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Die Wolga entspringt in Europa


Curzio Malaparte

Curzio Malaparte

Nur wenige Werke der Weltliteratur haben nach dem zweiten Weltkrieg solches Aufsehen erregt wie Malapartes »Die Haut« und »Kaputt.« Wegen seiner politischen und literarischen Abenteuer wurde Malaparte zwischen den beiden Weltkriegen von den faschistischen Machthabern aufs heftigste kritisiert und angegriffen. Wiederholt mußte er ins Gefängnis. Auch im zweiten Weltkrieg, den er zum Teil als Frontberichterstatter der Mailänder Zeitung »Corriere della Sera« mitmachte, wurde er erneut gemaßregelt.

Curzio Malaparte (1898—1957) zählt zu den meistdiskutierten Schriftstellern der zeitgenössischen italienischen Literatur. Er verfügte über brillante stilistische Fähigkeiten, die sich in einem Werk niederschlugen, das ein Gemälde der sittlich erkrankten Gesellschaft des alten Europas ist.

Bisher erschienen in deutscher Sprache im Stahlberg Verlag: Die Haut / Kaputt / Blut / Der Zerfall / Verdammte Toskaner / Verflixte Italiener/ In Rußland und in China.

»Die Wolga entspringt in Europa« enthält die ungekürzten Augenzeugenberichte Malapartes von der Ukrainefront und der Belagerung Leningrads. Über das rein kriegerische Erlebnis hinaus tritt die gesellschaftlich-soziologische Betrachtung in den Vordergrund: die Konfrontation zweier technisierter Arbeiterheere. Tag für Tag schrieb er seine Berichte unmittelbar nach Marsch, Kampf und Beobachtung nieder, für ein Publikum, das begierig war, Nachrichten von der Front zu bekommen. Zum erstenmal liegt der vollständige Text vor; Teile, die von der faschistischen Zensur gestrichen waren, wurden in die Buchausgabe wieder aufgenommen. Dies Buch ist ein Dokument jener Zeit, und es wird auf jeden, ob er als Soldat im Kriege war oder nicht, den tiefsten Eindruck machen.

Der rote Krieg

Jassy, 22. Juni 1941

Der Krieg gegen Sowjetrußland hat heute in der Morgendämmerung begonnen. Seit zwei Monaten hatte ich keinen Kanonendonner mehr gehört; zuletzt im April, unter den Mauern Belgrads. Vor den endlosen Korn- und Getreideflächen, vor den riesigen Sonnenblumenwäldern erlebe ich nun abermals den Krieg in der Präzision seiner metallenen Ordnung, im stählernen Leuchten seiner Maschinen, im ununterbrochenen, gleichmäßigen Dröhnen seiner tausend Motoren (Honegger, Hindemith). Der Geruch von Benzin überwältigt wiederum den Geruch von Mensch und Pferd. Als ich gestern in nordwestlicher Richtung den Pruth entlangfuhr, längs der sowjetischen Grenze von Galatz nach Jassy, begegnete ich an den Straßenkreuzungen wieder den unerschütterlich ruhigen, ernsten Feldgendarmen, mit ihrem Blechschild vor der Brust, die weiß-rote Befehlsscheibe in der Hand. »Halt!« Zwei Stunden lang stand ich an einer Straßenkreuzung, um eine deutsche Wagenkolonne vorbeifahren zu lassen. Es war eine motorisierte Division, der eine Abteilung schwere Panzer vorausfuhr. Sie kamen aus Griechenland. Sie waren durch Attika, Böotien, Thessalien, Mazedonien, durch Bulgarien und Rumänien gerollt. Von der dorischen Säulenhalle des Parthenon zur stählernen Säulenhalle des Piatiletka. Die Soldaten hockten auf den quergelegten Sitzbrettern der offenen Lastwagen, ganz mit einer weißen Staubschicht bedeckt. Auf den Kühler jedes Fahrzeugs war mit weißem Lack ein griechischer Tempel gemalt, ein kindliches Säulengebilde mit Gebälk, in "Weiß auf dem schmutzig-grauen Metall der Motorhaube. Unter der Staubmaske ahnte man von der Sonne geschwärzte, vom griechischen Wind verbrannte Gesichter. Die Soldaten hockten auf den Bänken in seltsamer Reglosigkeit, sie wirkten wie Statuen. Wie aus Marmor, so weiß von Staub waren sie.

Einer von ihnen hielt auf geballter Hand eine Eule, eine lebendige Eule. Es war zweifellos eine Eule von der Akropolis, eine jener Eulen, die des Nachts zwischen den Marmortrommeln und -quadern des Parthenon krächzen, einer der heiligen Vögel der eulenäugigen Pallas Athene, der glaukôpis Athéne. Sie schlug mit den Flügeln, um sich vom Staub zu befreien; und durch die undeutlich weiße Staubwolke schimmerten wunderschön ihre klaren Augen. Und in diesen Augen lag ein geheimnisvoller und uralter Blick, voll jener uralten und geheimnisvollen Empfindung des Unerbittlichen. Graue Stahlmaschinen dröhnen hinter den Weidenhecken, längs der Ufer des Pruth. Aus den Auspuffrohren der Panzer lecken Zungen blauen Rauchs; in der herben Luft vermischt sich blauschwarzer Dunst mit dem feuchten Grün des Grases und dem goldenen Widerglanz der Kornfelder. Unter den pfeifenden Bogen der Stukas erscheinen die kriechenden Panzerkolonnen wie dünne Bleistiftstriche auf der endlosen grünen Wandtafel der Moldau-Ebene.

Am rechten Ufer des Pruth, 23. Juni

Die Nacht verbrachte ich in einem Dorf auf dem rechten Pruth-Ufer. Durch das wütende Knattern des Regens und den Lärm der entfesselten Elemente hörte man, vom Horizont her, von Zeit zu Zeit Kanonendonner. Dann wälzte sich dichtes, düsteres Schweigen über die Ebene. In der von Blitzen durchbrochenen Dunkelheit rollen auf der Straße, die das Dorf durchzieht, lange Fahrkolonnen, Infanteriebataillone, mächtige Raupenschlepper mit Geschützen. Das Rattern der Motoren, das Hufegeklapper der Pferde, die heiseren Stimmen erfüllten die Nacht mit jener spannungsvollen Unruhe, in der die tastende Bereitschaft nahe der Hauptkampflinie besteht.

Die zögernde Morgendämmerung weckte die ferne Stimme der Kanonen zu neuem Leben. In dem schmierigen, stumpfen Nebel, der an den Ästen der Bäume hängt wie wassergetränkte Wollstränge, geht langsam die Sonne auf, gelb und schwammig wie Eidotter.

»Inainte, inainte, bajetzi! Sa mergem, sa mergem!« Die Soldaten, auf den Karren stehend, lassen die Peitschen knallen, schlagen auf die dampfenden Pferdeleiber ein. »Inainte, inainte, bajetzi!« Vorwärts, Kinder, vorwärts! Die Räder kreischen, sinken bis an die Achsen in den Schlamm. Über alle Straßen längs des Pruth kriechen die endlosen Kolonnen der rumänischen Militärkarren, bespannt mit zwei schmächtigen langhaarigen Pferdchen; sie gleichen den »carutze«, den Leiterwagen der rumänischen Bauern. »Sa mergem! Sa mergem!« Deutsche Lastwagenkolonnen rattern dröhnend an diesen trägen Strömen von Pferdekarren entlang, die Fahrer beugen sich schimpfend aus den Kabinen: »Weg! Weg!« Karren holpern in die Straßengräben, Pferde stapfen platschend in den tiefen Schlamm, die rumänischen Soldaten brüllen, fluchen, lachen, knallen mit den Peitschen, peitschen den schweißbedeckten Rücken der mageren, zottigen Pferdchen. Der Himmel ist in Streifen gesägt von metallenen Flügeln, das pausenlose Vorbeirasen der deutschen Flugzeuge gräbt Furchen in den Himmel wie der Diamant ins Glas. Das Brummen der Motoren sinkt auf die Ebene herab wie rauschender Regen.

Bei Hussi, 25. Juni 1941

Bisher ist in diesen ersten Tagen des Kampfes die Rote Armee noch nicht in Erscheinung getreten. Die Massen ihrer Panzer, die motorisierten Einheiten, die Sturm-Divisionen, die technischen Spezialisten-Abteilungen (die auch im Heer, wie in der Industrie, als »Stachanowzi« und »Udarniki« bezeichnet werden) haben noch nicht in den Kampf eingegriffen. Was uns gegenübersteht, sind Deckungseinheiten; zahlenmäßig sind sie schwach, doch machen sie diesen Mangel durch schnelle Beweglichkeit und Ausdauer wett. Denn die Sowjetsoldaten schlagen sich. Der Rückzug der roten Truppen aus Bessarabien hat nicht im entferntesten den Charakter einer Flucht. Es ist ein schrittweises Zurückgehen der Nachhut-Abteilungen: Maschinengewehr-Einheiten, Kavallerieschwadronen, spezialisierte Pioniertruppen. Es ist ein methodischer Rückzug nach wohlvorbereitetem Plan. Nur an ein paar Stellen, wo die Spuren des Kampfes deutlich sichtbar sind – verbrannte Dörfer, Pferdekadaver in den Straßengräben, ausgebrannte Fahrzeuge, ein paar Tote hier und dort, doch wenige, eigentümlich wenige, wie wenn die Sowjettruppen Befehl hätten, ihre Gefallenen mit zurückzutransportieren –, nur an einigen Stellen beobachtet man Anzeichen eines nichtgeplanten Abzugs, bemerkt man Einzelheiten, die auf Überraschung hinweisen. Wenn auch deutlich ist, daß die Russen vom Kriege nicht überrascht wurden, wenigstens militärisch nicht. Doch darf man nicht vorschnell urteilen; die Physiognomie dieser wenigen Kampftage erlaubt noch keine gültigen Schlüsse. Die Kämpfe, die bisher von den deutschen und rumänischen Truppen zu bestehen waren, sind Nachhutgefechte. Das Gros des russischen Heeres an der Ukraine-Front wird wahrscheinlich erst an der Widerstandslinie längs des Dnjepr eingesetzt werden. Es wird versuchen, den deutschen Vormarsch zu verlangsamen, und sich ans Dnjestr-Ufer stützen, aber der wahre und eigentliche Kampf wird erst an der Dnjepr-Linie beginnen.

Bei Stefanesti, 27. Juni 1941

Heute begegnete ich einem Trupp sowjetischer Gefangener. Sie kletterten von einem Lastwagen, vor dem Gefechtsstand eines deutschen Stabes. Es waren kräftige, großgewachsene junge Leute, mit glattrasiertem Kopf, mit Lederkasaks bekleidet. Sie sahen mehr wie Mechaniker aus als wie Soldaten. Ich näherte mich dem jüngsten von ihnen und stellte ihm ein paar Fragen, in russisch. Er blickte mich an ohne zu antworten. Ich wiederholte die Frage, er sah mich an, mit kaltem und düsterem Blick. Schließlich sagte er mit leichter Gereiztheit in der Stimme: »Nje magu«, ich kann nicht. Ich bot ihm eine Zigarette an, er nahm sie gleichgültig. Nach zwei oder drei Zügen warf er die Zigarette zu Boden, und wie zur Entschuldigung für seine unhöfliche Geste, wie um sich zu rechtfertigen, wandte er mir ein so seltsames Lächeln zu, so voll Demütigung, daß es mir lieber gewesen wäre, er hätte mich mit Haß angestarrt.

Arbeiter-Soldaten

Am linken Ufer des Pruth, 29. Juni

In diesem unendlichen grünen Raum ringsum hat man den Eindruck, nichts mehr zu atmen, was nach Menschen riecht. Nur Leichengestank, hier und dort, in der Nähe von Dörfern, von Löchern und von Gräben, wo sowjetische Soldaten bis zum letzten Widerstand leisteten; und es ist fast wie ein lebender Geruch, wie der Geruch von etwas Lebendigem. Die ganze Nacht hindurch hat der finstere, drückende, rauhe Himmel, ein Himmel von Gußeisen, auf der Ebene gelastet wie der Eisenhammer eines Hüttenwerks. Beim Morgengrauen ist am Rande des Sumpfes, mitten im Wald, das deutsche Lager zum Leben erwacht, mit den Geräuschen und dem Lärmen einer Fabrik. Es ist nicht eigentlich das, was man ein Lager nennt: es ist ein Biwak von Maschinen, die im Viereck in einer Waldlichtung aufgestellt sind, in der Nähe der Straße; einige zwanzig Lastkraftwagen und vier schwere Panzer. Unmittelbar nach dem Wecken machten sich die deutschen Soldaten an ihren Motoren zu schaffen, mit Zangen, Winden, Schraubenziehern, Schlüsseln, Hämmern. Das Niesen der Vergaser übertönt das Wiehern der Pferde einer Schwadron rumänischer Lanzenreiter, die in der Nähe des deutschen Biwaks die Nacht verbrachte. Durch das Wiehern hindurch dringt fröhlicher Stimmenlärm: es sind die deutschen Soldaten, die sich waschen, einander mit Wasser bespritzen und längs des Ufers spielend sich jagen. Weiter drüben sind die Pferde der Rumänen bei der Tränke und schleudern mit ihren ungeduldigen Hufen den Schlamm umher. Im rumänischen Lagerplatz haben die Soldaten Feuer angezündet und kochen den Kaffee. Ein deutscher Unteroffizier, mit einem Tarnnetz, das ihm bis an die Knie hinabfällt, wandelt gesenkten Kopfes durchs Gras, der Straße zu, vielleicht sucht er etwas. Auch die Panzer und die Lastwagen sind unter großen Netzen getarnt. Äste und Zweige sind über die Stapel der Kisten und Benzinfässer dicht neben dem Lagerplatz gebreitet. In ihrer schwarzen Kleidung, die weite Baskenmütze schief über dem Ohr – an der Mütze eine Stahlplatte mit Totenkopf –, so bewegen sich die deutschen Panzerschützen um ihre Fahrzeuge her, bücken sich, um die Ketten zu prüfen, klopfen mit schweren Hämmern gegen die Räder, genau wie Eisenbahner, um die Bremsen zu untersuchen. Andere steigen auf die Fahrzeuge, heben den Deckel der Turmluke, verschwinden und tauchen wieder auf aus dem Bauch ihrer Panzerwagen. Eine fahrbare Schmiede ist unter einem großen Baum montiert worden. Ein Soldat dreht die Kurbel des Blasebalgs. Ein anderer schlägt mit dem Hammer auf den Amboß. Die einen zerlegen einen Motor, andere prüfen mit dem Manometer den Reifendruck ihrer Fahrzeuge. Ein Geruch nach verbranntem öl, nach Kohlensäure, nach Benzin, nach glühendem Eisen schafft mitten im Gehölz die unverwechselbare Atmosphäre eines Fabrikhofs. Das ist der Geruch des modernen Krieges, genau dieses ist der Geruch des motorisierten Krieges. Man muß sich hundert Schritt weit entfernen, um den kräftigen Geruch von Pferdeurin und Menschenschweiß wahrzunehmen. Im Grase hockend, vor ihren Zelten, putzen die rumänischen Soldaten ihre Karabiner, unterhalten sich laut und lachen. Alles junge Leute. Lauter Bauern. Es genügt sie sprechen zu hören, es genügt zuzusehen, wie sie gestikulieren, wie sie sich bewegen, wie sie gehen, es genügt zu sehen, wie sie das Gewehr in der Hand halten, wie sie den Verschluß herausnehmen, wie sie durch den Lauf schauen, um zu begreifen, daß es sich um Bauern handelt.

Ihre Offiziere, ein Hauptmann und zwei andere, gehen am Ufer des Weihers auf und ab und schlagen sich mit der Reitpeitsche gegen den Stiefelschaft. Am oberen Stiefelrand, unterhalb des Knies, ist eine goldene Rosette eingeprägt, das Abzeichen der Kavallerie. Eine Gruppe junger Bauernmädchen hat sich dem Lagerplatz genähert, sie bieten Kirschen und Erdbeeren an, Teller gehäuft voll jener Art Joghurt, die sie »Lapte batut« nennen. Vom Himmel tropft das lange, aufdringliche Brummen von Insekten. Die Soldaten schauen nach oben. Drei sowjetische Flugzeuge in großer Höhe. Sie fliegen in Richtung Hussi. Nachts schlafen die russischen Flugzeuge. Sie erheben sich bei Morgengrauen, kreisen den ganzen Morgen über den Himmel, dann, gegen Mittag, verschwinden sie. Sie kommen bei Sonnenuntergang zurück. Ziehen vorüber und werfen ihre Bomben auf Jassy, auf Galatz, auf Braila, auf Tulcea, auf Bukarest. Auch die Deutschen schauen nach oben. Schweigend beobachten sie die feindlichen Maschinen. Dann nehmen sie ihre Arbeit wieder auf.

Ich sehe ihnen zu, wie sie arbeiten, ich sehe, wie sie die Hände bewegen, wie sie die einzelnen Gegenstände anfassen, wie sie sich über ihre Werkzeuge bücken. Es sind die gleichen Soldaten, die ich auf den Straßen des Banat, vor Belgrad habe »arbeiten« sehen. Die gleichen kühlen und aufmerksamen Gesichter, die gleichen ruhigen, langsamen, präzisen Bewegungen, der gleiche sachliche Ernst, der gleiche Abstand von allem, was nicht zu ihrer Arbeit gehört. Ich bedenke, ob es wohl eben der technische Charakter dieses Krieges ist, der den Kämpfenden seinen Stil auferlegt. Sie sehen nicht aus wie Soldaten, die zum Kampf gehen, sondern wie Arbeiter, die an einer komplizierten und empfindlichen Maschine beschäftigt sind. Sie beugen sich über das Maschinengewehr, sie drücken den Abzug, sie handhaben den blinkenden Verschluß eines Geschützes, sie bedienen den Doppelgriff einer Flakwaffe, mit der gleichen einfühlsamen Kraft, ich möchte sagen mit der gleichen brutalen Zartheit, mit der sie die Mutter einer Schraube anziehen, mit der sie mit der flachen Hand oder nur zwei Fingern die zitternde Bewegung eines Zylinders, das Spiel eines Bolzens, das Atmen eines Ventils kontrollieren. Sie klettern auf die Kuppel ihrer Panzer, als sei es die eiserne Leiter einer Turbine, eines Dynamos, eines Dampfkessels. Ja wirklich, sie scheinen eher Arbeiter bei ihrer Arbeit zu sein als Soldaten im Krieg.

Ihre Art sich zu bewegen, zu sprechen, zu gehen, ist die von Arbeitern, nicht die von Soldaten. Die Verwundeten haben jenen festen, ein wenig aufgebrachten Gesichtsausdruck von Arbeitern, die bei einem Unglücksfall verletzt wurden. In ihrer Disziplin liegt die gleiche Ungezwungenheit, das gleiche sachlich einfache Betragen wie bei Arbeitern ein und derselben Belegschaft. Ihr Korpsgeist ist ein »Mannschaftsgeist« und zugleich ein Spezialistengeist. Sie sind mit ihrer Einheit verbunden wie Arbeiter mit einer Maschine; wie Elektriker mit ihrem Dynamo, wie Mechaniker mit ihrer Presse, ihrem Dampfkessel, ihrem Walzwerk. Die Offiziere sind ihre Ingenieure; die Unteroffiziere sind ihre Vorarbeiter, ihre Werkmeister. In dieser kleinen Panzerkolonne hier gibt es nicht einmal einen Offizier, diese Panzereinheit wird von einem Feldwebel geführt. Ein Unteroffizier führt die zwanzig Lastwagen. Sie sind alle Facharbeiter. Ich will damit sagen: sie haben alle Erfahrung in ihrem Handwerk, sie wissen alle, was sie zu tun haben, wohin sie zu fahren haben, wie sie sich bei diesem und jenem Umstand zu verhalten haben.

Jetzt ist die Kolonne bereit zum Aufbruch. Die Mechaniker haben die Tanks aufgefüllt, drei Panzer haben sich an die Spitze gesetzt, einer an den Schluß. Die Motoren brummen leise, ganz wenig. Der Kradmelder ist noch nicht zurück. Der Feldwebel befiehlt, die Motoren abzustellen. Alle setzen sich ins Gras, machen sich an ihr Frühstück. Die Sonne ist soeben aufgegangen, der Wald tönt wunderbar vom Gesang der Vögel, das Laub der Bäume färbt sich rot, das Wasser des Weihers wird nach und nach grün. Die Baumstämme leuchten, sie sehen aus wie frisch gefirnißt. Die Soldaten fordern mich auf, mit ihnen zu essen, ich setze mich ins Gras, der Unteroffizier drückt aus einer Blechtube (die aussieht wie Zahnpasta) ein wenig Käse auf eine Scheibe Schwarzbrot, streicht ihn mit einem Messer breit. Wir essen miteinander. Ich habe in meinem Wagen noch eine Flasche »Zuika«, ein aus Pflaumen bereiteter rumänischer Schnaps. »Wollt ihr einen Schluck Zuika?« Die Soldaten essen und trinken, sprechen und lachen, und plötzlich bemerke ich, daß mitten unter ihnen ein blonder junger Mann sitzt, der gar nicht dazugehört, ein blonder Junge mit glattrasiertem Schädel, in khakifarbener Uniform. Ein Gefangener. Bestimmt ein Arbeiter. Er hat harte, kräftige Kinnladen, dicke Lippen, vorspringende Augenbrauen, sein Gesichtsausdruck ist zielbewußt und geistesabwesend zugleich. Aus einigen Kleinigkeiten entnehme ich, daß die Soldaten ihn mit einem leichten Anflug von Respekt behandeln: er ist Offizier. Ich spreche ihn russisch an. Nein danke, er hat keinen Hunger. Doch, einen Schluck Zuika nimmt er gern. »Oh, Sie können russisch?« fragt mich der Feldwebel. »Der Kerl spricht kein Wort deutsch. Wir können uns nicht mit ihm verständigen.« Ich frage, wie sie ihn gefangen haben. Gestern abend, mitten auf der Straße. Er ging mitten auf der Straße, in aller Seelenruhe. Sobald er die Panzer herankommen sah, machte er eine Geste wie um zu sagen: »Es ist nutzlos.« Als Waffe hatte er nur eine Pistole. Keinen Schuß Munition mehr. Während ich mich mühsam mit dem Unteroffizier verständige, sieht der Gefangene mich aufmerksam an, als wolle er erraten, was wir sprechen. Plötzlich streckt er die Hand aus und berührt meinen Arm: »Wir haben alles getan, was möglich war«, sagt er. »Meine Leute haben gekämpft. Wir waren schließlich nur noch zu zweit«, fügt er hinzu, die Zigarette wegwerfend. »Der andere ist unterwegs gefallen.« Ich frage ihn, ob der andere ein Soldat war. »Ja, es war ein Soldat«, antwortet er mit einem überraschten Blick. »Er war ein Soldat«, wiederholt er dann, als begriffe er erst jetzt den Sinn meiner Frage.

Wir unterhalten uns, ich spreche langsam, meine russischen Worte zusammensuchend, und der Gefangene antwortet mir gleichfalls bedächtig, so als suche auch er die Worte, doch aus einem anderen Grund. Seine Augen drücken Mißtrauen aus, man möchte sagen, daß er sich selbst mißtraut, nicht nur mir. Ich frage ihn abermals, ob er etwas essen will. Er lächelt, er sagt: »Ja, gerne. Seit gestern morgen habe ich nichts gegessen.« Der Unteroffizier bietet ihm ein Stück Wurst an, zwischen zwei dicken Scheiben Brot. »Spassibo«, danke schön, sagt der Gefangene. Er macht sich gierig ans Essen, seine Augen starren auf die Kette eines der Panzer. Der Feldwebel, der den Zug führt, folgt dem Blick des Gefangenen, dann lächelt er, sagt »ach!«, erhebt sich, holt aus einer Werkzeugtasche einen englischen Schlüssel, beugt sich über die Raupenkette, zieht eine Schraube fest, und alle Soldaten lachen, auch der Gefangene lacht. Er ist etwas verlegen, als habe er etwas getan, was er nicht sollte, als habe er eine Indiskretion begangen, es tut ihm leid, daß er die lockere Schraube bemerkt hat. »Danke«, ruft ihm der Feldwebel zu. Der Gefangene errötet, er lacht ebenfalls. Ich frage ihn, ob er Berufsoffizier ist. Er bejaht. Dann erzählt er weiter, daß er erst vor zwei Jahren ins Heer eingetreten ist. »Und früher?« frage ich ihn. Früher hat er in einer Maschinenfabrik in Charkow in der Ukraine gearbeitet.

Er war Stachanow-Arbeiter, ein Udarnik, das heißt er gehörte einer »Sturmbrigade der Arbeit« an. Zur Belohnung ließ man ihn eine Offizier-Schule besuchen. Die motorisierten Einheiten des russischen Heeres stecken voller Stachanow-Arbeiter aus der Schwerindustrie. »Es ist eine Sünde«, sagt der Gefangene, »daß man die Industrie ihrer besten Elemente beraubt.« Er schüttelt den Kopf, er spricht langsam, mit einem kaum merklichen Unterton von müder Langeweile. Er spricht, als sei er jetzt von allem losgelöst. Ich vermag mir keine Vorstellung von dem zu machen, was er denkt, was er in diesem Augenblick fühlt.

Während unserer Unterhaltung kommt der Meldefahrer zurück. »Los, wir fahren«, sagt der Feldwebel. Der Gefangene steht auf, er fährt sich mit der Hand über den glattrasierten Kopf, betrachtet mit großem Interesse die Panzer, die Lastwagen. Doch, jetzt verstehe ich ihn. Alles andere berührt ihn nicht mehr, was ihn interessiert ist nur die Maschine. Aufmerksam betrachtet er die Ketten, die geöffneten Turmluken, die Maschinengewehre zur Fliegerabwehr, die auf den Lastwagen montiert sind, die Panzerabwehrgeschütze hinter den Fahrzeugen. Er ist nicht mehr Offizier, er ist Arbeiter. Die Maschinen ... anderes interessiert ihn nicht. »Wir fahren«, sagt der Unteroffizier. Ich frage ihn, was sie mit dem Gefangenen machen werden. »Wir übergeben ihn dem ersten Feldgendarmerie-Posten, den wir treffen«, antwortet er. »Auf Wiedersehen«, sage ich zu dem Gefangenen. Er erwidert »dosvidanja«, dann streckt er den Arm aus, wir schütteln uns die Hände, er klettert auf eins der Fahrzeuge, die Kolonne setzt sich in Bewegung, erreicht die Straße, entfernt sich ratternd, verschwindet.

Die Pferde der rumänischen Schwadron wiehern, schlagen ungeduldig mit den Hufen aus, leuchtend grünes Gras von sich schleudernd. Auf ein Kommando der Offiziere sitzen die Soldaten auf. Die Schwadron reitet davon, im Schritt. »La revedere«, rufe ich. »La revedere«, antworten mir die Soldaten. Die Geschütze rufen, rufen mit tiefer Stimme, dort drüben, am nicht zu fernen Horizont.


Curzio Malaparte | Die Wolga entspringt in Europa


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