wege, auch den ökonomisch-rechtlichen Begriff zu zerstören, und übrig bleibt die Fiktion des Privateigentums. Die Tatsache aber, daß das Bauerntum diese Entwicklung nicht folgerecht mitmachte, und wo es sie in krampfhafter Anpassung mitmachte, deutlich gegen sein eigenes Wesen verstieß, daß es also heute, da ihm das System die Verfügung über seinen Besitz wegeskamotierte, noch immer nicht daran denkt und gar nicht daran denken kann, auch die innere, verpflichtende Bindung fahren zu lassen, läßt doch den Schluß zu, daß es anderer Auswege bedarf, als die unhaltbar gewordene individualistische Produktions- und Lebensweise durch eine schlichte Addierung der Besitze und der Besitzer in eine kollektivistische zu verzaubern. So wie niemals vergessen werden darf, daß das Bauerntum in seiner Gesamtheit als Klasse oder Stand seinem Wesen nach nicht ausbeuterisch eingestellt war und sein konnte, darf auch nicht vergessen werden, daß es seinem Wesen nach nicht ohne weiteres die künftigen Existenzformen der bisher Ausgebeuteten an- und übernehmen kann. Die Substanz des Bauerntumes ist sich eben gleich geblieben, und jede Agrarrevolution kann sich gar nicht auf eine grundlegende Veränderung der eigenen Produktionsformen und Besitzordnungen richten, sondern immer nur gegen die mehr oder minder bestimmenden Bestrebungen, welche dem Bauerntum fremde Produktionsformen und Besitzordnungen aufzwingen wollen, heute gegen das kapitalistische System, und morgen – gegen das kommunistische. Ich bin nicht so kühn, behaupten zu wollen, daß die in Rußland unzweideutige und natürliche Anerkenntnis der besonderen Bedingnisse der Produktion wie in allen anderen Sektoren auch im Agrarsektor, ohne weiteres den Schluß zuläßt, sie widerstrebten dem Akt der Neuformung und könnten nur durch die etwas vergewaltigende Annäherung zweier wissenschaftlicher Standpunkte mit dem Plan in einen einigermaßen erträglichen Zusammenklang gebracht werden, wohl aber läßt sie den Schluß zu, daß die russische Agrarproduktion sich nach ihren besonderen Bedingnissen nicht, oder nicht im genügenden Masse entwickelt hat; denn ersichtlich lohnen sich die Kosten der Umformung. In Deutschland aber lohnen sie sich nicht. Das ist eine Behauptung, aber sie ist einleuchtend genug, wenn wir den Stand der agrarischen Entwicklung betrachten. Die einzige Möglichkeit der Ertragssteigerung liegt in vervollkommneter Mechanisierung. Sie ist gewiß nicht denkbar ohne eine gewisse Neuordnung des Besitzstandes, der aber gerade vornehmlich die Klein- und Parzellenbauern zum Opfer fallen müßten; sie ist aber denkbar, wenn das Bauerntum mehr denn bisher als Klasse oder Stand, jedenfalls als verantwortliches Teilganzes aufzutreten vermag, mit Vollmacht nicht nur nach außen, sondern auch für den eigenen Bereich, und dies zumal nach dem Fortfall fremder Einflußstörungen durch nicht so sehr sozusagen horizontale Allgemeinbesitzbeschränkungen, wie durch unorganische Betriebsgrößen, sondern durch vertikale, wie durch das Finanzkapital. Wenn also der Kommunismus die eigentümliche Sachlage anerkennt, das heißt, wenn er es unvorteilhaft findet, mit dem zum Bewußtsein seiner Lage und seines Wollens erwachten Bauerntum blutig zusammenprallen zu müssen, und darüber hinaus unvorteilhaft, die noch fehlenden höchstens zwanzig Prozent bis zur größtmöglichen landwirtschaftlichen Ertragssteigerung selbst mit Hilfe der gesamten kommunistischen Welt durch den wahnsinnig kostspieligen Versuch einer radikalen Umformung der Agrarproduktion in – abstrakt oder nicht – sozialistischem Sinne einzutreiben, wenn er also bereit ist, dem Bauerntum als Klasse oder Stand genügend freien Spielraum zu lassen, um, unter Kontrolle der staatlichen Organe, seine Angelegenheiten sinnvoll selber zu regeln, dann könnte tatsächlich der Kommunismus dem Bauerntum nicht nur annehmbar, sondern sogar wünschenswert erscheinen. – Das heißt, sagte Hellwig, wenn der Kommunismus darauf verzichtete, dem Bauerntum gegenüber Kommunismus zu sein. – Eben das, sagte Ive. Er sagte: Das Proletariat hat in Rußland das Bauerntum befreit; denn beim Arbeiter lag der Antrieb zur Revolution. In Deutschland aber liegt der Antrieb zur Revolution, sobald wir sie als eine nationale Revolution erkennen, beim Bauerntum, es ist die Aufgabe des Bauerntumes, das Proletariat zu befreien. Das Bauerntum und nicht das Proletariat sitzt in Deutschland in der Schlüsselstellung der Revolution. Und wenn wir noch einmal alle Chancen, die der Kommunismus uns bietet, durchgehen, angefangen mit der Vernichtung des Kapitalismus, der sofortigen Lösung von allen Bindungen mit der westlichen Welt, Zerreißung des Versailler Vertrages, Rückendeckung durch den Osten, Zerfall und Neubildung Mitteleuropas, bis zur Aufhebung des individualistischen Bewußtseinszustandes, bis zur Liquidierung einer geistesgeschichtlichen Epoche von der Renaissance zum Weltkrieg, ganz abgesehen von der Ausrottung aller jener Mächte, mit denen es sich kaum anders zu reden verlohnt als durch Maschinengewehre, von der Donaukonföderation bis zur parlamentarischen Demokratie, dann vermag ich doch nichts anderes zu bekennen, als daß die Entscheidung zum Kommunismus keine Entscheidung ist. – Sondern? fragte Hellwig. – Sondern eine Flucht, sagte Ive. Ive sagte: Denn es handelt sich für uns gar nicht darum, in dem einzigartigen historischen Vakuum, in dem die Welt und wir uns befinden, den glänzendsten oder erträglichsten Ausweg zu suchen. – Sondern? fragte Hellwig. – Sondern, sagte Ive, es handelt sich darum, zur völligen Entfaltung unserer eigenen Substanz zu gelangen. – Das sind Worte, sagte Hellwig, und Ive sagte: Das sind gewißlich Worte, denen wir einen Sinn zu geben haben. Und wir beginnen damit, daß wir vor allen Dingen einmal aufhören, von allen einleuchtenden Beispielen der Welt zu reden. Wie groß die nationale deutsche Kraft ist, können wir exakt nicht angeben. Also setzen wir sie so hoch, als es immer denkbar ist; dort, wo sie von widerstrebenden Mächten angehalten wird, genau dort ist die Grenze der Nation. Wie kommen wir aber dazu, mit unserer Kraft die fremden Mächte zu bereichern, sie gegen uns selbst zu kehren? Und wenn sich jene fremden Mächte gegeneinander kehren, bekämpfen wir uns dabei nicht selbst, um hier auf unserem eigenen Boden, uns hier in unserer eigenen Brust? Was haben wir nicht an eigener Kraft an das System gesetzt, so viel, daß es uns fast unmöglich scheint, es nun zu stürzen – und sollen wir, es zu stürzen, so viel und abermals so viel an wiederum eine fremde Macht setzen? Der Teufel hole diese Methode, die uns rätselvoll durch die Jahrhunderte schwanken läßt, einmal die wunde Schulter hier und einmal dort zu reihen, taumelnd in alle Himmelsrichtung, von jedem Trog zu fressen und in jede Ecke zu kacken, bei jedem Anlauf einem anderen menschenfreundlichen Bruder in die Arme zu fallen, um dann nach wohlverdientem Tritt erstaunt auf dem Popo zu sitzen und unsern Zorn in fäkalischen Betrachtungen zu ergießen. Der Teufel hole diese Methode, welche die nationalsozialistische Bewegung schon in ihren Anfängen mit mehr Zugeständnissen belasten läßt, als die Sozialdemokratie an ihrem Ende, welche den Kanzler Brüning, einem klugen, tüchtigen und energischen Mann, dem wir wohl unser Vertrauen schenken könnten, wenn er nicht das Vertrauen derer besäße, die unser Vertrauen nicht besitzen, das System verändern läßt, nicht um es zu stürzen, sondern um es zu stützen, welche den Genossen Thälmann seine nationale Proklamation mit sozialistischem Schwergewicht oder umgekehrt, jedenfalls nach Moskauer Direktiven, und mal für den Bürgerkrieg in Rußland mal gegen den imperialistischen Krieg in China, und den Parteigenossen Goebbels die Bundesgenossenschaft und Hilfe mal Italiens, mal Englands und mal Amerikas verkünden läßt. Was haben wir gewonnen, wenn wir im Schatten anderer zu leben gewonnen haben? So unterscheidet uns nichts von der Böhmackei als die Größe der Einwohnerzahl? So bleibt uns nichts, als, wollen wir nicht für andere tätig sein, still sinnend und bescheiden unseren Bauchnabel zu betrachten? Vielleicht wenn wir das Reich träumen, wie der Fakir Nirwana, werden wir zum Bewußtem des Reiches kommen, und dies wäre schoß eine Voraussetzung. – Und unterdessen geht der Bauer hops, sagte Hellwig. – Ive sagte: Ja, das tut er wohl, wenn er nicht weiß, wohin er gehört, wenn er nicht weiß, was jetzt zu tun ist, jetzt und an seiner Stelle. Wenn er noch existiert, so durch das Bewußtsein seines Standes. Also hat er in diesem Bewußtsein zu handeln. Er darf sich zum Individualismus nicht bekennen, denn der Stand verpflichtet, er darf sich zum Kollektivismus nicht bekennen, denn er vernichtet den Stand. Er muß es lernen, jeden Ismus zu durchschauen, als das, war er ist, als eitel Humbug und Spiegelfechterei. Er muß wissen, daß ihm der Boden gegeben ist, auf ihm zu leben und auf ihm zu sterben, daß er ihm gegeben ist, als Erbe zum Vererben, welches er wie sein Geschlecht zu verwalten hat, daß er gegeben ist zu aller Arbeit, als Lehen, nicht aber als Ware, daß er verantwortlich ist dem Stande gegenüber, und der Stand gegenüber dem Ganzen. Sind das Worte? Nun, sie schließen genug in sich. Sie schließen in sich den unerbittlichen und unaufschiebbaren Kampf gegen das System, sie schließen in sich den Bruch mit eignen Sünden und Erkenntnis eignen Fehls, sie schließen in ach die Verpflichtung zum strengen Ordnen im bäuerlichen Bereich, von unten nach oben und von oben nach unten, von dem Gesetz des einzelnen Hofes zum Gesetz des ganzen Standes. Und wenn der verdiente und ehrwürdige General von Itzenplitz den Zylinderhut erhielt, weil er nicht mehr seine Aufgabe erfüllte, zu Gunst und Ehren des Standes, dem er diente, und der Nation, welcher der Stand diente, so ist kein hinreichender Grund vorhanden, warum der verdiente und ehrwürdige Herr von Itzenplitz auf Itzensitz nicht seiner Herrschaft enthoben und zum Vorsitzenden des Vereins uckermärkischer Immenzüchter ernannt werden soll, wenn er seiner Aufgabe als Landwirt nicht mehr genügt und nicht mehr dem Stande, dem er diente, und der Nation, welcher der Stand dient. Und wenn der Stand um der Nation willen das Blut seiner Söhne opferte, so ist nicht einzusehen, warum er um der Nation willen nicht den Besitz seiner Standesherren opfern kann. Dieselbe Zucht aber, die der Bauer von sich fordern muß, muß er auch fordern überall im Lande, in dem und für das er lebt. Er muß fordern, daß von jedermann, der in der deutschen Zukunft mitbestimmen will, an seinem Kampfe teilgenommen wird, daß allenthalben der Durchbruch zu der eignen Ordnung sich vollzieht. Er muß willkommen heißen, wo sich im gleichen Willen zur Nation ein eigner Anspruch naht, muß jetzt schon sich verbünden, jetzt schon die Verbindung knüpfen, Beispiel geben im Masse seiner Hingabe, Vorbild sein im Willen zur Verantwortung. Er muß, denn ohne dies gäbe er sich nicht nur selber auf, er verriete auch die Revolution, in der als wesensnotwendige Forderung die Befreiung der Arbeiterschaft beschlossen liegt. Sind das Worte? Ist das Schwärmerei? Ist das kein neues Ziel? Vielleicht sind das Worte. Aber die, deren Klang sie treffen, auf die kommt es an. Vielleicht ist das Schwärmerei. Aber, Mensch, Hofbesitzer, Bauer Hellwig, Ihnen steht doch auch das raschelnde Gewäsch von vier Dutzend Konferenzen, von neunundneunzig Fachministern bis an den Hals. Ihnen steigt wie mir der grüne Ekel hoch vor viermalhunderttausend trocknen Heilspropheten. Das ist mit Flugblatt, Feuilleton und Handelsteil von rechts bis links doch eine Suppe und ein Brei. Sie, Hellwig, wissen so wie ich, daß es Zeit zu schwärmen ist, mit Glut zu schwärmen, wenn alle Herzen stehen so dürr wie abgefallnes Holz. Vielleicht ist das kein neues Ziel. Es ist ein altes Ziel, es ist ein ewiges und nie erfülltes Ziel. Respekt vor Ihnen, Hellwig, wenn Sie nicht anders können, als sich zu einer neuen Lehrestellen. Wenn Sie aber anders können, dann ist es gleich, in welchem Lager Sie am Feuer sitzen, sind Sie nur bereit, den Brand im gegebnen Augenblick ins alte ewige Reich zu tragen. Und da Ive laut gesprochen hatte, erwachte Hinnerk, klappte mit den Augendeckeln und fragte erfreut: Ins Dritte Reich? – Du kommst mir in der letzten Zeit zu oft aus dem Mustopp, Hinnerk, sagte Ive und erhob sich. Bei den Bauern gefielst du mir besser. Und Hinnerk sagte reumütig: Du mich auch.

*

Der Oberleutnant Brodermann war gewohnt, sich über seine Gefühle und Handlungen Rechenschaft abzulegen. Er entsann sich Ives mit einer aus Schmerz, Staunen und warmer Kameradschaft gemischten Anteilnahme. Er war es gewesen, der als junger Ordonnanzoffizier im Betonunterstand des Kampf-Truppen-Kommandeurs dem Fahnenjunkerunteroffizier Iversen die Nachricht vom Tode seines Vaters beibrachte. Ive hatte ihn nur aus bleichem, magerem, dreckigem Gesicht mit verklebten, undurchsichtigen Augen angesehen, hatte „Zu Befehl, danke, Herr Leutnant“ gesagt und sich mitten zwischen die gleich Toten schlafenden Meldegänger hingehauen. In der Folgezeit versäumte Brodermann es nie, auf seinen Gängen, wenn es irgend möglich war, einen Abstecher zu Ives Kompanie zu machen. Leider schien sich Ive dem um wenige Jahre älteren Kameraden nur schwer anschließen zu können. Kurze Zeit vor der Beförderung Ives zum Offizier hatte Brodermann ihn sich zu gewissem Dank verpflichtet. Bei einer kleinen Feier in der Ruhestellung bemängelte der IA beim Divisionsstabe Ives seidene Mütze. Ive erhob sich schweigend und verließ die Messe. Brodermann hatte die Sache wieder eingerenkt, aber Ive kam nie darauf zurück und schien fast wütend auf Brodermann, wohl weil dieser, da der Tadel des IA zu Recht bestand, Ive mit seiner Jugend und dem nervenzerreißenden Dienst entschuldigt hatte. Sie blieben aber, Brodermann und Ive, zusammen in jener wortlosen und selbstverständlichen Zueinandergehörigkeit der Front, die den Verkehr unter Kameraden so sicher und natürlich machte, auch nach dem Schlamassel, und noch beim Kapp-Putsch hatten sie, als Schützen Dienst tuend, dasselbe Maschinengewehr bedient. Dann aber vollführten beide mit entschlossenem Ruck die entscheidende Wendung, nur jeder nach einer anderen Richtung. Ive glaubte, den Eid auf die Verfassung nicht leisten zu können und schlug sich trotz des ernsten und besorgten Abratens von Brodermann in das Siedlungsabenteuer. Brodermann aber war Offizier und nicht Abenteurer, und nach reiflicher Überlegung entschloß er sich, den veränderten Verhältnissen Rechnung zu tragen. Da er seine Teilnahme am Kapp-Putsch, und besonders nachdem er von den Umständen erfuhr, unter welchen sich der Putsch bei der Führung abgespielt hatte, zuletzt doch als einen Makel betrachtete, suchte er nach der Auflösung seiner Truppe nicht in einem Regiment der neugebildeten Reichswehr unterzukommen, sondern nahm Dienst in der grünen Sicherheitspolizei, die damals gebildet werden sollte und wie es schien, sehr unpolitische Aufgaben zu erfüllen hatte. Er entschloß sich zu diesem Schritt nicht leicht. Natürlich war er Monarchist, aber da sein Fahneneid erloschen war, und wahrhaftig ohne sein Zutun, blieb ihm nichts weiter übrig, wenn er beim, wie er erkannte, unbedingt erforderlichen Wiederaufbau des Reiches nicht unfruchtbar grollend und gekränkt beiseite stehen wollte, als den neuen Eid zu leisten und entschlossen zu sein, mit der gleichen korrekten Hingabe zu halten, wie den Eid, den er auf die Fahne des alten Heeres geschworen hatte. So tötete er bewußt und ohne sich zu schonen alle Vorbehalte, die sich immer wieder heimlich anmelden wollten, und wenn es ihm auch niemals gelang, die Hydra der Zweifel und Versuchungen in sich ganz zu überwinden, so gewöhnte er sich doch an sie und lernte sie fast begrüßen, als Korrektiv seiner Handlungen sozusagen, als notwendig für das in seinem schweren Beruf unumgänglich erforderliche Gleichgewicht. Das, was er bei seinem Übertritt zur Polizei gesucht hatte, die große, alle Kräfte eines Mannes anspannende Aufgabe zum Wohle des Ganzen, fand er in einem Masse, welches er selber kaum zu hoffen gewagt. Sein entschieden organisatorisches Talent fand volle Ausnutzung, aber Brodermann bat selbst nach einigen Jahren angestrengter Büroarbeit um Versetzung in den Außendienst, da er in den nun eingefahrenen Geleisen nicht mehr die ganze Befriedigung verspürte, nach dem Masse seiner Arbeitskraft beschäftigt zu sein. Die Kameraden sagten wohl von ihm, er sei ein Streber, aber er war kein Streber, er war nur ein völlig im Dienste aufgehender Mann, geachtet, aber unbeliebt, strenge gegen sich und eben nicht nur gegen die Untergebenen, sondern auch gegen seine Vorgesetzten, vor denen er, selbst wenn er sich bewußt war, daß es ihm schade, seine Meinung vertrat, sobald sie sich mit dem Rechte, also mit den Erfordernissen des Dienstes in Einklang befand. So hatte er trotz seiner glänzenden Fähigkeiten doch nur eine sehr langsame Laufbahn und sah sich, übrigens ohne Neid, von geschmeidigeren Kollegen und Kameraden in der Beförderung oft überholt. Während der ganzen Zeit aber bewahrte w mit der ihm eigenen Zähigkeit sein Interesse an Ive, von dessen sonderbaren Wegen er in gewissen Abständen durch kurze Zeitungsnotizen, unter den innenpolitischen Nachrichten oder unter der Gerichtsrubrik, unterrichtet wurde. Er hielt sich „Eiserne Front“ und später das „Landvolk“ und las mit verschlossenem Gesicht die mit – v – oder Ive gezeichneten Artikel. Einige Male schrieb er auch an Ive, aufrichtige, karge Briefe ohne eine Andeutung von Politik, auf die er niemals eine Antwort erhielt. Als er später im Landvolk den Aufruf zum Boykott aller Vertreter des Systeme las, verstand er, warum, wenn er auch nicht verstand, weshalb. Er beschäftigte sich viel mit den Ideen Ives, viel und kopfschüttelnd. Er begriff, durchaus die Meinungen und Handlungen der Rebellierenden, wo sie auch standen, und hatte, er, der Mann der Ordnung und Pflicht, keinerlei Ressentiments gegen die, welche er bekämpfen mußte und bekämpfte mit hartem, sachlichem Eifer in den Grenzen seines Dienstes und keinen Schritt darüber hinaus. Damit war freilich nicht gesagt, daß er sich hätte mit ihnen in irgendeinem Punkte identifizieren können, daß er etwa mechanisch tat, was ihm geboten war, während sein Herz auf Seiten derer stand, gegen die sich sein Handeln richtete. Das kam gar nicht in Frage, alles Persönliche war bei ihm im Dienste sowieso ausgeschaltet, aber eben es auszuschalten war nur möglich, weil er vollkommen überzeugt war von der Richtigkeit und Notwendigkeit seines Handelns, und weil es sich bis auf Haaresbreite mit dem deckte, was er hätte vertreten müssen, auch wenn er nicht Offizier der Schutzpolizei gewesen wäre. Er bemühte sich keineswegs, die Meinung seiner vorgesetzten Dienststelle zu haben, aber es freute ihn, feststellen zu können, daß seine Meinung auch in weitestgehendem Maße von seiner vorgesetzten Dienststelle geteilt wurde, und wäre dies anders gewesen, hätte er sich genötigt gesehen, daraus die Konsequenzen zu ziehen. So war ihm Ives Tun nicht so sehr ein Greuel, wie eine Sorge, und da er Ive kannte, achtete er dessen Überzeugung, wenn er auch gleichzeitig nicht einen Augenblick darüber im Zweifel war, daß diese Überzeugung falsch und ihr entgegenzutreten sei. Bei der Verhaftung Ives und späterhin bei der Begegnung mit ihm auf der nächtlichen Straße war es Brodermann natürlich unmöglich gewesen, seinem ersten Impulse nachzugeben, und sogleich mit ihm in Verbindung zu treten. Beim Zusammentreffen nach der Erwerbslosenversammlung aber hatte Brodermann deutlich genug gespürt, in welchem Widerstreit der Gefühle sich Ive befunden hatte, und er wußte, daß Ive sich darüber im klaren war, daß sein Verhalten einfach ein Mangel an Haltung oder Zumindest ein Mangel an der richtigen Haltung bedeutete. Weit entfernt, darüber verletzt zu sein, suchte Brodermann eine Gelegenheit zur Aussprache mit Ive, mußte aber bei seinen Nachforschungen mit Entsetzen feststellen, daß Ive nicht polizeilich gemeldet war. Es war zweifelhaft, ob es seine Pflicht gewesen wäre, dies anzuzeigen, er zeigte es nicht an, und er bemühte sich auch nicht, sich über seine diesbezügliche Pflicht aufzuklären. Doch verfolgte er um so eifriger den Zufall, der ihn mit Dr. Schaffer in einer Gesellschaft zusammenführte, und bat ihn, den er von Ive kurz hatte sprechen hören, ihm ein Zusammentreffen zu vermitteln. Schaffer sagte ihm das zu und, sich mit Brodermann in ein längeres Gespräch einlassend, erfreut, einen leibhaftigen und konsequenten Vertreter des „Systems“, ein rares Exemplar der in gebildeten und ungebildeten Kreisen fast ausgestorbenen Gattung, von dem er allerlei Anregung erhoffte, entdeckt zu haben, lud ihn ein, an seinen Abenden teilzunehmen, zu denen ziemlich regelmäßig zu kommen Ive die Gewohnheit angenommen hatte, Brodermann hatte zwar nie viel Zeit gehabt für das, was er intellektuelle Spielereien nannte, aber die Aussicht, mit Ive ein vernünftiges Wort sprechen zu können, veranlaßte ihn, sich schon bei der nächsten Gelegenheit bei Schaffer einzufinden. Freilich schien ihm bald der ganze Rahmen nicht recht geeignet zu einer ernsthaften und persönlichen Aussprache, aber vielleicht verhinderte gerade der Zwang, sich unauffällig in das Gespräch einzudrängen, eine Situation, die nach dem Charakter des letzten Zusammentreffens für den Anfang nur peinlich sein konnte. So wartete er auf Ive und saß nicht anders wie jener, als er zum ersten Male in diesem Kreise verweilte, schweigend in der Ecke, die Anwesenden musternd, und bemühte sich vergebens, aus den Äußerungen der einzelnen Herren Art und Richtung des Zirkels festzustellen. Besonders von Dr. Schaffer wußte er überhaupt nicht, was er halten sollte, und dies war ihm begreiflicherweise unangenehm. Er drückte das Kreuz durch und saß aufrecht und gewappnet, als ob er statt des im Vorraum abgelegten Hirschfängers einen unsichtbaren Degen in den Boden stemmte. Sonderbare Gesellschaft, dachte er und fand, das Kinn an den Kragen gezogen, jedes einzelne Mitglied einigermaßen suspekt. Von den beiden Indern ganz abgesehen, die sich gegenseitig übrigens nicht ausstehen zu können schienen – wahrscheinlich ist das ein Hindu und ein Mohammedaner, dachte er, aber es war nur ein Nord- und ein Südinder, war da ein noch junger Mann, der mit gerunzelter Stirn bei der Beleuchtung einiger Tagesereignisse in einen, sagen wir, auffallend volkstümlichen Ton verfiel, und den er einmal für einen kommunistischen Parteiagitator und einmal für den Redakteur eines sehr weit rechts stehenden Wochenblattes hielt, und der sich schließlich als sozialdemokratischer Gewerkschaftssekretär herausstellte. Niemals hätte Brodermann in dem blonden Burschen, der sich mit seiner erheblich abgerauchten Pfeife auf dem Sofa flegelte und von Zeit zu Zeit grunzende Töne ausstieß, für einen Handelsredakteur beim Berliner Tageblatt gehalten, und er mußte sich sagen, wie erstaunlich es war, in dem weitaus bestangezogensten Herrn mit unerhört aristokratischen Allüren und feinfühlig gewinnendem Wesen eine Persönlichkeit wiederzuerkennen, welcher er als einem einflußreichen Funktionär bei der russischen Botschaft begegnet war, indes der Name des salopp gekleideten und mit groben Manieren eine Auswahl mehr oder weniger angelernter kommunistischer Phrasen in die Unterhaltung streuenden Individuums auf den Erben eines der bekanntesten deutschen Adelsgeschlechter hindeutete. Auch hätte er nicht vermuten können, daß es sich bei dem Herrn, welcher mit beredten Worten für die in Aussicht genommene großzügige Siedlungspolitik im Osten eintrat, um einen Großgrundbesitzer, und bei dem Herrn, welcher mit so schönem Eifer die Lohnpolitik der Gewerkschaften verteidigte, tun einen maßgebenden Vertreter der Maschinenbauindustrie handeln könne, und doch war es so. Aber gerade dieser sonderbare Zwiespalt zwischen Eindruck und Erscheinung auf der einen und Tatsache und Meinung auf der anderen Seite erregte in seiner von Paradoxen wimmelnden Interferenz bei Brodermanns auf Klarheit dringenden Geist den heftigsten Unwillen. Das Unkontrollierbare bedrängte ihn, und er verschanzte sich in versteiftes Widerstreben wie in eine Festung. Er hätte das, was sich da um ihn herum wichtig tat, mit einem Achselzucken abtun können, aber er mußte sich eingestehen, wie groß die Gefahr war; denn was hier gesprochen und vertreten wurde, war, dem konnte er sich nicht entziehen, offensichtlich ernsthaft gesprochen und vertreten, die ganze Unterhaltung bewegte sich doch auf einem Niveau, welches einen Zweifel darüber nicht zuließ, daß es sich hier nicht um unverantwortliche Literaten handelte, sondern um Männer, die vielleicht taten, was nicht ihres Amtes war, dies aber taten mit dem Anspruch, zu gegebener Zeit gehört und vernommen zu werden. Nicht die allgemeine und immerhin sehr freimütige Kritik an den bestehenden Zuständen, als deren Vertreter sich Brodermann fühlte, auch wenn er nicht in Uniform gekommen wäre, empörte und beunruhigte ihn, sondern die feststellbare Tatsache, daß diese Kritik konzentrisch gerichtet war, so daß Anlaß bestand, zu glauben, daß die Herren, welche . sie mit so billigem Mute vortrugen, in dem Augenblick, in dem sie die Verantwortung für die Umänderung des bemängelten Gegenstandes übernehmen müßten, dezentrisch wieder auseinanderliefen. Brodermann war mit Recht immer weit davon entfernt gewesen, sich vorsintflutlich vorzukommen, wenn einer, so war er sich im klaren über den hohen Grad von Widersetzlichkeit, der weite Teile des Volkes ergriffen hatte, und es hätte ihn nicht erstaunt, diese Widersetzlichkeit selbst bei denen zu finden, die nicht nur alles Interesse, sondert auch die Einsicht haben müßten, ihr gerade sich entgegenzustellen, was aber sollte er zu dem vollendeten Zynismus sagen, mit der ein Herr in den Dreißigern, der sich eben noch eingehend in betrachtenden Vergleichen zwischen einem gewissen Zeitabschnitt in der Kultur der alten Araukaner und der Gegenwart erging, wie Brodermann er fuhr, Professor der Assyriologie war und wahrscheinlich aus irgendeinem Protest gegen irgendeine Einrichtung heraus nur selten die Haare schneiden ließ, seinen Eintritt in die Demokratische oder Staatspartei mit den Worten motivierte, die Leute seien heute am dankbarsten, wenn mal einer zu ihnen käme? Das war es, was ihn beunruhigte: Das nicht Ernstzunehmende ernst nehmen zu müssen. Und in ihm bereitete sich eine Stimmung vor, die den so beherrschten Mann fürchten ließ, er werde bei der Verteidigung der einzig verantwortlichen Position mit dem Stolz des einsam Fechtenden auch das Schild seiner Würde von sich werfen. Als Ive mit Pareigat zusammen eintrat, erkannte er Brodermann nicht sogleich. Er ging auf Zehenspitzen, und ohne jemand zu begrüßen, wie es hier bei verspätetem Eintreffen, die Diskussion nicht zu stören, Sitte war, sich einen Stuhl heranzuholen. Brodermann hatte sich halb erhoben, und Schaffer winkte ihm, ohne sich in seiner Rede zu unterbrechen, freundlich zu. Nun sah Ive Brodermann ins Gesicht, er zögerte einen Augenblick, nickte dann kaum merklich zu ihm hin, bekam einen roten Kopf und setzte sich ihm gerade gegenüber. Schaffer streifte Ive und Brodermann mit einem erstaunten Blick und sagte, jedenfalls sei es ein Fehler, die für die deutsche Einsicht unverständliche französische Haltung anläßlich der Hooverschen Vorschläge ganz primitiv für reaktionäre Verstocktheit oder als lediglich vom Haß gegen Deutschland diktiert zu betrachten, auch ginge es nicht an, die französischen Thesen mit wohlwollender Objektivität psychologisch deuten zu wollen, als eine Folge etwa der formaljuristischen Einstellung des französischen Geistes oder das Verlangen nach Sicherheit etwa lediglich als Folge der Erinnerung an die Zerstörungen des Krieges in den östlichen Departements. Ive dachte, Schaffer wundert sich, daß wir, Brodermann und ich, uns nicht als alte Kriegskameraden um den Hals fallen. Alte Kriegskameraden! Aber wenn wir im Kriege eine Gemeinsamkeit erfuhren, so war es die, daß jeder von uns weitab von jedem Gruppenegoismus sich seinen Weg und seine Haltung ganz verflucht alleine zu suchen hatte. Denn die französische Hegemoniebestrebung, der ja zumindest eine gleichstarke und gleich natürliche deutsche Hegemoniebestrebung gegenüberstünde, leite sich von einer tieferen Strömung her, als daß sie psychologisch oder allein aus den politischen Umständen und der geopolitischen Situation heraus erkannt werden könne. Jedenfalls handle es sich nicht um eine politische Willensrichtung, sondern um eine geschichtliche, welche die Kunst der Staatsmänner, wie deren Absichten auch liegen mögen, in ihre Linie zwingt. Im Grunde bestimme schon von dem ersten Erwachen des deutschen Bewußtseins an ein einziges, immer gleichbleibendes Faktum das deutsche und darüber hinaus das europäische Schicksal ließ! Dies sei die Existenz des Reiches, natürlich nicht ausschließlich eines der mannigfach wechselnden politischen Gebilde im Zentrum Mitteleuropas, sondern die gesamte Fülle von Gedanken und Gefühlen, Träumen und Tendenzen, die sich aus dem Begriff „Das Reich“ ergäben. Jeder deutsche Versuch einer Verwirklichung dieses Begriffes mußte notwendig immer sofort alle ihrem Wesen nach nichtdeutschen Mächte auf den Plan rufen. So könne es nicht wundernehmen, daß die Reformation in ihrem eigentümlich politischen Wertgehalt, wie er etwa im Lutherchoral zweifellos noch lange nach ihrem ersten geschichtlichen Erfolg wenn nicht in der sichtbaren Leistung oder in der gewollten Handlung, so doch in der Tendenz bis heute ihre weithin gültige Wirkung habe und haben müsse, sagte Schaffer und sah zu Pareigat hinüber, der damit einverstanden schien. Nun, der erste deutliche französische Versuch gleichen Zuges führte sogar zu dem Bestreben des Königs Franzi., sich zum Deutschen Kaiser wählen zu lassen, indes sein Gegenspieler Karl V., durch die weit vorausschauende dynastische Politik seines Großvaters Maximilian auch Erbe Spaniens, trotz Türkenkriege und italienischem Zerfall immer wieder gezwungen war, wiederum Frankreich in die Zange zu nehmen. Wenn wir nicht verzichten könnten, dem Bilde eine psychologische Abrundung zu geben, so müsse gesagt werden, daß offensichtlich im französischen Bewußtsein ganz anders wie im deutschen die einzelnen Epochen der Geschichte als solche und in sich abgeschlossen betrachtet werden könnten, sie könnten als historische Beispiele sozusagen zu interessanten, aber kühlen Vergleichen herangezogen und wieder zu den Akten ins vorbildlich ausgestattete Archiv gelegt werden, es lohne sich, Plato und Aristoteles, Erasmus und Voltaire, das Leben Jeanne d'Arcs und selbst Napoleons mit Nutzen zu studieren, aber es könne daraus für den Franzosen keinerlei verpflichtende Gültigkeit für jetzt und heute abgeleitet werden, indes für uns Deutsche Geschichte eben nicht ein einziger in Etappen vorwärtsschreitender Prozeß sei, sondern gewissermaßen die immerwährende Kristallisation und Auflösung ein und desselben Stoffes, und heute noch spräche die tiefe anrufende Stimme Platos zu uns, heute noch denke Meister Eckhart, was wir denken immer wieder vergessen haben, jetzt und bei uns kämpfe immer noch und immer wieder, was von den Staufern bis Bismarck gekämpft habe, und jede einzelne Epoche sei eine ständige Mahnung und Forderung, das, was gewollt war, heute zu erfüllen. Gerade dieser Mangel an in französischem Sinne „überwundenen“ mystischen Bewußtsein, gebe der französischen Politik die staunenswerte größere Beweglichkeit, und während uns jedes Bündnis zu einer zuletzt unglücklichen, aber heiligen Allianz würde, sei jede Allianz für die Franzosen von Ludwig XI. über Napoleon bis zum Weltkrieg stets eine schöne und nützliche, aber höchst unheilige Angelegenheit. Diese Beweglichkeit aber gäbe der französischen Politik nicht nur den Anschein, sondern die Tatsache der Ehrlichkeit. Was die Franzosen wollten, das wollten sie wirklich, während uns die geschichtliche Rücksicht zwänge, immer etwas anderes zu wollen als das, womit wir hoffnungsfreudig auf den von den anderen schon sorgfältig vorbereiteten und besetzten Plan träten. So käme es, daß wir der Welt immer als das reaktionärste und zugleich revolutionärste Volk erschienen, bei dem auf jede Überraschung sich gefaßt zu halten nützlich sei. Damit hänge eng zusammen die Unmöglichkeit, den Charakter des deutschen Machtstrebens zu erkennen. Seien wir, wie Dostojewsky uns bezeichnete, eine protestierende Macht, so sei unser Protest doch immer einer um des Reiches willen gewesen, und in dem Augenblick, da wir der Erfüllung des Reiches nahe standen, erzeugten wir Protest und Ärgernis zugleich bei allen unseren Nachbarn und bei den Franzosenganz vorzüglich. So wirke die Ahnung des Reiches weithin, und wohin sie in einzelnen hohen Gestalten Wurzel schlage, sei das Bemühen groß, diese Gestalten zumindest aus dem deutschen Bereich in etwas herauszulösen und ihnen eine ehrende, aber allgemein wohlschmeckende übernationale geistige Herkunft zu verleihen; wenn nicht gar das Bestreben sich geltend mache, uns selber einigermaßen ungefällige Gestalten, die in hoher Würde gegen diese Würde handelten, mit sicherem Instinkt als Gegenkraft des Reiches in ihren eigenen Bezirk zu ziehen, wie zum Beispiel Karl den Großen, den sie drüben mit schöner Selbstverständlichkeit nur als Franzosen bezeichneten. Tatsächlich habe bei jedem Akt der deutschen Geschichte, die als Geschichte das immerwährende Ringen um das Reich darstelle, die Welt von den Anklagen widergehallt, die Deutsche gegen Franzosen und Franzosen gegen Deutsche geschleudert hatten. So vielfältig diese Anklagen auch gewesen sein mögen, ein Kern war immer durchzuspüren: der andere strebe nach der Hegemonialgewalt über Europa. Und in der Tat, fragten wir uns, wem auch diese Hegemonialgewalt gehören müsse, so waren Gründe und Gegengründe viel bei der Hand, eines aber war sicher, daß sie nämlich nur einem von den beiden Völkern, von den beiden Nationen gehören könne, und daß jene Nation, der sie nicht gehöre, als Nation, das heißt als Volk, das einen geschichtlichen Auftrag zu erfüllen habe, nicht mehr existieren könne. Und so wechselvoll das Spiel auch hin und her gewürfelt worden sei, wenn der höchste Einsatz drinnen lag, habe der Gewinner immer Bedingungen gesetzt, die den Muskel, der zum Reiche greifen ließ, durchschneiden sollten. Frankreich wüßte, wie groß die Bedrohung sei, und so habe es jetzt und heute versuchen müssen, was es niemals sonst außer im Edikt von Nantes in dieser Art versuchte, was selbst dem Wesen der französischen Methode widerspreche, da es ihre Beweglichkeit einschränke, nämlich, einen Vertrag durchzudrücken mit der ausgesprochenen Bestimmung, daß er ewig gelte und unabänderlich sei. Darüber hinaus habe Frankreich in völliger Konsequenz aber noch die halbe Welt organisiert, und wenn dies in einer so neutralen Form wie dem Völkerbund geschehen sei, so entspringe doch der Völkerbund dem Vertrag, und seien auch die Genfer Thesen von Frieden und Gerechtigkeit vielleicht von allen in ihm vertretenen Völkern mit Augurenlächeln gehört, gelesen und verbreitet, von Frankreich nicht, denn ihm sei doch der Frieden die Garantie seiner hegemonialen Macht und die Gerechtigkeit sei wirklich eine ihm aus dem Herzen kommende Parole, die höchste politische Tagend, der es sich befleißige, da alles, was Frankreich tue, – wie angenehm – gerecht sein müsse, dient es doch dem Frieden. Wir aber sähen, was es uns tatsächlich sei: den Völkerbund als Gegenreich, sagte Schaffer und blickte auf Ive, denn im Gespräch mit ihm hatte sich dieser Gedanke herausgeschält. Aber Ive schwieg. Er sah Schaffer auch nicht an, seine eng beieinanderstehenden Augen waren auf den obersten Knopf von Brodermanns Uniformrock gerichtet. Auch Brodermann schwieg, doch hörte er mit gespanntem Gesichtsausdruck Auch als nun die Diskussion lebhafter einsetzte, mit interessanten Enthüllungen über den chinesisch-japanischen Konflikt und der eigentümlichen Haltung Frankreichs, die ganz weder von den anderen Mächten, noch vom französischen Volke verstanden wurde, und in der Tat handelte es sich um sudchinesische Interessen, die nur einen kleinen Kreis von Kapitalisten etwas angingen, und um die Aufteilung von Einflußsphären, welche von der indochinesischen Basis aus verständlich war, beteiligten sich weder Ive noch Brodermann am Gespräch. Späterhin freilich ergriff jeder von beiden einmal zu einer kurzen Bemerkung das Wort. Das war, als Schaffer von der Rolle des Bürgertumes sprach, so wie es sich in seiner politischen Herrschaftsform kristallisiert hatte, und einzelne Definitionen des Wortes Bürger abzugeben versuchte, um schließlich von weit her die Herrschaft der Bourgeoisie als Ausstrahlung des Gegenreichgedankens nachzuweisen. Da fragte Brodermann höflich und sichtlich geniert, ob denn nicht gerade die französische Revolution einen Begriff geschaffen habe, der ganz unentbehrlich für jeden staatlichen Aufbau sei, und von dem zu hören er bisher hier vergeblich gewartet habe: den Begriff des Staatsbürgers? Da Schaffer im Augenblick nicht begriff, ob es sich hier um eine Pflaume handele oder um einen ernsthaften Einwand, und wenn, aus welcher Ecke er kam, ging er mit einigen liebenswürdigen Bemerkungen darüber hinweg. Dann aber machte sich Dr. Salamander ans Wort, der aus Paris zurückgekehrt war, als eine Notverordnung die Sperre der Konten verfügte, und der nun deutlich den Eindruck erweckte, daß er die Welt nicht mehr verstand. Aber was, um Gottes willen, fragte er, würde denn aus dem deutschen Geist werden, wenn das Dritte Reich käme? Sei es denn vorstellbar, daß die so mühsam errungene geistige Freiheit nun unterdrückt, geknebelt werde und zum unermeßlichen Schaden für die deutsche Kultur gezwungen sei, ins Ausland, in die Verbannung zu gehen? Da meinte Ive, er könne ja nicht wissen, wie die Herrschaft eines Dritten Reiches ausgeübt werden würde, aber wenn er bedenke, daß die geistige Freiheit zumindest zwölf Jahre lang alle Blüten treiben konnte, und dies auch vollauf getan habe, ja einen Apparat zur Verfügung hatte, wie er großartiger kaum zu denken war, und von diesem Apparat den denkbar größten Gebrauch gemacht, mit dem Erfolg, daß eben jene Mächte sie nun bedrohten, die in ihre finsteren Löcher zu scheuchen die approbierten Vertreter des Geistes unentwegt und mit allen Mitteln der Vernunft sich mühten, dann ließe sich doch leicht denken, was mit Ihnen, Herr Dr. Salamander, und mit denen, für die Sie Ihre Stimme erhoben, geschehen werde, nämlich nichts. Nichts werde ihnen geschehen, sie könnten ruhig und getrost und in Frieden weiterschreiben, kein Mensch würde es lesen. Schaffer mißbilligte diese Wendung, erfreut mit den Ohren wackelnd, und zog mit sachtem Wort die zu zerfledern drohende Diskussion wieder in das rechte Gleis. Aus all dem, was wir besprochen haben, sagte er, geht hervor, daß jede deutsche Politik eines Richtungspunktes bedarf, der im Grunde schon gegeben ist. Was wir an den gegenwärtigen Verhältnissen bemängeln, ist, wie wir auch zu ihnen stehen mögen, der Mangel eines Richtungspunktes überhaupt, der gestattet, auf weite Sicht zu handeln. Es ist unmöglich, ihn verantwortlich zu fixieren. Daß dies unmöglich ist, liegt am System. Der Oberleutnant Brodermann wandte den Kopf mit einem Ruck wie ein Sperber, aber er sagte nichts. Soll ich denn den ganzen Abend alleine quatschen, dachte Schaffer, ich muß diesen Klotz da zum Bersten bringen. Denn, sagte er, seiner ganzen Herkunft und seiner ganzen Art nach vermag das System etwas anderes als die rationale Technik des Politischen nicht zu treiben. Das heißt, es ist gezwungen, immer genau das zu tun, was durch andere politische Mächte vorgeschrieben wird. Einmal steh der Hegemonialgewalt begeben, vermag es durch kein Täuschungsmanöver zu verschleiern, was es tatsächlich ist, Werkzeug von Mächten, die außernationale Interessen haben. Welche Politik das System auch zu treiben unternimmt, sie kann niemals das sein, was sie zu sein vorgibt, nationale Politik. Meine Herren, sagte Brodermann, räusperte sich und fingerte in der Luft herum, als fasse er den Knauf eines unsichtbaren Degens, und obgleich er von Dr. Schaffer gereizt war, blieb es allen doch offensichtlich, daß es nicht die Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber sein konnte, die Brodermann bewog, seine Worte direkt und ausschließlich an Ive zu richten. Meine Herren, sagte Brodermann, Sie sprechen hier vom System, es ist ja neuerdings sehr Mode geworden, vom System zu sprechen, es ist dies ja auch ein sehr einfacher und bequemer Begriff, aber ich weiß nicht, woran das liegt, bin ich zu dumm dazu, oder liegt das an der Weise der öffentlichen Aufklärung, ich habe mich ernsthaft bemüht, aber ich habe immer noch nicht verstanden, was Sie eigentlich verstehen unter „System“, was das eigentlich überhaupt sein soll, „System“. Ich kann es mir wohl denken, wenn ich alles zusammenfasse, was ich über und gegen das System gehört und gelesen habe, aber hier mangelt das, was für das System spräche, es ist einfach nicht vorhanden, wenn es darauf ankäme, was gehört und gelesen wird. Es handelt sich also da wohl um etwas, das nur nach der negativen Seite hin zu existieren scheint, was also qualitativ gar nicht umrissen werden kann, und wenn ich auch weit davon entfernt bin, annehmen zu wollen, daß es nur als Gebild einer unzufriedenen Phantasie sein gespenstisches Wesen treibt, so müssen Sie mir doch gestatten, die bei aller Vielheit der Standpunkte doch sichtbare Lücke durch meinen bescheidenen Anteil zur Diskussion schließen zu helfen, indem ich einmal sage, was immerhin auch als „System“ angesprochen werden könnte, wenn es vielleicht auch nicht ganz das ist, was Sie meinen wollen oder meinen können. Und Sie müssen mir auch gestatten, dies kurzweg als „System“ zu bezeichnen, um alle Umschreibungen zu vermeiden, die nicht zur notwendigen Klarheit beitragen. Nun denn, das System, das ist nichts anderes als das, was keine Bewegung oder Idee, und möge sie noch so groß sein, und noch so suggestive Massenerfolge für sich buchen können, aufzuweisen hat, schlicht und rund gesagt nämlich: eine Leistung. Und zwar eine Leistung, die nach dem, was ich hier von Ihnen gehört habe, Ihnen doch sehr munden müßte, Ihren Beifall doch hervorrufen müßte, nämlich: die Erhaltung des Reiches. Das mag Sie vielleicht befremden, das mögen Sie vielleicht noch nicht gehört haben, aber es gehört zur wahren Leistung etwas, das auch Ihnen, die Sie ja aus den verschiedensten Berufen stammen, ohne daß dies im Laufe des Gespräches sehr deutlich wurde, nicht fremd sein kann, nämlich: sich anonym zu vollziehen. Sie wissen, daß der Graf Schlieffen, der Mann, der die Erbschaft Moltkes, den preußisch-deutschen Generalstab zu einem Instrument militärischer Tüchtigkeit machte, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte, seinen Offizieren eine persönliche Richtschnur gegeben hat, und die lautete: mehr Sein als Scheinen. Und überall dort, wo es sich darum dreht, wirkliche sachliche Arbeit zu leisten, Detailarbeit, welche eine Arbeit auf lange Sicht überhaupt erst möglich macht, muß dieser Grundsatz gültig sein. Es ist ein preußischer Grundsatz und es ist ein allgemeindeutscher Grundsatz, sobald wir das Wesen des Staates betrachten. Nun, dieser Grundsatz hat heute noch, oder heute wieder seine Gültigkeit, auch da, und gerade da, wo Sie und mit Ihnen alles, was jetzt die deutsche Öffentlichkeit mit seinen Forderungen und Problemen ausgezeichnet zu beschäftigen versteht, vielleicht gar nicht vermuten, im System nämlich, das gar nicht im Lichte der Öffentlichkeit steht und seinem Aufgabenkreis nach auch gar nicht dort stehen kann. Ich sagte, das System sei eine Leistung, eine anonyme Leistung, gewiß, aber es ist eine sichtbare Leistung, von der Sie alle, meine Herren, so wie Sie hier zu nützlichen Gesprächen versammelt sind, ganz ungemein profitieren, ja, an der Sie, ob Sie nun wollen oder nicht, mit einem Großteil Ihres Tuns, gleichgültig ob privater oder offizieller Art, ganz wesentlich mitbeteiligt sind. Ich meine damit selbstverständlich nicht, um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, daß Sie davon profitieren, indem Sie den Protest gegen das System organisieren, wenngleich das ja auch eine einkömmliche Beschäftigung geworden ist, sondern ich meine, daß die Erhaltung des Reiches, möge Ihnen auch die Form nicht gefallen, in der sie geschieht, es Ihnen überhaupt erst ermöglicht, hier in so angeregter Unterhaltung trotz Ihrer verschiedenen Positionen einmütiglich festzustellen, daß alles anders werden muß. Ich sage, das System hat das Reich erhalten, und ohne das System wäre es heute nichts weiter als ein Spielball fremder Mächte, in allen seinen Teilen, bis in die letzte privateste Sphäre hinein, ein Haufen buntscheckiger Mauersteine, von denen sich jeder politische Passant seinen Teil nehmen kann, wenn es ihm behebte, aber kein Gebäude wie heute, gewiß, ein mangelhaftes Gebäude, in dem es zum Dache hereinregnet, und in dem eine fürchterliche Enge auf den Stiegen und in den Räumen herrscht, in dem Sie aber immerhin doch wohnen können, ein Zuhause haben, und das, wenn Sie an es denken, Ihnen die Antwort gibt auf die Frage, wohin Sie gehören. Sie können in diesem Hause, wie es ja ganz natürlich ist, wo einer auf dem anderen hockt, in Streitigkeiten geraten, sich mit Worten oder Tätlichkeiten in die Haare fahren, wenn Sie sich aber daran machen, die Wände des Hauses selber einzustoßen, so wird auch Ihre Aussage, daß es Ihnen zu eng geworden sei, niemanden darüber täuschen, daß Sie ein Verbrechen begangen haben, und für diesen Fall existiert ja wohl die Polizei. Denn darauf kommt es allen privaten Interessen zuvor an, daß das Wenige, das uns blieb, auch erhalten wird, und daß von dieser Basis aus in langsamer, aber zäher und beharrlicher Arbeit wiedergewonnen wird, was uns verloren ging. Und hier hilft kein Trauern um eine schöne Vergangenheit, möge sie noch so nahe oder noch so weit zurückliegen, hier helfen auch keine noch so glühenden Träume der Zukunft, hier hilft einzig und allein die nüchterne Erkenntnis dessen, was jetzt und sofort zu tun ist, und was späterhin zu tun sein wird, kann dadurch seine genau auskalkulierte Vorbereitung erfahren. Halten Sie doch, meine Herrn die Männer, die Sie zum System rechnen, nicht für Idioten oder Verbrecher, halten Sie sie doch nicht für Interessenjäger oder Parteifanatiker, schwächen Sie doch nicht durch einen Irrtum Ihre eigene Position! Und versuchen Sie doch keine Zwangsläufigkeiten herauszutüfteln, die am Wesen der Sache vorbeizielen, damit schaffen Sie erst Zwangsläufigkeiten, über deren Charakter Sie, wenn es zu spät ist, baß erstaunt sein und alle Eide schwören werden, Sie hätten an diesem Kinde kein Gefallen und keine Schuld. Sie können sich denken, daß ich, der ich als Königlich-Preußischer Offizier in der alten Armee Dienst tat, mich nicht leicht entschlossen habe, der Republik zu dienen, zumal sie ja wohl ein wesentlich anderes Aussehen trug als heute, daß ich mit nüchternen Augen und überaus kritischem Sinn an meine Aufgabe ging, und das Gefühl, das ich für die Männer hegte, welche die staatliche Gewalt übernommen hatten, weit davon entfernt war, etwas anderes zu sein als gründliches Mißtrauen. Was anderes hätte mich zu diesem Schritt bewegen können, als die Gewißheit, daß es notwendig sei, alle Kräfte in den Dienst der Aufgaben zu stellen, die sich von allen Seiten dringend anmeldeten. Und ich kann Ihnen sagen, meine Herren, wenn es Männer gibt, vor denen ich die Hand an die Mütze lege und sage: Alle Hochachtung, dann sind es die Männer, die das System geschaffen haben, die durch ihre unerschütterliche Haltung das Reich retteten und einen staatsmännischen Geist bewiesen, den ich selber niemals bei ihnen vermutet hatte. Das sage ich Ihnen, Sie können weit in den deutschen Landen herum suchen gehen, bis Sie einen Staatsmann finden, der solche Qualitäten in sich vereinigt wie Otto Braun. Und wenn ich mich auf das Gebiet der Analogien wagen darf, auf dem Sie so sicher zu Hause sind, so kann ich Ihnen nichts anderes sagen, als daß sich das wunderbare Verhältnis, welches die Grundlage abgab für die Einheit des Reiches, jenes zwischen Kaiser Wilhelm I. und seinem Kanzler Bismarck, heute sein Analogon gefunden hat im Verhältnis zwischen dem Herrn Reichspräsidenten und dem Kanzler Brüning. Ganz gewiß kann ich nicht in den Fehler verfallen, alles heute Bestehende gut und herrlich und schön zu finden, das kann niemand, und von den verantwortlichen Männern schon ganz und gar keiner. Es handelt sich hier nicht darum, lobzupreisen oder schwarz zu malen, sondern darum, die Situation zu Erkennen, so wie sä ist, so wie sie wurde, und welche Möglichkeiten sie für die Zukunft bietet. Es war doch kein Zufall, daß aus dem Kampf der einander widerstrebenden Gewalten von rechte und links, von Westen und Osten, von Norden und Süden, von oben und unten gerade das Reich in seiner jetzigen Gestalt hervorging, das System, und wenn Sie nach mystischen Kräften forschen, so kann ich Urnen zeigen, wo eine zu finden ist, dort, wo aus dem unsäglichen Wirrwarr von Anstrengungen und Richtungen, von Meinungen und Tatsachen, von Ordnungen und Emanzipationen, von knatternden Schüssen und unterschriebenen Verträgen, von Hunger und Gewalt und Hoffnung und Gefahr sich das Reich erneut bildete, das alles dies in sich fassen und in sich austragen konnte, ohne zu zersprengen und in dem heute, wo allein von sachlich zu lösenden Problemen die Rede sein sollte, ein weiterer Schritt zur Konsolidierung seiner Form lind zur Befestigung seiner außenpolitischen Situation getan werden könnte, wenn nicht der ganze Hexenkessel schon wieder erneut aufbrodelte, und die Kräfte binde, die so mühsam für die großen Aufgaben der Zukunft freigemacht wurden. Ich will nicht verkennen, wie ernsthaft die Gründe sind, die zu diesem neuen Ansturm führten, aber fragen Sie sich selbst, ob diese Gründe so unbedingt im Schöße des Systemes liegen, oder ob sie nicht vielmehr von Gegenden kommen, auf die das System selbst gar keinen unmittelbaren Einfluß ausüben kann, und zu denen zu gelangen das nicht vorhandene Vertrauen aller beteiligten Mächte notwendig wäre. Dies Vertrauen für diese Aufgabe herzustellen, das ist ein Teil der jetzt notwendigen Außenpolitik, eine Aufgabe, zu der das System aber eben auch das Vertrauen derer nötigt die an einer Beseitigung der Gründe, welche nun gegen das System Sturm laufen lassen, das unmittelbarste Interesse haben müßten. Niemand sollte den Männern und Bewegungen, welche dies Vertrauen gegenüber dem System nicht aufbringen z« können vermeinen, den guten Glauben absprechen, aber die wirkliche Lage der Dinge zu erkennen und sie zum Guten zu verändern, dazu gehört eben mehr als die allerschönste Kraft der Überzeugung und der noch so lauterste und energischste Wille, dazu gehört auch die sachliche Beherrschung des Materials, und es ist eben so, daß das Material nur dort die Übersicht gestattet, wo es zusammenfließt, und alle öffentlichen Statistiken und Untersuchungen, alle fachmännische und politische Detailarbeit, alle Kenntnis der Volksseele und der innen- und außenpolitischen und verwaltungstechnischen und volkswirtschaftlichen Erfordernisse vermag nicht das Hindernis hinwegzuräumen, das zwischen der Studierstube, dem Parteibüro, dem Redaktionszimmer einerseits und dem verantwortlichen Amt andererseits besteht; denn hier liegen die Früchte der Studien im Extrakte vor, hier regelt sich automatisch das sich täglich verändernde Bild, hier fügt sich alleine Strich für Strich zum umfassenden Plan, schieben sich die Größenverhältnisse zurecht, schält sich das heraus, was zuerst in Angriff genommen werden muß, und in welchem Masse und in welcher Weise der Angriff durchzuführen ist. Das ist so, und weil es so ist, und weil es nicht abgeändert werden kann, ohne sofort jede verantwortliche Handlungsweise unmöglich zu machen und den Bestand des Reiches Zu zerstören, weil dies so ist, wird jeder Wechsel der Macht an den bestehenden Verhältnissen nichts zu ändern vermögen. Was kann es bedeuten, wenn der eine oder der andere verantwortliche Leiter der deutschen Politik geht und einem anderen den Platz macht, was kann es schon bedeuten, wenn selbst der ganze Verwaltungsapparat mit einem Schlage mit ganz neuen Männern besetzt würde, das System bleibt, weil die Erfordernisse einer steten und ständigen Leistung bleiben, und wenn es auch zuviel gesagt ist, wenn ich sage, daß die Gesetze dieser Leistung eindeutig sind und ein von menschlichem Wollen unabhängiges Dasein führen, so besitzen sie doch eben die organische Kraft, die besser den Willen des Volkes präsentiert als jedes Parlament und jede öffentliche Meinung. Ja, meine Herren, die Tatsachen laufen Ihnen nicht davon, und wenn Sie mit noch so energischen Gesten gegen sie vorrücken, sie bleiben und wollen geformt und bearbeitet werden, und selbst den Fall angenommen, eine Revolution, vom Willen des ganzen Volkes einmütig getragen, schwemme das System, so, wie es sich in mühsamer Kleinarbeit auftaute, hinweg, die gesamte Organisation organisiere sich um, es bleibt genau der gleiche Nutzeffekt der Dinge, und es kann wohl das Tempo beschleunigt werden, mit dem dieser Nutzeffekt geformt und ausgebeutet sein muß, aber seine Größe kann nicht verändert werden. Und um dies zu erreichen, dazu brauchen wir keine Revolution, dazu brauchen wir das Vertrauen aller zum System, das Wegfallen der blödsinnigen Hemmungen aus der Gewalt aufsteigender Ideen, die sich gegen das System stellen, anstatt in ihm in fruchtbarer Mitarbeit sich mit dem Leben in Verbindung und zum Preise der so oder so nur möglichen Erfolge auf die sparsamste Methode durchzusetzen. Denn es ist ja doch nicht so, daß das System ein starrer Apparat ist, eine Maschine, deren Schwungrad auch leerläuft, wenn die Arbeit der Treibriemen beendet ist, ist ja doch kein mit doktrinärem Öl gespeister Motor, der halt macht, wenn es gerade mit dieser Mischung zu Ende ist, es ist ein lebendiges Wesen und lebt von den Ideen seiner Zeit. Was mag denn rationale politische Technik heißen? Ja gewiß, das System hat es ermöglicht, in den Völkerbund einzutreten, und was heißt dies anderes, als mitten auf dem Boden des sogenannten Gegenreiches den Kampf aufzunehmen um den deutschen Bestand einen Kampf, den es nirgends sonst führen könnte, weil eben auch hier die tatsächlichen Erfordernisse der Politik sich als stärker erweisen als alle Ideologien, und weil der Völkerhund nun das Konzentrationsfeld geworden ist, auf dem diese politischen Erfordernisse zum Kampfe zusammentreffen. Sich hier auszuschließen bedeutete also, von vornherein auf die stärksten außenpolitischen Möglichkeiten verzichten, Möglichkeiten, die freilich nur mit der rationalsten politischen Technik angegangen werden können, aber zu welchem Ziele, zu welchem Zwecke denn? Warum sollte es uns nicht möglich sein, mit unserer politischen Technik auf der Versammlung des Gegenreiches, um bei Ihrer Ausdrucksweise zu bleiben, dieselben nationalen Erfolge erzielen zu können, wie etwa seinerzeit Talleyrand in dem Organ der Heiligen Allianz, dem Wiener Kongreß für Frankreich erzielte? Wir sind es doch nun, welche die Gelegenheit haben, den Gegner bei seiner Ideologie zu packen, und ihn so zu zwingen, uns als Partner annehmen zu müssen, da er uns schon für alle Ewigkeit ausgeschaltet zu haben hoffte, den Kampf um das Reich auf seinem Plane, dort, wo er am verletzlichsten ist, auszufechten. Ich will ja gerne, und das System will ja gerne gelten lassen, was sich überall im Reiche an ernsthaften Bestrebungen, das Wesen der Politik zu erfassen, regt und bewegt, und ganz sicher kann sich aus all diesem Kunterbunt ein großer und weiter Richtungspunkt herausstemmen, aber meine Herren, ich behaupte, daß ein Richtungspunkt schon lange vorhanden ist, daß er mindestens gültig wurde in dem Augenblicke, da die, auch Sie zweifeln nicht daran, für den kontinuierlichen inneren Aufbau mehr oder weniger notwendige Freistrebigkeit der Wirtschaft sich selbst ein Ende setzte, da der Staat, der sich als Interessenregulativ mit der Gesellschaft gleichsetzte, sich nun sozusagen verselbständigte, die große wirtschaftliche und politische Initiative ergriff, der Kanzler die Regierungsgewalt in einem bisher unerhörtem Masse vom von Ihnen angefeindeten Parlament löste, kurzum einen konkreten Verfassungszustand schuf, der mit seiner staatsautoritären Tendenz gerade den nationalen Kreisen wohlmunden müßte. Sie können sich beklagen, meine Herren, daß der große Akt der Umwandlung, zu dem durch dieses Faktum der Weg freigegeben ist, nicht nach einem umfassenden, offen dargelegten und überall einleuchtenden Plan geschieht, Sie können sich gewiß beklagen darüber, aber beklagen Sie sich bei Ihnen selbst, bei allen denen, die durch ihre Oppositionsstellung zum System das große und einheitliche Handeln unmöglich machen, abseits stehen und mit Mißtrauen gewappnet, anstatt sich bereit zu halten, das Organisationsgerüst in tätiger Mitarbeit zu durchbluten und mit dem Fleische ihrer lebensnotwendigen Schaffensakte zu umgeben. Sie zwingen das System, nun Schritt für Schritt vorzugehen, hier und dort auf private Interessen für die Allgemeinheit kaum tragbare Rücksichten zu nehmen, und erst dort mit voller Gewalt einzusetzen, wo alle anderen mit ihrer Weisheit zu Ende sind. Sie können sich darauf berufen, meine Herren, daß erst im Augenblick der bittersten Not das System begann, einzugreifen, von ihr gezwungen, gewiß, aber wer sagt Ihnen denn, daß nicht von Anfang an die Möglichkeit dieses Eingreifens im System selber in der Tendenz dieses Systemes, daß in dieser Tendenz nicht beschlossen lag der Wille einzugreifen, wenn die Zeit reif geworden ist, und nicht früher und nicht später. Heute ist die Zeit reif geworden, und Sie können unzufrieden sein, wenn den augenblicklichen Zustand, der nicht Fisch und nicht Fleisch, betrachten, aber wer sagt Ihnen denn, daß dieser Zustand nicht provisorisch sei, daß in ihm nicht schon beschlossen liegt der Wille, über eine Stützung der Banken hinaus, über eine weitgreifende Einflußnahme des Staates in das Bankenwesen, in die Wirtschaft, in die Gesellschaft, hinaus, über die Ausdehnung der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit, über die Eingriffe in die Produktions- und Absatzbedingungen, über die finanzielle Kontrolle hinaus zu einer grundsätzlichen Strukturwandlung der Wirtschaft überhaupt, und damit zu einer Totalität des Staates zu gelangen, die wahrhaftig zu unserer, und wenn ich mich an die preußische Geschichte erinnere, nicht nur zu unserer Zeit das eigentliche und einzige Mittel ist, den Lebenswillen der Nation zu einer gewaltigen und alles beherrschenden und im Letzten heroischen Kraftanstrengung zu zwingen. Da können freilich Sie, meine Herren von links, begeistert nach Rußland, und Sie, meine Herren von rechts, mit Entzücken nach Italien, und Sie, meine Herren, bei denen es noch nicht ganz feststeht, ob von links oder von rechts, in ein herrliches Reich der Zukunft starren, hier, unter, mit und über Ihnen wächst in aller Stille ein Staat, der es nicht nötig hat, in alle Himmelsrichtungen sich nach Beispielen umzuschauen, hier wächst der deutsche Staat nach deutschen Erfordernissen, formt sich ganz gewiß unter dem Druck der ganzen Welt, wie sich jedes wahrhafte Leben unter dem Druck der Umwelt formt, aber formt sich aus der deutschen Substanz heraus, aus der bitteren Not der deutschen Lage, und trägt alle Richtungspunkte in sich, nach denen Sie in so rühmenswertem Eifer mit der Stange in den Nebeln herumfischen. Daß der Riesenprozeß der deutschen Neuordnung langsam vor sich geht, ist sicher, daß er zielbewußt geschieht, kann ich Ihnen verraten, daß er alle Keime der deutschen Hoffnung in sich trägt, daß er der Köcher ist für alle Pfeile der deutschen Sehnsucht, dafür können Sie bürgen, Sie alle, wenn Sie es nicht vorziehen, jetzt schon in die blaue Luft zu schießen, daß die Bogensehnen schwirren. Brodermann atmete tief, er sagte: Ich kenne die Vorwürfe, die dem System gegenüber erhoben werden. Die einen sprechen von kalter Sozialisierung, den anderen ist es nicht sozialistisch genug. Nun, Sie mögen es bezeichnen, wie Sie wollen, das eine ist sicher, nämlich, daß es nach Formen strebt, welche mit der meisten Gewißheit für die gewaltigen Aufgaben der Zukunft zureichend erscheinen. Es ist kein Zufall, daß sich der Neubauwille des Systemes, sobald er die nötige Freiheit besaß, zuerst auf eine Sicherung des Ostens und damit auf eine Sanierung der Landwirtschaft richtete, auf eine Sanierung, und nicht auf eine Sozialisierung, und wenn einzelne Mittel sozialistisch anmuten, so muten andere Mittel gar nicht sozialistisch an, denn maßgebend ist und kann für die Sanierung eben nicht irgendeine große politische Theorie sein, nach der sichelte zu biegen hat, und läßt es sich nicht biegen, wird es gebrochen, sondern das Erfordernis der Gesamtheit, und glaubt das Bauerntum, glaubt die Landwirtschaft, für die Erfordernisse der Gesamtheit mit ihrem Rat und mit ihrer Tat notwendig w sein, so gibt es einen einzigen Weg, dies zu beweisen, nämlich einen wesentlichen Teil der Abgabe des Systems zu erfüllen, nach Gesichtspunkten, denen gerne nachgegangen wird, wenn sie sich wirklich ehrlich und ernst auf das richten, was notwendig ist. Es wird gesagt, das System unter, drücke, aber hier wird nichts unterdrückt, was sich nicht gegen den Bestand des Reiches erhebt, und erhebt es sich, dann aber feste, das versichere ich Ihnen. Nun aber den großen Sturm zu entfachen und „Gewalt“ zu schreien, nachdem vorher um mehr Gewalt geschrien wurde, das ist ein Spiel, das ich nicht verstehe. Meine Herren, was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie jetzt, nachdem das System die privaten Interessen und Interessengemeinschaften endlich unter die Autorität des Staates gebändigt und an ihren nützlichen Platz verwiesen hat, sie durch einen Sturz des Systemes wieder alles beherrschend emporschnellen lassen? Wollen Sie den wähl- und planlosen Kampf abermals, bis sich die Gegner wieder ineinander verkrampfen, ohne daß ein einziger politischer Wille aus dem Gewoge entspringt? Wollen Sie ein neues System? Nun, es gibt kein System in Deutschland, neu oder nicht, getragen von wem auch immer, welches nicht genau dieselben Aufgaben vorfindet, genau dieselben Kraftströmungen, genau dieselben Tendenzen und Richtungspunkte. Bleiben wir also schon bei dem, was geschaffen ist und arbeiten wir weiter, arbeiten wir mehr, Platz für alle hat das System, überall finden Sie Gelegenheit, es braucht ja nicht gerade der Reichstag zu sein, wenn Ihnen der nicht zusagt, mir sagt er auch nicht zu, und es scheint mir nicht gerade ein Zeichen sehr großen politischen und revolutionären Instinktes zu sein, wenn große Bewegungen, die sich aufmachen, das System zu stürzen, um sich und ihre wertgeschätzte Intelligenz an seine Stelle zu setzen, ausgerechnet alle Kraft auf die Stelle richten, welche das System heute am allerwenigsten repräsentiert, auf den Reichstag, und wie hypnotisiert auf die Plätze starren, die es dort einzunehmen gelte. In Ihrem eigensten Bereich gilt es vielmehr, anzufangen, mit der Arbeit, mit der Gestaltung der deutschen Zukunft, in Ihren naheliegendsten Gemeinschaften gilt es, die bestmögliche und am meisten Kraft versprechende Form zu finden, Ihren Idealismus in tätige Verbindung mit dem Leben zu setzen und so beizutragen zu dem, was Sie und ich und was mit uns das System ersehnt. Aber weiterhin abseits stehen wollen, weiterhin die Augen zu den Wolken erhoben, das Herz erfüllt mit berauschenden Träumen und auf der Zunge die Verkündigung von der einzig richtigen und endlich wunderbaren Erlösung durch irgendein wievieltes Reich die Zertrümmerung des Systemes agitieren, das ist, und Brodermann stieß mit dem unsichtbaren Degen heftig auf, das ist politische Romantik. Das ist politische Romantik, sagte Ive und stand auf. Seine Hände faßten nach dem Tisch und ließen ihn wieder, er wollte sich wenden, kehrte sich aber wiederum Brodermann zu und lehnte sich endlich, die Arme verschränkt, an die Wand. Das ist politische Romantik, sagte er, er sagte, es sei ja neuerdings Mode geworden, von politischer Romantik zu sprechen, sobald sich in deutschen Bereiche irgend etwas regte, was nicht sofort und nützlich eingeordnet werden könne, aber er wisse nicht, sei er zu dumm dazu, oder läge es am Stande der öffentlichen Aufklärung, er habe rundherum gefragt, aber er habe immer gefunden, daß die an sich richtige Bezeichnung eines an sich richtig erkannten Phänomens stets in Zusammenhang gebracht würde mit einer Anschauung, welche mit dem Begriff politische Romantik, so, wie es sich uns seiner Herkunft nach präsentiere, in gar keiner Beziehung stehe. Er könne sich ungefähr denken, was unter politischer Romantik verstanden wurde, wenn er all das zusammenzähle, was gegenüber den noch nicht konventionell gewordenen Meinungen und Lehrmeinungen unserer Tage gedacht und gesprochen und geschrieben werde, mögen sie sich als Geschrei auf der Straße, als Programme von Parteien manifestieren, sich zum Range von Rundfunkdiskussionen erheben, oder in Gestalt von dicken und gelehrten Wälzern langsam in die Hohlräume der Wissenschaft eindringen. Aber hier mangele das, was hundert Jahre liberale Geschichtsbetrachtung zu sehen unterlassen habe, gar nicht imstande war zu sehen, weil es zu ihren Voraussetzungen in Widerspruch stand. Es bleibe also nichts übrig, als einmal nicht von den Voraussetzungen, Setzungen und Nachsetzungen dieses Jahrhunderts auszugehen, sondern den Ideen der Romantik an den Quellen nachzuforschen, auf die er freundlichst hingewiesen haben wolle. Denn wenn es uns darauf ankäme, innerhalb der Setzungen dieses eben verflossenen Jahrhunderts gegen es Sturm zu laufen, so könnten wir uns gleich zum Marxismus bekennen, welcher dies Geschäft schon ganz alleine und ganz vorzüglich mit einigem Erfolg besorge. Daß es uns darauf nicht ankäme, das nenne man mit Recht Romantik. Denn die Ideen der Romantik, welche das Jahrhundert bekämpfte, leugnete und schließlich ignorierte, und zwar in einem Masse und in einer Weise, die vermuten ließen, daß es nicht so sehr durch sie seine Überwindung fürchte, wie eben durch den Marxismus, sondern daß es sie gar nicht verstand, führten zu etwas, über welches weder die liberale Epoche, noch das System, welches allem Anschein nach tatsächlich unternimmt, sie zu liquidieren, verfüge und verfügen könne, nämlich: eine Staatsauffassung. Ja, das möge für den erstaunlich sein, der bei dem Wort Romantik sofort an im Mondenschein schwärmende Jünglinge denke, die sich aufwachten, in den Irrgärten der Politik die blaue Blume zu suchen – wenngleich auch dies immerhin ein lobenswerteres Unterfangen sein dürfte, als das Bestreben nach einem Konto beim Schweizer Bankverein. Aber die politische Romantik war weit davon entfernt, ein seliges Gefilde mit Horngedudel und voll wanderfahrender Taugenichtse zu sein, sie war vielmehr der erste umfassende Versuch in der deutschen Geschichte, aus ihr die Elemente des Staates herauszuschälen, sie von allen Schlacken des jeweiligen Zeitgeister zu befreien und aus den gewonnenen Erkenntnissen höchst weitreichende Folgerungen zu ziehen. Neben anderem die Elemente des Staates, sagte Ive, und so könne es uns nicht verwundern, daß heute, überall, wo sich das gleiche Bestreben geltend mache, nicht ein wesentlicher Gedanke verkündet werde, bei dem es sich nicht zumindest lohne, sich mit dem auseinanderzusetzen, was zu dem gleichen Thema schon in der Romantik vorgedacht war; daß jedenfalls in der Romantik schon alles vorgedacht war, was immer vom Grunde her gegen das liberale Jahrhundert zu denken gewagt werden könne; daß es uns, ob wir nun zu eigenen Setzungen gefunden haben oder noch nicht, sobald wir uns ernsthaft bemühten, unmöglich sei, zur Romantik nicht nützliche Parallelen zu ziehen. Tatsächlich sei im Kern die geistige Situation heute die gleiche wie vor hundert Jahren. Heute wie damals wehre sich eis deutscher Anspruch gegen eben siegreiche, weithin leuchtende, formenstürzende Ideen, deren erste Fanale in fremden Kapitalen aufflammten, heute wie damals bemühe sich die deutsche Jugend, diesen Anspruch nicht aus der gegebenen politischen Lage herzuleiten, nicht aus Gesetzen der Entwicklung, ändern aus einem als ewig erkannten Bestände, heute wie damals stünde das politische Verwaltungssystem zwischen den Fronten, und regierten die Staatsmänner des Vormärz nicht nach romantischen, und nicht nach demokratischen Grundsätzen, sonders nach denen des aufgeklärten, individualistischen Absolutismus, einzig getragen vom Vertrauen der Dynasten, so sei da ein verdammt geringer Unterschied zwischen jener Methode und der des heutigen Kanzlers, gleichgültig wie er auch heißen möge und aus welcher Ecke er zum Vertrauen des Reichspräsidenten gelange. Was uns aber unterscheide von der Romantik jener Tage, sei der Schuß Eisen im Blut, den uns hundert Jahre Erfahrung und ein Weltkrieg gegeben habe, und die daraus folgernde Gewißheit, daß wir Mittel und Wege wahrhaftig nicht zu scheuen brauchten, zu denen die Jugend jener Epoche nicht die metallene Kraft aufbrachte. Dies zur Belehrung, sagte Ive. Was aber die Behauptung angeht, das System habe den Bestand des Reiches gerettet, so ist sie einfach objektiv unwahr. Nicht das Reich hat das System gerettet, sondern sich selbst unter der Vorgabe, ein Staat zu sein, und wir sind nicht gewillt, die verlogene Weise mitzumachen, mit der das System seinen Geburtsakt in eine heroische Handlung umfälscht und heute die Befestigung seiner Gewalt vor der Geschichte zu legitimieren sucht. Wenn das System Entstand, weil es der parlamentarischen Demokratie glückte, in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch die um das Reich kämpfenden Gewalten, gleichgültig, ob sie ausgezogen waren, es gänzlich zu vernichten oder es zu neuer Größe zu gestalten, erst gegeneinander auszuspielen und dann die Erschöpften nacheinander mit weisen Verordnungen und kalten Schiedssprüchen auf die sachlichste Manier langsam abzumetzeln, so mag dies wohl eine Leistung sein, welche das System heute hoffen läßt, daß es ihm nun gelingen werde, dieselben neuformierten Gewalten abermals auszuspielen, um die unbequem gewordene parlamentarische Demokratie abzumetzeln, und der mangelnde politische Instinkt, der stieren Auges die Reichstagssitze zählen läßt, mag dem System doch recht willkommen sein. Aber was hat diese Leistung mit dem Staat zu tun? Was hat die gesamte Leistung, auf die sich das System beruft – und wenn sich auch über ihren Wert streiten ließe, so soll sie dem System doch unbenommen bleiben – was hat sie mit dem Staat zu .tun? Wenn heute versucht wird, den privaten Eigennutz auszuschalten, was anders geschieht denn, als die Verlagerung des Eigennutzens von einer Aktionärsgruppe auf die andere, vom Volksgewimmel der Interessenten auf das Systemgewimmel der Interessenten? Das wäre ja noch schöner, wenn das System nicht einmal über eine Leistung verfüge, wie anders könnte es sich denn garantieren? Wie anders könnte sich denn ein Fabrikbesitzer garantieren, wenn nicht durch eine Leistung? Aber der Staat kann nicht wie eine Fabrik verwaltet werden, er geht im wesentlichen darüber zugrunde. Das ist eine Auffassung der Romantik, und daß diese Auffassung richtig ist, dafür brauchen wir nicht die Beweise aus dem vorigen Jahrhundert heranzuholen, sie liegen offen und klar vor uns, und das System ist es, welche sie am ehesten noch am eigenen Leibe spürt, warum anders hätte es sonst nötig, nach allen Richtungen hin um Vertrauen zu schreien und jämmerlich zu klagen, daß alle Welt sich bemühe, abseits zu stehen? Warum anders denn sucht das System sich überall seine Autorität und findet sie schließlich nur bei eben den Geistern, welches loszuwerden hofft? Ja, zum Teufel, warum denn dies Bemühen, abseits zu stehen, warum denn ist es der deutschen Jugend fast ein Makel, dem System den kleinen Finger nur zu reichen, warum dies Tasten und Suchen nach fernen und verschlossenen und allumfassenden und verpflichtenden Grundsätzen? Weil es unwert ist, sich ohne sie zu entscheiden; weil eine Antwort notwendig ist auf die Frage nach dem Sinn bei jeder Handlung, und das System hat diese Antwort nicht zu geben vermocht, so, wie sie das ganze vorige Jahrhundert nicht zu geben vermochte; weil endlich in uns die Gewißheit wiederum erwachte, daß jede Handlung und jede Haltung in der Einheit eines großen Sinnes zu ruhen habe, daß jede politische Idee sich aus ihr entlassen muß, um uns ganz ergreifen zu können, und daß der Staat nichts anderes sein darf, als das geschmeidige Instrument, sie zu erfüllen. Ive sagte: Ich will hier nicht den lieben Gott in die Debatte ziehen, – und ärgerte sich, daß er es so sagte, und führ fort: obgleich es sich kaum vermeiden lassen wird, zumindest, wenn wir einmal die Frage nach der Herkunft etwelcher Autorität untersuchen wollen. Aber was ist denn wohl zum Beispiel eine Ehe, wenn sie ihren sakramentalen Charakter aufgibt? Vermutlich glücklich, aber keine Ehe mehr, sondern eine bürgerliche Einrichtung, die nach Verlust der Rechts- und Erbansprüche vom Kommunismus mit Konsequenz und Leichtigkeit zu einer proletarischen Einrichtung gemacht, oder ganz aufgehoben werden kann. Was ist denn ein Staat, wenn er nicht in allen seinen Teilen einer höheren Einheit dient, entsprossen ist dem Willen zu dieser Einheit? Vermutlich bequem, aber kein Staat mehr, sondern eine bürgerliche Einrichtung zum Schutze einer privilegierten Gesellschaft, die der Kommunismus zu Recht aufzuheben bestrebt sein kann, denn er will den Staat nicht und hat niemals vorgegeben, daß Cf eine Staatsauffassung habe, die ihn zu wollen rechtfertige. Ich würde gerne wissen, sagte Ive, wie das System seine Existenz rechtfertigt gegenüber dem Kommunismus, wie gegenüber dem Nationalsozialismus. Einfach durch seine Notwendigkeit? Nun eben diese Notwendigkeit wird bestritten. Durch seine schöne Hingabe an eine Leistung?

Nun eben zu dieser Hingabe an eine Leistung drängen die Kräfte, die sich gegen das System stellen. Und wenn es denn wahr sein sollte, daß die reale Macht der Tatsachen wesentlich die Aufgaben der Zukunft diktieren, so ist erst recht kein Grund einzusehen, warum sie nicht von jedermann bewältigt werden könnten, und nicht einzig und allein von den Repräsentanten des Systems. Wir aber wollen einen Staat und kein System. Wir wollen eine Gesellschaft, die sich sinnvoll gliedert zu einer großen Gesamtheit Volk und nicht einen Haufen mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelter Individuen, die einzig zusammengedrängt werden durch von fremden Mächten diktierte Grenzen und durch die politische Quadratur des Zirkels einer allgemeinen Interessengegenseitigkeit. Wir wollen Autorität, aber nicht die von schon leicht riechenden Bankdirektoren und Wirtschaftsführern, und auch nicht die von beklemmerten Regierungsräten, die bei jeder Maßnahme Grundeis spüren, nicht die von Staatspräsidenten und Ministerialdirektoren, denen der Kalk bei jedem Schritt aus den Hosenbeinen blättert, nicht die von den Prominenten der letzten Reinhardt-Premiere, bei denen es uns aus dem Magen steigt, wenn wir schon allein die Gesichter sehen in der Illustrierten, sondern die von Männern, die wir eins wissen mit dem, was uns bewegt. Wir wollen einen Plan, einen einheitlichen und geschlossenen Wirtschaftsplan, nicht die Ausdehnung der Öffentlichen Wirtschaftstätigkeit unter den verschiedenartigsten und willkürlichsten Gesichtspunkten, der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, und stets entschuldigt mit Hemmungen, die doch zum Teufel nirgendwo anders ruhen als im Systeme selber, sondern den Zusammenschluß auf Wirtschaftsgrundlagen, von der Boden- über Verkehrs-, über die Rohstoff- bis zur Menschengrundlage, die schon das Bestreben zum natürlichen Zusammenhalt in sich tragen, durch Maßnahmen, die im Zusammenhang stehen. Und das System beruft sich darauf, es habe schon ganz vortrefflich organisiert? Es hat gar nichts organisiert, außer den Hunger und sich selbst, und das schlecht. Überall, wo sich schon natürliche Produktions- und Gesellschaftsformen gebildet haben, haben sie sich gegen das System gebildet. Das ist so, und wer es leugnet, ist entweder verlogen oder blind. Wenn heute die deutsche Jugend in Innsbruck und im Bayrischen Wald die Grenzpfähle niederlegt, so kann sie warten, was geschieht, es wird alles zu ertragen sein, aber ganz unerträglich wird sein, daß Sie, Herr Oberleutnant Brodermann, mit Ihrer Abteilung nicht im Wedding stehen werden, sondern in Innsbruck oder im Bayrischen Wald, die Grenzpfähle wieder aufzurichten. Wem zuliebe? Dem Reiche zuliebe? Einem staatlichen Prinzip zuliebe? Zuliebe dem System, das keine Veränderung dulden kann, welche das Mißtrauen derer auf die Beine bringt, von deren Gnade und in deren Zwang es einzig lebt und leben darf. Es ist doch kein Zufall, daß es zehn Jahre lang handelte auf die Parolen anderer und das einzige Mal, da es ein Paroli bot, dies wagen konnte, weil es galt, amerikanisches Kapital gegen französisches Geld zu retten. Es ist doch kein Zufall, daß es Zollunion sät und Donaukonferenz erntet, kein Zufall, daß es mit der einen Hand Währungsschutz garantiert und mit der anderen nicht nur der sich frei schiebenden Wirtschaft auf den Kopf haut, sondern der gesamten währungsgeschützten Wirtschaft überhaupt. Das System kann gar nicht anders, gewiß, und weil es gar nicht anders kann, ist es eben kein Staat, sondern das, was mit Recht von ihm behauptet wird, ein System, und von allen seinen Leistungen wäre die größte, stillschweigend abzutreten. Brodermann zuckte die Achseln und Schaffer war mit Ive nicht zufrieden, aber da er gewohnt war, in Jahrhunderten zu denken und im gegenwärtigen zuerst für die kommenden, war für ihn die Frage für oder gegen das System längst kein Problem mehr. Er hatte was gegen Leitartikel, und da er zugab, daß sich diese Frage wirklich nur entweder in Leitartikeln oder mit Panzerwagen diskutieren ließ, zog er es vor, sie ganz zu ignorieren. Immerhin notierte er sich im Kopfe von dem, was Ive gesagt, einige Gesprächsthemen für die nächsten Abende, Wesen des Staates in der romantischen Auffassung, Planwirtschaft auf der Grundlage welcher Gesellschaftsordnung, Autarkie und dezentralistische Geldschöpfung und die Stellung der Reichsbank – Themen, die ihm genügend interessant schienen, sie zu diskutieren in oder außerhalb des Systems. Ive sagte: Halten Sie uns doch getrost für Idioten oder Verbrecher, halten Sie uns getrost für Leute, die nichts anderes zu haben, als in die Wolken zu schauen und liebliche Träume im Busen zu bewegen, von dem, was sich unter der Oberfläche vollzieht, sehen Sie rechts und brauchen Sie nichts zu sehen. Was sich vollzieht, und nach Grundsätzen, die unsere Grundsätze sind, in einer Richtung, die wir als unser« Richtung spüren, und in einer Arbeit, an der selbst, wenn wir müßig sitzend schwatzen, voll beteiligt sind, das ist von einer anderen Anonymität als die des Systemes, als die eines Lautsprechers ohne Strom. Denn auf werbende Wirkung weithin kein Wert mehr gelegt, und die ohne sie nicht auszukommen denken, haben dem Teufel schon die ganze Hand gereicht. Ich will Ihnen sagen, warum wir nicht ins System gehen können, um dort mitzuarbeiten, weil wir wissen, daß nicht zehn Jahre lang lügen und Kompromisse schließen kann, ohne einen inneren Bruch zu erleiden. Das Ganze ist einfach eine Frage der Sauberkeit, und nicht wir, sondern das System hat sich zu entscheiden, ob es sich bis auf den Grund wandeln, ob es sich von allen liberalen, parlamentarischen und westlichen Bindungen zu lösen bereit ist, um endlich das zu werden, was es zu sein vorgibt, ein Staat, oder... Oder? fragte Brodermann. Oder, sagte Ive, zu gegebener Zeit zusammengeschlagen zu werden. Und Brodermann sagte; Na, denn viel Vergnügen.

*

Ive wußte, daß vor allen anderen Pareigat ihn um einer klaren Haltung willen stellen würde. Er wich dem nicht aus, hatte er doch selber bewußt mit dem Stichwort Romantik den Haken hingehalten, an den die Auseinandersetzung sich heften mußte. Tatsächlich entsprach die ziemlich unverbindliche Weise, mit welcher er sich zur Romantik bekannte, der ziemlich unverbindlichen Anschauung, die er über sie hegte, und kam aus dem Wunsche, der Beschuldigung nicht auszuweichen, statt durch glattes Leugnen den Vorwurf zu entkräften. Er kam zur Romantik wie etwa die um zehn Jahre jüngere Generation zum Fußballspiel, er fand sie unvermittelt auf seinem Wege als ein Mittel der Betäubung, das zuerst einmal sein geistiges Bedürfnis befriedigte wie jenen ihr körperliches, er wußte also, daß mit seinem Bekenntnis zur Romantik für ihn und das, was zu tun nötig blieb, so wenig ausgesagt war wie mit der offiziellen Behauptung, der Fußballsport diene der nationalen Ertüchtigung; denn wie die schöne Anstrengung einer Reihe von Sonntagnachmittagen schließlich bestenfalls mit einer allgemeinen Einwärtsstellung der Füße zu einem viel und erregt bejubelten Siege der Ländermannschaft führen konnte, zu einem Surrogatsiege also, so mußte auch seine Beschäftigung mit der Romantik, selbst wenn er ihr sich mit dem sozusagen tierischen Ernst hingab, der ihm eigen war, zuletzt doch nur zu einer vielleicht umfassenden und fachlich bedeutenden Einstellung führen, die aber alles in allem eine Surrogat-Weltanschauung blieb, zumal er mit Trauer feststellen mußte, daß er sich wohl in die Geisteswelt der Romantik mitsamt der rauschhaften Entdeckungen, die sie bot, einleben, sie aber nicht leben konnte, so wie es ihn zu leben verlangte. Er vermochte aus den kühnen und von einer tieferen Logik, als sie hundert Jahre lang möglich war, erfüllten Konstruktionen, wie aus den Andeutungen und Bruchstücken der Romantik, Beziehungen und Einsichten zu fischen, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren hatten, Maxime zu formulieren, die er lange schon gesucht hatte mit dem Empfinden, sie müßten verkapselt in ihm selber liegen, Gedankengängen zu folgen, die fast unmittelbar zu dem führten, was die Zeit forderte, und doch blieb ihm ein Rest, der zu tragen peinlich war. Dieser Rest lag freilich in einer ganz anderen Ecke, als in der diejenigen, welche ihn und seinesgleichen als Romantiker bezeichneten, nach Argumenten zu suchen pflegten; nicht die mangelnde Härte des Empfindens störte ihn, die das Maschinenzeitalter angeblich forderte, vermutlich, um es leichter abstumpfen zu können sie war durch eine größere Schärfe des Empfindens genügend ausgeglichen, durch diese seziermesserartige Schärfe die es ermöglichte, aus dem Wust der Ideen den fruchtbaren oder unfruchtbaren Kern sicher herauszuschneiden, und dieses wieder zu erreichen, dünkte Ive sehr erstrebenswert, sondern der, aus der ganzen Anlage heraus notwendige Versuch der Romantik, die gesamte freigelegte organische Kraft zuletzt doch zielstrebig in einer Beschränkung enden zu lassen, in einer deutschen Beschränkung, die Ordnung gewissermaßen als Selbstzweck zu schaffen, während Ive die vollkommene Ordnung lieber als ein Mittel gesehen hätte, zwar nicht dem Himmel die letzten Geheimnisse, wohl aber der Erde die letzte nicht-deutsche Macht zu entreißen. Und er hatte, wenn er um sich blickte, auch gar keinen Anlaß, zu verzagen; das, was die Zeit bewegte, gab ihm unbedingt recht, und was ihm nicht recht gab, hatte er leicht als nicht bewegend festzustellen oder in eine andere Zeit zu verweisen, sich selbst fand er in vollem Einklang mit der Gegenwart, und die Gegenwart fand er schön, was beides jedermann erstaunen mußte, der ihn kannte, und wußte, wie er lebte. Wirklich hatte Ive die Stadt lieben gelernt, und zwar um ihrer Erregungen willen, die nichts anderes als geistige Erregungen waren. So warf er sich in den Strudel der Gespräche, stolz noch auf deren allgemeine Unnützlichkeit, Gespräche, die ihn nicht bereicherten, die ihn nicht einmal unmittelbar zu ihm selber führten, kaum einer Art von Ausbildung dienten also, die ihn vielmehr stürzen und steigen ließen, so daß im schnellen Wirbel des Springens von Postament zu Postament sich in ihm alles entzündete, was nur brennbar war. Die Erkenntnis von der Fragwürdigkeit jedes Standpunktes konnte ihn dabei nicht verfeiten, den jeweiligen freiwillig aufzugeben, er wußte nie, ob er nicht dieses Mal ins Bodenlose Aber er sank nicht ins Bodenlose; denn die Standen der bittersten Verzweiflung waren Stunden der Verzweiflung um seiner selbst, nämlich jener: nicht wert zu sein dessen, was sich um ihn herum begab. Schmerz, nicht zu einer völligen Hingabe aufgefordert zu sein, das war seine Verzweiflung, und aus ihr entsprang sein Wille zu einer höchstmöglichen Selbstbeschränkung, die wert machte der Grenzenlosigkeit, deren er ein Teil war; dies schien ihm die Haltung des Soldaten, der sich bereit hielt zu sterben für ein Vaterland, das nicht einmal Kriegsziele hatte. Zu sich selber finden hieß ihm, den Sinn der Umwelt erfahren. Erfahren, nicht: Begreifen. Zu begreifen traute er sich zu; er hatte überall Gelegenheit, den einfachen Mangel an Kenntnissen zu beheben. Wenn er, in die Enge getrieben wie von Brodermann, vor der Verpflichtung stand, konkrete Aussagen über konkrete Dinge zu machen, war er sich voll bewußt, daß es ihm unmöglich war, etwas anderes von sich zu geben als allgemeine Redensarten, und wenn es ihn auch nicht tröstete, daß es weit und breit den Leuten, vor die gleiche Situation gestellt, genau ebenso erging, so ließ diese Tatsache doch in ihm das vielleicht einzige Argument erglühen, daß er Brodermann hätte entgegenschleudern müssen: nämlich, daß zu konkreten Aussagen die konkrete Aufgabe gehört, und von dieser schloß die Widerrechtlichkeit des Systems jede höhere Verantwortung aus, ein schlagender Grund, es zu beseitigen. Der Wunsch, nur erst einmal Ministerpräsident mit diktatorischen Vollmachten zu sein, war weit verbreitet , und wer ihn für kindisch hielt, bewies damit nur die eigene absolute Unfähigkeit, das Amt eines Ministerpräsidenten auszufüllen. Zu jener Zeit bestand fast ganz Deutschland aus verhinderten Ministerpräsidenten, und wir können sein Zustand nicht bedauern, obgleich wir weit davon entfernt sind, Demokraten zu sein; denn er erinnert uns an den romantischen Gedanken, daß es aus Ökonomie nur einen König gibt, müßten wir nicht haushälterisch zu Werke gehen, so wären wir alle Könige. Und können wir uns auch keineswegs mit Ive und seinen Ansichten und Meinungen identifizieren, wir, die wir längst eine geistige Heimstatt gefunden haben und im Bewußtsein, nützliche und vollwertige Glieder eines Gemeinwesens zu sein, welches uns und unsere Hoffnungen befriedigt, getrost darauf verzichten können, uns in so abstruse geistige Abenteuer zu verwickeln, verfolgen wir doch mit Sympathie den Weg dieses jungen Menschen, der durch das Auskosten aller Irrungen endlich und immer doch zu jenem inneren Forum gelangte, welches mm die selbstverständliche Grundlage unseres Daseins bildet, jede dargestellte Irrung als ein Mittel zur Erkenntnis betrachtend, und befinden uns damit der Methode Ivens näher als wir geneigt sind zu vermuten. Denn alle Diskussionen, an denen Ive mit so großem Eifer teilnahm, hatten ja durchaus den Charakter von Selbstgesprächen, bei denen keine Meinung eine Meinung war, sondern alles nur Reibfläche, an der sich der suchende Geist entzündet, und wir haben vielleicht Ursache, erstaunter noch zu sein, als Ive, wenn wir beobachten, welch eine Fülle von gemeinsamen Voraussetzungen stillschweigend vorhanden war, und können davon ausgehend behaupten, daß die gewonnenen Resultate eben nicht die Synthese der Gespräche darstellten, sondern selbst dann, wenn sie als Resultate ein kompromißlerisches Scheingewand trugen, durchaus Ergänzungen eines höheren Ich, synthetisch also nur als Ausdruck eines allgemeingültigen Gesetzes, das sich für jeden einzelnen direkt und ohne die Verbindung des Gespräches glückhaft auswirkte. Begreifen wir zumindest den Reiz der Neuheit, den für Ive Dinge haben mußten, die für uns schon lägst ein sicheres Gut geworden sind; unterschätzen wir nicht die Bedeutung des Faktums, welches die jungen Leute jener Zeit unbedenklich Menschen, Bücher und Begebnisse als Gedanken- und Gefühlsklaviere benutzen ließ, durch sie die Kompositionen ihrer gärenden Substanz zum Klingen brachten, Fragmente, aus denen doch die Musik einer ganzen Zeit sich herleitete, und die es sich doch wohl lohnt, hier aufzuzeichnen. Und beschäftigen wir uns mit jenen stillschweigend vorhandenen Voraussetzungen, so wird uns klar, welch ein Abstand uns trennt von Zeiten, bei denen sie eben nicht vorhanden waren, und erkennen die ganze Berechtigung Ives, sich .bereits Bestandteil der Zukunft, unser aller Gegenwart, zu finden. So hat es also wirklich Zeiten gegeben – und wir können dies ohne Schwierigkeit feststellen, indem wir uns ihre Dokumente aus den Archiven holen – in welchen zum Beispiel die Nation nicht etwa nur ein nicht feststehender und genau abgegrenzter Begriff war, sondern sogar als Erscheinung geleugnet wurde, angesehen wurde als das teuflische Hirngespinst irgendwelcher eigensüchtiger Mächte, als eine Erfindung, die Menschheit um ihr Bestes zu betrügen. Und es waren dies Ansichten von klugen und aufgeklärten und einflußreichen Leuten, welche sie unverhohlen in ihren Blättern und Versammlungen aussprechen konnten, ohne daß sie von einer erregten Menge sofort wegen einer so gräßlichen Beleidigung der allgemeinen Vernunft mit den bei erregten Mengen üblichen Mitteln in ihre Schranken gewiesen wurden – weit gefehlt, sie fanden Aufmerksamkeit und Glauben, und selbst diejenigen, denen wir hier zubilligen müssen, daß sie den Gedanken der Nation hochhielten, taten dies nicht, im Vollgefühl des tatsächlichen Wertes, sondern hielten es nur für nützlich, der allgemeinen Psychose verfallen, das „Hirngespinst“ als solches oder aber ihre private, von der unseren weit entfernten, Vorstellung von der Nation als einen notwendigen Bestandteil zur Zähmung der begehrlichen Massen aufrecht zu erhalten. Wenn wir dies alles ermessen, so können wir Ive nicht verachten, daß er, der Nation sagte oder Reich, nicht sofort alle mit diesen hohen Ideen so unendlich verbundenen Einzelheiten bis in die letzten uns so geläufigen Einrichtungen hinein mit aller Klarheit darzulegen imstande war. Denn ihm, der das Glück hatte, gleichsam intuitiv die Voraussetzung Nation zu erfahren, mußte alle Anstrengung vorerst darauf richten, diese Voraussetzung zu definieren, und wir vermögen wohl in der Sattheit des Besitzes darüber zu lächeln, aber hüten wir uns, zu lächeln über den Ernst, mit dem dies geschah. In immer neuen Ansprängen versuchte er, das Phänomen zu fassen, in Worte zu bannen, immer wieder zurückgeworfen, immer wieder von herrlichen Ahnungen belebt, und bei jedem Schritt vor einem neuen Felde voll so unendlich vieler Möglichkeiten, die sich immer wieder verschoben und neu gruppierten, einander ergänzten oder aber sich einander aufhoben, daß er hätte verzagen können, statt, wie er es tat, daraus stets neue Hoffnung zu saugen. Denn daß alles sinnvoll zusammenhing, das war eine andere Voraussetzung, die er von vornherein erspürte, und gerade dies fesselte ihn mit einem so hohen Masse der Verpflichtung an seine Aufgabe; eine einzige Irrung müßte das kunstvolle göttliche Gewebe zerstören, und der Teufel führte immer von neuem die menschliche Hand. Darin lag auch der Zwang, in allen Methoden der Definition zu versuchen, und wenn die empirische auch zumindest als Korrektiv den Vorrang behielt, so scheute er sich doch nicht, sein spezifisches Erlebnis für sehr weit gültig zu halten, sobald er dabei nicht sich meinte, sondern eben das, was zu erleben jedermann in Anspruch nehmen konnte. Freilich konnten ihm hier Begegnungen auch nur Stationen sein, und als er bei Novalis den Satz fand: Deutsche gibt es überall, Germanität ist so wenig wie Romanität, Grazität oder Britannität auf einen besonderen Staat eingeschränkt; es sind allgemeine Menschencharaktere, die nur hier und da vorzüglich allgemein geworden sind, war er sogleich getrieben, diesen Gedanken seines psychologischen Gewandes zu entkleiden und – da ihm Psychologie von vornherein nur der Widerpart nicht nur des Philosophischen, sondern des Geistigen überhaupt bedeutete – ihn in den Mantel einer historischen Wesenheit zu hüllen. Plötzlich gewann ihm so ein alter Gedanke neuen Inhalt, Nation, Deutschheit und Kulturkreis fielen ihm in eins zusammen, und die Welt fand sich in eine Ordnung, die ihm hätte genügen, ihn beglücken können, wenn sie sich nicht gar zu leicht gefügt; so allein war ihm die Macht der Gegenwart erfaßbar, als westlicher Kulturkreis, die der Kirche als Nation für sich, wie die des Judentumes, in ungeheuren Überschneidungen verwischten sich die täuschenden Grenzen, und es konnte unbedenklich erscheinen, dem eigentümlichen Gehalte stets die eigentümlichen Gestalten zuzuschreiben, Shakespeare und Dante in die Deutschheit einzubeziehen, und Thomas Mann dafür mit einem erfreuten Wuppdich in den Westen zu befördern, wohin er gehörte, mochte er auch in München wohnen hieben. Mit einem Schlage lösten sich alle Probleme, das soziale nicht zuletzt, mancherlei Aussprüche von allen Seiten fügten sich zu einem geschlossenen Netz, die Ideen eines nationalen Kommunismus wie die eines sozialen Nationalismus enthüllten ihre geheimnisreiche Herkunft als Protest der Deutschheit gegen den Westen, jede Aufgabe sprang wie von selbst an ihren Platz, und es blieb eigentlich nichts weiter übrig, als nun frisch mit einem neuen Programm vor die Öffentlichkeit zu treten; aber merkwürdigerweise genügte dies Ive noch nicht. Hier waren ohne viel Mühewaltung alle politischen Konsequenzen zu übersehen, der deutsche Anspruch schälte sich ohne weiteres heraus, die Eigenart eines deutschen Imperialismus, die Missionsaufgabe, wie es Schaffer nannte, aber das, worauf es Ive ankam, blieb als dunkel gewitternde Ahnung hinter dem Berg. Und so mußte das kühne Gebäude in seinen Träumen wie im Glänze der Morgensonne stehen bleiben; Stein fügte sich zu Stein, baute sich der Tempel in beschwingter Architektonik, richteten sich köstliche Altäre in strengen Linien auf, bunte Fenster fingen das Licht, es in allen Glänzen des Himmels spielerisch durch den Raum zu streuen, ein herrliches Gehäuse, welches eine kleine, leere Stelle umschloß, ein Heiligtum dem unbekannten Gott. Wirklich verblaßte alle Erwägung – etwa ob das Reich als statisches, die Nation aber als dynamisches Element der Deutschheit zu gelten habe, in welchem Zusammenhang Volk als biologische Einheit oder als Seelentum mit dem Reiche steht, in welchem die Nation mit dem Staat – vor der einen großen Frage: Gott. Hier mußte Pareigat einhaken, und Ive empfand das schamvoll, nicht, weil er ungenügende Antwort geben mußte – wer konnte genügende geben? – sondern weil auch Schweigen mehr als Feigheit und Lüge war – Zweifel am Sinn der Existenz. Er fand Pareigat im Atelier. Helene war abwesend, und der Maler stand vor einem großen Blatt mit verschlossenen Augen. So zogen sie sich in die Ecke zurück und wirklich stieß Pareigat sofort wie ein Raubvogel auf die Tatsache, daß die Romantik im Bekenntnis zum Katholizismus geendet habe. Es schien Ive nur ein schwacher Einwand, es sei nicht die Romantik, sondern vielmehr ein Teil der Romantiker gewesen, der Übertritt läge nicht notwendig im romantischen Bereich. Doch konnte er auf die stark pantheistische Einstellung deuten, auf die Verwandtschaft mit der Mystik, und darauf, daß gerade die romantischen und mystischen Elemente im katholischen Mittelalter urtümlich deutsche Elemente seien. So ging Ive gleich zum Angriff vor, noch ungewiß seiner Haltung, und voll tiefer Trauer, daß zu sprechen überhaupt ein noch unmittelbarer innerer Zwang bestand. Pareigat hatte in jenen Tagen gerade konvertiert, doch verteidigte er nicht mit jenem glühenden Eifer, den der heilige Akt sonsthin wohl zu entfachen vermochte, er gab es Ive zu, daß mehr eigentlich als der Genuß der Gnadenmittel ihn die Kirche er griffen hatte, welche ihm die Gnadenmittel bot. Nicht, daß er nicht hätte mit aller Hingabe glauben können, aber, und er sagte dies, als sage er es zur Buße, fast unmerklich habe sich innerhalb der großen Einheit ihm der Wertakzent verschoben. Und Ive verstand mit einem Male, warum Pareigat, der jüngst zu ihm von seinem Wunsch gesprochen hatte, in ein Kloster einzutreten, eigentlichen Konsequenz seines Schrittes um einer höheren Konsequenz willen nicht folgen konnte. Hier hätte, was innerer Zwang war, Flucht werden müssen. Nicht Weltflucht, ach, dachte Ive, wenn wir uns doch endgültig von den verwaschenen Begriffen trennen könnten; nicht Weltflucht, sondern schädliche Täuschung Gottes. Ive hatte sich Pareigat gegenüber distanzieren wollen, nun sah daß dies nur auf einer ganz anderen Ebene möglich war. Wie jener durch seinen Übertritt hatte er durch sein suchendes Verharren die ungeheure Bereicherung erfahren, da ihn jede Handlung und jeder Schritt zu neuen Entscheidungen zwang, von denen jede eine Entscheidung in der Einheit war; aber gerade dies, was er als steten Segen, als eine immerwährende Gnadenspende empfand, entfernte ihn aus dem eigentlichen Bannkreis der Religion, trieb ihn aus der Unmittelbarkeit des religiösen Erlebens zur Verwirklichung, des einheitlichen Gedankens, des Reichsgedankens ihn, des kirchlichen Gedankens Pareigat. Er durfte nicht sozusagen ein Kulturmensch werden, so wenig Pareigat Mönch werden durfte. Denn das hieße die Qual, nur zur intellektuellen Erfahrung zugelassen zu sein, um ihre motorische Kraft betrügen. Und Pareigat hatte dies erkannt. Er wünschte Heiliger und Märtyrer sein zu können; nicht zu sein, sondern sein zu können. Das heißt, es war ihm unerträglich, daß der Boden der Kirche dumpf geworden war und weder Heilige noch Märtyrer mehr trug. Und wiederum begriff Ive, daß jener nicht päpstlicher sein wollte als der Papst, sondern sich bemühte, ein ganzes Denken und Wirken zu jenem Salz zu kristallisieren, welches den Boden wieder zu toller Fruchtbarkeit bereiten mußte. Er vermochte, wie Ive, das Christentum nicht anders als einen eigenen Kulturkreis mit imperialistischer Tendenz zu sehen, der wie der des Reiches durch die beherrschende geistige Macht des neunzehnten Jahrhunderts in gleicher Weise bedroht war. Pareigat war 68 selbstverständlich, für das Christentum wie für das Reich den gleichen Gegner anzuerkennen; und der unmittelbaren Bedrohung durch diesen Regnet mußte sich das intellektuelle Bewußtsein Bedrohten formen. Auch für ihn, sagte Pareigat, bedeute Geschichte die Folge eines steten Formwandels der unwandelbaren Substanz, der Kampf um Herrschaft zwischen eigenem und aus eigener Substanz entlassenem und fremdem Herrschaftswillen. Das mußte heißen, daß der Liberalismus als Anspruch des Westens nicht eine Zeitströmung war, sondern die Herrschaft einer ewigen Strömung für eine bestimmte Zeit. Schließlich sei jede Herrschaft Überfremdung, und es läge in ihrer Linie, sie vollständig zu machen, und nicht nur in ihrer Linie, sondern auch in ihrem Recht. Denn, sagte Pareigat, Recht ist die kontinuierliche Ausübung der Gewalt, Macht ist die Gewährleistung des Rechtes und Herrschaft ist der Auftrag zur Macht. Hier aber sei zu prüfen, von wem der Auftrag stamme. Für die Kirche aus der Offenbarung Gottes, und für den Liberalismus – seit der Verkündigung von 1789 also für den Westen – aus der Selbstherrlichkeit des Menschen. Und für das Reich? fragte Pareigat, für das Reich an Selbstherrlichkeit des Reiches? Für ihn sei die Aufgabe klar, sagte er, und sie mußte für ihn klar sein. Niemals konnte die Kirche auf Herrschaft verzichten, welche Formen sie auch immer tragen mochte. Sie konnte und mußte versuchen, die Formen rein zu halten, die erstarrten abzulösen durch lebendige und geschmeidige, jedem Einbruch fremden Herrschaftswillens zu begegnen, und wo es weht gelang, vor der ungestümen Kraft die Bastionen zu halten, elastisch nachzugeben, wie die verletzte Haut nachgibt, die Wunde zu vernarben. Ja, voll Narben sei der Körper der Kirche, aber niemals seit dem Dolchstoß der Reformation, der unmittelbar nach dem Herzen zielte, in so tödlicher Gefahr der Herrschaft wie heute, da das Gift in den geschwächten Adern schleiche. Und wie damals Ignatius von Loyola in mächtiger Rüstung aufstand, um des ewigen Bestandes willen mit allen Waffen seinerzeit hervorzutreten, mit den schärfsten und vorzüglichsten Waffen, die über die Jahrhunderte hinaus ihre Geltung behielten, General eines Ordens, der für vier Säkula das Muster aller Gesellschaften war, welche „eine organische Sehnsucht nach unendlicher Verbreitung und ewiger Dauer fühlen“, einer geistlich-weltlichen Gesellschaft, geheim oder nicht – so ist es heute Not, daß sich eine geistig-weltliche Gesellschaft gründe, zur abermaligen Rettung der kirchlichen Herrschaft, der Organismus eines militanten Christentumes, der verjüngten und gesundeten Kirche, mit ihrem brennenden Eifer die zersetzenden Säfte mitsamt den zersetzten auszuscheiden, an allen Frönten zu stehen, vor denen sich die feindlichen Kolonnen massieren, jede Aufgabe anzupacken, welche die weltlichen Mächte in ihrem vermessenen Hochmut der Kirche entrissen hatten, ohne sie bewältigen zu können, und zu gestalten aus dem einen großen Geist heraus, der dem umfassenden Auftrag entspricht. Denn niemals kann die Kirche verzichten, den Bau der Gesellschaft von den Fundamenten bis zum krönenden Gipfel zu bestimmen, das vielfältige Leben zu überwachen vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzuge, und es gibt keine Ordnung in der Welt, für die sie nicht verantwortlich ist. Jeder einzelne, der sich zu ihr bekennt, trägt die Verantwortung für die Erfüllung des göttlichen Auftrages, und wer ihr nicht genügt, der kann wohl die Absolution des Beichtvaters erlangen als sündiger Mensch, aber die eigene Absolution als Katholik kann er nicht erlangen. Die Kirche läßt Raum in ihren strengen Gesetzen, und ihn bis in die letzte staubige Ecke zu füllen, das ist die Aufgabe derer, die sich Katholiken nennen. Die ganze gewaltige Forderung steht vor der Kirche, und in Wahrheit vor niemanden als ihr, und wenn heute verzichtet, so hat sie auf ihre Herrschaft ewig verzichtet. Nur in der höchsten Gefahr wird der Keim des Sieges durch einen neuen Aufbruch freigelegt, und niemals war Hoffnung und Gefahr so groß wie heute. Es gilt die katholische Aktion, freilich eine, die nicht mehr zu paktieren gezwungen ist, weil sie die Schwäche der kirchlichen Herrschaftsposition spürt, sondern eine, welche Trägerin ist der Regeneration und um deren' Kraft weiß, so wie auch die Gesellschaft Jesu Trägerin war der Regeneration und zugleich Organisatorin der angreifenden Kraft. Und da die Aufgabe vor jedem einzelnen steht, fängt sie auch für jeden einzelnen als Forderung des Tages in seinem Lebensbereiche an. Jeder einzelne hat sich zu entscheiden, und er bestimmt seine Position; und wenn er Deutscher ist, so ist es eine deutsche Position, das heißt, diejenige, welcher die größte Aufgabe am nächsten steht. Denn hier liegt der Sinn des Reiches und nur hier: den göttlichen Auftrag, der durch die Kirche vermittelt war und heute wiederum vermittelt werden muß, zu erfüllen; zu erfüllen, „was schon einmal gesetzt war und zu erfüllen nicht gelungen. Er begreife nicht, sagte Pareigat, wie sich das Reich anders begründen könnte. Sei der Auftrag kontinuierlich oder nicht? Und bedeute seine Rückgabe nicht etwa nicht auch das Sichaufgeben des Reiches? Tatsache ist, sagte Pareigat, daß die erste und bis heute gültige Prägung des deutschen Bewußtseinsinhaltes, das Reich, nicht unmittelbar aus der eigendeutschen Substanz erstand. Es nannte sich Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation; es war christlich, universal und an die deutsche Nation nur gegeben. Es ist also möglich für den Deutschen, sich auf das Reich zu berufen, wenn er Richtung und Größe der Aufgabe anerkennt und heute nach neuen Formen sucht, die es der Kirche ermöglichen, wiederum den Auftrag an die deutsche Nation zu geben. Unmöglich aber ist es für den Deutschen, sich auf das Reich zu berufen aus der Selbstherrlichkeit des Reiches heraus; denn diese hat nie bestanden. Hat sie nie bestanden? fragte Ive, oder hat sie nicht vielmehr sich des Heiligen und Römischen, des Christlichen und Universalen als eines Gewandes bedient, welches bald zu weit und bald zu eng für den Reichskörper war? Sich auf die Selbstherrlichkeit des Reiches berufen heißt, sich auf eine eigene Religiosität berufen, und da stehen Zeugen auf von Eckhart über Jakob Böhme, über Luther bis zu Nietzsche, als Suchende, in denen die göttliche Ahnung lebte. Und deren gesuchte Wege, deren Religiosität, sagte Pareigat, doch bestimmt war in jedem Gedanken von der Allmacht des christlichen Gedankens, von der Katholizität also; ist der Protest schon Zeichen der Selbstherrlichkeit? Wir sollen uns gewißlich hüten, nach den Erfolgen zu forschen, aber seit Scheler ist es unmöglich, den Erfolg als ethisches Moment der Reformation auszuschalten, und nach ihm müssen wir messen, was aus ihr entsprang. Und selbst wenn Luther Gott mit einem Donnerschlag überfiel, so war es der Gott des Christentumes, und Luther machte Loyola möglich, die Kirche rettend zu neuer Größe zu führen. Ist die Deutschheit ein Kulturkreis, der sich im Reiche erfüllt, so ist sie ein christlicher Kulturkreis, und christliche Werte haben ihn bestimmt. Es ist unmöglich, dies zu leugnen; aber es ist möglich, die christlichen Werte als solche zu leugnen; es ist unmöglich, die christliche Tradition, die römische Tradition des Reiches zu leugnen, aber es ist möglich, das Reich, das deutsche Reich heute beginnen zu lassen als ein erster Anfang der deutschen Geschichte, und kann es nicht verzichten, seinen Sinn durch göttlichen Auftrag zu begründen, so muß Gott noch einmal mit einem Donnerschlag auf deutschem Boden erscheinen, und diesmal ein deutscher Gott. Und hier ist die Frage, ob er sich nicht des Reiches bedienen muß wiederum zu einem neuen Protest. Zu einem völkischen Protest, gewiß, sagte Ive, zu einem Protest deutschen Seelentumes gegen das christliche, welches sich im Ursprung aus israelitischem Geiste speist. Doch Pareigat nahm das Stichwort nicht an, und Ive sagte, er gebe zu, daß alles darauf ankäme, wie weit es gelänge, von der Deutschheit aus den gegnerischen Geist an der Wurzel zu packen; daß mit der einheitlichen Philosophie des Reiches, mit seiner Symphilosophie, einen Schlegelsehen Ausdruck anzuwenden, das Reich stehe und falle; daß diese Philosophie einzig aus dem deutschen Geist- gut herauszusuchen und zusammenzuknüpfen nicht angängig sei, da dies zuletzt doch nur auf Fragen der Interpretation hinauslaufe. Dies alles gebe er zu, und es fiele ihm nicht erst ein, Wege aufzusuchen, die zu den religiösen Formen der heidnisch-germanischen Vorzeit führten, was aus ihr zu uns noch herüberklinge, treffe Urgefühl nicht im Religiösen, und nicht im Geschichtlichen. Aber gerade da die eigentlich geschichtsbildende Macht für die deutsche Nation das Christentum war, ergäbe sich die Tendenz ihres Gehaltes aus den deutschen Abwandlungen des Christentumes. Und diese Tendenz sei tatsächlich in ihren großen Zügen einheitlich genug, um aus ihr die Ahnung eines eigenen Weltbildes abzulesen. Habe sie sich politisch gegen die Vorherrschaft Roms gerichtet, so geistig gegen den Gedanken der christlichen Sittlichkeit. die Willensfreiheit des Menschen also, sagte Pareigat, und es hilft uns nichts, die größte geschichtliche Schau zu wagen, zuletzt handelt es sich um die Entscheidung des einzelnen. Der Gedanke ist bestechend, das christliche Wesen in seinem Kern treffen zu wollen, die Sünde zu leugnen, die Schuld; einzubeziehen in die Gnade, was die Kirche von ihr ausschloß, die Natur; Mensch und Natur in einheitlicher Gottbezogenheit wirken zu lassen, und was auch immer geschieht, wirkt in Gott und ist darum vollkommen, der Gedanke ist bestechend, und nicht neu, ich gebe es zu. Und wenn das Reich sich einmal überdeckt sah vom Christentum, einmal vom Westen, einmal vom Osten, so ist wahrlich nicht einzusehen, warum es nicht möglich sei, Jerusalem mit Mekka zu vertauschen, die Autorität des Papstes mit der unmittelbaren Gottverbindung Mohammeds. Und wirklich, sagte er, sei es ja wohl ein westlicher Aberglaube, aus der Tatsache der islamitischen Immunität gegen die Segnungen der westlichen Welt die tröstliche Behauptung abzuleiten, die Idee des Kismet führe zu Fatalismus; warum sollte nicht, auch wenn es nicht mehr gelte, das Böse zu bewältigen, die Bewährung an der Welt durchaus ein Akt heroischen Charakters sein? Was aber unmöglich sei bei Leugnung eines sittlichen Prinzipes, sei die Teilhaberschaft des einzelnen an etwelcher Ordnung; was im Reiche verschwinde, sei das Reich des objektiven Geistes, die Gesellschaft. Denn... halt, sagte Ive, so geht das nicht. Gerade um die Bewährung an der Welt handelt es sich. Gerade dies ist uns aufgegeben, und wir haften dafür. Haftung bedeutet, sagte er unruhig, denn Helene kam herein und strich schweigend und ohne Gruß an ihnen vorüber, Haftung bedeutet, für sein Tun einzustehen gegen die Folgen, für alles Tun gegen alle Folgen. Was hat Helene? dachte er. Sie verschwand hinter dem Vorhang, der das Atelier von einer kleinen Küche trennte, und Ive hörte, wie sie sich lange und gründlich die Hände wusch. Bewährung an der Welt heißt also, sagte Ive, daß dem einzelnen von seinem Einfluß auf den Inhalt seines Handelns nichts genommen ist. Was hat Helene? fragte er. Sie warf mit einem Ruck den Mantel und den Hut in eine Ecke und kam auf Ive zu. Doch kurz vor ihm drehte sie sich mit schneller, zorniger Bewegung um und ging mit hartem Klappern ihrer Absätze durch die ganze Breite des Ateliers. Der Maler sah kaum von seiner Arbeit auf. Ive folgte Helene mit den Augen. Der Begriff der Willensfreiheit, sagte er, – Helene! Sie stand plötzlich dicht vor seinen Knien und stemmte die Hände auf den Tisch. Ihr redet, sagte sie und zog die Schultern hoch. Ihr redet, sagte sie und Ive traf der Ton eisigster Verachtung wie ein Peitschenschlag ins Gesicht. Sie starrten einander an, Helenes Stirn war ein Gewirr von Falten. Ihr redet, schrie sie, und ihr Atem prallte heiß an Ives Mund. Mein Gott, warum auf einmal dieser Haß, dachte Ive und er fühlte, wie sein Blut, aus bleich gewordener Stirne strömend, sich mit dem vom wilden Schlag des Herzens hochgepumpten in seinem Halse staute. Redet weiter, sagte Helene aus gepreßten Zähnen und knallte durch das Atelier. Ich aber habe es satt. Ich habe es satt, schrie sie gegen die Wand. Warum arbeitest du? fauchte sie den Maler an. Gib her das Blatt' und riß es ihm aus der Hand, daß ihr die nasse Farbe an das Kleid schlug. Sie faßte es mit .schnellem Griff am Rande, die Hände krampften sich zum Riß, dann zuckte sie zurück, warf einen Blick auf den bunten Bogen, stieß die Arme vor und gab es dem Maler wieder. Zerreiß es, sagte sie, zerreiß! Der Maler, bleich und unverstehend, ließ den Pinsel fallen, hob das Blatt und riß es langsam mittendurch. Pareigat und Ive waren aufgesprungen. Helene stand im Atelier wie eine schmale Flamme. Ich mag mehr, sagte sie leise, und der klagende, pfeifende Ton aus dünner Kehle füllte den ganzen Raum mit Marter. Ive erstarrte. Wie ein Messer fuhr ihm die Frage in die Brust: Was weiß ich von Helene? Ihr Gesicht hatte sich verzogen wie das eines Kindes, das anhub zu weinen. Aber sie weinte nicht; sie blieb mit dem Ausdruck eines unverstandenen Schmerzes aufrecht. Ihr redet und ihr malt, sagte sie, und ihr kommt ins Atelier wie auf eine Insel, von der ihr wißt, daß sie einsam ist, um zu reden und zu malen. Ihr redet und ihr malt auf einer Insel, und alles, was ihr tut, ist Lüge. Ist Lüge, schrie sie Ive drohend an. Was wißt ihr denn von dem, von was ihr redet? Es muß dies und es muß das, sagt ihr, und es kann dies nicht und kann das nicht. Aber das, was ist, das seht ihr nicht. Ich will euch sagen, was ist: Scheiße! schrie sie und stapfte durch das Atelier. Eure Bewährung an der Welt! Aber ihr habt noch keinen Schritt getan, die Exkremente wegzuräumen, die mit ihrem Gestank die Welt bis in den Himmel füllen. Ja, wenn es noch eine Hölle wäre, in der wir zu leben gezwungen sind! Aber es gibt keine Teufel mehr in Menschengestalt, es gibt nur noch kleine Verbrecher. Was denn, wenn mich ein Schupo niederknüppelt, so ist das wenigstens brutale Gewalt, und ich bin bereit zu schießen. Aber kann man Schleim erschießen? Nennt ihr das Leben, langsam im zu ersticken? Aber ihr redet. Ihr macht Lüge mit, weil ihr sie ignoriert. Helene! sagte Ive. Schweig! fuhr sie herum, sie sagte leise und äußerster Anspannung: Ihr denkt, ich sei ungerecht, aber ich will ungerecht sein, denn gerecht sein ist Lüge. Und ich will die Lüge nicht, ich habe es satt zu lügen. Ihr denkt, ich sei verzweifelt, aber ich will verzweifelt sein, denn alle Hoffnung ist Lüge. Wie, habe ich nicht mein möglichstes getan, habe ich nicht schon getan, was ich selber nie für möglich hielt? Wer kann sagen, daß ich feige bin? Meint ihr, ich ließe mich von dem überwältigen, was notwendig ist? Wann bin ich schon jemals ausgewichen? Machen mich etwa Schuster, Bäcker, Schneider mutlos, die ich nicht bezahlen kann, was euch einen Dreck kümmert? Scheue ich mich vielleicht, meine Wege zu gehen, zum Film, in die Redaktion, zu Jakobsohn? Wege, von denen ihr nichts wißt, die für euch vielleicht schmähliche Wege sind, bittere, widerwärtige, für mich aber Trottoir? Und ihr wißt dies nicht? Und ihr seht dies nicht, spürt dies nicht? Ihr duldet eine Prostitution, weil sie legal ist, weil sie so ist, als müßte sie so sein? Aber es muß nicht so sein, bei Gott, es muß nicht so sein. Ich habe es satt. Und ihr redet. Und ich ziehe das Kleid ohne Ärmel an, wenn ich zu Jakobsohn gehe. Und ich schlage die Beine übereinander, wenn ich in der Redaktion warte. Und ich zieh mich vor jedem Regisseur aus, wenn ich eine Rolle haben will für drei Tage zu fünfundzwanzig Mark. Kann ich mich nicht vor aller Welt nackt hinstellen, wenn es notwendig ist? Aber es ist nicht notwendig, es ist eine niederträchtige Schweinerei. Bin ich vielleicht prüde? Drücke ich mich vor Realitäten? Aber das sind keine Realitäten, das sind hundsföttische, speicheltriefende Gemeinheiten. Fürchte ich mich, ich mich vor Leidenschaft? Wenn ich hebe, dann schmeiß ich mich hin. Aber ich laß mich nicht in jedes Bett zerren aus Geschäft. Ich laß mich nicht betasten von jedem dicken Schwein, betätscheln von jedem parfümierten Wattepäckchen. Ich habe es satt, satt, satt. Und ihr redet Von Willensfreiheit und Schuld und Haftung und Herrschaft. Und Bewährung an der Welt. Die schon längst aufgeteilt ist unter das säuischste Pack, das je existierte, aus Gossen gekommen zur Herrschaft, und ihr riecht ihre Herkunft nicht? Ihr schmeckt nicht den Kot heraus aus jedem Film, den sie drehen, aus jedem Schlager, den sie schmettern, aus jeder Spalte, die sie schreiben, aus jedem Wort, das sie sprechen? Ihr seid betäubt oder ihr seid bestochen. Denn ihr redet. Ihr nehmt das hin. Ihr habt Theorien darüber. Ihr seid ja so überlegen. Kein Mensch will auf euch hören; und ihr seid stolz darauf. Aber auf die anderen hören sie, auf die da. Die sitzen fest verschanzt mit ihren breiten Ärschen auf allen Sesseln, auf denen zu sitzen wichtig ist. Die sitzen vor jedem Telephon, vor jedem Mikrophon, vor jedem Schreibtisch. Und ihr könnt tanzen, wie sie pfeifen. Und ihr tanzt. Ihr tanzt mit euren Reden rundherum im Kreise, nach ihrer Musik, und seid dankbar, wenn sie euch tun eurer hübschen Sprünge willen loben, und seid gekränkt, wenn sie um eure Kapriolen lachen. Honette Leute. Schweine! Ihr auch! Ihr redet. Von Verpflichtung. Und seht eure erste, eure einzige Verpflichtung nicht. Ihr redet. Und seid so unabhängig, wie es heute nur möglich ist. Seid nicht an der Strippe, wie wir, die wir zittern müssen, wenn es denen einfällt, abzuschneiden. Ihr habt das einzigartige Glück, reden zu können, und da, wo es darauf ankommt, redet ihr nicht, was sag ich, schreit ihr weht, brüllt ihr nicht heraus. Ihr seid feige aus Ignoranz. Ihr lügt aus Hochmut. Aber ihr seid feige und ihr lügt. Feigheit und Lüge, schnellte sie auf Ive zu, als spucke sie ihn an. Schweigt! Wenn ihr nicht reden wollt, was zu reden nötig ist. Es gibt keine Entschuldigung. Für alle vielleicht, für euch nicht. Wenn ihr nicht aufsteht, zu zeugen gegen Pest und Unrat, wer soll sonst aufstehen? Aber ihr seid zu fein, überhaupt erst auf das Trottoir zu gehen. Ich gehe auf das Trottoir. Ich lasse mich bespeicheln und beschmutzen. Und bin in verdammt großer Gesellschaft. In Gesellschaft, die es schon gewohnt ist, sich bespeicheln und beschmutzen zu lassen. Die das in Ordnung findet. Und wenn sie es nicht in Ordnung findet, nicht wagen darf, dagegen aufzustehen, mitmachen muß, mitspeicheln muß und mitbeschmutzen, sich benehmen muß wie im Bordell und sich nicht wundern kann, behandelt zu werden wie im Bordell. Ihr aber duldet dies. Ihr seht und redet von anderen Dingen. Und wenn der Schmutz bis an eure Nasen steigt, dann nehmt auch ihr ein Maul voll und spukt es wieder aus und tut, als sei alles damit getan. Auf welche Erbschaft wartet ihr und wartet, bis sie bis auf den letzten Fetzen verschleudert ist? Warten ist Verrat. Ihr seid Verräter. Kleine Verräter. Verräter ohne Format. Ihr paßt zu den anderen. Ihr seid nicht einmal so tüchtig wie sie. Ihr redet von Macht und die anderen haben sie. Ihr sprecht von Entscheidungen und die anderen treffen sie. Ihr träumt von Tat und die anderen handeln. Unter anderem mit Kunst. Ihr glaubt, sie verstehen nichts davon, aber sie verstehen mehr davon als ihr. Die wissen, was gefährlich ist. Ihr nicht, und ihr seid auch nicht gefährlich. Laßt mich, sagte Helene und ging «ad her. Ihr könnt mich für hysterisch halten. Ich habe ein Recht, hysterisch zu sein. Aber ihr seid stumpf. Ihr seid an allen Ecken schon angefressen wie von Ratten. Und ihr wißt das nicht und seht das nicht und spürt das nicht. Ihr sprecht von Kampf und rennt immer nur gegen euch selber an. Ihr sprecht von Haltung und, ja es ist so häßlich das zu sagen, es gibt so einige Menschen, die wollen vor aller Haltung erst einmal was zu fressen haben. Ich auch, und um meine Haltung hin ich unbesorgt. Laßt mich, ich bin schon ruhig. Nichts ist passiert. Nichts, was nicht Tag um Tag passierte. Ich wasch mir jeden Tag die Hände und jeden Tag die Seele, Schmach, daß dies notwendig ist. Nichts ist passiert. Sie drehen jetzt einen neuen Film, ich spiel eine Hure fünfzehn Meter lang. Die linke Brust muß ich von der Seite zeigen, nackt. Ich habe die schönste Brust von allen, die in Frage kamen. Nichts ist passiert. Der Artikel muß geändert werden. Sie sagten, ich sei eine kleine Analerotikerin. Sie sagten, nur weil ich eine so charmante kleine Frau sei, behielten sie mich als Mitarbeiterin bei dem allgemeinen Abbau. Sie sagten, sie wollten Artikel haben über den Frühling in Mentone, wegen der Reisezeit. Ich werde den Artikel schreiben. Ich war nie in Mentone und werde nie hinkommen. Und sie wissen es. Nichts ist passiert. Alles geht gut. Besser als ich dachte. Nein, ich bin nicht verbittert. Klang meine Stimme schrill? Ich habe Probe singen müssen. Soll morgen wiederkommen. Traum einer Nacht, nach dem Roman: Krieg im Dunkeln. Ich tanz so gern im Freien. Vielleicht komme ich da an. „Wenn nicht, Tausenden geht es so. Ich brauche Farben und Leinewand. Heute abend gehe ich auf den Porza-Ball. Was denn, ich habe es Jakobsohn versprochen. Vielleicht kauft er dann doch das Bild. Er sagte, er sei sehr entzückt. Er sagt, er kennt einen Liebhaber für die erotischen Blätter. Er weiß genau, was ich von ihm halte, und das amüsiert ihn sichtlich. Du kommst mit, Ive. Was denn, soll ich alleine gehen? Komm. Da, eine alte Jacke, geh als Vagabund. Ich geh als Amazone, Peitsche, kurzem Rock und hohen Stiefeln. Denn ich weiß, daß Jakobsohn das liebt.

*

Im Taxi sprach Helene kein Wort. Sie saß aufrecht, den einen Fuß vorgestellt und blickte angestrengt durch die spiegelnden Scheiben auf die von den Scheinwerfern des Wagens beglitzerte Straße. Zuweilen, im vorbeistreichenden Schein der Bogenlampen, konnte Ive ihr mageres, bleiches Gesicht sehen mit dem sehr roten Mund und den unbeweglichen, metallisch grünen Augen. Sie trug über ihrem Kleid ein seidenes Cape, aus irgendwelchen Fetzen von ihr selber zurechtgeschnitten, das sie mit der schmalen, nackten Hand vor der Brust zusammenhielt. An den Ecken ihrer Fingernägel aber sah Ive noch die Schatten der Farbe, wie geronnenes Blut. Und Ive hatte plötzlich den Wunsch, zu arbeiten, wahnsinnig zu arbeiten, irgend etwas, damit dies nicht mehr sei, dies, die Qual, Helene so sehen zu müssen, in diesem armseligen, erbärmlichen, verlogenen Schmuck aus Seide, in dieser dumpfen, schmutzigen, nach Schweiß und kaltem Rauch stinkenden Droschke vor dem braunen Wollschal des Chauffeurs. Er sagte plötzlich: Kehren wir um. Gib das Bild nicht an Jakobsohn, Helene. Ich kaufe es. Warte ein paar Tage, zwei drei Tage, es steht noch für den Butterzollartikel etwas aus. Ich habe Auftrag für eine Siedlungsserie. Ich werde heute abend noch anfangen. Irgendwie kommt es schon herein. Hörst du, das Bild gehört mir! Helene wandte nicht einmal den Kopf. Du hast nichts verstanden, sagte sie und Ive schwieg. Nasse, nackte Zweige strichen knatternd über das Dach des Wagens. Knirschend fuhren die Räder herum, im grellen, gelben Licht stand der Portier. Helene sprang aus dem Wagen und ging auf die Pforte zu. Ive fuhr in die Tasche, zitterte plötzlich und war in diesem Augenblick bereit, dem Schupo, der straff an der Ecke stand, die Pistole zu entreißen und ein Ende zu machen. Helene, rief er. Ach so, sagte sie und drehte sich um und kam zurück. Sie nestelte an der Tasche. Sie sah Ive nicht an. Es fehlen dreißig Pfennig, flüsterte Ive. Mach mich nicht verrückt, sagte Ive, das ist klein. Du hast nichts verstanden, sagte Helene und zahlte den Chauffeur. Wagen fuhren vor. Der Schupo winkte, der Portier riß Türen auf. Vor Helene und Ive riß er nicht die Tür auf. Ive wollte eintreten, aber Helene wartete, bis der Portier zurückkam. Machen Sie die Tür auf, sagte sie. Und der Portier drückte verschlossenen Gesichts mit dem Ellenbogen gegen die Pforte, die sich so weit öffnete, daß sie nur nacheinander eintreten konnten. Ive wollte eintreten, aber Helene wartete. Ganz auf, sagte sie und sah den Portier an. Die Tür öffnete sich zögernd weit. Danke, sagte Helene und ging hindurch. Frauen, im Maskenkostüm oder im Abendkleid standen vor den hohen Spiegeln. Helene warf das Cape auf den Tisch der Garderobe. Ive stand hinter ihr und sah, wie sich ihre gelblichen Schultern zusammenzogen bei jeder Bewegung, die sie machte. Er zog seinen Mantel aus, faltete ihn so, daß das zerrissene Futter nicht sichtbar war, und wartete. Helene puderte sich. Ein junges Mädchen mit schwarzbestrumpften, hohen Beinen, einem weißen Röckchen und einer Haube, deren weiße Flügel weit abstanden, beugte sich «ad zog ihren Strumpf hoch hinauf. Mickymaus, dachte Ive und sah ein Flußpferd im Frack auf Helene zutreten. Das ist Jakobsohn, dachte Ive. Er nahm die Garderobenmarken und spürte einen Stoß vom Magen her. Er fingerte mit erstarrten Augen in die Tasche, aber in der Tasche war Geld, Helene mußte es ihm zugesteckt haben. Er ging wie ein Betrunkener auf Jakobsohn zu, an seiner viel zu weiten, läppischen Jacke zerrend. Er griff eine etwas weiche Hand und lächelte und fluchte sich, daß er lächelte. Dann trottete er hinter den beiden her. Ach was, dachte er, seit wann habe ich Minderwertigkeitskomplexe. Mikos sagte man neuerdings. Er ertappte sich dabei, gewollt unbekümmert zu gehen. Das ist so, dachte er, seitdem es den Begriff gibt, gibt es die Tatsache, nicht vorher. Mit der Bewußtwerdung ist die Tatsache geschaffen, nicht überwunden. Erst mit dem Klassenbewußtsein gibt es die Klasse. Da fängt das Problem erst an. Zu welcher Klasse gehöre ich? dachte Ive. Jedenfalls nicht zu der da. Jedenfalls nicht zur Welt der Mickymäuse. Das ist alles Schiet, würde Claus Heim sagen. Claus Heim. Ive ging ungewollt unbekümmert. Ich möchte wissen, was der Doktor Siegmund Freud bei Claus Heim entdecken würde, dachte er und lächelte vergnügt vor sich hin. Ein Kellner schob vor ihm einen Stuhl aus dem Weg, Damen und Herren gingen an ihm vorbei. Der Saal war von Künstlerhand mit blauem, rotem und gelbem Tineff geschmückt. Jakobsohn hatte zwei Plätze reservieren lassen, und Ive griff sich einen Stuhl, wartend daß ein Herr kommen und sagen werde: Erlaubense mal. Aber es kam niemand. Sie saßen direkt vor der Kapelle der arbeitslosen Musiker im Smoking; denn dies war ja wohl einer der üblichen Wohltätigkeitsbälle, die mit einem Defizit endigen. Er sah aufmerksam zum Cellisten hinüber, das war ein älterer Mann mit randloser Brille und gedemütigtem Gesicht. Er lächelte nicht wie der Kapellmeister und der Mann am Schlagzeug, die mit Wippen der Kniekehlen und mancherlei Verrenkungen der Schulterknochen vorgaben, ganz außerordentlich fröhlich zu sein. Auf dem Parkett bewegten sich viele Paare, eine große, geschlossene Masse von Leibern drehte sich langsam um den kleinen freien Raum des Mittelpunktes. Doch war nicht ein einheitlicher Schritt zu erkennen, alle Bewegung paßte sich nur im Rhythmus zusammen. Nur wenige der Männer waren kostümiert, andere hatten einfache Blusen an, oder helle Sommerhosen und leichtes Hemd, von einem Halstuch garniert, manche trugen einen blauweiß- gestreiften Matrosentrikot, der die Arme frei ließ, was ihnen ein kühnes Gesicht verlieh. Ernsthaft lagen die Frauen in den gewinkelten Armen der Tänzer, zuweilen hob die eine oder die andere bei einem besonders geschweiften Ton der gestopften Trompete ein Bein, streckte es steif in die Luft und setzte es anmutig wieder zur Erde. Zuweilen lächelte die eine oder die andere, legte den Kopf zurück und zupfte an den schmalen Schulterträgern. Auch Helene tanzte, mit Jakobsohn. Sie war etwas größer als er, und sein Arm faßte sie ganz um die Hüfte. Helene sah zu ihm herunter, so daß es schien, als habe sie die Augen geschlossen. Die Mickymaus streckte den Popo sehr weit von ihrem Partner ab und hielt in der Hand den Faden eines grünen Luftballons. Viele Damen hielten einen Luftballon, und das Schwanken der bunten Kugeln Aber dem eintönigen Gewimmel der Köpfe gab dem Bilde die vorherrschende bewegte Farbe. Ive sah Schaffer, den er, in seiner schwarzen Russen- Muse mit einem verwegenen Barett, wohl als Anarchisten hätte ansprechen können, wenn er nicht dessen beweinenswerte Vorliebe für das Skatspiel gekannt hätte. Er sprach mit einem Ive bekannten Kommunisten, welcher immerhin in knallroter Bluse aus Seide erschienen war. Ive ging quer durch die tanzenden Paare, Schaffer zu begrüßen, aber mitten im Saale machte er halt; wozu? fragte er, drehte sich um und drängte sich durch die zurück. Sobald die Musik aufhörte, herrschte Sekunden lang Stille, langsam erst hub Scharren und Gemurmel an. Auf fast allen Tischen standen wenige Wein- und viele Limonadenflaschen. Helene kam am Arme Jakobsohns, sie wippte mit ihrer kleinen, lächerlichen Peitsche vor seinen Augen. Ive schob das Glas, das der Kellner ihm hinstellte, zurück. Helene nickte ihm leise zu, stützte das Kinn auf den Handrücken und blickte schweigend in den Saal. Auch Jakobsohn schwieg und rauchte eine sehr schwarze Zigarre. In der Nebenloge sagte jemand: Sehnse, ich bin der Ansicht, man muß die Nazis auch mal ranlassen, mal sehn, was sie leisten. Jakobsohn blickte wütend hinüber. An einem Tisch lachten ein paar Mädchen in sehr lustigen Abendkleidern, und alle Köpfe fuhren zu ihnen herum. Zuweilen strichen auf den Gängen hinter den Logen einige Herren vorbei, die Zigarette nachlässig zwischen den Fingern, und musterten mit erstaunlichem Gleichmut die Tische, als suchten sie jemand, aber natürlich suchten sie niemand. Zuweilen begegneten sich Paare, hielten an und schüttelten sich lachend die Hände, fragten schnell nach Dingen, die sie nicht interessierten und gingen kopfnickend und sich noch einmal zuwinkend wieder auseinander. Ein Herr sprach mit dem Kellner, kam auf Ive zu und klopfte ihm auf die Schulter. Erlauben se mal, sagte er, aber Ive erlaubte nicht, sondern schickte sich an, einfach ungezogen zu sein. Das schien der Herr erwartet zu haben, er zuckte die Achseln, griff sich einen anderen Stuhl und zog sich zurück. Die Musik setzte ein und Helene erhöh sich, mit Jakobsohn zu tanzen. Gehnse mir weg mit den Kommunisten, sagte jemand in der Nebenloge, ich sage Ihnen, in Deutschland besteht keine kommunistische Gefahr mehr. Ive spielte mit den Fingern auf dem Tischtuch, das sich langsam mit Asche und Zigarettenresten verschmierte. Er zeichnete mit einem abgebrannten Streichholz einige Linien auf das Tuch, dann sah er wieder auf Tanzenden im Saal. Auch Schaffer tanzte, er machte mit angespannten Backenmuskeln seine Schritte und sah überaus töricht aus. Jetzt blickte Schaffer hoch, sah Ive, und es schien einen Augenblick, als wolle er sich von seiner Dame lösen, um herüberzukommen, aber er tanzte natürlich weiter. Ein Herr erregte Aufsehen, weil er in einem sehr eleganten, aber braunen Frack erschien. Das ist der bekannte Strafverteidiger Schreivogel, sagte jemand in der Nebenloge, man sagt, der ist nur so bekannt geworden, weil er bei jedem Ball in braunem Frack erscheint. Ein Hamburger Zimmermann versuchte unter viel Gelächter ein Mädchen zum Tanz zu zerren, aber da es ihm nicht gelang, setzte er sich wieder und wippte auf seinem Stuhl vor und zurück. Helene tanzte vorüber. Sie sah auf Jakobsohn herunter, -und so schien es, als halte sie die Augen geschlossen. Was hat jetzt Jakobsohn davon? dachte Ive. Doch er tanzte mit rundlichem Eifer. Das ist natürlich kein Gegner, dachte Ive, der Portier war auch kein Gegner. Aber ist das ein Grund, dachte er, ... jedenfalls hat Helene das, was ich nicht gezeigt habe, Disziplin. Eine Dame in eng anliegendem Silberlame, groß, schön und blond, trat zögernd in die Loge, blickte über Ive hinweg auf die Tanzenden im Saal. Einige Zeit stand sie so, dann spürte Ive, sie sich schwer gegen seinen Stuhl lehnte. Er drehte sich langsam um und bot ihr eine Zigarette Sie sagte leise danke, und lächelte ihm zu. Er reichte ihr schweigend Feuer und kehrte sich wieder zum Saal. Nach einer Weile wandte sie sich und verschwand. Das tat ihm leid, er erhob sich, setzte sich aber wieder und dachte, das ist, als ob Blei in den Knochen hätte. Helene und Jakobsohn kamen zurück. Gut amüsiert? fragte Helene. Ausgezeichnet, sagte Ive. Gehn wir ans Büfett, schlug Jakobsohn vor. Helene überlegte und sagte: vielleicht später. In der Nebenloge sagte jemand: Brüning, das ist 'n Mann. Wie der mit den Banken umgesprungen ist. Leider nicht genug, sagte ein anderer, leider nicht genug. Wenn man dann mal kam und wollte einen anständigen Kredit haben ... Jakobsohn tätschelte leicht Helenens Hand. Helene zog die Hand zurück, aber langsam. Jakobsohn sah angestrengt geradeaus. Sie blickten alle drei in den leeren Saal. Auf den breiten, geschwungenen Treppen, die zur Musikerestrade hinaufführten, hatten sich viele Paare niedergelassen, die Damen hielten die Beine schräg und rauchten und lachten. Bei der Krise, sagte jemand in der Nebenloge. Jakobsohn ärgerte sich. Was heißt das, Krise, sagte er, das Ganze ist doch eine Vertrauenssache. Wenn alle Leute von der Krise reden, kommen wir nie wieder hoch, und sah Ive an. Hauptsache, daß mm hinten wieder hoch kann, sagte Ive brutal. Unangenehmer Patron, dachte Jakobsohn. Die Musik setzte mit einem Walzer ein. Tanzen wir, sagte Helene zu Ive, und Jakobsohn lehnte sich zurück, und holte eine sehr schwarze Zigarre aus der Ledertasche. Ja, sagte Ive und ging hinter Helene her. Helene tanzte gut, aber sie drängte, zu führen. Sie tanzten sehr schnell. Ive sah ihr ins Gesicht. Sie blickte auf seine Schulter herunter, und es schien, als halte sie die Augen geschlossen. Da machte Ive brüsk mitten im Saale halt. Höre, sagte er erregt, so geht das nicht. Du bist hierhergekommen, um Jakobsohn das Bild zu verkaufen. Jetzt sei bitte konsequent. Ja, sagte Helene leise und es klang wie eine Frage. Sie tanzten. Er spürte durch den dünnen Stoff, daß ihre Muskeln hart waren. Sie tanzten schnell und besinnungslos. Eine allgemeine Lustigkeit schien die Masse zu ergreifen. Die Gesichter erhitzten sich, viele lachten. Jakobsohn hatte sich über die Brüstung gebeugt und lachte Helene zu, sie nickte freundlich zurück. Sie tanzten aus der Reihe, bis sie einen freien Platz erwischten, auf dem sie sich wie toll drehten. Einmal links, einmal rechts herum. Aber Helenens Muskeln blieben von jener seltsamen Härte, die nicht metallen und nicht knöchern war, sondern wie die eines gefrorenen Handtuches. Als die Musik aufhörte, klatschten alle. Aber Helene ging zu Jakobsohn, indes die anderen wieder begannen zu tanzen. Langsam folgte ihr Ive nach. Jakobsohn schaukelte auf seinem Stuhl hin und her und blies selig auf einer Kindertrompete. Die Zigarre kohlte auf dem Steingutteller. Helene hielt sich lachend die Ohren zu. Das haben wir doch gesehen in der Mandschurei, was mit dem Völkerbund los ist, sagte jemand in der Nebenloge. Was denn, Herriot, das ist doch auch ein Spießer. Helene zog die Hand nicht zurück. Sie beugte sich Jakobsohn zu und lachte ungeschickt. Ihre Lippenschminke hatte sich ein wenig verwischt und saß als rötlicher Schatten in den Mundwinkeln. Was für schöne Zähne, dachte Ive. Helene befestigte auf Jakobsohns Glatze ein kleines grünes Hütchen, es saß schräg auf dem Hinterkopf. Jakobsohn verzog das Gesicht zu lustigen Grimassen. Er rückte näher an Helene heran, setzte die Hornbrille auf die Nasenspitze und schielte fröhlich über die Gläser hinweg. Clown, sagte Ive sehr laut. Doch Jakobsohn besaß unter seiner Speckschicht einen erstklassigen Charakter. Ich seh schon, Sie wollen mich unter allen Umständen beleidigen, sagte er plötzlich ernst zu Ive. Gott, ich das ja verstehen, sagte er, es muß schwer heute für junge Menschen Ihres Schlages. Sie kommen mit dem Leben nicht zurecht. Jetzt lachte Ive laut, und er freute sich, daß sein Lachen weder unecht klang noch war. Nein, lachte er, ich komm wahrhaftig mit Ihrem Leben nicht zurecht. Jakobsohn wandte sich Helene zu und sagte ruhig: Also, gnädige Frau, ich bin bereit, das Bild zu kaufen. Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Ihnen offen sage, daß es mir noch nicht ganz ausgereift erscheint. Immerhin sehe ich das Talent, und ich erblicke meine Aufgabe darin, Talente zu unterstützen. Sie haben mir den Preis genannt, und ich bin bereit, ihn zu zahlen. Er ist zwar ein bißchen hoch, aber jeder muß wissen, was er wert ist. Natürlich, sagte Ive, Kunst ist ja kein Luxus, sondern eine Gnade, für den, der sie macht, und von dem, der mit ihr handelt. Nomen est omen, sagte jemand in der Nebenloge, der General von Schleicher ... Jakobsohn schrieb einen Scheck aus und reichte ihn, unter der Hand versteckt, Helene zu. Helene zögerte und hielt ihn einen Augenblick zusammengefaltet in der Hand- In den Strumpf, sagte Ive laut. Helene sah plötzlich aus, wie ein hilfloses Kind. Warum quäle ich sie, dachte Ive, was bin ich für ein niederträchtiges Schwein. Aber Helene war ruhig und steckte den Scheck in die Handtasche. Du bist einfach ein ungezogener Junge, sagte sie beinahe zärtlich. Danke, sagte sie zu Jakobsohn, das hilft mir sehr. Wegen der Ausstellung spreche ich noch mit Ihrem Herrn Gemahl, sagte Jakobsohn, und lächelte Helene mit väterlicher Freundlichkeit an. Ive hockte wie betäubt. Eine Gruppe junger Herren toste lachend zwischen den Tischen. Sie versuchten, mit ihren Zigaretten die Luftballons der Damen zum Platzen zu bringen. Ein ganz junges Mädchen in breiten, weißen Hosen und einem enganliegenden Trikot entwich ihnen und rannte flink auf langen Beinen durch die Gänge. Endlich lehnte es sich, gestellt, schnell atmend gegen die Wand der Loge. Fünf Zigaretten zielten auf den Ballon, der mit schwachem Knall zerplatzte. Fünf junge Herren sahen das Mädchen mit vorgereckten Nasen atemlos an. Es blickte eine Sekunde verhalten aus etwas schrägen Augen vor sich hin, dann schob es mit einer schlanken Bewegung die Kavaliere beiseite und entsprang. Ein Herr in Frack mit einer kleinen weißen Rosette im Revers beugte sich zu Helene und gab ihr eine Karte. Gnädigste werden gebeten, sagte er, den Scheitel verbindlich neigend, an der Schönheitskonkurrenz teilzunehmen. In zehn Minuten im blauen Zimmer. Und Ive sah das Einverständnis zwischen dem Herrn und Jakobsohn. Helene, sagte er. Was denn, sagte Helene, ich bin nur konsequent. Sie dankte und nahm die Karte, die sie zwischen den Fingern rollte. Schaffer kam in die Loge. Wie geht's? fragte er. Danke, ausgezeichnet, sagte Ive. Und Ihnen? Gut amüsiert? Hübsches Fest, sagte Ive. Na, ich weiß nicht, sagte Schaffer, ich finde es im ganzen ein bißchen doof, sagte Schaffer und sah angestrengt zu Helene mit dem sichtlichen Wunsch, ihr vorgestellt zu werden. Aber Ive dachte gar nicht daran. Natürlich, sagte er, ohne Ihre Frau. Wie geht's der Frau Gemahlin? Danke gut, sehr gut, sagte Schaffer, also auf Freitag abend, und verschwand. Die Mickymaus hatte unter großem Gelächter ihren Schwanz verloren, und Helene ging mit Jakobsohn zum Tanz. Ive erhob sich schwerfällig und strich durch die Gänge, die Hände in die Jackentaschen gebohrt. Überall auf den Treppen hatten sich die Paare angesiedelt. Ive kletterte breitbeinig über sie hinweg. Pardon, sagte er. Oh, das macht nichts, sagte das Mädchen und strich mit der Hand über den breiten Schmutzflecken, den Ives Sohle auf der Ärmelfahne verursacht hatte. Die Dame in Silberlame lag schwer und glücklich auf dem Oberkörper eines sehr jungen Argentiners, ihr blonder Kopf bettete sich auf seiner breiten Schulter, sie blickten beide unbeweglich auf die Tanzenden. Als Ive vorbeistrich, sah er, daß sie schwanger war. Er stellte sich hinter die Musikerestrade, neben dem Cellisten, und sah in den Saal. Er suchte Helene unter den Tanzenden, konnte sie aber nicht entdecken. Schließlich kam sie dicht an ihm vorbei die Treppe hoch, begleitet von Jakobsohn, und verschwand mit einigen anderen Mädchen hinter einer Tür. Ive beugte sich über die Brüstung der Treppe und starrte in den Saal. Auf dem Rückmarsch, dachte er, hatten wir doch fast jede Nacht getanzt. Die Kerls waren ja wie verrückt. Vierzig Kilometer gemacht und dann abends, statt sich hinzuhauen, sofort los zum Tanz. Der Feldwebel Brückner kam wütend: Die ganze Nacht schwoofen können sie, aber zum Wacheschieben sind sie auf einmal zu müde. In Kirchenhain hatte der Pfarrer Sonntags von der Kanzel herunter die Mädchen gewarnt, die Soldaten seien alle krank; und abends der Klamauk vorm Pfarrhaus. Er hatte schlichten müssen. Natürlich hatte der Pfaffe recht, aber das war ja wohl die traute Heimat, in der sich die meisten den Schwanz verbogen. Eigentlich doch eine Leistung, dachte er, wie die Pest der venerischen Krankheiten nachher eingedämmt wurde. Er hatte draußen tanzen gelernt. In irgendeiner Scheuer, zu der es reinregnete und der Wind durch die Spalten fuhr. Wenn sie Schnaps empfangen hatten, blies einer auf einem mit Seidenpapier überzogenen Kamm und sie faßten sich und stampften los, mit ihren genagelten Kommisbotten und den dreckigen, faltigen Hosen. Ive hielt sich am Koppelhaken fest und sah auf den gebräunten, sommersprossigen Hals des Kameraden, der breit aus der grauen Binde hochwuchtete. Eins zwei drei, eins zwei drei, daß die Tenne dröhnte. Komisch, daß er in letzter Zeit so häufig an den Krieg dachte. Jede Nacht der letzten Wochen war angefüllt mit wilden Träumen aus dem Krieg. Niemals, dachte Ive, hatte ich solche Angst, wie in den Träumen. Oder noch mehr, alter Junge, mach dir nichts vor, du hast gottserbärmliche Angst gehabt. Oder ist das nun auch eine Pose? Die Pose des alten Soldaten, – alles ist Pose. Aber immer das Gefühl, das gibt's nicht, die anderen sehen her. Kein Mensch sah natürlich her. Wenn das so vor dir in den Dreck flitschte, hier, dort, und da sollst du nun durch. Sag nicht, das schwerste sei die Tat, da hilft der Augenblick, die Regung, das schwerste in der Welt ist der Entschluß. So oder so ähnlich. Von wem denn bloß. Grillparzer? Natürlich. Komisch. Aber einmal hochgesprungen, war's vorbei, wie abgeschnitten. Abgeschnitten wie die Angst des Traumes beim Erwachen, und übrig bleibt ein großes Staunen. Dann kommt die quabbelige Wirtin mit dem Frühstück. Mit dem zahmen Frühstück, zwei Schrippen und ein Klacks Butter und die laberige Brühe. So was kann man nur stehend und mit Ekel schnell runteressen. Jeden Morgen bei den faden Schrippen sehnte er sich nach dem Kriegsbrot, nach dieser dunklen, herben Masse, entweder glitschig oder schon grün in den Rissen, und im Maul bilden sich harte Klösse. Aber was war das für ein Genuß. Natürlich schimpften, sie und sehnten sich nach weißen, faden Schrippen. Und wenn sie in der Scheuer schwooften, Mann mit Mann und schwitzend wie die Säue, dachten sie vermutlich an Mädchen in Abendkleidern und „schmeichelnde Ballmusik“.

Merde. Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht. Jedesmal, wenn Ive im Omnibus fuhr, suchte er sich den Platz auf dem Verdeck, ganz vorne, direkt über dem Chauffeur, der unten in seinem kleinen, nach Öl und Benzin stinkenden Kabuff im heißen Motordunst hockte, in seiner schwarzen Lederjacke, wie ein Tankführer. Und jedesmal dachte er an den General Gallieni, der Paris rettete, indem er zusammenkratzte, was sich an Männern in der Stadt befand, und auf alle Vehikel setzte, Taxen, Karren, Autobusse, die Stadt entblößte von allem, was kämpfen konnte, und an die Front warf mit allem, was fahrbar war. Säle politique, stand in Gallienis Tagebuch. Die Stadt, entstanden durch den Verkehr, gerettet durch die Maschinen des Verkehrs. Und durch den Willen eines Soldaten. Und von denen, die da auf den rüttelnden Gefährten hockten, wußte jeder Mann, wohin es ging. Unbändiges Bild. Tag für Tag nun die sinnlose Hin- und Herfahrerei, man wußte doch schließlich immer: das bildest du dir bloß ein, daß dies wichtig ist. Vergebliche Wege, alles vergebliche Wege. Oft, wenn er durch die nächtlichen Straßen ging, an den Zeitungsverkäufern vorbei, an den wartenden Taxis, an den Mannshuren vor dem Eldorado, an den schrecklichen Gemälden der Skala, träumte er von Minenwerfern. Wenn man in den Abzug ein Messer steckte, stak der Bolzen immer im Rohr, und sobald vorne die Mine in den Schlund fiel, baffte sie auch schon weder hoch. Acht Schuß in die Luft und der neunte im Rohr, bis der erste krepierte. Oder, wenn der Werfer nicht eingebaut war, zum Streufeuer, hinten auf der Lafette stehen, die kurze Leine in der Hand, und abziehen. Bruch! Schneller, schneller, die Räder hopsten bei jedem Schuft man flog nach hinten mit dem Oberkörper und wieder vor, ruck, der nächste. Bei Rohrkrepierer ist's aus. Man konnte die Minen fliegen sehen, ein schwarzer, heulender, zwitschernder Vogel, bis zum höchsten Punkt der Geschossbahn, dann konnte man nichts mehr sehen. An der Einschlagstelle konnte man sie nur im Fall sehen, komisch, warum eigentlich bloß? Von der Martin-Luther-Straße über die Häuserblocks weg auf den Viktoria-Luise-Platz. Das hat Berlin noch nicht gesehn. Vom Pariser Platz bis zu Kroll. Wenn hier so ein Ding reinhaute. Mitten rein in das Gewimmel, das hat Berlin noch nicht gesehn. Aber wir haben das gesehn. Sterben will niemand gern. Warum will niemand gern sterben? Ist das besser da, als sterben. Tusch. Aha, die Schönheitskonkurrenz. Allgemeiner Aufstand, alle Gesichter starren hoch. Der erste Preis, gewählt zur Schönheitskönigin des Porza-Balls, Frau Dr. Soundso. Natürlich nicht Helene, Frau Dr. Soundso. Ganz hübsch, ohne Blut, wo ist Helene? Zweiter Preis, dritter Preis. Tanz. Möchtest du vielleicht gerne sterben? Was denn, he, bist du vielleicht besser als die da? Wo ist Helene? Was suchst du hier? Ist das eine Entschuldigung, daß dich das da ankotzt? Meinst du, daß dies da die anderen nicht ankotzt? Das sind Masken und Gespenster. Und du, bist du nicht Maske und Gespenst? Ist das alles, was du im Krieg gelernt hast, Maske und Gespenst zu sein, mit billigen Träumen billige Tage verludern? Man muß wissen, wofür man stirbt. Man muß gar nichts wissen- Jakobsohn weiß. Du hast wie ein Schwein gelebt, wie ein dummes Schwein, das zu fein ist, sich im Dreck zu sielen, wie ein hygienisches Schwein, das saftlosen Schinken gibt. Du stehst hier und die Musik spielt, und da unten tanzt Schaffer mit der Mickymaus. Und du lebst im „Bewußtsein des Reiches“, und Claus Heim lebt im Bewußtsein der Zuchthauszelle. Und du redest, und er schweigt. Und er ist ein Kerl und du bist ein Schlappschwanz. Wo ist Helene? Warum bist du hergekommen? Jakobsohn hat das Bild gekauft. Scheiß auf das Bild, wo ist Helene? Die Loge ist leer. Vielleicht am Büffet. Die Dame in Silberlam6 liegt immer noch am treuen Busen des Argentiners. Helene ist nicht am Büffet. Helene tanzt nicht, auch Jakobsohn ist nicht da. Vergnügtes Fest, Schaffer, nein ich habe nichts getrunken, keinen Tropfen. Mensch, mach bloß Platz. Oben ist sie auch nicht. Vielleicht noch im blauen Zimmer? Leer. Hopla. Ach quatsch nicht, dummer Affe. Ich muß Helene finden, ich muß. Die Treppen, drüben vielleicht? Man kann nicht bis zur anderen Seite sehen. Die Loge ist leer. Was denn, meine Garderobenmarke? Ober, ist die Note beglichen? Natürlich, ja. Mit Jakobsohn. Das ist unmöglich. Helene kann nicht mit Jakobsohn. Warum nicht? Nein, da kennst du Helene schlecht. Er war verdammt anständig zu ihr, voll einer gemeinen, ekelhaften, schleimigen Anständigkeit. Nein, Helene und er, das ist unmöglich. Meinen Mantel, ja den da, mit dem zerrissenen Futter. Was nun? Aber wenn sie nicht mit Jakobsohn ist, mit dem Flußpferd, mit dem Sohn einer Mickymausphantasie, – der und sie, zum Lachen, – wenn sie nach Haus gefahren ist, hätte sie doch was gesagt? Was hat sie gesagt, wie hat sie ausgesehen, als ich sie zum letztenmal sah? Zum letztenmal? Was soll das heißen? Schnell. Schnell, sagte Ive laut und stand ganz allein in der Vorfalle. Er bückte ohne nachzudenken in einen hohen Spiegel und sah sein Bild. Er erschrak vor seinem Bild, er sah einfach lächerlich aus, auf eine beschämende und demütigende Art lächerlich. Er wußte, daß er kein Geld hatte für ein Taxi, eigentlich war es dies, was ihn vollkommen mutlos machte. Er stand, den Mantel halb zugeknöpft, den Hut noch in der Hand, vor der Pforte und versuchte, sich zum Nachdenken zu zwingen. Aber da war alles leer in ihm. Es kam ihm nichts in den Sinn, als die alte, verschollene militärische Formel: Helm ab zum Gebet. Da setzte er sich den Hut auf. Jetzt ist Helene zerbrochen, dachte er mechanisch, ohne sich ganz im klaren zu sein, was er damit meinte. Er strengte sich an und ging ziellos einige Schritte vor. Er ging immer schneller, einfach gerade aus, auf das dunkle Gebüsch zu, suchte die Schatten auf, als müsse er dort Helene finden. Sie ist im Atelier, dachte er und grübelte nach. Oder bei Jakobsohn. Aber dies schien mehr, als er ertragen könnte. Nicht bei Jakobsohn, um Gottes willen nicht bei Jakobsohn, überall, nur nicht dort. Das kann Helene mir nicht antun, dachte er und erschrak. Er spürte eine siedende Angst. Von ferne sah er, was für Helene möglich war, er begriff es nicht ganz, es kam über ihn wie ein Schlag. Gerade dies konnte Helene ihm antun, wissend, daß es notwendig war, für ihn und für sie, streng und bitter bis zum letzten Augenblick. Er stand still unter den Bäumen und spürte wie sich sein ganzer Körper mit einem öligen Schweiß bedeckte. Bis zum letzten Augenblick: dann darf ich auch nicht mehr leben, dachte er, er dachte: jetzt ist es entschieden, dann darf ich auch nicht mehr leben, dann ist alles aus, mitsamt der Bewährung an der Welt. Er sah an den Stämmen hoch, über ihm wölbten sich die breiten, starken Äste. Es gibt kein anderes Mittel. Sie hat sich gewaschen, die Hände, das Gesicht, auch den ganzen Körper, sie hat sich frische Wäsche aus dem Schrank geholt, die Plättfalten müssen noch zu sehen sein. Die Wäsche riecht ganz leicht nach Seile, die Beine hängen ausgerenkt wie bei einer Stoffpuppe. Sie kann gar nicht anders nach dieser fürchterlichen Demütigung. Und das trug sie nun schon Jahre, und wir wußten das nicht, wir sahen das nicht, wir spürten das nicht. Natürlich wußten wir, wir waren feige, wir wollten nicht sehen, es war so bequem, nicht zu spüren. Großer Gott, dachte er, jawohl, auf einmal großer Gott. Alles Lüge, hatte Helene gesagt, alles Lüge. Schuld oder Haftung, wie haben wir so schön mit Worten jongliert. Du hast nichts verstanden, hatte Helene gesagt. Aber Helene hatte verstanden, und sie war hindurchgegangen, seit Jahren schon, so lange, seit sie denken konnte. Deshalb war sie legitimiert, deshalb kannte sie keine Schuld, sondern haftete, war größer, über alle Kleinheit hinweg, war im Innersten unangreifbar, unbesiegbar, bis zum Ende. Sie war, war, bebte es in ihm auf, und plötzlich, mit einer kurzen Wendung auf die Stadt zu, rannte er los. Er rannte an der Pforte des Saales vorbei, den er soeben verlassen hatte, und hörte die Klänge des Orchesters. Und die Saxophone schluchzen das Ende des Jahrhunderts ein, dachte er und begann, mitten im sinnlosen Lauf, Verse zu machen, die ihm im ersten Augenblick ganz außerordentlich schienen. An einer Straßenkreuzung flammte, gerade als er den Damm überqueren wollte, das rote Licht auf. Dies kam ihm zupaß, er stürmte, schwankend, zwischen hart bremsenden Wagen herüber, aber weil er sich in der nächsten Sekunde selber zum Ekel war, suchte er nun nicht länger nach eingebildeten Gefahren. Er überraschte sich, wie er Theater spielte, daß er wie ein Betrunkener lief, sogar noch seine Bewegung verstärkte, als wolle er aller Welt begreiflich machen, daß hier ein Mensch liefe, der unter einem fürchterlichen Schmerz litt. Wenn, dachte er, es auf Haftung ankommt, darf ich nicht Helene suchen gehen, muß ich, dachte er, sich alles vollenden lassen, kalt sein, heranzwingen, und dann die Folgen tragen. Aber in gleicher Weise stark war in ihm der Gedanke, daß sich ihm die Folgen versagen würden, daß er weiterleben würde, sinnlos, mit einem inneren Sprung, aber weiter leben, daß er den schändlichsten Verrat begehen würde, einen Verrat nur im kleinen Gefühl fruchtbar, nur als Gegenpol seiner Zuversicht fruchtbar, einen unnützen Verrat also, wenn er alles bedachte, die Ursache eines inneren Sprungs. Und dann fluchte er sich, daß er an sich dachte, daß er nicht an Helene dachte, aber er kam nur schwer los davon. Schließlich gab er es ganz auf, über irgend etwas nachzudenken, und war von dieser Sekunde an völlig klar. Sie kann dies gar nicht tun, kam es ihm, sie ist katholisch, und bog in eine Straße ein, die zu der Kirche führte. Wenn kein Licht in der Kirche ist, wenn sie verschlossen ist, dachte er ... sie war verschlossen. Er rüttelte an der Tür. Durch die hohen Fenster schien matt das Licht der ewigen Ampel. Nun blieb nur der Weg ins Atelier. Er lief, die Hände an die Brust gepreßt, die Ellbogen angezogen durch die Straßen, durch diese ewig langen, finsteren Schlünde. Er lief den Weg, den er so oft mit Helene gegangen, vorbei an den spärlich erleuchteten Ecken, an den wartenden Droschkenautos, an den nun verschlossenen Läden und feindlichen Fassaden. Er schaute schon von weit her, heftig atmend spähte er nach vorn, ob noch Licht im Treppenhaus war. Es war kein Licht, aber das Tor war offen. Er warf sich mit dem ganzen Körper gegen die schwer schnaufende Tür, das Sängerfest auf der Wartburg und die Heimkehr Tannhäusers in Gips im Treppenhaus ärgerten ihn wie gewöhnlich.

Woran denke ich? fluchte er sich, immer in der Furcht, um die ganze Erregung betrogen zu sein, stieß an die Tür zum Hof und hieb auf die Klinke. Aber auch diese Tür war offen, und in die Freude darüber mischte sich wieder die angstvolle Erinnerung, daß diese Tür immer offen war. Auf dem Hof sah er etwas Weißes. Er rannte darauf zu, und kehrte halben Weges wieder um, es war Papier im Mülleimer. Er blickte die Hinterhausfront empor, alle Fenster waren dunkel. Dann entsann er sich beschämt, daß ja das Atelier nach der anderen Seite hin sein Fenster hatte, und stieg, immer drei Stufen auf einmal nehmend, den Mantel öffnend um schneller steigen zu können, die Treppen hoch. Treppen und Treppen, an jeder Tür, an jedem Absatz schlug ihm anderer Geruch entgegen, das finstere Loch neben dem Geländer, die tiefe Schlucht des Treppenhauses stank betäubend in seinen keuchenden Aufstieg. Ob licht war im Atelier? Es war Licht. Er prallte gegen die Tür, er knallte mit der Schulter gegen sie. Aufmachen, schrie er, ich bin's, Ive, schnell, und sank lauschend in sich zusammen. Er hörte nichts, er lauschte und hörte von fern her das Rücken eines Stuhles, gemächliche Schritte. Aufmachen, schrie er, schlug mit der Stirn gegen die Tür, den Rhythmus der Schritte zu erkennen, und es waren nicht ihre Schritte. Der Maler riß die Tür auf, wie ein Stoß fuhr ihm das breite Licht ins Gesicht. Wo ist Helene, schrie er heiser und stürzte in den Raum. Aber Helene saß schweigend und in angestrengter Versunkenheit vor der Staffelei, im weißen Malkittel und auf dem Kopf ihre alte rote Mütze und setzte mit sachter Bewegung den Pinsel auf die Leinewand.

Ive war selbst darüber erstaunt, ein wie geringes Ereignis imstande war, ihn von einem Gleise ins andere zu werfen. Dieser einzige psychische Hebeldruck genügte, die Weiche umzustellen. Freilich führte sein privater Zusammenstoß mit den Komplikationen der Wirklichkeit keineswegs auch zu privaten Konsequenzen. Wäre Ive psychoanalytisch geschult gewesen, so hätte er vielleicht die Möglichkeit gehabt, es Helene gewissermaßen geradezu übelzunehmen, daß sie den Selbstmord nicht begangen hatte. Er hätte sich, zwar nicht gekränkt, doch aber um seiner Behaglichkeit willen von ihr zurückziehen, sie ihrem eigenen Schicksal mit schmerzlicher Anteilnahme überlassen können. Oder aber, wenn ihm diese Art seelischer Hygiene nichts taugte, stand ihm der Weg offen, freimütig seinen Fehler einzugestehen, um sich fortan mit Eifer dem wohltätigen Dienst an der Menschheit zu widmen, bei seinen nächsten Freunden angefangen, und so in den Frieden einer edlen Haltung einzugehen. Zu unserem Bedauern aber neigte Ive nicht dazu, sich die notwendigen Kenntnisse von der seelischen Mechanik anzueignen. Nicht, daß er sich vor etwelcher Mechanik gefürchtet hätte, aber er schätzte ihre Bedeutung nur gering ein. Zum Beispiel fand er sich in der schönen Gewißheit, daß er in der Bedienung eines so komplizieren Apparates, wie ihn etwa ein Maschinengewehr darstellt, von niemanden übertroffen werden Konnte. Auch sah er in besagtem Maschinengewehr durchaus ein höchlichst geeignetes Mittel, mit einer ganzen Reihe von Problemen der Zeit, den sogenannten Geist einbezogen, auf die sparsamste Weise fertig zu werden. Aber es ging ihm gar nicht um die Probleme der Zeit, sondern um die Zeit selber, wenn man so sagen kann. Es ging ihm um den tagenden Unterbau der Macht, um welchen die Zeit rang. Und jenes lächerliche Begebnis im Ballsaal und späterhin im Atelier hatte ihm präzisiert, worum es ging. Präzisiert, das war es. Was mir die Stadt gegeben hat? sagte er zu Schaffer, als er bei ihm war, um Abschied zu nehmen, sie hat mir nichts gegeben, außer einer Aufgabe. Vielmehr, sie hat mir die Aufgabe schärfer gestellt. Und das ist schon viel, das ist schon unendlich viel, sagte er. Und Schaffer war der erste, der ihm da zustimmte. Schaffer war auch gar nicht erstaunt über Ives Entschluß, die Stadt zu verlassen. Sicher ist es am besten so, sagte er nachdenklich, und aus dem, was er weiterhin sagte, ging deutlich genug hervor, in welchem Masse er begriff, was Ive und nicht nur Ive bewegte. Alles ist Vorbereitung, sagte Schaffer und hatte es damit schön getroffen, und seufzte leise, denn er hätte sich in seinem Umkreis die Vorbereitung etwas angenehmer gewünscht. Wie anders, das fühlten beide, gründet sich das Reich als durch sechzig Millionen seelische Festigungen? Für Ive aber hatte der Akt der seelischen Festigung genau an jenem Punkte, der ihn zwang, die Stadt zu verlassen, seinen Abschluß erreicht, – so, wie der Beginn dieses Aktes im Zwang lag, in die Stadt hineinzugehen. dachte übrigens darüber nicht nach, es war ihm selbstverständlich. Zwar wäre es übertrieben zu sagen, daß es ihm selbstverständlich war, weil er irgendeinem geheimnisvollen Zwang unterlag, weil ihn etwas trieb, das stärker war, als er, er hätte sehr wohl anders gekonnt, er hätte sich sehr wohl entscheiden können, bei den Bauern zu bleiben, und er sah keinerlei zwingenden Grund, zu ihnen zurückzukehren, und doch entschloß er sich dieses jenes Mal. Er spürte den Nullpunkt, und er schickte sich an, ihn zu durchschreiten, obwohl niemand, und er sich selber nicht, ihm hätte einen Vorwurf machen können, wäre er entschlossen geblieben, vor ihm zu verharren. Es ist Zeit, sagte er, dieses wie jenes Mal, und es ist an uns, die seit Jahrhunderten geschätzte Pflicht des Chronisten zu üben, ohne in den seit Jahrhunderten geschätzten Fehler der Chronisten zu verfallen, nämlich das zu schildernde Objekt mit Mitteln glaubhaft zu machen, die ihm selber nicht zur Verfügung standen. Wir können keinen Hexenprozeß beschreiben und gleichzeitig leugnen, daß es Hexen gäbe, und wir können weder einen Mutter- noch einen Großmutterkomplex, noch sonst irgendeinen Bestandteil der allgemeinen Bildung an den Haaren heranziehen, um zu zeigen, warum Ive die Stadt verließ, denn selbst wenn Ive sich im Besitze dieser Dinge befand, so machte er doch offensichtlich keinen Gebrauch davon, und vorzüglich betreffs der allgemeinen Bildung versuchte er weder aus der Not eine Tugend zu machen, noch ihr sonderlich abzuhelfen, deren Wert hätte ihm erst bewiesen werden müssen, und dies zu können, schienen ihm die Inhaber dieses kostbaren Gutes hervorragend ungeeignet; er war nicht gebildet, sondern ausgebildet, und dies militärisch, und die Spur dieses Faktums verwischte sich bei ihm Gott sei Dank nie. Damit hängt eng zusammen, daß er sich nie bereit fand, in den laut raschelnden Chorus mit einzustimmen, welcher dem Nationalsozialismus ausgerechnet den Mangel dessen zum Vorwurf machte, worauf dieser niemals Anspruch erhoben hatte, nämlich auf das, was die Bankrotteure eines ganzen Säkulums von Jean Jacques Rousseau bis Emil Ludwig, die Größenunterschiede nicht beachtet, unter „Geist“ verstanden. Ive stimmte nicht mit ein, weil er sich immer fragen mußte: Cui bono? und wenn er sich nicht zum Nationalsozialismus zu bekennen vermochte, so geschah dies eben nicht, weil er zu wenig Spuren besagten Geistes in ihm entdecken konnte, sondern im Gegenteil, weil ihm der Wein des Dritten Reiches doch gar zu sehr nach dem Korken des Zweiten schmeckte. Du hast nichts verstanden, hatte Helene zu Ive gesagt, als er im Begriff stand, aus einer allgemeinen Ableitung in einen privaten Entschluß zu flüchten, und die Folge des Begebnisses belehrte ihn, was sie damit meinte. In der Tat befand sie sich wie Ive in einer Lage, in welcher das nicht mehr geduldet werden konnte, was Karl Marx für seinen Bereich mit sozialer Quacksalberei bezeichnete. Helene dachte gar nicht daran, für sich persönlich etwelche Aufbietung zu verlangen, sie war Gestalt genug, die eigene Forderung mit der ihrer Zeit in Einklang zu bringen, und weil sie dazu Gestalt genug war, konnte und mußte sie von ihren Freunden das gleiche verlangen. Sie war legitimiert und sah mit Schmerz, daß Ive sich anschickte, sich jeglicher Legitimation zu begeben. Helene verlangte nun ein Fazit, und er zog es. Und er entdeckte, daß er zur Stadt „Ja“ sagen konnte, ein sehr freudiges „Ja“ sogar, fast ein Bekenntnis. Denn Ive, der in die Stadt kam, um sie zu erobern, der in seiner Moabiter Zelte von neugebildeten Bataillonen träumte, welche die Stadt beherrschen sollten – aber die Bataillone, welche sich wirklich neu bildeten, und ohne sein Zutun, beherrschten höchstens die Straßen der Stadt –, Ive, der nichts dagegen gehabt hätte, durch ein Wunderwerk von Energie, Vorbildung und Zufall auf den verantwortungsvollen Posten eines Oberbürgermeisters zu gelangen – aber er war so freundlich, einzugestehen, daß er dann auch nicht viel mehr hätte machen können als der lange Sahm – Ive, der bereit war, aus der Stadt fortzutragen, was sie immer nur hergeben konnte – aber das hatten geschäftigere Konquistadoren auf ihrem Gebiete auch versucht, um nach angenehmen Zwischenspielen wenn auch nicht für allzu lange Zeit so doch in eben jener Moabiter Zelle zu landen – , Ive hatte in der Stadt erfahren, was die Stadt an Erfahrung ihm nur immer bieten konnte, nämlich nichts. Genau das, und es ist aufregend viel, sagte er zu Dr. Schaffer, und der freute sich seufzend über Ives lachende Erkenntnis, denn er hatte es bis obenhin dick, unentwegt in rasendem Tempo auf der Stelle zu treten. Nichts an Erfahrung, sagte Ive, denn das, was ihm begegnete, hatte in ihm selber gelegen, und wenn die Stadt wirkte, so wirkte sie einzig durch Druck. Dieser Druck hatte seinen gesagten Bestand durchgerüttelt, und vornehmlich dies schien Ive die eigentliche Funktion der Stadt: nicht in ihr vollzog sich, sondern sie vollzog die eigentümliche Sublimierung, in Menschen und in Dingen, im Räume und in der Zeit. Die Stadt hatte das gesamte Leben des Landes unter ihren Druck gesetzt, und Ive erkannte seine Aufgabe im gleichen Augenblick, da die Stadt sie im Lande formte. Zu den Bauern zurück? fragte Schaffer, aber Ive wehrte sich gegen das Wort „zurück“. Er hatte daran gemacht, sich durch die Stadt bis zu ihrem innersten Kerne durchzunagen, und er fand in ihrem innersten Kerne das Land. Er fand den innersten Kern vegetativ, und er freute sich animalisch, da er erkannte, daß er auf genau demselben Punkte angelangt war, den er verlassen hatte, als er sich aufmachte, ihn zu suchen. Genau dieselbe Aufgabe bot sich ihm dar, nur schärfer gestellt. Und er entsann sich jenes Augenblickes im Redaktionszimmer seines Bauernblattes, jenes Augenblicks der Erkenntnis vom spiraligen Prozeß, dem Leben unterworfen ist. Die Stadt war Leben und er selber war Leben, und es existierte nichts auf der Welt, was nicht Leben war, und mochte jede Meinung zehn neue Meinungen hecken, ausschließlich jede und überaus autoritativ, eines fügte sich oszillarisch ins andere, jede Analogie war lebendig, und jeder Gedanke wirkte in die Länge und in die Breite, und die beste Formulierung war immer die erste, und sie war die letzte zugleich. Denn alle Gültigkeiten sind hingeordnet auf eine letzte Gültigkeit. Und da konnte es, in Epochen gedacht, freilich nichts schaden, es war sogar notwendig, es geschah in einem tieferen Sinn, daß es immerhin sechs Millionen Arbeitslose gab, und Helene das Kleid ohne Ärmel anzog, wenn sie auf die Redaktion ging, und die Beine übereinanderschlug, wenn sie mit Jakobsohn sprach. So, das schadete nichts? Das war sogar notwendig? Das geschah sozusagen in einem tieferen Sinn? Das waren jedenfalls Gültigkeiten, die sich auf eine letzte Gültigkeit hinordneten? Es schadete nichts, daß sechs Millionen langsam verrotten und verlumpen, daß einer auf dem anderen hockt, wie die Filzläuse am Sack, daß sie sich beißen und schlagen und bespucken und verleumden, daß sie kriechen und verraten und schleimen und treten von oben nach unten und von unten nach oben und von rechts nach links und von links nach rechts, weil einer dem andern das bißchen Notdurft wegschnappen muß vom hungrigen Maul und das bißchen Sicherheit vom müden Popo, und sonst ist alles eigentlich da in reichlichem Überfluß? Es ist sogar notwendig, daß der Hof abbröckelt und das Getreide verdorrt und das Finanzamt blüht, daß der Bauer hops geht und der Großgrund wird säuert, und wo er nicht saniert wird, wird er benedeit, und die Siedler können nicht leben und weht sterben, die armen Hunde, und Claus Heim hockt im Zuchthaus? Das geschah in einem tieferen Sinn, daß der Maler in verzweifelter Besessenheit seine Farben auf die Leinewand klatscht und Helene schiebt los und tanzt mit Jakobsohn, und der reibt seinen Bauch an ihren Bauch und kauft das Bild und verkauft es und der Maler hat dabei noch ungewöhnliches, schweinemäßiges Glück, daß sie auf allen Landstraßen ziehen, junge Burschen, braune Gesichter, breite Hände, und die Hände offen und leer, Kraft herausgeschleudert ins Nichts, Samen gesetzt an Nichts, Blut verebbend in Nichts, und im Kino geben sie Hoheit lernt tanzen, daß die einen von Krise reden und Notverordnung und Abbau des Wechselportefeuilles der Reichsbank, und die anderen reden von nichts, sie warten, daß die Steine reden, aber die Steine schweigen auch, daß dies immer so weiter geht, hohle Straßen und finstere Wünsche, die Presse schleimt und die Saxophone heulen, und der eine wird subventioniert und der andere fährt mit der Hand über den Alexanderplatz, ja, kleiner Mann, was nun? und das Reich kauft bankrotte Gelsenkirchener, mit neunzig Prozent, nicht mit Maschinengewehrkugeln, und die Stadt atmet mächtig, Symphonie der Arbeit, Symphonie des Arbeitsamtes, rötlicher Schein am Himmel über der Gedächtniskirche, wer zählt die Autos am Augusta-Viktoria-Platz, Himmel und Hölle und Lichtreklame, hier noch die letzten frischen, ruft Hinnerk, ein Versprechen ins Nichts, Vergnügen gelten, Enttäuschung gefolgt, Freude aus Angst, Extase aus Kleinmut, na, Kleiner, wie is? na, denn nich, Scheißkerl, Zehntausende lauschen Hitler im Sportpalast, Zehntausende lauschen Thälmann im Sportpalast, Zehntausende lauschen Lobe im Sportpalast, Zehntausende sehen den Sechstagerennen zu Sportpalast, die apokalyptischen Reifer jagen durch die Stadt, Hunger, Lüge und Verrat, in Genf quasseln sie, in Lausanne quasseln sie, im Reichstag quasseln sie, auch du hast gequasselt, Ive, Claus Heim quasselte nicht, die Bauern wählen Nazis und die Proleten wählen Kommune, es ist das einzige, was sie wählen können, und wählen ist das einzige, was sie tun können, der Lohn wird herabgesetzt, der Gegner wird herabgesetzt, du selbst wirst herabgesetzt, wie komme ich mit hundertfünfzig im Monat aus, wie komme ich mit hundert im Monat aus, wie komme ich mit fünfzig im Monat aus, wie komme ich mit nichts aus, es geht eben weiter, im Landtag quasseln sie, im Salon quasseln sie, am Zahlabend quasseln sie, du hast auch gequasselt, Schaffer, du hast auch gequasselt, Hellwig, du hast auch gequasselt, Pareigat, mit dem Bankrott der Wiener Creditanstalt fing es an, mit dem Dolchstoß fing es an, mit dem Weltkrieg fing es an, mit Bismarcks Entlassung fing es an, mit der französischen Revolution fing es an, mit der Reformation fing es an, mit Adam und Eva fing es an, wann Himmel Arsch und Wolkenbruch hört es auf? und gebt uns unsere Kolonien wider nach wir können nicht zahlen und wir wollen nicht zahlen, und der Korridor ist eine Kulturschande, und der Anschluß ist verboten, und der russische Fünfjahresplan, und das amerikanische Schuldenabkommen, und die Ereignisse in der Mandschurei, und das Memelland liegt bei Litauen, und wer Geld hat, Nachbar, liegt bei deiner Frau. Noch aber ist Brodermann da und schützt die Ruhe und die Ordnung. Denn in Epochen gedacht, sind alle Gültigkeiten hingeordnet auf eine Gültigkeit. Nun denn, dann ist es eine Gültigkeit, für Epochen gedacht, daß einer aufsteht, hier und dort, daß du aufstehst, Ive, daß jedermann aufsteht, und sagt: Schluß. Und sagt: hier, jetzt und mit mir fängt eine neue Epoche an. Und greift zu, da, wo es ihn am meisten brennt, und weiß dann, was er zu tun hat. Was hat Ive zu tun? Das, was ich getan habe, Schaffer, bevor ich in die Stadt kam, genau das, und nun wissend, wie sehr es notwendig ist. Hat das die Stadt gelehrt? Das hat die Stadt bestätigt. Denn die Stadt, die sein soll, hat gezeigt, was nicht sein soll. Und er sah dankbar, wie er in der Stadt, warum er in der Stadt gelebt hatte. Und war es ein unendlich verwirrtes und verzwicktes Gewebe, durch das er sich suchend und fragend und denkend und sprechend bis zu den wenigen, einfachen, klaren Gewißheiten durchgewunden hatte, so sah er nun von diesen Gewißheiten aus ein unendlich verzwicktes und verwirrtes Gewebe, das es handelnd zu schaffen galt. Anpacken, sagte er und machte mit beiden Händen eine Bewegung, als hebe er einen Pflug aus der Furche, obgleich er keineswegs daran dachte, als Bauer zu arbeiten, wenn er zu den Bauern ging. Denn Ive war nicht Bauer, Ive war Soldat; nicht Militärperson mit zwölf Jahren Verpflichtung und politisch streng neutral und Versorgungsschein, nicht Sturmsoldat mit schwarzem Nummernspiegel und zweifarbiger Schnur am Kragenrand und Fahnenweihe und Hauerei mit der Kommune und braunen Hosen, die auf der Polizeiwache ausgezogen werden, sondern Soldat im kleinen, verstreuten, ungenannten, immer bereiten Heere der Revolution. Also doch? Gewiß, hier wir machen sie freilich nicht, wir sind sie schon. Soll denn in unserem armen, geliebten Vaterland niemals Ruhe und Frieden sein? Nein, bei Gott, in unserem armen, geliebten Vaterland soll nicht Ruhe und Frieden sein. Soll denn die brutale Gewalt ...? Eben die, und wer sie in Händen hat, darf sich ihr nicht unterworfen haben. Soll denn der Terror, soll denn das Chaos...? In der Tat, und die den Terror üben, die das Chaos schaffen, dürfen es nicht in sich tragen. Will die Nation dies? Niemand weiß, was die Nation will, was sie wollen wird, wir aber wollen die Nation. Und wer ist wir? Wir sind, die nichts anderes wollen als die Nation, die im Graben nichts anderes gewollt haben, und nichts anderes bei den Arbeitern und bei den Bauern nichts anderes, in den weiten Ebenen des Landes nichts anderes als die Nation, und nichts anderes in der Wirrnis der Städte. Wir, das sind, die kein Gesetz anerkennen und keine Bindung als Gesetz und Bindung der Nation, den Willen des Volkes? Den unseren zum Reich, sind wir, die bereit sind abzutun alle Verlockung und Verführung, den ganzen Rotz von Stellung und Ansehen und Weiterkommen, den ganzen Schleim von Schlauheit und Demütigung und hinter hohen Worten von Pflicht und Verantwortung versteckten Schiss, den ganzen Dreck von Lebenmüssen und Sichdreinschicken. Das Volk will? Niemand weiß, was das Volk will, das Volk weiß selber nicht, was es will, aber wir wollen. Und wenn das, was kommen wird, bitterer sein wird, als vier Jahre Krieg und fünfzehn Jahre Nachkrieg, wohl uns, daß wir es gewagt haben, und wird es nicht bitterer sein, abermals wohl uns, daß wir es gewagt haben. Was da, hier wird nicht mehr mit Programmen gefuchtelt, hier werden keine Patentlösungen mehr feilgeboten, aber wo Kraft ist, da wollen wir von unserer Kraft hinzutun, und wo keine ist, da wollen wir wegnehmen, was noch gehalten wird. Bei den Bauern ist noch Kraft und bei den Arbeitern, denn die einen haben alles zu verlieren, was ihnen den Wert gibt, und die anderen alles zu gewinnen, was ihnen den Wert gibt, wir aber haben nichts zu verlieren als den Glauben an das Reich, und nichts zu gewinnen als die Nation, und sind wir berufen, so ist es an uns, auserwählt zu sein. Denn da es sich heute um Entscheidungen handelt, um Bewegungen, die jede Sekunde neue Entscheidungen in sich tragen, da das Reich offen ist wie ein Acker, bereit, jeden Samen aufzunehmen, ist es an uns, zu sorgen, daß nicht der Teufel kommt und sät Unkraut und Disteln, ist es an uns, zu sorgen, daß jede Entscheidung sich richtet auf das Reich, und was die Welt ihm gibt, gibt es verwandelt der Welt zurück. Nicht daß es sich in allen Teilen der Erde regt, ist wichtig, sondern daß jede Regung in uns ihren läuternden Sinn erfährt, und daß wir gewillt sind, in ihm zu handeln. Das heißt, daß wir heraustreten aus dem Protest und eintreten in das Stadium des Gestaltens: Daß jede Form des Protestes, mag sie sich in welches Kleid auch immer hüllen, sei es ein Stimmzettel oder eine braune Hose, sich außerhalb der eigentlichen Sphäre der Entscheidung begibt, daß jedes System höchstens berufen sein kann, zeitliche Erscheinungen tot akkumulieren, und nicht einen gültigen Richtungspunkt zu geben, wobei die Gefahr darin ruht, daß durch Systeme eine Bewegung, die noch gar nicht abgeschlossen ist, in einen Zustand übergeführt wird, der noch gar nicht tragfähig sein kann. Wenn das Reich ewig ist in seiner Gewalt, so ist Geschichte der Wandel seiner Formen, und es gilt jetzt und heute, die Form zu suchen, welche dem eigentlichen Gehalt am besten entspricht. Daß der Nationalsozialismus sie so wenig geben kann wie irgendein System, welches sich auf verschollene öder auf irrtümliche Prinzipien beruft, ist durch den Ablauf seines Werdeprozesses bereits bewiesen: ist nützlich, nicht zu zählen, was er offen gelassen, sondern was er versperrt hat. Zweifellos hat der Nationalsozialismus eine historische Mission erfüllt, er hat die Demokratie ad absurdum geführt, zweifellos ist mit Erfüllung dieser Mission auch seine Gewalt deslegitimiert. Das Positivum der Revolution steht noch aus, damit steht die deutsche Revolution selber noch aus. Täuschen wir uns nicht darüber, daß sie, soweit sie sich auf neue Formen richtet, ihre Elemente im Gesellschaftlichen hat Bei uns wie in der ganzen Welt geht es darum, die Herrschaft des Bürgerlichen zu brechen, bei uns mehr noch als in der ganzen Welt wird es klar, daß das Bürgerliche als Herrschaftsform, so wie sie gefunden wurde, nicht deutsch ist, sondern westlich, daß die Revolution gegen das Bürgerliche also eine deutsche Revolution ist. Und weil es dies ist, was uns auf den Nägeln brennt: Die Beseitigung eines Zustandes, der unerträglich geworden ist, da er nicht einmal mehr die fruchtbare Kraft des Widerstandes weckt, und weil es wirklich in dem Augenblick, da wir von der Notwendigkeit des Handelns durchdrungen sind, nur die deutsche Revolution sein kann, für die wir wirken dürfen, bleibt die Aufgabe bei den Revolutionären haften, Und bei niemand anderem sonst: Bei denen, welche die Revolution schon in sich vollzogen haben, – und beileibe nicht vorher; denn was nützt es uns, gerüstet zu sein bis an die Zähne, sind wir nicht auch gerüstet bis ans Herz? Da ist es freilich gleichgültig, von welchem Punkte aus vorgestoßen wird, hängt er nur nicht im luftleeren Raum. Massen haben von sich aus keinen Elan, und wo sie im Bewußtsein ihrer Lage die Revolution organisieren wollen, organisieren sie das Bonzentum. Erst die wenigen geben ihnen, wessen sie an Kraft bedürftig sind. Diesen aber muß es auf Machtpositionen ankommen, nicht auf Standpunkte, und so mag sich jeder von ihnen die Bereitschaft suchen, die ihn trägt und von der aus er handeln kann: Ich finde sie bei den Bauern, sagte Ive, wie ich sie dort schon gefunden habe. Ive sagte: Das Reich wird kein Land der Bauern sein, aber das Land verwandelt das mystische Bewußtsein in eine Realität mit ihren täglichen Forderungen. Und diese Realität ordnet die Gesellschaft: Das Bauerntum trägt in sich die einzige natürliche Form der gesellschaftlichen Ordnung, und darum muß es Anstoß und Muster sein, solange wir nach diesen Formen fragen. Ich weiß, was Sie sagen wollen, Schaffer. sagte Ive, aber Planwirtschaft alleine tut's auch nicht, wenn es auch gewiß nicht schadet, und die lebenswichtigen Interessen existieren nicht außer in den Hirnen der Syndizis. Noch sind wir nicht betrogen um das, was uns den Sinn zum Leben gibt, und wir sind nicht gewillt, uns drum betrügen zu lassen, wie wir betrogen wurden um alles, um was wir immer betrogen werden konnten. Das, worauf es ankommt, bleibt, und ist es nicht diskutierbar, wohl uns, daß es nicht diskutierbar ist. Denn unser Schicksal ruht nicht in der round table Konferenz, und nicht im Arbeitsausschuß des Reichstages und nicht im Aufsichtsrat der A.E.G., sondern in unserer eigenen Brust, in der Brust von Männern, die nicht nur wissen, sondern auch zu tun wissen, was sie wollen. Sie wollen wissen, was zu tun ist, für Sie und für mich? Sie sehn den Fahnenwald vor lauter Bahnen nicht? Soll ich aus der Aktentasche holen System und Schema irgendeines Reichs? Soll ich Ihnen fix, hier Ecke Joachimsthaler-Kurfürstendamm den Plan entwerfen, ausgehend vom Hof aber die Notgemeinschaft zur Provinz? Ausgehend von der Genossenschaft über den Verband bis zum Landwirtschaftsrat? Ausgehend vom Kontokorrent des Bauern über die Akkumulation der Finanzinstitute bis zum Staatsbudget? Von der wirtschaftlichen Rechnung der Betriebe über die Autorität der Staatswirtschaft bis zum sozusagen zentralistischen Föderalismus der Wirtschaft und der Länder und der Genossenschaften? Soll ich Ihnen aufzählen die Artikel der Verfassung, den Aufbau der staatlichen Organisation, das Wesen der Zollverträge, der Monopole, der Bankpolitik, des Kassenplanes, des Zahlungsverkehrs? Sie wissen, daß es nicht notwendig ist, jetzt und hier, daß es aber notwendig ist, alle Hindernisse und Schwierigkeiten, die in der Struktur der Wirtschaft und der Gesellschaft liegen gegenüber jedem Volkswirtschaftsplan, hinwegzuräumen, und das so bald wie irgend möglich; daß es notwendig ist, von Mann zu Mann, von Hof zu Hof zu gehen und bereit zu machen zu allem, was der Nation dienlich ist, und gefeit zu machen gegen alles, was hunderttausend Interessenjäger erzählen; daß es notwendig ist, für uns, die wir gerüstet sind bis ans Herz, uns nun zu rüsten bis an die Zähne. Ich gehe zu den Bauern, Schaffer, nicht weil es mich nach der freien Luft der Marschen zieht, sondern weil ich weiß, daß in ihnen die stärkste Kraft des Landes ruht; weil ich weiß, daß einzig diese Kraft mobilisierbar ist, jetzt, heute und sofort, und schon kommen sie von allen Seiten mit ihren Mätzchen, geschwinde ausgeklügelt auf einer Million raschelnden Aktenpapiers, die Wasser säuberlich auf ihre leerlaufenden Mühlen zu leiten; weil ich weiß, daß die Stadt Funktion ist des Landes und nicht ihr Großaktionär; weil ich weiß, daß, wenn nicht jetzt und heute der Bauer aufsteht im Lande, der Tag kommen wird, da wir nicht um des Reiches willen mehr aufstehen und zusammentreten können, sondern uns gegenseitig die Schädel einschlagen um ein Stückchen Erde, um eine schmale Ecke der armen, ausgepowerten, verachteten Bauernerde.      

*

Der Portier vom Kadewe schnallt den letzten Hund von der Stange, ein wuscheliges, kleines, atmendes Etwas mit zerdrücktem Gesicht und schwachen Beinen, und gibt ihn grüßend der Dame, die zu dem stolzen Auto gehört. Scheren Sie sich weg da, sagt er zu Hinnerk, der breitbeinig über seinem Korbe steht, direkt vor der Wagentür. Halt Schnauze, sagt Hinnerk, und die beiden mustern sich schwer. Der Portier greift an die Mütze und steckt das Trinkgeld ein und wendet sich hochmütig von Hinnerk, die Türen zu versperren. Hier noch die letzten frischen, schreit Hinnerk, er blickt rechts und links, in den Händen, hygienisch verpackt, das Gebäck. Noch ist der Korb halb voll. Die große Lampe in der Pforte des Kaufhauses erlischt. Jetzt kommen die Angestellten, hier noch die letzten ... Na los, mein Mädchen, für die Untergrund. Hier noch die ... zwei Groschen, Meister. Hier noch ... steht der Kerl schon wieder da. Der Kerl steht schon wieder da, ein junger Bursche wie Hinnerk, weiße Schürze, Schirmmütze, Salzstangenkorb. Du sollst dich da wegscheren, sagt Hinnerk, das ist meine Ecke, Wer mir die ganze Tour vermasseln. Was soll ich denn machen? sagt der andere, da drüben der Kollege ... Das geht nicht, sagt Hinnerk, hier ist meine Ecke, Mensch verzieh dich. Aber der andere verzieht sich nicht, und Hinnerk legt sein Zeugs in den Korb und geht mal rüber, die Sache in Ordnung zu bringen. Achtung, Schupo, sagt hinter ihm eine Stimme. Die Schupo kann mich, sagt Hinnerk und dreht sich um. Ach du bist es, Ive. Ja, sagt Ive, laß den, sagt Ive, seit wann die Kapitalistischen Allüren? Das verstehst du nicht, sagt Hinnerk, Ordnung muß sein, sonst können alle einpacken, Laß ihn, sagt Ive. Hör, Hinnerk, sagt er und legt ihm die Hand auf den Arm, ich hab' was für dich. Was hast du für mich? fragt Hinnerk, aber Ive lächelt bloß. Einen Augenblick sehen sie sich ernsthaft an. Ordnung muß sein, sagt Ive schließlich, das sagt vermutlich auch der Wachtmeister Seifenstiebel, wenn er zu Claus Heim in die Zelle kommt, er solle seinen Kübel mit Sand auswischen. Mensch, sagt Hinnerk, Mensch, und versteht plötzlich und haut Ive mächtig auf die Schulter und sagt noch einmal: Mensch! Wahrhaftig? sagt er, und Ive nickt. Jetzt packt Hinnerk seinen Korb und setzt ihn wieder hin und schiebt sich die Mütze aus der Stirn. Wahrhaftig, sagt er, nu aber los, und ich hab' wirklich geglaubt, das kommt nie mehr. Jetzt ist er im Zuge und packt den Korb wirklich und hakt ihn mit einem Schwung unter den Arm. Los, sagt er, er knufft Ive in die Seite. Mensch, zwei Jahre hast du dazu gebraucht, um dir das zu überlegen? Um darauf zu kommen? Meine Herren. Na, es soll vergeben und vergessen sein. Los, sagt er, und sie zotteln über die Straße, über den Platz, und von Zeit zu Zeit setzt Hinnerk den Korb zur Erde, als sei er ihm zu schwer, aber das geschieht bloß so in Gedanken, denn Hinnerk ist mächtig im Zuge. Wann, wo, wie? fragt er. Er sagt: Ich freu mich, Mensch, ich freu mich. Weißt du, jetzt quasseln sie wieder bannig von Amnestie und so, und der Hellwig scheint wirklich allerhand gebohrt zu haben. Aber das hat mir nie so recht gefallen, wie du so durch das Land gezogen bist und hast die Klinken geputzt bei den Bonzen. Und immer hab ich so gedacht, ich mach es, ich ganz allein. Aber du hast gesagt, er will nicht, und ich habe gedacht, du weißt es besser und du denkst, es ist noch nicht Zeit. Und dann hatte ich Angst um dich, denn du, na das ist so, das hab ich gedacht, ich hab gedacht, der Ive ist schon so dicht am Absacken, nimm’s mir nicht übel, du warst nämlich schon so dicht am Absacken. Na was denn, jetzt geht's jedenfalls los. Vergiss nicht, sagt Ive, daß die Partei den individuellen Terror ablehnt. Die Partei kann mich, sagt Hinnerk, mich können alle Parteien. Das war doch nichts, sagt er, Kommune oder Nazis, eine Suppe. Die einen haben Schiss und die anderen sind legal. Jetzt haben sie's mit dem Uniformverbot. Uniformverbot, Mensch, als ob's darum ginge! Und wenn sie selbst 'ne Amnestie durchkriegen, mir war immer so ein bißchen schwummerig davor, denn eigentlich wär's doch eine Schweinerei, daß wir erst eine Amnestie notwendig haben. Amnestie, das kann jeder. Aber rausholen, das kann nicht jeder. Ein Mädchen kommt um die Ecke. Ich freu mich, sagt Hinnerk. Gib mir mal, sagt das Mädchen, und ist sehr mager und sehr angemalt und hat hohe, rote Schnürstiefel bis zum Knie. Da, sagt Hinnerk und greift in den Korb und holt mit beiden Händen heraus. Ich freu mich, Mädchen, ich freu mich, schieb ab, und sagt: Das ist doch bloß der Anfang, Ive? Ja, das ist bloß der Anfang, sagt Ive. Natürlich, sagt Hinnerk, und ich weiß schon, wen wir mitnehmen können. Ich kenn einen, der war schon mal in Celle, der kennt den Laden da genau. Nee, der ist sauber, Totschlag wegen Mädchen, was denkst du, anders könnt er nicht mit, von wegen Klauen und so, das können wir Claus Heim nicht antun. Claus Heim, das ist doch der einzige von uns, der wirklich mit seinem Namen steht. Wir brauchen ein Auto, hast du ein Auto? Macht nichts, notfalls klau ich eins. Meinst du, das könnt ich nicht? sagt er erregt und setzt den Korb zur Erde, das will ich dir gleich zeigen, daß ich das kann, Wart mal, da drüben steht eins, ein Opel ... Lass man, sagt Ive und hält ihn am Ärmel fest, dazu ist noch Zeit genug. Gar nicht ist Zeit, sagt Hinnerk und geht unzufrieden an Ives Seite. Kalt schmeckt die Suppe nicht, heute früh, wie ich aufwachte, dachte ich, jetzt ist es aber hohe Zeit, daß wir wieder losgehen, und ich dachte, auf den Ive ist auch kein Verlass mehr, den haben sie richtig in die Mache gekriegt, der ist auch unter die Schleimscheißer gegangen, nächstens fährt er nach Südfrankreich oder an die Riviera, und ich dachte, wenn er den Knopf an seinem Mantel festnäht, ist Matthäi am letzten. Hast du...? Nein, Ives Knopf am Mantel baumelt noch. Jedenfalls geht's los, sagte Hinnerk, die Bauern sind auch so ziemlich abgesackt, das waren noch Zeiten, was Ive, am Anfang, immer dachte ich, so Zeiten kommen nie wieder. Na, und jetzt! Das heißt, leicht wird's nicht werden, wieder richtig in Zug zu kommen. Nein, sagt Ive, leicht wird's nicht werden, aber was wir nicht machten, das hat die Zeit gemacht. Ja, sagt Hinnerk, die Zeit ist reif. Überall, aber bei den Bauern lohnt es sich noch, einzusetzen, nur auf dem Lande wächst aus Scheiße was, hier stinkt's bloß mehr oder weniger. Was ist denn da vorne los? fragt Hinnerk. Da vorne ist was los. Die Menschen gehen auf einmal eiliger. Aus den Nebenstraßen kommt es mit einem Schub. In den Schatten, an den Ecken, in den Torbögen stehen sie. In den Nebenstraßen ist Lärm. Pfiffe schießen an den Häuserfronten entlang. Einzelne Schreie hallen, so als ob einer dem anderen Mut zubrüllte, Hinnerk hält an und horcht. Kommune, sagt er gleichgültig, komm weiter. Sie gehen weiter. Weißt du, sagt Hinnerk, wir müssen das gleich beklönen. Ich kann hier sofort ab. Mich hält hier nichts, und wenn mich was hielte, ließ ich es sausen. Ein Schnellwagen der Polizei saust um die Ecke und noch einer, und noch einer. Au Backe, sagt Hinnerk. Aber das ist so, sagt er. Wenn ich was hier gelernt habe, dann ist es das, daß es auf uns ankommt, auf uns, Ive, auf dich und mich unter den anderen. Denn die anderen können nicht. Die sind gebunden, die haben sich binden lassen. Die kleben fest an allen möglichen Dingen, am meisten an ihrer Einbildung, das müßte so sein, und sie könnten nicht mehr los. Die hängen, Ive, wie die Fliegen am Leimpapier, lass sie hängen. Auf uns kommt es an, die wir nicht hängen, auf wen denn sonst kann es ankommen, als auf uns? Komisch, sagt Ive. Was komisch? fragt Hinnerk. Ach nichts, sagt Ive, bloß, dasselbe hat mir schon jemand anders gesagt. Das ist gar nicht komisch, sagt Hinnerk, das ist so, und wir wären Schurken, wenn wir nicht danach handelten. Aha, da kommen sie dicke. Da vorn. Da kommen sie dicke, da vorn, das ist eine hübsche Menge von Polizisten, die plötzlich zu laufen anfängt. Und da knallt ein Schuss, ganz schwach, aus einer Pistole wohl, und Hinnerk und Ive sind dicht heran. Jetzt johlen und brüllen die Kommunisten los. Komm weiter, sagt Hinnerk, wir müssen jetzt vor allen Dingen den Plan bekakeln. Ja, sagt Ive und blickt auf die dunkle Masse, und was sich da wohl begibt. Er geht langsamer. Da ist Schweinebacke, sagt Hinnerk gleichgültig, da setzt es sicher was. Brodermann? fragt Ive und hält an. Da muß ich ... und er lugt die Straße längs. Gar nichts, nach Hause, sagt Hinnerk. Lass mal, sagt Ive, Brodermann, das will ich sehn. Na denn, sagt Hinnerk und sie warten. Jetzt geht's los. In breitem, dichtem Schwärm fegt die Polizei herum, ein Schuss °ad noch ein Schuss, Fensterscheiben klirren. Geschrei und Pfiffe, ganz dicht. Zurück da, auseinander, und jetzt sausen die Gummiknüppel. Jetzt fliegen die Karabiner von den Schultern. Da haben sie Barrikaden gebaut, na so was, sagt Hinnerk, und so kleine, was soll das, die stören doch, keinen Menschen, aha, gegen die Schnellwagen. Komm, sagt Hinnerk, und dringender: Komm. Lass mich, sagt Ive. Mensch, wie sie dreschen. Und wir stehn hier und schaun zu? Das geht nicht, Hinnerk, verstehst du? Na denn, sagt Hinnerk, da will ich mal meine Brezeln verstauen. Hier in den Hausgang, ach was, jetzt kommt's auf die ollen Brezeln auch nicht mehr an. Und schleudert den Korb in eine Ecke und gibt dem kollernden noch einen Tritt und schiebt mit dem Fuß den verstreuten Inhalt beiseite. Menschen jagen vorbei, junge Kerle mit verzerrten Gesichtern. Die Tschakos blitzen, die Gamaschen blinken, in rasender Wut stolpern die Jungens vorbei, aber hier ist kein Entrinnen, da rückt die Mauer heran. Und da ist Brodermann. Auch er hat einen Gummiknüppel in der Hand. Die Mauer von gepflegten, trainierten, muskelstrotzenden Leibern in strammen Uniformen wälzt sich wie eine Maschine, hier und dort bröckelt sie etwas vor und zurück, um sich sofort wieder zu schließen. Und Brodermann ist heran. Ive sieht nur ihn. Er hört nur ihn. Er weiß nicht, was Hinnerk macht, er achtet nicht auf die Hauerei, er hört nicht auf Schreie und Pfiffe und Schüsse. Irgendwer rempelt ihn an, er taumelt ein bißchen, fängt sich aber wieder gleich auf breiten Beinen. Weg da, sagt Brodermann laut. Ive schweigt und röhrt sich nicht, Brodermann steht vor ihm. Brodermann erkennt ihn, Brodermann sagt: Weg da- Ive sieht ihm ins Gesicht. Da die Hängebacken und das rasierte Kinn. Da der Silberkragen und der Tschakostern. Die gerade, strenge Nase und die eiskalten Augen. Weg da, sagt Brodermann nut äußerster, angespanntester Schärfe. Scheren Sie sich – Weg da! Und Brodermann hebt den Gummiknüppel. Er hebt ihn hoch über den Kopf und Ive sieht, wie sich alle Muskeln in diesem breitflächigen Gesicht verziehen. Da holt Ive aus und klatscht ihm die geballte Faust mit aller Wucht von unten her an Kinn und Nase.

*

Brodermann telefonierte sofort von der Unterkunft aus an Schaffer. Aber Schaffer hatte eine wichtige Besprechung und konnte nicht abkommen. Doch gelang es ihm, Pareigat zu erreichen. Pareigat kam sofort. Als er in das Zimmer trat, sah er sogleich den Körper auf dem Boden gebreitet liegen. Nur der Kopf war mit einem Tuch bedeckt. Brodermann war sehr bleich. Er stand vor der Leiche, und es schien Pareigat, als ob er zitterte, wenig nur, aber an den Backen über dem Silberkragen klebte noch etwas Blut. Wie sinnlos das alles ist, sagte er zu Pareigat, wie sinnlos das ist. Aber Pareigat konnte das nicht finden. So schwieg er und ging, als alles nötige erledigt war, ohne Brodermann zu begrüßen aus dem Zimmer. Im Vorraum standen einige Schupobeamte und einer erzählte seinen Kameraden, wie sich alles zugetragen hatte. Da habe ich von meiner Schusswaffe Gebrauch gemacht, sagte er und fügte hinzu: So stand er da, und er sagte, er selber ostpreußischer Bauernstämmling, wie ein Pauer stand er da, wie ein tummer Pauer.

*

Meldung des Berliner Tageblattes:

Wie wir erfahren, handelt es sich bei dem anläßlich der Unruhen in der Kleiststraße ums Leben Gekommenen um den bekannten, früher rechtsradikalen Bauernagitator Hans K. A. Iversen. Im großen Bombenlegerprozeß in Altona trotz seiner mehr als merkwürdigen Rolle freigesprochen, schien sich Iversen bald demokratischen Gedankengängen hinzuneigen. Er sollte sogar zum Katholizismus übergetreten sein, bis er sich ganz überraschend zum Kommunismus bekannte. Da er bei den Zusammenstössen der kommunistischen Demonstranten mit der Polizei als Haupträdelsführer Polizeibeamte tätlich angriff, traf ihn in Aasübung des Notwehrrechtes die tödliche Kugel. Das Ende eines politischen Romantikers!


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