Theodor Kröger
Vier Jahre Sibirien
Ein Buch der Kameradschaft
VORWORT
An der nördlichsten Grenze Rußlands schlug ein Fangeisen um mein Bein zusammen, und ein Kolbenschlag brach den Rest meiner Auflehnung.
Vier Jahre später sah ich meine Heimat dennoch wieder – wenn auch als anderer Mensch.
Diese Spanne von vier Jahren, die Freunde und Kameraden, mit denen ich als Gefangener in Tief-Sibirien das gleiche Los jahrelang teilte, habe ich so zu schildern versucht, wie diese Gefühle und Bilder in mir heute noch unverwischbar weiterleben.
Sibirien . . .
Es ist der Begriff einer kaum zu fassenden Schicksalsschwere, und in seiner gesamten Wucht und Fügung steht er heute aktueller denn je vor uns.
Es gibt kein Land, das noch weitere Höhen und abgründigere Tiefen der Menschenseele kennt. Das Ewige der unverständlichen Weisheit gestaltet dort auch die Natur uferlos, schrankenlos im Schenken wie im Morden, ob im verzauberten Licht der Glut „Weißer Nächte“ oder in der ausweglosen Finsternis reißender Schneestürme.
Die verflossenen dreißig Jahre haben zwar das Gesicht und den Pulsschlag der riesigen Städte verändert, jedoch das unhörbare Verwehen der Zeit und aller Menschen in der Melancholie der Landschaft unberührt gelassen.
Im Herbst 1949
Der Verfasser
ERSTER TEIL
IN KETTEN
Schlüsselburg
Der Gashebel des Sportwagens kann sich nicht mehr tiefer In den Leib des Motors bohren. Der Wagen rast mit der ganzen Wildheit, die ihm ein Mensch durch seine Willenskraft zu geben vermag. Der Kilometerzähler schwankt kaum merkbar, er zeigt die Höchstleistung des fiebernden Materials.
Aufbäumende Pferde, fluchende, schreiende Menschen, in rasender Eile huschende Telegrafenstangen, Bäume, Häuser, Wiesen und Wälder. Eine lange Staubwolke hinter sich, frißt der Wagen die Kilometer in sich hinein.
Nichts kann das mörderische Tempo des Wagens aufhalten, weder Kurven noch schlechtes Pflaster.
Der Leibhaftige fährt in die Hölle!
Zusammengeduckt, von Zeit zu Zeit mit einem prüfenden Mick auf die Zeiger der Uhren am Armaturenbrett, so will ich mit Gewalt meinem Schicksal entrinnen.
Die Hand am Steuer zittert nicht.
Da ... endlich ... ein Schlagbaum quer über der Straße ... die bekannten weiß-blau-roten Grenzfarben ... die finnisch-russische Grenze bei Bjeloostrow ...
Winkende, fluchende, schreiende, schießende Soldaten. Brutal fährt der Wagen zwischen die Menschen, gegen den Schlagbaum, zerschmettert ihn. Hastige Griffe am Steuer, aufwirbelnder dicker Staub ... bange Bruchteile von Sekunden ... vor mir liegt wieder die Landstraße.
Wie ein Schwärm summender Fliegen huschen Kugeln vorbei ... ein neuer Schwärm ... wieder einer ...
Der Motor rast!
Zusammengekauert kann ich die Straße kaum sehen, mein Blick huscht über den Wagen. Der Kühler ist an den Motorblock herangedrückt, die Laternen sind herausgerissen, die Kotflügel und ein Teil der Karosserie fehlen. Gespannt blicke ich nach der Benzinuhr: Der Zeiger! Er fällt langsam. Der Tank ist getroffen! ... Durchlöchert!
Aber noch fährt der Wagen. Ich kenne die Gegend genau, Wegkreuzungen machen mich nicht irre. Ich fahre durch die finnischen Wälder. .. Endlich tauchen einige Hütten auf. Roh stoppe ich den Wagen vor dem Bahnhof Uusikirkko. Drei gleichmäßige Klingelzeichen, begleitet von der Trillerpfeife des Zugführers, gedehntes Tuten der kleinen Lokomotive. Mit einem Satz springe ich aus dem Wagen, greife nach meinem kleinen Lederkoffer, laufe dem Zug nach und schwinge mich auf das Trittbrett des letzten Wagens.
Noch ein Blick auf mein Auto – und den rollenden Zug umgibt der düstere Wald Finnlands.
In Tornea-Haparanda, dem Grenzstädtchen zwischen Finnland und Schweden, verbringe ich den ganzen Tag unsichtbar in einem Hotelzimmer. Es ist der 10. August 1914.
Nach einem ausgiebigen Abendbrot lege ich mich hin. Ich versuche mich zu sammeln, aber eine nie gekannte Spannung hat sich meiner bemächtigt. Mit Unruhe stelle ich immer wieder fest, als wüßte ich es nicht schon lange, wie hell die Nächte im Norden sind, wie wenig geeignet zur Flucht. Alles im Zimmer beunruhigt mich. Ich lege Geld auf den Tisch, verlasse das kleine Hotel und erreiche endlich den langersehnten Wald; dort verkrieche ich mich im Gebüsch. Immer und immer wieder sehe ich nach der Uhr; aber es scheint nicht mehr dunkler werden zu wollen. Ich kenne den Verlauf der Grenze genau. Mit allergrößter Vorsicht arbeite ich mich jetzt durch den Wald nach der Grenze zu. Endlich bin ich am Waldrande angelangt.
Alles scheint ruhig zu sein, nichts bewegt sich. Einige Grillen zirpen im Grase. Dann und wann hört man ein verschlafenes Zwitschern kleiner Waldvögel; zart schwingen die Töne dahin. Über der Landschaft liegt ein hauchdünner Nebelstreifen. Weit in der Ferne, zwischen den kaum leuchtenden Birkenstämmen, glauben meine Augen die weißen Steine Schwedens – die Freiheit zu erspähen. Es waren Trugbilder ...
Noch einmal blicke ich nach allen Seiten. Richte mich auf, hole tief Atem, renne los!
Noch nie bin ich auf einem Sportplatz derart gelaufen.
Ich bin kaum hundert Meter weit gekommen, da höre ich hinter mir wüstes Gebrüll. „Halt... halt... halt!“ Es lallen einige unregelmäßige Schüsse, Kugeln summen an mir vorbei. Ich renne, renne mit allen Kräften weiter und frohlocke schon, denn mit absoluter Sicherheit kann ich annehmen, daß die Posten keine so zähe Ausdauer im Laufen haben werden wie ich mit meinem jungen, durchtrainierten Körper.
Der Boden wird uneben, ich überspringe einige Löcher, stolpere, falle, raffe mich auf, laufe weiter...
Plötzlich ein wahnsinniger Schmerz, und ich schlage zu Boden ... Mein Fuß ist schwer wie ein ungeheures Bleigewicht ... Ich bin in ein Fangeisen geraten!
Unter Anstrengungen versuche ich das verfluchte Eisen auseinanderzuspreizen, doch es gelingt mir nicht. Ich beiße die Zähne zusammen, raffe mich wieder auf, humple einige Schritte weiter. Schon laufen die ersten Posten auf mich zu. |i i/t sind sie da. Welch ein Glück – sie sind ohne Waffen! Kräftige Hiebe, Blut spritzt mir ins Gesicht, die Soldaten lallen zu Boden. Die Schmerzen vergessend, humple ich weiter, immer weiter, so schnell es geht, ich habe nicht mehr weit.
Schon kommt der Nachschub! Ausgeschwärmt kreisen sie mich ein. Wie junge, unbeholfene Bären stürzen sie sich auf mich. Meine ganze Boxkunst, langjähriges Training im Jiu-Jitsu versagten; die Männer hängen mir an Beinen und Armen. Fast einen ganzen Kopf größer als meine Feinde, spähe ich noch einmal zur Grenze, zur Freiheit hinüber. Ich schüttle noch einmal die Menschenleiber von mir, sie sind durch das ungewohnte Laufen sichtlich erschöpft, meine Fausthiebe und Abwehrgriffe bringen wieder einige zu Fall, ich sehe unbewaffnete, fuchtelnde Hände, dann ... einen Gewehrkolben ...
Dumpfer, lähmender Schmerz am Hinterkopf ...
Ich verliere die Besinnung ...
In einem kleinen, hell getünchten Zimmer erwachte ich ml einer Pritsche, an Armen und Beinen gefesselt. Mein Kopf war bleischwer, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen; es schien mir, als sei ich immer noch vom Nebel umgeben, und in der Ferne glaubte ich irgendwo die weißen Grenzsteine zu sehen. Im Zimmer saßen auf einer Bank zwei schwerbewaffnete Posten, die abwechselnd versuchten, sich das Gähnen zu verbeißen. Die Luft roch nach frisch gebackenem Schwarzbrot.
Ich verlor wieder die Besinnung.
Als ich zum zweitenmal wach wurde, waren die gähnenden Posten durch zwei sehr wachsame abgelöst, denn kaum hatte ich die Augen geöffnet, als sie mich von den Stricken befreiten, Wasser zum Waschen brachten und eine unheimliche Portion Buchweizengrütze mit Butter. Mein Hemd hing in blutigen Fetzen, meine Hose war ebenfalls zerrissen, mein Gesicht geschwollen und der ganze Körper wie gemartert.
Mein erster klarer Gedanke war: jetzt bist du ein Todgeweihter! – Eine schwache Hoffnung setzte ich nur noch auf meine Beziehungen zu den höchsten russischen Instanzen, dort hatte ich viele Freunde.
Bajonette vor mir, Bajonette hinter mir, so trete ich in die Schreibstube ein. An der Seite steht ein großer Tisch, bedeckt mit Akten, dahinter zwei liederliche Schreiber, die mich anglotzen. Mit Grandezza betritt ein Oberst, gefolgt von einem halben Dutzend Offizieren, die Stube. Die Schreiber drücken wie auf Kommando ihre Nasen in die Akten, während jetzt die Offiziere mich neugierig mustern und miteinander flüstern. Wieder wird die Tür aufgerissen. Die Offiziere schweigen plötzlich.
Ein kleiner, breitschultriger Herr mit klugen Gesichtszügen und gepflegtem Anzug tritt ein und geht direkt auf mich zu, ohne die Anwesenden zu beachten. Er blickt mir tief und ernst in die Augen. Ich straffe mich vorschriftsmäßig und militärisch, doch er winkt ab.
„Ich weiß, wer Sie sind und wie Sie heißen.“ Der Mann nennt mir in knappen Sätzen die Ereignisse und Etappen meiner Flucht. Ich bestätige die Richtigkeit seiner Angaben.
„Sind die Liebe zu Ihrem deutschen Vaterland und Ihr Pflichtbewußtsein die einzigen Gründe zu Ihrer Flucht gewesen?“
„Ja.“
Der Mann läßt sich meine zerrissenen Sachen vorlegen, untersucht alles genau, sogar die gelben Sommerhalbschuhe werden in kleinste Teile zerlegt.
Es wird nichts gefunden.
„Haben Sie in der deutschen Armee gedient?“ fragt er weiter.
„Ja.“
„Dienstgrad?“
„Leutnant der Reserve.“
„Stehen Sie im deutschen Nachrichtendienst?“
„Nein.“
„Unterhalten Sie Beziehungen zu deutschen Militärpersonen?“
„Ja, es sind meine Verwandten.“
„Stehen diese Personen direkt oder indirekt ständig mit Ihnen in Verbindung? Erhalten Sie öfters von ihnen Nachricht?“
„Nein, ganz selten. Unsere Beziehungen sind rein familiär.“
„Welche Sprachen beherrschen Sie?“
„Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch.“
„Warum wurden Sie kein russischer Staatsbürger? Sie haben gute Beziehungen bis nach Zarskoje Selo [Residenz des Zaren Nikolaus II], und sind doch in Petersburg geboren?“
„Ich hatte keinen Grund und keine Veranlassung, meine deutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben.“
„Wissen Sie, daß Sie unter Mordverdacht stehen?“
„Ich kämpfte um meine Freiheit und bin kein Mörder!“
„Ich habe Sie danach nicht gefragt! Sie haben sich der russischen Staatsgewalt widersetzt! Es ist Krieg, das sagt alles! Wir können mit Ihnen machen, was wir wollen!... Wissen Sie, wie man Sie hinrichten wird? ... Sie stehen murr Spionageverdacht!“
„----------------“
„Hinrichtung durch den Strang ist Ihnen sicher!“
Ich blick dem Mann fest in die Augen.
„Haben Sie was von der Festung Schlüsselburg gehört?
Von den unterirdischen Kasematten? Dort hat mancher sprechen gelernt. Wissen Sie, daß dort in den Dunkelzellen schon mancher wahnsinnig geworden oder durch das steigende Hochwasser ersoffen ist?“
Der Mann sieht mich lange schweigend an. Seine ruhigen Augen suchen in meinem Gesicht, bis sich eine tiefe Furche zwischen seine buschigen Augenbrauen legt.
„Sie haben nur eine einzige Chance, dem Tode zu entrinnen“, die Stimme klingt jetzt gemessen, und doch höre ich einen blechernen Ton heraus. „Unsere Ochrana und unser Spionageabwehrdienst sind so gut durchorganisiert, daß uns nichts entgehen kann. Sie sind lange genug in Rußland gewesen, um es selbst sehr gut beurteilen zu können. Während ich Sie jetzt vernehme und diese unwichtigen Fragen an Sie stelle, wird die Villa Ihres Vaters auf dem Kamennij Ostrow vom Keller bis zum Dachstuhl durchsucht. Das Allerunwichtigste wird genauestens geprüft. Diese einzige Chance also liegt im Geständnis. Sagen Sie jetzt die Wahrheit, so sind Sie gerettet – sonst werden Sie hängen.“
„Ich habe Ihnen nichts zu gestehen.“ „Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde Zeit“, sagt der Mann, als habe er meine Worte überhaupt nicht gehört. „Die Entscheidung liegt bei Ihnen selbst. Denken Sie an Ihre Jugend, Ihre Eltern und Ihre Heimat. Sie haben eine halbe Stunde Zeit! Gehen Sie!“
Ich werde in die Zelle zurückgeführt und bekomme gut und reichlich zu essen; ein Paar alte Schuhe darf ich auch anziehen. Gewohnheitsmäßig blicke ich nach meinem Handgelenk, wo einst die Armbanduhr saß; nur der Riemen ist noch da. Ich schnalle ihn ab, lege ihn auf den Tisch. Neugierig, ohne jede Strenge und Würde, blicken mich die wachthabenden Soldaten an, sie scheinen ihre Gewehre ganz vergessen zu haben. So vergeht die Zeit.
Sie fahren zusammen, als die Tür aufgerissen wird. Man führt mich wieder in die Schreibstube. Als ich eintrete, herrscht unter allen Anwesenden vollkommene Stille. „Die Zeit ist um, Dr.-lng. Theodor Kröger!“ Die Worte scheinen in der Luft zu vibrieren, dann erstarren sie in der nüchternen Schreibstube, wie die Gestalten der Männer um mich.
Mein Blick gleitet über die Schuhe ohne Schnürsenkel, die zerrissenen Hosen, die unförmigen Hemdfetzen, die mit Blut beschmiert sind, über meinen sonnengebräunten, geschwollenen Körper, die vielen kleinen und großen Kratzer, aus denen langsam Blut hervorquillt.
„Heißen Sie so, führen Sie diesen Titel?“
„Ja.“
„Ich habe bereits mit Petersburg telefoniert. Ihr Haus ist durchsucht, das Sie belastende Material ist vorhanden. Also?“
„Ich habe Ihnen nichts zu sagen.“
„Ist das Ihr letztes Wort, Doktor Kröger?!“
„Ja.“
Für kurze Augenblicke liegt die anhaltende Spannung noch über uns. Dann aber klingt abrupt und zornig das Wort des Mannes:
„Abführen!“
Erst im Weggehen höre ich gedämpfte, wie erwachende Stimmen, begleitet von Sporen- und Säbelklirren.
Auf dem Hofe muß ich kurze Zeit warten. Es kommt ein neuer Konvoi von vier Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett und einem Unteroffizier. Es geht durch das kleine Städtchen, vorbei an dem Hotel, wo ich die letzten Stunden verbrachte, zum Bahnhof.
Neugierige rennen zusammen, laufen uns nach. In einem am Zugende angekoppelten Viehwagen verbringen wir drei volle Tage. In langsamem Tempo geht es Petersburg entgegen.
„Finnischer Bahnhof.“ Es ist später Nachmittag. Wir warten die kommende Nacht ab, dann werde ich durch bekannte Straßen über eine Newa-Brücke nach der Peter-Paul-Festung gebracht. Eine kleine Tür im großen Tor öffnet sich, man wechselt einige Worte, und sie fällt hinter uns ins Schloß. Eine dunkle Zelle, ein karges Nachtmahl, ich werfe mich auf die hölzerne Pritsche und versinke in einen bleiernen Schlaf.
Jemand rüttelt mich an den nackten Schultern. Es ist ein Wärter mit einem gutmütigen Bauerngesicht, der mir einen Zettel in die Hände schiebt.
„Gestehe alles, es hat keinen Zweck, zu leugnen! Alles ist verloren! Dein Vater.“
Ich blicke mit klopfendem Herzen um mich, doch die Zelle ist leer.
Das winzig kleine Guckloch in der Tür... Ich starre es scharf an ... Ein Auge, kaum sichtbar, kaum wahrnehmbar, lauert dahinter...
Die Hände auf dem Rücken, gehe ich in der Zelle lange, sehr lange auf und ab. Draußen scheint die Sonne, und ein Hauch des nahen Wassers dringt zu mir herein. Ich gehe auf und ab, immer wieder von der einen Wand zur anderen, dann wieder kreuz und quer.
Durch das Guckloch starrt das Auge - es verfolgt alle meine Schritte.
Langsam öffnet sich die Zellentür. Ein hochgewachsener, ergrauter Herr mit vornehm scharfen und beherrschten Gesichtszügen tritt ein, in der Hand eine Aktentasche.
Er spricht lange, eindringlich, seine Stimme ist wohlklingend, überzeugend, die Ausdrücke sind geschickt gewählt und von fuchsiger Schläue. Er beschreibt mir meisterhaft den tiefbetrübten Vater, die plötzlich todkrank gewordene Mutter, spricht von der Fülle des belastenden Materials, verbürgt sich für ungehinderte Ausreise nach Deutschland, wenn ich ihm die Namen derer sage, die vermutlich ihr Vaterland verraten haben.
Nach einer Weile schweigt er und wartet, daß ich nun anfange zu sprechen, irgend etwas, eine Kleinigkeit, um dann auf ihr all das Gewaltige aufzubauen, um dessentwillen er zu mir gekommen ist. Seine Augen liegen prüfend auf meinen Zügen, sie gleiten an den Fetzen meiner Bekleidung entlang und kehren zum Gesicht zurück. Sorgfältig mustert er seine gepflegten Hände, jeden Finger einzeln, seine Handflächen fahren über das gescheitelte Haar.
Unbeweglich sitze ich auf der Schlafpritsche, unbeweglich verharrt auch der Mann an meiner Seite; um ihn ist das Parfüm eines gepflegten Lebens. „Sehen Sie, Doktor Kröger, es gibt immer zwischen zwei Feinden einen großzügigen und einen niedrigen. Der erste hat alle Vorteile, denn er ist der geistige Sieger. Wollen Sie es nicht sein?“ beginnt der Mann wieder zu sprechen.
Langsam hebe ich den Kopf. Ich bin überrascht: er hat die Worte in akzentloser deutscher Sprache gesprochen. Er spricht von Edelmut, von der Pflicht eines Menschen, diejenigen Elemente zu brandmarken, die einen Krebsschaden für Land und Volk bedeuten, von Offizierspflicht, von Ehrenwort, von Kapitulation vor einem großmütigen Gegner, der seinesgleichen gefunden hat, vom Kampf für das Vaterland, einem Kampf, in dem alle Mittel gleich bewundernswert sind, ob man an der Front oder hinter der feindlichen Front für sein Land steht oder fällt. Der Aufbau seiner psychologischen Offensive ist derart überzeugend, derart richtig und lückenlos, daß ich nicht die geringste Möglichkeit habe, in eine noch so kleine Bresche hineinzuschlagen. „Ich gebe Ihnen sogar eine Möglichkeit, sich selbst zu überzeugen. Ich werde veranlassen, daß Ihr Diener in Ihrer Anwesenheit vernommen wird.“
„Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet“, antworte ich.
Der Mann erhebt sich, geht zur Zellentür, klopft und verschwindet genau so leise, wie er gekommen ist.
Den Zettel mit den Schriftzügen meines Vaters nehme ich nochmals vor. Jeden einzelnen Buchstaben prüfe ich aufs genaueste, jeden Schnörkel, die Punkte, den Ansatz der Lettern. Ich komme wieder zum gleichen Resultat – es ist eine geschickte Fälschung! Es ist eine Fälschung! Oder ist die Handschrift meines Vaters durch die letzten Ereignisse, Einschüchterungen, Zwangsmaßnahmen, Androhungen doch von ihrem gewohnten, ewig gleichbleibenden Bilde abgewichen? Ich habe meinen Vater nie schwach gesehen. Kann seine Hand auch zittern?
Ich erhalte ein gutes Mittagessen, eine Flasche Wein, meinen Lieblingstabak, mit dem ich erfreut meine Pfeife stopfe, eine zuvorkommende Behandlung, eine neue, saubere, sonnige Zelle ...
Gegen Abend wird die Tür geöffnet. Der gutmütige Wärter erscheint, hinter ihm kommt mein Diener; er trägt c-in Tablett mit dem Abendbrot herein, stellt es schweigend auf den Tisch vor mir. Auch der elegante Herr ist zugegen. Der Wächter geht aus der Zelle.
Vor mir steht Achmed, der tatarische Diener. Er hat das Aussehen eines exotischen Grande. Gepflegt wie immer, peinlich gescheiteltes und geschnittenes Haar, guter Zivilanzug, leichter, heller Sommermantel, weiße, makellose Handschuhe. Das runde, bräunliche Antlitz ist frisch rasiert, die schwarzen, etwas geschlitzten Augen scheinen genau so teilnahmlos zu sein wie seine Gesichtszüge.
„Ihr Diener wird Ihnen alles selbst berichten. Ich muß aber gleich ausdrücklich betonen, daß er von keinem beeinflußt worden ist, auch sagt er nicht unter Zwang oder unter Androhung irgendwelcher Gewaltmaßnahmen aus. Ist das wahr?“
„Ja, es ist wahr!“ erwidert der Tatar betont dem Manne.
Ich weiß, daß er lügt!
Achmed stand seit über zwanzig Jahren in unseren Diensten. Als ich, noch als Kind, mit meiner Amme einmal im Sommer in der Krim auf dem kleinen Landgute meines Vaters weilte, flüchtete Achmed zu uns, um Schutz vor seinem russischen Stiefvater zu suchen, der ihn für die kleinste Unart halbtot schlug.
Achmed wurde von seinem Stiefvater an meine Mutter für hundert Rubel quasi verkauft. Er wurde ausgebildet, besuchte eine höhere Schule und wurde dann mein ständiger Begleiter fast auf allen Reisen des In- und Auslandes. Ich kannte seine Ergebenheit und Treue, auf ihn konnte ich mich grenzenlos verlassen.
„Sagen Sie Herrn Kröger unbedingt die volle Wahrheit“, wirft der Mann ein und macht eine einladende Handbewegung.
Meine Augen begegnen denen des Tataren. Sie sind unergründlich schwarz. Alle Geheimnisse seiner Rasse liegen darin.
„Barin (Herr)...“, beginnt der Asiate mit fester, klarer Stimme, „ich schwöre Ihnen bei Gott, die Wahrheit zu sagen, von keinem beeinflußt zu sein...“ Er spricht weiter. Dauernd wird er von dem Manne scharf beobachtet.
In den Schlitzaugen, in den äußersten Winkeln, in den winzigen Fältchen ... dort liegt die Wahrheit, in den kaum wahrnehmbaren Funken, die zu mir in der bekannten, vertrauten Art überspringen.
Achmed ist Vollblutmongole, ein würdiger Nachfolger seines großen Ahnen Dschingis-Khan. Um seine Züge spielt das ewig gleichbleibende, verbindliche Lächeln Asiens – ich weiß Bescheid.
„ ... und diese Nachricht“, unterbreche ich ihn, „stammt sie wahrhaftig von meinem Vater? Hat er das selbst geschrieben?“ Und ich reiche dem Tataren die wenigen Worte auf dem Papier.
„Herr Kommerzienrat haben es in meiner Anwesenheit selbst geschrieben, und ich habe es sofort nach der Festung bringen müssen“, kommt es ohne Bedenken, entschlossen und mit Nachdruck zurück.
Und wieder lächeln nur für mich die Augen des Asiaten ...
Es kostet mich eine unglaubliche Überwindung, dem Tataren nicht um den Hals zu fallen.
„Herr Kröger, ich will nicht weiter in Sie dringen“, beginnt wieder der Russe. „Ich lasse Ihnen gern ein oder zwei läge Zeit. Ich komme wieder. Die Entscheidung überlasse ich Ihnen. Kommen Sie“, wendet er sich an Achmed, „wir beide haben unsere Pflicht erfüllt. Sorgen Sie dafür, daß in der Villa des Herrn Kröger alles wieder in Ordnung kommt, denn er wird wahrscheinlich recht bald zurückkehren.“ Der Mann verbeugt sich, und ich blicke dem gleichgültigen, geschulten Gesicht des Tataren mit seinem indifferenten Ausdruck nach. An der Tür wendet er sich um, und unsere Blicke begegnen sich noch einmal.
„Barin, wir vergessen Sie nicht. Wir warten auf Sie. Alles wird bei Ihnen in Ordnung gebracht.“
Dann bin ich allein.
Ich esse lange, bedächtig, zu Abend. Die Flasche Wein ist bis zur Neige geleert. Ich schlafe unverschämt gut.
Zwei Tage später kommt der Russe wieder, auch dieses Mal distinguiert und ruhig.
„Ich möchte jetzt Ihre Entscheidung hören, Doktor Kröger!“
„Ich habe Ihnen nichts zu sagen.“
„Das heißt also: Sie wollen kein Geständnis ablegen?“
„Nein, weil ich nichts weiß.“
„Ist das Ihr letztes, allerletztes Wort?“
„Ja.“
„Schade, sehr schade, ich wollte Ihnen helfen ...“ Und in seiner vornehmen Art, voller Beherrschung und Würde, verläßt er ganz langsam meine Zelle.
Gleich darauf werde ich mit dem Schiff nach der Festung Schlüsselburg gebracht.
Im Scheine der Abendsonne liegt vor mir das dunkle Massiv, der Schrecken des großen Landes – die Festung Schlüsselburg – die russische Bastille. Das weite, öde Land um die enormen Steinmassen betont die drückende Wucht dieses Gefüges.
Grauen umschleicht ständig diese Stätte. Flüche der hier zu Tode Gemarterten haben die finsteren, verwitterten Mauern in sich aufgenommen. Sie sahen, wie so manchem Unglücklichen in ihrer stummen Mitte das Blut in den Adern zu Eis erstarrte, und so wurden sie für ewig düster, furchterregend. Sie wurden von der Sonne gewitterhaft beschienen, aber nie erwärmt.
Die Festung Schlüsselburg war im vierzehnten Jahrhundert vom Großfürstentum Nowgorod erbaut worden. Man nannte sie damals „Orjeschek“. (Übersetzt: ein „Nüßchen“ —Nuß – hart und deshalb wohl schwer zum „Aufknacken“ gewesen?) Als die Schweden sie im siebzehnten Jahrhundert erobert hatten, wurde sie in „Schlüsselburg“ umbenannt. Etwa ums Jahr 1700 gelang es der russischen Armee unter dem Zaren Peter dem Großen, diese Festung nach blutigem Kampf zu erstürmen. Seit dieser Zeit verlor sie als bisheriger strategischer Punkt ihre Bedeutung. Zur gleichen Zeit aber begann ihr grauenhafter Ruf – sie wurde ein Staatsgefängnis für die gefährlichsten politischen Verbrecher. Das Grauen dieser Festung wuchs von Tag zu Tag, zwei Jahrhunderte hindurch. In ihren Mauern haben sich die bestialischsten Folterungen abgespielt, die nur ein Menschenhirn erfinden kann, und ihr unheimlicher Ruf war nicht nur über ganz Rußland, sondern auch im Auslande verbreitet. In der Festung sind in eigens dafür erbauten Kasematten Marterinstrumente vorhanden, Anschnallvorrichtungen, verschiedene Hämmer, Zangen, Reifen, um damit die Gliedmaßen, Zehen und Finger der Opfer auszukugeln, zu verstümmeln, abzubrechen oder ihnen die Augen auszubrennen. Auch andere Instrumente, deren Verwendung man kaum erraten kann, befinden sich dort.
Man führt uns ...
Die ersten der Festung vorgelagerten Hügel lassen wir zur Linken zurück. Plötzlich stehen wir vor enormen, klobig zusammengefügten Mauern, Bastionen und Türmen, unglaublich in ihrer Wucht und Höhe. In einem Turm eine Pforte – der einzige Eingang in die Festung. Darüber prangt in vergoldeten Lettern die Aufschrift:
„Der Zarenturm.“
Ein Symbol des Absolutismus!
Diese Pforte unter dem erdrückenden Torbogen wird geöffnet.
Der letzte Schritt...
Unsere schweigende Kolonne mit blankgezogenen Pallaschen tritt ein. Das dämmerige Licht fällt auf kalte Bajonette, abweisende, finstere Gesichter der Wächter.
Wir stehen im Festungshof. Hohe, graue Mauern umgeben uns von allen Seiten in ihrer erdrückenden Wucht. Sie sind erhaben und indifferent gegen Jahrhunderte und Menschen. Schmale, ausgetretene Stufen, verwitterter Vorbau, kleine vergitterte Fenster – ein schauriges Bild aller Inquisitionsschrecken. Kleine Gänge, rechts und links schwere, beschlagene Türen, die Kammern, sechseckig, ohne Möglichkeit sich zu verbergen, hoch an der Decke ein schmales Fenster, kein Ausblick in die Freiheit. Eisernes, einzementiertes Bett, einzementierter, kleiner Tisch, ein unverrückbarer Schemel davor. Tritte der früheren Gefangenen haben den Fußboden stellenweise ausgehöhlt, und die, die man jetzt hineinführt, werden ihn noch mehr vertiefen.
Erschreckend ringsum die Stille! Von irgendwoher kommt Kettenklirren. Athletenhafte Wächter, ihre ewig gleichbleibende Zeichensprache: „Komm! Geh!“
Die Erinnerung an meine Jugend ...
Bilder, die sich nie verwischen werden ...
Der Gefängnishof ist groß. Er hat nur einen einzigen Ausgang, der in einen anderen Hof führt. Dort, auf einer Insel, befindet sich das Massiv der eigentlichen Schlüsselburg – die Festung in der Festung. Ihre Mauern haben eine Höhe von etwa fünfzehn Meter. Sie sind zusammengefügt aus ausgesucht schweren Steinquadern. Aus dem Mauermassiv erheben sich einige Türme, unter ihnen der berüchtigte „Fürstenturm“. In den historischen Berichten über Hinrichtungen wird er oft erwähnt.
Die Häftlinge dieses Turmes rekrutierten sich zur Zeit Peters des Ersten und nach seinem Regime aus den Kreisen der höchsten Aristokratie. Unter ihnen befand sich während der Regierungszeit der Zarin Anna Joanowna auch der allmächtige Herrscher, der ungekrönte Zar – Byron. Ferner der bekannte Fürst Dolgorukij. Dort hat man sie alle gemartert, dort hat man sie grauenhaft hingerichtet. Ihnen folgte dann der gestürzte Zar Joann. Er hat im Turm acht Jahre zugebracht und wurde bei einem Befreiungsversuch von der Wache erschossen. Es kamen aber auch Leute niedrigen Standes in den „Fürstenturm“, die man ebenso gequält hat.
Menschen hat man dort eingemauert!
Es fällt kein Wort, nicht ein einziges, denn jeder kennt hier seinen Weg, die Wächter wie die Gefangenen, und darum schweigen auch alle. Nur harte, schwere Schritte, neben ihnen ängstliche und zaghafte, und diese Schritte werden die Gefangenen nie, nie im Leben wieder zurückschreiten, denn sie führen in den Tod.
Stufen gehen hinunter.
Grauen und Schrecken erfüllen diese Erde, ihr Atem greift roh nach mir. Es riecht nach Feuchtigkeit und Moder. Ratten huschen vorüber. Die Füße treten in Pfützen. Irgendwo tropft eintönig das Wasser.
Wenn nach Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden diese Mauern zerfallen und nicht mehr sein werden, so wird doch um diesen Fleck Erde bis in die Ewigkeit das Grauen schleichen, und die Schatten der Toten werden sich hier treffen und Gott lästernd fluchen.
Ein schwarzer Gang im flackernden Licht vor mir; er endet im Nichts, dort, wo es nie Licht gibt. An den Seiten kleine, verrostete Türen mit kaum noch leserlichen Nummern.
Eine dieser Türen wird geöffnet, sie krächzt in den verrosteten Angeln. In die starrende Nacht, in ein weites, aufgerissenes Maul werde ich hineingeführt. Die Tür krächzt, ein schwerer Riegel fällt.
Um mich ist schwarzes, uferloses, endloses Nichts.
Irgendwo tropft es. Ein Tropfen nach dem andern fällt. Sie messen hier die Zeit bis zum Tode – bis zur Erlösung.
Lauernd sitzt überall die Stille, die ich mit allen Nerven spüre. Sie umgibt, umschleicht mich von allen Seiten, vorsichtig und dennoch sicher, sie greift erst schüchtern, dann plötzlich roh nach meinem Körper, nach meinem Kopf. Ich glaube sie jetzt doch zu sehen: sie trägt in der einen Hand den Tod, in der andern den Wahnsinn, dessen Lachen das Blut der Menschen gerinnen läßt. Aber der Wahnsinn ist auch das irdische, vielleicht glückliche Nichtsein. Hier ist ihm kaum einer entronnen ...
Ich schließe die Augen, um das Nichts nicht zu sehen. Das ganze Nervensystem ist bis zur Unerträglichkeit angespannt. Nur ganz, ganz langsam, nur durch brutalste Konzentration kommt unsicher die Entspannung.
Die Tür! Wo ist sie?
Der Schrecken reißt mich herum, ich taumle zurück und fasse die Tür, die verrostete. Ich bin glücklich, nach ihr fassen, mich an ihr halten zu können, an nichts sonst.
Die Augen sind weit aufgerissen, denn ich stelle es mit der Hand fest, die immer wieder darüberfährt. Sie sehen aber nichts, gar nichts. Die Sehnerven spannen sich bis zur höchsten Möglichkeit und verursachen einen dumpfen Schmerz in den Augenhöhlen. Die Augen ... sehen nichts! Bin ich denn blind? ... Ist es möglich, durch diese rasend angespannte Anstrengung, unbedingt etwas sehen zu wollen, plötzlich zu erblinden? Ist es möglich?
Ich kämpfe erbittert, obwohl der Mut gegen die Feigheit so klein ist, und sie, sie ist so groß und überwältigend. Ich kämpfe gegen den Schrecken der Finsternis und was in ihr ist, was sie in sich birgt. Der zermürbende Kampf währt lange.
Die Feigheit hat gesiegt, denn ich habe mich an meine Tür festgekrampft.
Doch das Gähnende, Schwarze, das mich überall einschließt, zieht mich mit Gewalt von der Tür fort. Ich kann mich dagegen nicht mehr wehren.
Ich will, ich muß unbedingt wissen, wo ich bin, ich muß alles abtasten, ich will das Schwarze um mich und was es birgt, erfassen, verstehen können, wie einen völlig greifbaren Gegenstand – wie meine Tür.
Ich halte mich an ihr fest und greife immer wieder nach ihr. Meine Hände tasten an den Wänden entlang; sie sind feucht, und zum Teil ist schon der Zement abgebröckelt, denn an diesen Stellen hat sich wohl Moos oder sonst ein Gewächs gebildet, das weich und glitschig ist. Vorsichtig setze ich die Füße auf den ungesehenen Boden, ins schwarze, uferlose Nichts. Sind dort Fallen, Eisen, Gruben, in die ich hineinstolpern, hineinfallen soll? Die Füße tasten, die Hände, die Finger halten, verkrampfen sich an den Überresten der Wand. Ich habe dauernd das Empfinden: jemand steht hinter mir, etwas will mich niederwerfen, erwürgen.
Das ist der beginnende Wahnsinn ... Doch die suchenden, weit um sich fühlenden Hände fassen nur ins Leere.
Jedes kleinste Stückchen der schlüpfrigen, schlammigen Erde ertastet mein Fuß. Ich komme kaum von der Stelle, obwohl meine Füße unermüdlich umhertasten. Der ganze Körper ist eine einzige, nicht nachlassende Spannung.
Ich versuche, die erste Ecke wahrzunehmen, aber ich finde sie nicht... sonderbar. Hat denn die Zelle keine Ecken, oder sind sie im Laufe der Zeit durch Moder und Feuchtigkeit verwischt? Ich gehe Schritt für Schritt weiter. Der unsichtbare Weg nimmt kein Ende. Werde ich die Tür wiederfinden? Ich habe nicht einmal die erste Ecke ertasten können, dabei ist mein Weg schon so weit.
Plötzlich höre ich mich erfreut stöhnen. Meine Hände erfassen wieder die Tür! Ich kenne sie jetzt. Sie ist für mich eine große Freude, denn sie ist der einzige feststehende Begriff.
Ich habe sie beim Betreten der Zelle gesehen.
Unfaßbar groß ist die Kasematte! Raum und Entfernung sind in ihr ausgelöscht, nicht vorhanden, und unter dem Eindruck, mich in einer geräumigen Zelle zu befinden, werde ich von einem glücklichen Gefühl und Ruhe erfaßt. Der Raum ist schon beinahe zum konstanten Begriff geworden. Ich hole erleichtert tief Atem.
Aber nicht lange gönne ich mir Ruhe. Etwas zwingt mich wieder, die Kasematte genauer zu ertasten, mit den Fingern zu erfassen, mit dem Kopf zu verstehen, mit dem inneren Auge zu ersehen.
Jetzt taste ich mich nicht mehr an der Wand entlang, sondern gehe geradeaus; wenigstens versuche ich es zu tun. Wieder will mich von allen Seiten das Unsichtbare, Gewaltige mit aller Kraft niederwerfen, zu Boden drücken. Wie ein Schutz steht hinter mir meine Tür.
Langsam und vorsichtig gleiten meine Füße. Erst der eine, dann der andere. Es ist wieder ein mühsamer, ungesehener Weg.
Meine weit ausgebreiteten Arme, meine gespreizten Finger greifen um sich, aber sie erfassen nichts. Nur wenn sie die niedrige Decke berühren, dann bröckelt Erde oder der gelockerte Zement ab. Etwas Kriechendes, schnell Huschendes erfassen die Finger – es sind Spinnen, denke ich, denn ich fühle an meinem halbnackten Körper, wie sie dort weiterkriechen.
Von Zeit zu Zeit bleibe ich stehen, setze die Beine auseinander und warte erneut, horche, als müßte ich doch unbedingt etwas wahrnehmen. Nichts... lautlose Stille, nur der Tropfen füllt beständig, in gleichbleibendem Rhythmus – der Zeitmesser des Todes, der einmal doch kommenden Erlösung ...
Ich taste weiter ...
Jetzt erfassen anscheinend meine Hände die gegenüberliegende Wand. Blitzschnell, wie auf einer Planskizze, konstruiert das Gehirn die Maße des großen Raumes: Länge, Breite, Höhe sind jetzt für den Geist feststehend geworden.
Im nächsten Augenblick gleitet mir etwas über die Füße, springt bis zu meinem Knie hoch, piepst, verbeißt sich an meiner Hose. Eine Ratte!
Entsetzt über das unverhoffte und für mein Empfinden ekelerregende Lebewesen, springe ich zurück. Das lange und ständig lauernde Unsichtbare hat jetzt endlich völlig über mich Gewalt bekommen. Es schleudert mich von der einen Seite zur gegenüberliegenden, von dort wieder zurück, ich taumle, doch überall hält mich irgendeine Wand. Die Ratte bammelt am Hosenbein, ich werde jetzt gegen meine Tür geworfen, an ihr kralle ich mich fest, an ihr erstarre ich, voll Ekel, Grauen und Schrecken. Die Ratte piepst, ich taste nach ihr, packe sie, schleudere sie fort. Sie schlägt in Moder und Wasser irgendwo auf.
Die unfaßbar große Kasematte ist ein Pferch?!
Ein Käfig?!
Der Begriff der Enge versetzt mich in eine wahnsinnige Unruhe, die sich bis zur Selbstraserei steigert. Ich ringe nach Luft. Der Raum kann höchstens zwei Quadratmeter messen.
Ich schließe krampfhaft die Augen, drücke mit aller Gewalt die Handflächen an die Ohren, um wenigstens für kurze Zeit das Tropfen des Wassers nicht zu hören, denn die immer gespannt blickenden Augen schmerzen, die Stille tut den Ohren weh. Aber wie lange kann ich so verharren? Das Blut trommelt schon hastig in den Schläfen, die Arme sinken, die Ohren horchen wieder gespannt, die Augen starren erneut, und erschöpft sinke ich auf den Boden und lehne mich gegen die feuchte Tür. Feucht ist auch mein halbnackter Körper, seine Lumpen, und die Hände.
Ein Tropfen nach dem andern fällt – in roher, gemeiner Gleichmäßigkeit. Der Körper wird schlaff, unbeweglich, ich sinke zusammen. Ist das schon der Tod... und ich kann mich nicht mehr wehren? ...
Sonnenschein, heißer, glitzernder Sonnenschein ... üppige Sommerwiese, bunte Blumen, milde Luft ... ich gehe und gehe, und die Pracht endet nicht ... es ist die weite, weite Welt ... bekannte, vertraute Bilder ...
Die Kopfhaut schrumpft zusammen! Die Haare sträuben sich! Etwas stößt gegen meinen Fuß!
Plötzliches Erwachen – starrender Schrecken – die Wirklichkeit. Ich greife danach in Abwehr. Meine Finger gleiten in etwas Warmes, Flüssiges – Fleisch, Brot, Hering oder ...?
Die Sonne, die Wiese, die Blumen – es war ein Traum!
Gierig schlürfe ich die warme Flüssigkeit, kaue an den wenigen Brocken – es ist Brot. Altes Brot, es schmeckt nach Schimmel, oder kommt es von meinen Fingern, mit denen ich die Zelle abgetastet, nach Spinnen und Ratten gefaßt habe? Das Holzgefäß ist leer, und erst jetzt spüre ich Heißhunger.
Ich weiß nicht, wie oft man mir den Napf schon hereingeschoben hat. Das Schwarze, das ständig aufgerissene, unkonturenhafte Maul, die Stille, das alles umgibt mich schon eine Ewigkeit.
Manchmal fallen die Tropfen irgendwo in dem schwarzen Nichts schneller, dann ergießt sich ein Wasserstrahl in die Kasematte, das Wasser steigt bis an die Knöchel, an die Knie, höher, bis zu den Hüften, der Brust, dann fällt es, genau so schnell, wie es anstieg.
Wenn das Wasser in meiner Kasematte steigt, so weiß ich, daß über Petersburg, dem Finnischen Meerbusen Westwind liegt, dadurch steigt das Wasser der Newa, denn sie hat
keinen genügenden Abfluß aus dem Ladoga-See, an dem die Festung Schlüsselburg liegt. Bei solchem Westwind kann man immer gut segeln. Wer wird jetzt die „Sturmvogel“ steuern? Meine schöne weiße Jacht, gemütliche Kajüten, das weiße Schlafzimmer, singende Wanten, murmelnde kleine Nacht wellen an den Planken ...
Ich habe mir in einer Ecke, sie ist durch die vielen Abbröckelungen der Wand und der Erde kaum noch zu erkennen, eine Art von „Hochstand“ gebaut. Dort, wo die Mauer den meisten Widerstand bietet, habe ich eine Stufe mit den Händen ausgescharrt. Wenn das Wasser noch höher steigen sollte, dann werde ich diesen Stand einnehmen, um nicht zu ersaufen. Ich will schlauer sein als die andern. Ob meine Vorgänger auch schon auf diesen Gedanken gekommen sind?
Meine Vorgänger! Was waren das für Menschen? Warum wurden sie einst nach Schlüsselburg gebracht? Sind denn wirklich alle, die hier eingesperrt waren, auch eingegangen? Stand als Abschluß in dem Aktenbündel, das über ihr Leben, ihren Wandel, ihre Taten und ihre Verbrechen berichtete, auf der allerletzten Seite das profane Wort „eingegangen“? „Nach wenigen Wochen in der Dunkelzelle eingegangen – ?“
Ihre Spuren sind verwischt, sie sind vielleicht schon von allen vergessen. Sie waren vom Schicksal bestimmt, das Grauen der Kasematten zu nähren, damit es die andern überfalle, damit es den Menschen, der Erde und dem Weltenraum in alle Ewigkeiten erhalten bliebe.
Ihre Schatten aber huschten durch die Wände und eisernen Türen, glitten die Gänge entlang, sie bewegten sich frei und unbekümmert in ihrem Reich, denn keiner konnte sie mehr festhalten und ihnen den Weg verwehren. Nur müde Augen, nur solche, die sich bald für ewig schließen würden, konnten diese Schatten sehen. Sie besuchten mich, wir unterhielten uns.
Sie alle, ob sie ergeben und zusammengebrochen, lautlos und ohne zu klagen, oder vom Ekel, Grauen und Wahnsinn besessen, tobend, schreiend, fluchend, Gott lästernd den Tod erlitten, sie alle kamen z«' mir und erzählten mir von ihrem Leben, ihrem Tode – ihrer Erlösung.
Das einzige Geräusch, das ich wahrnehme, ist das Hereinschieben des hölzernen Eßnapfes durch irgendeine Öffnung.
Sie muß unmittelbar unter der Tür liegen, aber ich untersuche es nicht, denn ich habe einen großen Ekel vor all dem unsichtbar und lautlos kriechenden Getier.
„Stell den Napf an die Tür“, sagte mal ein Wächter. Ich weiß nicht, woher die Stimme kam. Seit der Zeit stelle ich den Napf an die Tür, schweige, weil ich nicht sprechen will, und die Kerle sollen auch nicht etwa denken, daß ich mit ihnen sprechen möchte.
Ratten sind meine ärgsten Feinde, denn sie stürzen sich auf mein Essen, und ich muß sie immer fortjagen. Ich fange sie und schmeiße sie mit aller Gewalt gegen die weichen Wände. Erst dann kommen sie nicht wieder. Wenn der Wasserstrahl läuft, spüle ich meine Hände damit ab.
Ich spreche in vier Sprachen, übersetze alles, was mir nur einfällt, ja ich gehe sogar mit winzig kleinen Schritten durch die Kasematte, und wenn mein Finger die aufgeweichte Wand berührt hat, dann gehe ich zurück. Ich habe meine Zelle jetzt völlig erfaßt, und das beruhigt mich.
Manchmal leide ich an Zwangsvorstellungen, glaube den ständig fallenden Tropfen auf meiner Stirn zu spüren, als läge ich gefesselt darunter und könnte meinen Kopf nicht zur Seite wenden. Dann taste ich an meiner Tür entlang, und sie beruhigt mich, denn sie ist hart.
Manchmal sitze ich dagegen gelehnt und erschauere vor dem Ekel, der mich umgibt. Ratten laufen über meine Beine, Spinnen kommen auf mich niedergekrochen, dann verkrampfe ich die Finger zu Fäusten, beginne in der Kasematte auf und ab zu gehen oder bewege meine kalten Glieder in gymnastischen Übungen, bis mich oft die Verzweiflung packt. Oder ich trete selbst in unsichtbare Reihen ein und kommandiere sie. Meine eigenen Kommandos befolge ich genauestens. Und ich habe Angst vor meiner Stimme.
Vor wem stehe ich denn eigentlich? Vor dem Tode? Vor dem Wahnsinn? Sind das alles nicht schon die ersten Anzeichen der nahenden Umnachtung? Überall sitzt und schleicht sie um mich herum, in den Ratten, Spinnen und dem andern grauenhaften Getier, das ich vielleicht nie sehen werde
Wie lange? Lacht mich nicht jemand ganz still aus? Kichert über meinen Widerstand, der doch einmal zusammenbrechen wird, zusammenbrechen muß?
Da! Jetzt wieder! Ganz leise, irgendwo in der unzerreißbaren Undurchdringlichkeit...
Das Ohr, das immer wieder angestrengt lauscht und schon allmählich müde wird an dieser völligen Zwecklosigkeit, etwas zu erhorchen, vernimmt plötzlich das tropfende Wasser. Es gluckert jetzt so sonderbar, es steigt schon wieder. Ich habe nasse Füße, ich kann mich doch erkälten... dann werde ich krank ... gehe ein ...
Der Strahl ergießt sich unaufhörlich in die Kasematte. Das Wasser steigt. Bis an die Knie stehe ich darin ... bis an die Hüften ... bis an die Brust ... Das Wasser steigt weiter. Mein vorbereiteter „Hochstand“ ist erklommen.
Das Wasser steigt weiter.
Es bleibt höchstens ein halbes Meter bis zur Decke. Ich muß mich jetzt über das Wasser beugen und mich völlig gegen die Decke stemmen. Ich fühle, wie vor meinem Gesicht der Eßnapf schaukelt. Zwei Ratten sitzen eng aneinandergedrängt auf meinem Genick. Eine dritte kommt angeschwommen, sie beißen sich um den Platz. Obwohl meine Hände schon im Wasser sind, werfe ich mit der Rechten die Biester herunter, aber sie kommen wieder, beißen sich, schreien.
Ein großer Klumpen löst sich auf einmal von der Decke, fällt mir auf Kopf und Nacken – die Ratten sind plötzlich verschwunden, der Eßnapf ist glucksend untergegangen.
„... Schweinehunde ... ! Verruchte ... !“
Leise plätschert das Wasser um mich herum.
Jemand lacht leise über den lächerlichen Wutausbruch.
Das Wasser berührt mein Kinn.
Es bleiben mir also nur noch zwanzig Zentimeter. Ich presse die linke Kopfseite gegen die Decke, um mehr Raum zu gewinnen. Spinnen kriechen auf meinem Gesicht herum.
Das rechte Ohr ist nun auch im Wasser, ich verdrehe den Mund, um die schwarze, stinkende Jauche nicht zu schlucken.
Wenn mein „Hochstand“ jetzt nachgibt? ...
Stechende, irrende, übernatürlich glänzende Augen, heraushängende Zunge, gierige, tierische Zähne ... Die Fratze lacht, jetzt sehe ich sie ganz deutlich vor mir, wie sie immer näher kommt, kalte Hände greifen nach mir, tasten an meinem Körper, machen ihn mit Gewalt leblos ...
Da ist er, jetzt sehe ich ihn ... den Wahnsinn!
„... Achtung! Das Wasser fällt! Das Wasser ist schon gefallen! Das Wasser fällt! Es fällt immer mehr!...“
Der schief gezogene Mund bringt mit Mühe die Worte hervor. Es ist Unsinn, aber ...
Nein, es ist Tatsache!
Das Wasser fällt, als hätte die Zelle ein Abflußventil.
Ich bleibe am Leben ...
Noch zweimal muß ich diesen Kampf überstehen. Ich gehorche kaum noch meinen lächerlichen Kommandos. Alles in mir ist zusammengebrochen.
Zweimal muß ich meine Fingernägel abbeißen, das ist meine Zeitrechnung – acht bis zehn Wochen.
Die Erde birst auseinander. Es kracht der Riegel an meiner Tür. Sie wird aufgerissen. Trüber Schein einer Laterne.
Ich bin sehend!
Blitzende Bajonette, finstere Gesichter, Wasserpfützen.
„Komm! Geh!“
Ich fasse noch einmal nach meiner Tür. Sie ist immer noch hart... Dunkler Gang, Tritte auf schlammiger Erde, Stufen führen hinauf, fahles Licht blendet mich. Ich stehe auf dem Hof.
Es regnet in Strömen.
Ich hebe das Gesicht gen Himmel, ich zittere. Mein Gesicht, die ausgebreiteten Hände werden naß, meine Lippen werden vom reinen Wasser benetzt, und eine überirdische Kraft hebt mich hoch. Ich empfinde keine Körperschwere ...
Ich breche zusammen ...
Langsam, wie aus einer Narkose wache ich auf. Irgendwo höre ich Stimmen, ohne sie zu verstehen. Ein wohliges Gefühl fließt langsam durch meinen Körper, denn ich empfinde nach langer Zeit wieder die Berührung mit Stoff, weil mich jemand zugedeckt hat, und gerade dieses Gefühl, verbunden mit der körperlichen Wärme aller Gliedmaßen, läßt mich vollends erwachen.
Ich horche erneut auf die Stimmen.
„Ich sagte Ihnen doch, daß ich nicht wissen kann, wann der Deutsche vernehmungsfähig sein wird. Die Herztätigkeit ist sehr schwach.“
„Aber er bleibt doch am Leben, oder ... ?“
„Ja, zweifellos. Aber ihr müßt noch Geduld haben, zwei bis drei Tage mindestens.“
„Ich erzählte Ihnen eben, daß Nikolai Stepanowitsch degradiert worden ist. Er hat an den Deutschen überhaupt nicht gedacht. Es ist ein Wunder, daß der Kerl am Leben geblieben ist. Sechs Mann sind in den Kasematten ersoffen, weil das Wasser zu hoch gestiegen war, und das hat er wissentlich oder aus Nachlässigkeit nicht gemeldet. Stellen Sie sich vor, der Deutsche wäre ersoffen – der Oberleutnant wäre... Sehen Sie um Gottes willen zu, Grigorij Fadeewitsch, daß der Mann so bald wie möglich vernehmungsfähig wird, die Obrigkeit ist sehr ungehalten.“
„Ich kann doch nicht zaubern, und alle wissen, in welchem Zustand der Kerl sich befand. Ein derartiger Koloß, und seit Wochen Wassersuppen. Was kann da noch übrigbleiben? Alles muß der Zeit überlassen werden, außerdem will man ja schließlich auch Fragen an ihn stellen, die er beantworten soll. Melden Sie, was ich Ihnen gesagt habe. Ich kann weiter nichts tun!“
„Geben Sie ihm aber nicht zuviel zu essen, er muß schwach und zerrüttet bleiben ...“
„Das weiß ich! Gehen Sie jetzt!“ kam es barsch.
Die Stimmen verstummten, eine Tür wurde geschlossen. Jemand ging auf und ab, ein Stuhl wurde gerückt, Papier raschelte und ein penetranter Geruch nach Karbol breitete sich aus.
Jemand hielt meinen Puls, kontrollierte immer wieder die Schläge. „Verdammt, verdammt!“ hörte ich murmeln, dann bohrte sich eine Nadel in meinen Körper. „Elende Menschenschinderei, daß der Kerl mir nur nicht unter den Fingern stirbt!“ flüsterte die Stimme wieder, eine weiche Hand legte «ich mir auf den Kopf, die Stirn, deckte mich sorgfältig zu. Schritte pendelten noch lange hin und her ...
Ich hebe die schweren Lider. Ein kleines, hell getünchtes Zimmer, an der gegenüberliegenden Wand ein großes verbittertes Fenster, ein Tisch, ein Stuhl, darauf Flaschen, Verbandmaterial, glitzernde Instrumente. Ich liege auf einem Feldbett, mit zwei grauen Pferdedecken zugedeckt, am Körper fühle ich sauberes, wenn auch grobes Leinen. Der Kopf liegt auf einem weichen, weißen Kissen.
Plötzlich, kaleidoskopartig kommen und gehen, strömen zusammen, fließen auseinander die Bilder des zurückgelegten Lebens. Dem Tode in der Dunkelzelle bin ich entronnen. Was kommt jetzt?
Verhör – und dann – das Fazit... ?
Mein Schicksal, mein Glück hatte mich immer begünstigt. Es hatte mir immer zugelächelt, verschwenderisch und übermütig.
Als Sohn reicher Eltern kannte ich nur wenig elterliche Liebe und Zärtlichkeiten.
Mein Vater, groß und blond, war der Typ jenes genialen Kultureuropäers, welcher den eisernen Kampf selbst mit dem Leibhaftigen aufnehmen, ein Mann, der jedes Fleckchen Erde urbar machen kann. Meine Mutter, klein und rassig, klug und umsichtig, hübsch und immer gepflegt, verwaltete ihr Vermögen selbst, und die andere Zeit mußte sie ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen genügen. Sich mit Kindern abzugeben, galt als unfein. Sie hatte auch keine Zeit dazu. Ein bezahlter Stab von Gouvernanten, Erziehern und Lakaien belebte unser großes Haus. Der schützende Engel gegen die dienstbaren Geister war meine Amme. Verständnislos und staunend blickte sie in meine Hefte und Hieroglyphen, die später, nach größter Mühe, dennoch Buchstaben wurden. Sie blieben dieser Frau für immer ein Rätsel. Streitigkeiten zwischen mir und den Erziehern schlichtete sie auf eigenartige und resolute Art, und wenn diese „Hundesöhne“ nicht parierten, schlug sie mit der Faust auf den Tisch: „Laßt mir jetzt mein Kind in Ruhe!“, und der betreffende Quälgeist schwieg. Abends führte mich diese Frau, die ich mehr als meine Mutter liebte, in mein Schlafzimmer, stellte mich auf die Knie, kniete selbst neben mir nieder, faltete meine unbeholfenen Finger zum Gebet, und verständnislos, aber voll Andacht wiederholte ich vor den Gottesbildern und der brennenden Lampada [Öllämpchen] die Worte ihres einfachen Gebetes. Durch die halbgeschlossenen Lider sah ich meine Amme mich bekreuzigen, dabei still und liebevoll lächeln. Der Schein der Lampada fiel auf das blonde, in der Mitte peinlich gescheitelte Haar und das schlichte Antlitz dieser Frau. Alles um mich war dann Ruhe, und glücklich lächelte ich zurück. Auch nachts, kaum daß ich mich im Bettchen bewegte, war die Frau sofort da, deckte mich besorgt zu, liebe, gute Worte dem Schlafenden flüsternd.
Freudestrahlend begrüßte sie mich am Morgen. Sie war wieder da, hübsch, sauber und lieb.
Den Kampf des Alltags führten wir beide geschlossen gegen unsere Feinde und meine Freiheitsberauber.
Unvergeßlich, wie ein endloser roter Faden läuft durch mein Leben der Glaube an Gott. Ein unerschütterlicher Glaube, den mir diese wunderbare Frau in ihrer ganzen Naivität gab.
Ich war sehr krank. Ein Konsilium der Ärzte hatte keine Hoffnung mehr auf meine Genesung. Unvorsichtigerweise ließ jemand das Wort „sterben“ fallen.
„Sag, muß ich jetzt sterben?“ fragte ich meine Amme.
„Ach, Unsinn, die Ärzte wissen nicht Bescheid.“
„Aber warum weinst du denn?“
„Ich ärgere mich über all diese Dummen da!“
„Sag, tut das Sterben weh?“
„Nein, mein Kind, gar nicht.“
„Wie ist es denn überhaupt mit dem Sterben, wann stirbt man denn? Weiß man das genau? Kann man nichts dagegen machen?“
„Das Sterben ist das Schönste vom Leben“, belehrte mich meine Amme. „Gott ist dein richtiger Vater, in seinem Hause wirst du so glücklich, wie du es auf Erden nie sein kannst.“
In der Nacht wachte ich mehrmals auf. In der Ferne, im Scheine der Lampada blinkten mich verschiedene Flaschen mit Medizin feindlich an, denn ich wollte nichts mehr von ihnen wissen. Der Vater ließ mir meinen Willen und meinte wohlwollend: „Du bist ein echter Mecklenburger Querkopf! So einer bin ich auch!“ Neben meinem Bett kniend, betete meine mütterliche Beschützerin. Ich faßte nach ihrem blonden Kopf, küßte ihn, zog ihn an mich, sie legte sich daneben, und so schlief ich ein, meinen heißen, fiebernden Kopf auf die samtartige Haut ihrer Brust gelegt.
Der Morgen graute. Ich wachte auf, traurig enttäuscht. Ich war nicht gestorben.
Alles raunte: „Die Amme hat das Kind gesundgebetet.“ Mein Vater schenkte ihr dann ein prächtiges Haus in ihrem Heimatdorf.
Mit zehn Jahren wurde ich in ein Alumnat in der Schweiz gebracht. Die Abschiedsstunde von meiner Amme wirkte sich monatelang seelisch aus. Es war der erste bittere Schmerz. Ich hielt treue Freundschaft mit meinen neuen Kameraden. Mein Vater sorgte für tüchtige sportliche Ausbildung und erstklassige Lehrer, ein Reifezeugnis folgte dem andern, es kamen große Reisen durch die weite Welt, ich wurde ein Mann mit derben Fäusten, unbelastetem Sinn und übermütig lachenden Waterkant-Augen. Meiner mütterlichen Freundin schrieb ich ins Dorf glühende Liebesbriefe und erzählte ihr dann von den ersten nicht mehr harmlosen Liebesabenteuern. Ihr plötzlicher Tod brachte mir die völlige Einsamkeit. Von ihrem Grabe trennte ich mich mit wehem Herzen. Der Glaube an Gott und die Furchtlosigkeit vor dem Tod blieben in mir aber für immer fest verankert.
Meine kühnen Pläne: Lokomotivführer, Straßenbahn-Schaffner, dann Texasreiter, Revolvermann, der beste Coltschütze der Welt, Forschungsreisender, Schiffskapitän zu werden, waren mir durch meinen Vater schnell und gründlich vertrieben worden. Meine vielen Streiche, in London auf den verkehrsreichsten Straßen mit großen Paketen auf einem Rade in wildem Zickzack von einer Straßenseite zur andern zu fahren und damit „öffentliches Ärgernis“ zu erregen, waghalsige Kletterpartien in der Schweiz zu unternehmen, um eine Gemse zu jagen, in Hamburg, anstatt auf der Werft zu arbeiten, mich in finsteren Lokalen mit Vagabunden zu schlagen, um dann als Arrestant von der Polizeiwache aus irgendeinen Geschäftsfreund anzurufen, um mich zu legitimieren, in Paris zu hungern und die letzte Garderobe zu versetzen, um einem galanten Abenteuer nachzugehen, das alles rief nur ein gutmütiges Lächeln bei meinem Vater hervor. Beim Militär lernte ich Gehorsam, dann begann meine Arbeit in den väterlichen Betrieben.
Als der Abschluß eines Geschäftes einem unserer Direktoren nicht glücken wollte, erdreistete ich mich, eine abfällige Bemerkung darüber zu machen.
„Wenn du glaubst, dir eine Meinung darüber erlauben zu können, so mußt du erst selbst zeigen, was du kannst. Von deinem Können bin ich noch lange nicht überzeugt, auch wenn du den Titel Dr.-Ing. trägst. Bringst du die angebahnten Verhandlungen zum Abschluß, so wirst du in meinen Augen steigen, wenn nicht, dann verdienst du Ohrfeigen. Jetzt handle!“
Ich wurde vom Vater selbst über alles unterrichtet und versuchte zum erstenmal in meinem Leben eine kaufmännische Transaktion durchzuführen.
Der Einkäufer, ein Herr gesetzten Alters, solider Familienvater, begegnete mir erst mit der Klugheit und Überlegenheit seines Alters. Von seinem Wohlwollen hing der Auftrag ab. Ich merkte sofort, daß er sich in Petersburg etwas amüsieren wollte. Ich überzeugte ihn, daß sich so etwas in Paris am besten und unauffälligsten machen ließe. Er fand meine Idee einer sofortigen gemeinsamen Abreise derart phänomenal, daß wir nach all dem Gesehenen und Erlebten erst nach vierzehn Tagen wieder in Petersburg anlangten. Ich hatte seine größte Sympathie erworben, mußte ihm versprechen, nach Sibirien zu kommen, dort könnte ich mich bei ihm zeitlebens niederlassen, ohne etwas zu arbeiten. Diskretion über alles Gewesene war Selbstverständlichkeit.
Der unseren Eisengießereien erteilte Auftrag war mein erster Erfolg. Er brachte uns einen ansehnlichen Verdienst.
„Das hast du gut gemacht, Ted, du kannst doch was!“
Dieses Lob aus dem Munde meines Vaters war meine höchste Belohnung.
Geld zu verdienen wurde von nun an mein Sport, jedoch nie eine Leidenschaft, nie eine Gier. Ich sah, wie man alle Sachen und fast alle Menschen für Geld kaufen konnte, der Unterschied lag nur in der Höhe des Betrages. Es machte mir Spaß, „die Leute zu kaufen“. Erst lehnten sie es ab, verachteten das Angebot, überlegten, wanden und krümmten sich – dann waren sie aber auch schon gekauft.
In großzügiger Weise verstand es mein Vater, viele Existenzen neu erstehen zu lassen, gleichgültig, ob es früher eine hochstehende Persönlichkeit war oder ein armer, strebsamer, sparsamer Arbeiter, oft ohne jegliche Vorbildung. Er drückte jedem die Hand, klopfte jedem auf die Schulter und ließ nicht selten an Männer, denen er Anstellungen verschaffte, nur die kurzen Worte schreiben:
„Wie geht es Ihnen? Kann ich noch etwas für Sie tun? Kröger.“
Unsere Firma hatte ihre Fühler über das ganze europäische und asiatische Rußland ausgestreckt. Polen, Baltikum, Zentral- und Südrußland, Sibirien bis zur Mandschurei wurden beliefert. Die Entwicklung stand unter einem günstigen Stern, und man konnte sie von Jahr zu Jahr wahrnehmen. Tag und Nacht arbeiteten unsere Betriebe.
Als der Krieg ausbrach und alle Familien innerhalb weniger Tage bettelarm dastanden, weil man ihnen ihr Vermögen „verstaatlicht“, ihr Hab und Gut geraubt, die mühsam erkämpfte Existenz fortgenommen, ihr Leben und Schaffen bis auf den Grund zerstört hatte, sie nach dem inneren Rußland und Sibirien in Verbannung schickte, sie voneinander trennte, dawaren es nur wenige, die um die russische Staatsangehörigkeit bettelten. Diejenigen aber, die sie „aus Liebe zu ihrem Vaterlande“ erlangten, wurden von der Regierung mit Recht sofort in die vordersten Reihen geschickt, denn dort sollten sie auf die schönen Worte die Tat folgen lassen – diese neue Liebe auch beweisen!
Der Sport, sich die Menschen zu kaufen, brachte mich bald auf den Gedanken, meiner deutschen Heimat dadurch zu helfen.
Ich hatte darin keine Vorgesetzten, keine Vorschriften, keine Verhaltungsmaßregeln, ich war mein eigener Chef, arbeitete auf eigenes Risiko. Aus Liebe zum Volke, zur Heimat, ging ich weiter den schon einmal beschrittenen Pfad. Diese Erde, sie allein wollte ich schützen.
Das Phantom des Krieges stand schon lange da. Ich sagte mir: die Brücke, über die der Feind in die Festung einzudringen versuchen wird, muß angesägt werden.
Diese Brücke war zur rechten Zeit angesägt...
Es kam der Sommer, der Juli 1914!
Wenige Wochen zuvor mußte ich wiederholt die deutsch-russische Grenze bei Eydtkuhnen-Wirballen passieren. Die Paß- und Zollrevision war plötzlich sehr streng, aber die Gesichter meiner Bekannten waren unerschütterlich, denn für uns schien es kaum eine Beunruhigung zu geben, kaum eine Grenze und nie eine Durchsuchung. Sie empfingen mich genau so freundlich wie immer.
In Petersburg herrschte große Spannung. Die allgemeine Meinung der maßgebenden Stellen und der Militärpersonen war eindeutig: »Krieg gegen Deutschland – ganz ausgeschlossen!“
Wenige Tage vor der Kriegserklärung flutete alles nach Rußland zurück; was sich noch im Auslande befand, wollte schnellstens nach Hause.
Die Kriegserklärung wird von der Menge mit größter Begeisterung aufgenommen. Schwarze, dichtgedrängte Massen durchziehen die Straßen. Die hohe Geistlichkeit segnet das Volk, leuchtende Kreuze, Kirchenfahnen werden getragen, man ruft dauernd hurra – eine Begeisterung ohne Ende. Der Zar läßt öffentlich verkünden, daß der Krieg bis zum siegreichen Ende geführt wird. General Rennenkampf verspricht, sich die rechte Hand öffentlich abzuhacken, wenn er mit seiner Armee nicht innerhalb von sechs Monaten in Berlin sein wird.
Geschäfte, welche einen „deutschen Namen“ tragen, werden im Nu demoliert. Pogrome sind an der Tagesordnung. Verbündete präsentieren der russischen Regierung meterlange Rechnungen, denn auch ihre Geschäfte sind aus Unkenntnis und Begeisterung mit demoliert worden. Es wird alles fürstlich bezahlt – Rußland hat Geld!
Die Deutsche Gesandtschaft wird erstürmt; alles, Möbel, Teppiche, Tapeten, Lampen, wird vernichtet, zertrampelt, herabgerissen. Statuen auf dem Gesandtschaftsgebäude werden mit Schlingen unter größtem Jubel heruntergezogen. Ein Flügel erscheint auf der Veranda, begeistert empfängt ihn die Menge – sein letzter Akkord verklingt in greller Dissonanz unter Trümmern auf dem Straßenpflaster.
Deutsche und Österreicher von zwanzig bis fünfundvierzig Jahren werden als Zivilgefangene erklärt und nach dem inneren Rußland oder Sibirien verschickt. Alles, was darunter oder darüber ist, wird in Viehwagen verladen und über die Grenze, nach Finnland, Tornea-Haparanda, Schweden, Deutschland abgeschoben. Die Existenz dieser Menschen war binnen Stunden vernichtet – bettelarm, mit nur fünfundzwanzig Pfund Gepäck durften sie Rußland verlassen.
Einer unheimlichen, alles erdrückenden Lawine gleich ergoß sich der Feind über die Brücke nach meiner geliebten Heimat.
Auch meinen Vater ereilte das gleiche unvermeidliche Schicksal.
Ein Regierungsbeamter kam und versuchte meinen Vater zu überreden, er solle russischer Staatsbürger werden.
Mein Vater lehnte es ab.
Die Enteignungsurkunde der Werke, sämtlicher Betriebe und Filialen in ganz Rußland kam: Mein Vater las sie stehend, laut und sprach jedes Wort deutlich aus. Es war für ihn sein Todesurteil...
Der Titan brach zusammen!...
Für immer ...
Es wurde dunkel in der Zelle. Eine Lampe brannte, jemand kam an mein Lager. Ich schloß die Augen.
Warum? Wollte ich dem Schicksal einige wenige Stunden abringen? Wozu?
Ich öffne die Augen. Vor mir steht ein Mann im weißen Kittel, der mich über die Brillenränder beobachtet. Er hat gutmütige, weiche Züge.
„Wie fühlen Sie sich?“ fragt er mich.
„Gut“, antworte ich bestimmt, wenn auch mit Mühe.
„Haben Sie Hunger, Durst, wollen Sie essen?“
„Ja.“
Zwei Tage später führt man mich in eine Schreibstube. Militär- und Zivilpersonen sind anwesend. Das Kreuzverhör beginnt. Man will mich wieder mürbe machen, aber die Fragen, die man an mich stellt, verstehe ich nur mit großer Mühe, ich bin noch zu erschöpft und kann sie deshalb nie zur Zufriedenheit beantworten. Sie mühen sich Stunde um Stunde.
Vergebens.
Um dem Urteil die nötige Begründung zu geben, werden mir Flucht, Widerstand und Mord zur Last gelegt. Es wird mir nicht gesagt, wann und wo ich Menschen getötet haben soll.
Das Urteil wird verkündet.
Aus weiter Ferne kommen die Worte zu mir, das Ohr nimmt sie auf, das Gehirn verarbeitet sie, das Herz und mit ihm der ganze Körper zucken jäh zusammen.
„Hinrichtung durch den Strang! Sofortige Exekution!“ „Sie haben die außerordentliche Vergünstigung, Angeklagter, einen letzten Wunsch zu äußern. Halten wir ihn für ausführbar, so wird er Ihnen erfüllt.“
„Ich bitte, Generalleutnant R. sprechen zu dürfen“, sage ich mühselig. Dann folgt ein Flüstern und Murmeln meiner Henker.
Wieder geht es Gänge entlang, wieder wird irgendwo eine Tür aufgeschlossen. Eine geräumige Zelle ist mit ängstlichen, zitternden Menschen, denen der Schrecken aus den Augen sieht, angefüllt. Alle haben das gleiche Gesicht: unheimlich geweitete, irrende Blicke, offenen, klaffenden Mund, zerzaustes Haar. Einige hocken auf dem Fußboden, die anderen sitzen auf den Bänken, einige stieren abwesend vor sich hin. Die meisten schluchzen.
Die eintretenden Soldaten rufen einen Namen auf, schleppen den Aufgerufenen gewaltsam und roh aus der Zelle, einige erheben sich apathisch und folgen den Soldaten wie im Schlaf.
Ich hocke in einer Ecke. Der Zementboden ist trocken, und durch das Fenster blickt ein kleiner Streifen blauen Himmels.
Langsam wird es Abend ...
Die ganze Nacht kommen die Soldaten in die Zelle. Sie nehmen immer jemanden mit. Wenn sie in der Tür erscheinen und in dem Bogen Papier, im Scheine einer Laterne, nach dem Namen suchen, sind unsere Augen nur noch auf ihren Mund gerichtet.
Jetzt... ich ... So denken wir alle.
Einige schreien früher, noch bevor sie aufgerufen werden, denn sie erkennen ihren Namen an der Mundstellung des Soldaten, der den Namen langsam erst für sich liest.
Keiner von den Weggeholten wird zurückgebracht.
Es wird Morgen.
Vor mir sitzt nur noch ein wild aussehender Mann mit rohen Gesichtszügen. Sein Name fällt, doch er rührt sich nicht. Er wird hochgerissen.
Im selben Augenblick stürzt er sich auf den Soldaten, würgt ihn und beißt ihn mit weit aufgerissenem Maul in die Gurgel. Beide Männer rollen zu Boden. Die Bajonette der hinzueilenden Soldaten bohren sich in den Leib des Mörders, im Nu ist er gefaßt und verschwindet hinter der Tür; lebend oder tot, es ist nicht mehr zu erkennen.
Der Körper des Soldaten bleibt zurück.
Blitzschnell überlege ich. Die Soldatenuniform anziehen ... und ich kann vielleicht entkommen... Zu spät. Schon erscheint ein Offizier mit einem neuen Trupp von Soldaten.
„Aufstehen!“ Ehrfurchtsvoll liest er vor, jedes Wort betonend: „Durch besonderen Befehl von Allerhöchster Stelle wird die Hinrichtung durch den Strang vorläufig in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien umgewandelt.“
Die Soldaten stehen stramm, der Offizier salutiert und überreicht mir linkisch das Schriftstück zur Unterschrift.
Mit Mühe bringen sie mich aus der muffigen Luft in den Hof. Von dort aus geht es viele Stufen hinauf, ein kleiner Gang... „Gebt dem Kerl zu fressen“, sagt eine Stimme. Eine Tür öffnet sich.
Hier ist ja Sonne! Ich taumle in die Zelle auf den Sonnenfleck am Boden zu, falle hin, vergrabe mein Gesicht in den Händen und weine.
Das Licht blendet...
Später rekapitulierte ich immer wieder zwei Worte meines Urteils:
„Vorläufig!“
Das Urteil konnte also zu beliebiger Zeit abgeändert, die Hinrichtung durch den Strang doch noch vollzogen werden. Dagegen war ich machtlos, solange ich mich in den Händen der Russen befand. Flucht konnte mich davor retten, sonst nichts.
„Lebenslänglich!“
Der Krieg konnte nicht lebenslänglich dauern, das war ausgeschlossen. Das beruhigte mich!
Ich hatte die Wahl: zu fliehen oder abzuwarten, bis der Krieg zu Ende sein würde. Was für Garantien hatte ich aber, daß die Exekution auch wirklich unterbleiben würde? Was wußte ich vom Leben im Zuchthaus? War ich nicht der Willkür der Wächter, der Obrigkeit, dem blinden Zufall ausgesetzt? Hatte ich andererseits durch die vollkommene Beherrschung der russischen Sprache, durch gute Kenntnisse der Menschen und des Landes nicht gewaltige Vorteile bei einer Flucht? Hatte ich nicht genügend Freunde, die allen Grund hatten, mich insbesondere während des Krieges zu schützen, sonst... ?
Hatte ich sie nicht in der Gewalt durch mein bisheriges Schweigen?
Das Glück war mir immer hold. Vielleicht, ja so wird es sein, in einem günstigen Augenblick, nachts, während der Arbeit, ich werde etwas abseits stehen, wenn der Wächter nicht beobachtet, werde mich immer weiter entfernen, ein dichter Wald, ängstliche Menschen, die aus Angst gefügig sein werden, ein kleines bißchen Glück ... Sind nicht schon mehrere entflohen und entkommen?
Vielleicht, ja vielleicht wird es auch mir glücken ... Und bei diesem Gedanken wurde ich sogar recht zuversichtlich.
Am folgenden Tage wurde ich zum Einkleiden beordert.
Zwei Schreiber, unansehnlich und vernachlässigt, saßen hinter einem Tisch voller Akten. Ich wurde von der Seite und von vorn fotografiert, Fingerabdrücke wurden gemacht und alles bis aufs kleinste aufgenommen und protokolliert.
Man brachte die Sträflingskleidung. Rock und Hose bestanden aus einem dicken, rauhen, braungrauen Stoff, die runde Mütze ohne Schirm hatte dieselbe Farbe. Hemd, Unterhose und Rock paßten mir einigermaßen, aber die Hose war viel zu weit, und ich griff daher instinktiv nach meinem Leibgurt an der früheren Hose.
Das Auge des Polizeioffiziers war indessen schneller als meine Hand. Er entriß mir den Gurt mit den Worten: „Das könnte dir so passen, Freundchen, damit du jemanden erwürgen kannst!“ und warf meinen Gürtel fort. Etwas unentschlossen stand ich da, während meine Hose immer wieder Annäherungsversuche mit dem Boden machte. Die Männer um mich herum grinsten verstohlen, und auch der Offizier schien sich kaum vor Lachen halten zu können. Meine Augen suchten im Raum nach einem Gegenstand, der mir meinen Gürtel ersetzen sollte. Da entdeckte ich auf dem Tisch einen ziemlich starken Bindfaden, griff nach ihm und wollte schon die widerspenstige Hose damit bändigen, als eine Hand ihn
39mir aus den Fingern riß: „Das hat gerade noch gefehlt, willst wohl wieder morden, du Vieh?“ Aller Augen richteten sich plötzlich auf mich, als ich mich erdreistete zu sagen: „Soll ich denn die Hose immer mit einer Hand festhalten?“ Eine sichtliche Ratlosigkeit war allen anzumerken, bis der Offizier in jovialer Art einen Schneider heraufbeorderte.
Ungekämmt und unrasiert, die liederliche Kleidung voller Fäden und Fusseln, so sah der Schneider aus; auf der typischen „Nichttrinkernase“ zwei dicke Brillengläser in einer mit Nähgarn geflickten Fassung. Tänzelnd kam er auf mich zu und untersuchte nicht nur mit den Augen, sondern scheinbar auch mit der Nase meine Hose. Kurz entschlossen zückte er eine große Schere, zwei kurze, beherzte Schnitte, und ein keilförmiges Stück war herausgeschnitten; eine flinke Nadel nähte mit dickem Garn die Stelle wieder zu. Heureka! Die Hose war gebändigt.
Indessen waren die beiden Schreiber mit dem Heften und Nähen meiner Akte fertig geworden. Der Offizier näherte sich mir, und jedes Wort betonend brachte er mit besonderer Wichtigkeit hervor:
„Kerl, nur der geringste Versuch zu fliehen, und keine Macht der Welt kann dich dann vor dem Strang retten. Merke dir das ganz genau!“
Man brachte mich in meine freundliche, sonnige Zelle zurück. So empfand ich sie wenigstens, obwohl mich das Ungeziefer in unübersehbaren Bataillonen Tag und Nacht attackierte. Tage vergingen in völliger Einsamkeit. Das Essen war gut und reichlich, und so erholte ich mich rasch wieder. Das Turnen und Auf- und Abgehen, meine einzige Beschäftigung, der nicht selten der Wächter durch das Guckloch neugierig zusah, machte meinen Körper wieder elastisch und widerstandsfähig. Dabei wurden schon die kühnsten Fluchtpläne geschmiedet. Ich mußte nur geduldig auf den Abtransport nach Sibirien warten.
Rohes Hämmern gegen die Tür.
„Mach dich fertig!“ Und alles verstummt wieder in der lautlosen Nacht.
Ich habe nur meine Mütze aufzusetzen, und schon bin ich fertig.
Kurze Zeit danach wird die Tür aufgerissen.
„Geh!“
Ich gelange auf den großen Hof, der von hohen, grauen Mauern bewacht wird. In der Mitte des Hofes stehen viele Gefangene. Einige davon tragen Sträflingskleider, andere haben ihre Zivilkleidung an. Die Gesichter der Männer sind gespannt. Was steht ihnen bevor? Über allen lastet ihr furchtbares Urteil: Sibirien.
Draußen heult der Wind. Er atmet die herbstliche Kühle des nahen Meeres.
Graue, geduckte, ängstliche Menschen mit kleinen Bündeln auf den Schultern, fluchende, brüllende Stimmen der Wächter, blinkende Bajonette, zitterndes, gespenstisches Fackellicht auf der unheimlichen Gruppe.
„Sibirien!“
Dieses Wort flüstert man gewöhnlich.
Ein nach Sibirien Verbannter ist nur selten heimgekommen. Und wenn einer dennoch zurückgekehrt ist; so war er grau und für immer schweigsam geworden. Nie mehr huschte ein Lächeln über seine Züge. Stundenlang saß er dann unbeweglich, meist irgendwo in der Sonne, starrte vor sich hin, oder er blickte in die Ferne. Seine Augen konnten unendlich weit, weit in die Ferne sehen. Er schien ständig auf etwas zu warten ... auf den Tod? Ein aus dem „Totenhaus“ Entlassener konnte nur noch darauf warten.
Das mächtige, schwere Tor öffnet sich stöhnend, widerwillig, als wehre es sich gegen die rohe Menschengewalt. Es öffnet den Unglücklichen den Weg zu den Qualen, den Weg zur Verdammnis.
Die unheimliche Kolonne der Todgeweihten passiert langsam das Tor, denn ihre Füße schreiten wie auf bleiernen Sohlen.
Sie schreiten in die Nacht hinaus.
Die Nacht hat sie zu sich genommen.
Sie sind alle in ihr verschwunden ...
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