Grigorij Klimow
- Leseprobe -
1.
„Gehn Sie nach unten und warten Sie auf mich im Auto“, sagt der General, als ich auf seine Aufforderung bei ihm erscheine. Mit einem Kopfnicken gibt er zu verstehen, daß ich entlassen sei. Der General hat die Eigenart, nie zu verraten, wohin wir fahren. Es kann der Kontrollrat sein, genau so gut aber auch der Flugplatz, und von dort aus Moskau oder Paris. Entweder ist er der Ansicht, seine Untergebenen hätten seine Gedanken zu erraten, oder er versucht nach dem Beispiel prominenter Persönlichkeiten, die Reiseroute zu verheimlichen, um Attentaten aus dem Wege zu gehen. Das hindert ihn durchaus nicht, seine Reisegefährten später anzuschnauzen, warum sie sich auf die Reise nicht vorbereitet und das notwendige Material nicht zurechtgelegt hätten oder warum, zum Teufel, sie überhaupt mit ihm führen.
Vor dem Kriege war General Schabalin erster Sekretär des Gebietskomitees der KPdSU(B) in Swerdlowsk. Während des Krieges war er Mitglied des Kriegsrats und Kommandeur des rückwärtigen Frontgebietes der Heeresgruppe Wolchow – Auge und Ohr der Partei im Armeeapparat. Solche Parteigenerale beteiligen sich niemals direkt an der Planung oder Ausführung von Kampfhandlungen, ohne ihre Unterschrift ist jedoch kein Befehl rechtskräftig. Im Auto sitzt Major Kusnezow. „Wohin fahren wir?“ frage ich.
„Irgendwohin“, antwortet der Adjutant des Generals sorglos, Er hat sich bereits an die Gepflogenheiten des Generals gewöhnt und zerbricht sich nicht den Kopf über das Fahrtziel. Auf der Autobahn angelangt, nimmt unser „Admiral“ Kurs auf Dresden. Der Geschwindigkeitsmesser steigt auf neunzig Kilometer, aber auf dem Beton der Autostraße geht das Gefühl für Geschwindigkeit verloren. Merkwürdigerweise fanden die deutschen Autobahnen nicht sofort die Anerkennung der Russen. Aus unerfindlichen Gründen vermieden wir es in den ersten Monaten nach der Kapitulation, sie zu benutzen. Später konnte man über die Autobahnen oftmals die Äußerung hören: „Das ist das beste Denkmal, das Hitler hinterlassen hat.“
In Dresden hält unser Wagen vor dem Hotel „Luisenhof“, das von einer fast unübersehbaren Menge rotbewimpelter Autos um geben ist. Ringsum sind mit Maschinenpistolen ausgerüstete Wachen aufgestellt. Auf den Stufen vor dem Gebäude steht eine Gruppe von Generalen. Darunter der zweifache Held der Sowjetunion, Generaloberst der Panzerwaffe und Militärgouverneur des Landes Sachsen, Bogdanow. Es sind Militärkommandanten Sachsens, die heute hier zusammengerufen wurden, um dem Oberkommando der SMA Dresden und Berlin Bericht zu erstatten. Der SMA sind eine Menge Klagen und Beschwerden über die Tätigkeit der Ortskommandanturen zugegangen. Nach der Kapitulation hatten die Kommandanten keinerlei Instruktionen erhalten und machten Politik auf eigene Faust. Die Puristen von ihnen sind halbgebildete Offiziere, die der Krieg an die Oberfläche gespült hat und die den Aufgaben, die eine Besatzungspolitik in Friedenszeiten stellt, absolut nicht gewachsen sind. Ehe sich General Schabalin vor Beginn der Konferenz mit General Bogdanow entfernt, flüstert er seinem Adjutanten etwas ins Ohr. Major Kusnezow zieht mich mit sich: „Komm, ein Auto aussuchen.“ „Was für ein Auto?“ frage ich verwundert.
„Für den General“, antwortet Kusnezow kurz. „Du wirst gleich sehen, wie man das macht. Komm!“
Mit der Miene müßiger Autoliebhaber gehen wir durch die Reihen der parkenden Wagen, mit denen die Kommandanten der sächsischen Städte zur Konferenz gekommen sind. Sobald ein Kommandant eine Stadt übernahm und damit zu ihrem unumschränkten Herrn wurde, war seine erste Amtshandlung, das beste Auto, das in der Stadt aufzutreiben war, kurzerhand zu requirieren. Und nun haben wir eine Auswahl der besten Modelle der deutschen Autoindustrie vor uns, angefangen vom konservativen „Maybach“ bis zu den modernsten Schöpfungen von Mercedes-Benz. Die neuen Herren dieser Wagen sind schon im „Weißen Hirsch“. In den Wagen befinden sich nur die Fahrer, einfache Soldaten.
In aller Ruhe betrachtet Major Kusnezow die Wagen. Er stößt mit den Stiefelspitzen gegen die Reifen, prüft die Güte der Sprungfedern und schaut sogar auf den Kilometerzähler, um sich zu vergewissern, wieviel das Auto schon gelaufen ist. Endlich fällt die Wahl des Majors auf ein offenes „Horch“-Kabriolet.
„Wessen Wagen ist das?“ wendet er sich an den Soldaten, der es sich hinter dem Steuer bequem gemacht hat.
„Oberstleutnant Sacharow“, antwortet der Soldat in einem Ton, als müßte alle Welt den Namen kennen. Er nimmt sich nicht einmal die Mühe, uns zu grüßen: die Fahrer nehmen gerne die Allüren ihrer Herren an.
„Kein schlechtes Wägelchen“, stellt Kusnezow fest. Er fährt mit dem Finger über die Knöpfe der Schalttafel, wirft noch einen Blick auf den Wagen und sagt: „Sag' Deinem Oberstleutnant, er soll das Auto nach Karlshorst an General Schabalin schicken.“
Der Soldat betrachtet den Major von der Seite. Man sieht ihm den Ärger an: der Oberstleutnant hat ihn hergesetzt, um den Wagen zu hüten; jetzt kommt einer daher und will ihn holen – am hellichten Tag. Aber wundern tut sich der Soldat gar nicht, er fragt nur mit gelindem Mißtrauen: „Wer ist eigentlich General Schabalin?“ „Nach der Konferenz wird Dein Oberstleutnant genau wissen, wer das ist“, antwortet der Major, „Du aber melde Deinem Oberstleutnant, er soll Dich bestrafen, weil Du den Adjutanten General Schabalins nicht gegrüßt hast.“
Ihr Beutestücke werden streng nach Rang und Würden verteilt: Soldaten bekommen Uhren und anderen Kleinkram, Unteroffiziere Akkordeons, Offiziere ... Die Klassifikation ist kompliziert, wird aber streng eingehalten. Wenn das Schicksal irgend einem Leutnant ein zweiläufiges Jagdgewehr Marke „Drei Ringe“ in die Hand gespielt hat, ist das für den Leutnant von vornherein eine verlorene Sache. Besser, er gibt es gleich freiwillig ab, ohne zu warten, bis es ihm abgenommen wird. So oder so, das Gewehr landet auf jeden Fall im Koffer eines Majors. Aber auch da bleibt es nicht lange, wenn dieser es nicht gut versteckt. Ganz besonders streng wird diese allgemeine Regelung auf Autos angewandt. Einen Wagen kann man nicht gut verstecken, in einen Koffer paßt er nicht. Aus diesem Grunde zeigt der Fahrer auch keine Verwunderung, sondern erkundigt sich nur, wer General Schabalin sei – ob der Befehl diesem „Reglement“ entspricht oder nicht.
Die sächsischen Kommandanten haben, geblendet durch ihre lokale Machtvollkommenheit, einen taktischen Fehler begangen, indem sie ihren Vorgesetzten eine solche Fülle verführerischer Wagen vor Augen führten. Diese Unvorsichtigkeit büßten sie durch den Verlust der Hälfte ihrer Autos, die vor dem Hotel „Weißer Hirsch“ parkten und das Pech hatten, den Generalen zu gefallen. Als einige Monate später eine zweite Konferenz stattfand, kamen viele Kommandanten, eingedenk der erhaltenen Lehre, nahezu in Pferdewagen vor den „Weißen Hirsch“ gefahren. Natürlich hatten sie sich längst wieder gute Wagen aus den örtlichen Beständen organisiert, ließen sie dieses Mal jedoch wohlweislich zu Hause.
Wenig später beginnt im Konferenzsaal die Tagung. An die dreihundert Offiziere haben sich versammelt. Nur Kommandanten im Rang vom Major an aufwärts sind anwesend. Auch einige Generale sind darunter – die Kommandanten von Dresden, Leipzig und anderen sächsischen Großstädten. Auch sie sollen sich am Erfahrungsaustausch beteiligen. Sie sitzen ziemlich zahm auf ihren Stühlen An dem mit rotem Tuch bedeckten Tisch des Präsidiums haben sich die Spitzen der SMA niedergelassen. In ihrer Mitte sitzt General Schabalin als Vertreter der obersten Gewalt von Karlshorst. Die Kommandanten brauchen nicht lange zu warten. General Bogdanow eröffnet die Sitzung mit der Erklärung, daß der SMA Tatsachen zu Ohren gekommen seien, nach denen zu urteilen die Kommandanturen eine verdrehte und entstellte Auffassung von ihren Aufgaben haben. Er fordert die Anwesenden auf, ihre „Erfahrungen auszutauschen“ und die Mängel in der Arbeit der Kommandantur schonungsloser Kritik zu unterwerfen. Dabei gibt er zu verstehen, daß die SMA viel besser unterrichtet sei, als man annehme. Es sei daher richtiger, diese Unzulänglichkeiten selbst zur Sprache zu bringen, als auf das Eingreifen der SMA zu warten. Mit anderen Worten: falls sich jemand schuldig fühlt, soll er möglichst viele Sünden seines Nächsten aufdecken, um auf diese Weise seine eigenen zu vertuschen.
Als erster meldet sich ein Oberstleutnant zu Wort. „Natürlich weist die Arbeit der Kommandanturen einige Mängel auf, diese sind aber hauptsächlich auf das Fehlen einer Kontrolle von oben zurückzuführen“, sagt er. „Die Militärkommandanturen sind sich selbst überlassen und dies führt zu ...“ Der Oberstleutnant, der die Mission der Selbstbezichtigung auf sich genommen hat, beginnt seine Rede recht unsicher. Er überblickt die Reihen seiner Kameraden, als suche er bei ihnen Unterstützung. Diese haben ihre Blicke gesenkt und studieren aufmerksam ihre Stiefelspitzen. General Bogdanow trommelt mit dem Bleistift abwartend auf dem roten Tuch. Viele Militärkommandanten lassen ihre Pflicht außer acht, einige „in ihnen sind moralisch gesunken und verbürgerlicht. Die moralische Sauberkeit des sowjetischen Offiziers ist für diese Leute ... eh ... eh!“ Der Oberstleutnant fühlt, daß er sich zu weit auf das Gebiet der hohen Moral vorgewagt hat und beschließt, der Sache selbst näherzukommen: „Nehmen wir beispielsweise Major sowieso, Chef der Kommandantur der Stadt X.“
General Bogdanow unterbricht ihn: „Bitte keine Pseudonyme. Wir sind hier unter uns.“
Na, dann nehmen wir zum Beispiel Major Astafjew“, berichtigt der Oberstleutnant. „Nach seiner Ernennung zum Kommandanten der Stadt N. ist er offenkundig der Zersetzung verfallen. Nicht weit von der Stadt befindet sich ein fürstliches Schloß, in dem früher verschiedene Barone lebten. Jetzt hat Major Astafjew es zu seiner Residenz gemacht. Er lebt dort, wie selbst die Bojaren und Höflinge des Zaren nicht gelebt haben. Man muß schon sagen: er lebt da wie Gott in Frankreich.“
Aus den Worten des Oberstleutnants klang ein Anflug von Neid. Offenbar hat er oftmals an den Gelagen seines Kameraden Astafjew im Märchenschloß teilgenommen, sich dann aber wohl wegen irgendeiner Beute mit ihm nicht einigen können, was ihn jetzt veranlaßt, sich der Moral zu erinnern. Ich schaue mich im Saal um in der Hoffnung, den Major mit den aristokratischen Neigungen zu entdecken. Zu meinem Erstaunen halten alle im Raum anwesenden Majore ihre Blicke mit verdächtiger Schamhaftigkeit gesenkt.
„Nun, also Major Astafjew ist offensichtlich der Zersetzung verfallen. Er hält im Schloß mehr Dienerschaft als der verstorbene Besitzer. Jeden Morgen, wenn Major Astafjew geruhen, die Augen zu öffnen, dann wissen Herr Major nicht, wo Herr Major sich befinden – bis Herr Major einen halben Eimer voll Gurkenlake zu sich genommen haben, um nach der nächtlichen Sauferei den Katzenjammer zu vertreiben. Sodann streckt Major Astafjew, wie es einem echten gnädigen Herrn geziemt, seine Füßchen aus. Dann zieht eine Deutsche ihm den Strumpf über den linken Fuß, die andere über den rechten. Die dritte hält den seidenen Morgenrock bereit. Auch die Hosen kann er ohne fremde Hilfe nicht anziehen.“
Im Raum werden Heiterkeit und Lachen laut. Die Lebensweise des braven Majors imponiert den Anwesenden offensichtlich.
Nun, das sind erst die Blüten, die Früchte kommen noch ...!“, ruft der Redner. „Das Zusammenleben mit deutschen Frauen ist bei Major Astafjew zum System erhoben. Er verfügt über ein spezielles Kommando, das nur damit beschäftigt ist, im Gebiet Frauen für ihn einzufangen. Diese werden tagelang im Keller der Kommandantur eingesperrt, ehe sie ins Bett des Majors kommen.“ Ich bemerke nicht weit von mir einen Major, der mit zusammengepreßten Lippen und zur Seite geneigtem Kopf eifrig Notizen macht. Das wird wohl Major Astafjew sein. Natürlich schreibt er jetzt nicht an seiner Entlastung, sondern verfaßt eine Anklage. Jedoch nunmehr gegen den Oberstleutnant.
„Es geht bei ihm direkt bis zur Borniertheit“, fährt der Obersleutnant fort. „Neulich verspürte Kommandant Astafjew nach einer üblichen Sauferei Lust auf eine Fischsuppe. Ohne lange zu überlegen, befahl er die Schleusen des Schloßteiches zu öffnen und auf diese Weise Fische für ihn zu fangen. Ein paar Fischchen kamen in die Suppe des Majors, mehrere Zentner Fische kamen um. Sind das nicht empörende Tatsachen, Genossen Offiziere?“
Die Worte des Oberstleutnants bewirken eher Heiterkeit als Empörung. Ein jeder denkt an ähnliche Fälle aus seiner eigenen Praxis und teilt seine Eindrücke mit seinem Nachbarn.
„Der Fall des Majors Astafjew“, sagt der Redner abschließend, „ist für uns aus dem Grunde interessant, weil er eine typische Erscheinung ist. In vielen Kommandanturen ist die Lage nicht wesentlich anders als bei Major Astafjew. Solche Zustände dürfen nicht weiter geduldet werden. Unsere Aufgabe ist es, solche beschämenden Erscheinung zu entlarven und zu brandmarken, solche außer Rand und Band geratenen Hornochsen zur Ordnung zu rufen und ihnen das Vorhandensein proletarischer Gesetzlichkeit ins Gedächtnis zu bringen.“ Aus den Gesichtern der Anwesenden weicht die angeregte Fröhlichkeit und macht tugendhaftem Schweigen Platz, die Augen studienren wiederum die Stiefelspitzen. Die Sache nimmt eine unangenehme Wendung, sobald von Verantwortlichkeit die Rede ist. Der Krieg ist zu Ende und die Kommandanten kennen die sowjetischen Gesetze aus Erfahrung.
Die sowjetische Rechtssprechung wendet, ausgehend von dem Dogma der psychologischen Erziehung des Kollektivs, oftmals die Methoden der „Sündenböcke“ an, die für sämtliche Sünden des Kollektivs zu büßen haben. In solchen Fällen wird das Gesetz zur Abschreckung der anderen mit doppelter Strenge angewandt.
Die sowjetischen Gesetze drücken bei geringen Vergehen ein Auge zu. Man kann doch wegen eines ausgeschlagenen Zahnes oder einer zerbrochenen Glasscheibe einen Menschen nicht vor Gericht stellen. Es gibt wichtigere Dinge, so zum Beispiel einem Menschen zehn Jahre aufzubrummen, weil er „sozialistische“ Ähren vom Felde aufliest oder fünf Jahre, weil er in der Fabrik ein Stück „sozialistischen“ Zuckers stiehlt. Zähne und Glasscheiben sind immer noch Privateigentum und genießen daher nicht den Schutz des sozialistischen Gesetzes. Das Gefühl für Gesetzlichkeit geht verloren; wenn solche Erscheinungen bedrohlichen Umfang anzunehmen beginnen, geht man auf die Suche nach dem „Sündenbock“. Es ist höchst unangenehm, einen solchen Sündenbock abzugeben! Man kann vieles ungestraft anstellen, um dann plötzlich wegen einer Kleinigkeit buchstäblich den Kopf zu riskieren.
Wenn schon die oberste Leitung der SMA unter dem Vorwand härmloser Selbstkritik beschlossen hat, eine entsprechende Gesundungsmaßnahme durchzuführen, dann ist die Sache faul. Und dann wird es bald brenzlig – einige der Kommandanten kommen unweigerlich vors Militärtribunal. Auf wen wird das Los fallen? Im Saal verbreitet sich eine angespannte Atmosphäre, eine gewisse Nervosität macht sich bemerkbar.
Die Rechnung des General Bogdanow stimmt. Nach der einleitenden Rede des Oberstleutnants, die möglicherweise auf ein vorangegangenes Gespräch in der SMA zurückzuführen war, beginnen erbitterte Selbstbezichtigungen. Die Kommandanten bewerfen einander hingebungsvoll mit Schmutz, während die Sekretäre jedes Wort eifrig mitstenographieren. Schließlich kommt die Reihe an die Generale – die Kommandanten von Dresden und Leipzig. Eine seltene Gelegenheit, einen General zu sehen, der wie ein kleiner Schuljunge inmitten des großen Auditoriums steht und ein Sündenbekenntnis ablegt, manchmal erinnert er sich seiner Generals-Schulterstücke und versucht, sich zu rechtfertigen. Dann feuert eine Stimme aus dem Präsidium ihn spöttisch an: „Keine falsche Scham, General. Wir sind hier unter uns.“
Die Mentalität der Masse, die in absolutem Gehorsam erzogen ist! Wenn von oben befohlen wird, Sünden zu bekennen, bekennen alle. Wer keine vergangenen Sünden zu bekennen hat, bekennt zukünftige. Die Kommandanten entlarven unisono ihre „Unzulänglichkeiten“ und schwören, in Zukunft brave Kinder zu sein und dem Väterchen zu gehorchen. Denn das Väterchen im Kreml hat immer recht.
Im Saal erhebt sich eine Gestalt und wendet sich an das Präsidium: Gestatten Sie eine Frage, Genosse General? Sie gehört zwar nicht ganz zur Sache, aber ich möchte gern einen Rat haben.“ „Nun, heraus damit! Was haben Sie auf dem Herzen?“ ermuntert General Bogdanow freundschaftlich. Wahrscheinlich eines der üblichen Sündenbekenntnisse – und die hört der General für sein Leben gern.
Meine Kommandantur liegt direkt an der tschechischen Grenze“, beginnt der Kommandant. „Jeden Tag jagt man einen Haufen nackter Menschen zu mir über die Grenze. Ich stecke sie alle vorläufig in den Keller. Sie können doch nicht in diesem Aufzuge auf den Straßen herumlaufen und ich habe nichts, womit ich sie einkleiden könnte.“ Im Saal hört man Lachen. General Bogdanow fragt: „Wieso denn – nackt?“
„Ganz einfach“, antwortet der Pechvogel, „vollkommen nackt. Wie neugeborene Kinder. Man schämt sich, hinzusehen.“
Ich verstehe keinen Ton“, wendet sich der General an die Mitglieder des Präsidiums. „Erklären Sie das genauer. Woher kommen diese nackten Leute?“
Der Kommandant erklärt: „Es sind Deutsche aus der Tschechoslowakei. Die Tschechen ziehen sie erst aus und schicken sie dann in diesem Aufzug zu mir über die Grenze. Sie sagen: ‚Nackt seid ihr hierher gekommen, nackt könnt ihr auch zurückkehren.’ Es sind Sudetendeutsche. Sie werden entsprechend dem Potsdamer Abkommen nach Deutschland umgesiedelt. Für die Tschechen ist das ein Spaß – und für mich – ein Problem. Womit soll ich diese Leute kleiden, wenn meine eigenen Soldaten in Lumpen herumlaufen!“ Ein anderer Kommandant fragt: „Ich habe in der Stadt eine Bank. Zusammen mit dem Bankdirektor habe ich die Privatsafes in den Kellern besichtigt. Eine Menge Gold, Brillanten, ganze Berge von Wertsachen. Ich habe befohlen, vorerst alles zu versiegeln. Was soll ich damit anfangen?“
Einen dritten beunruhigt eine vollständige deutsche Panzerdivision, die im Hof der Kommandantur untergebracht ist.
Es ist charakteristisch – kein einziger Kommandant beklagt sich über Schwierigkeiten mit der deutschen Bevölkerung. Weder Diversionsakte noch Unruhen. Viel mehr Sorge bereiten die eigenen Leute. „Der Besatzungsapparat muß auf der Höhe der von ihm zu lösenden Aufgaben der Besatzungspolitik sein. Das Prestige unserer Armee und unseres Landes muß vor der Bevölkerung des besetzten Land gewahrt werden. Die Kommandanturen sind das erste Glied, das den Kontakt mit der deutschen Bevölkerung aufrechtzuerhalten hat“, wendet sich General Bogdanow an die Anwesenden.
„Und um dieses repräsentative Organ unseres Staates hat sich der ganze Abschaum der Armee angesammelt. Bisher rechnet man nicht mit der öffentlichen Meinung des besiegten Landes, später wird sich das bemerkbar machen“, denke ich in Beantwortung der Worte des Generals. Anschließend an die Konferenz findet für die Teilnehmer ein Bankett statt. Major Kusnezow, ich und ein Offizier der SMA Dresden belegen einen Tisch in einer Fensternische.
Einstmals war das Hotel „Luisenhof“ ein beliebtes Ziel der Kurgäste und ausländischen Touristen. Durch das Fenster blickt man auf die von leichtem Nebel überdeckte Elbe, die die Stadt durchschneidet. Vom Hotel aus übersieht man die Stadt aus der Vogelschau. Die Zerstörungen, die die Stadt im Krieg erlitten hat, sind von hier aus kaum zu sehen; das Bild zu unseren Füßen atmet Ruhe und alte ehrwürdige Kultur. Dresden ist schön, wenn es auch heute zur Hälfte aus Ruinen besteht. Es birgt viel wahrhaft edles Erbe jenes anderen Deutschland, das wir heute unter dem Eindruck der letzten Jahre übersehen.
Gleichgültige Kellner mit Gesichtern wie Universitätsprofessoren schweben lautlos durch den Saal. Pikkolos in weißen Jacken bewegen sich geschickt zwischen den Tischen, wedeln geschäftig mit ihren Servietten und gehorchen flink dem stummen Blick des majestätischen Oberkellners. In ihren kindlichen Träumen malen sie sich aus, daß auch sie einmal an seiner Stelle stehen, mit Stolz den schwarzen Frack tragen und den ganzen Saal beherrschen werden. Der Beruf des Kellners ist in Europa zu einer Kunst erhoben. In der Sowjetunion dagegen gilt er als eines Mannes unwürdig. Ein ergötzlicher Kontrast – im proletarischen Land ist ein proletarischer Beruf zur mißachteten Beschäftigung herabgesunken! Ohne Kellner kommt man jedoch auch unter den Bedingungen des Kommunismus nicht aus. Der Unterschied ist nur der, daß die sowjetischen Kellner, da ihr Beruf nun einmal für eine minderwertige Beschäftigung gehalten wird, dementsprechend ein hundsmiserables Benehmen an den Tag legen.
Einschmeichelnd klingt eine bekannte Melodie an unser Ohr. Das „Blaue Tüchlein“! Ich liebte dieses einfache Liedchen, ob es nun von einer der Moskauer Bühnen erschallte, von Soldaten auf einem Akkordeon gespielt oder von Mädchen in Feldgrau kunstlos gesungen wurde. Heute scheint es symbolisch zu klingen – von einer deutschen Kapelle gespielt.
Major Kusnezow wirft einen Blick in den Saal und sagt: „Gemütliches Lokal. Und wenn man die ganzen Gäste zum Teufel jagen könnte, wäre es noch besser.“
Die Kommandanten, die den Saal bevölkern, haben sich inzwischen von der unangenehmen Konferenz ein wenig erholt. Sie bemühen sich, ihr ins Wanken geratenes Selbstbewußtsein durch Erinnerungen an eigene Heldentaten während des Krieges wiederzugewinnen. Dabei helfen ihnen die unbegrenzten Mengen aufmunternder Getränke auf den Tischen. Der Raum füllt sich mit unbestimmtem Lärm. Unser dritter Gefährte sagt mit einem scheelen Blick auf den Saal: „Dasselbe kam mir in der Moskauer U-Bahn in den Sinn. Die U-Bahn ist wundervoll, aber das Publikum paßt nicht dazu. Es verdirbt den ganzen Eindruck! Ringsum Marmor – und dazwischen Hunger, in Lumpen gehüllt!“
Ich frage Major Kusnezow, der dank seiner Stellung als Adjutant mit den Gepflogenheiten der Armee eng vertraut ist: „Was, meinst Du, blüht Major Astafjew und den übrigen, die auf der Konferenz durchgehechelt wurden?“
Major Kusnezow lächelt: „Nichts. Schlimmstenfalls Versetzung in eine andere Kommandantur. Auch Schufte von Beruf werden gebraucht ... Außerdem sind diese Rindviecher der Partei aufrichtig ergeben und treuergebenen Leuten wird vieles verziehen. Die Partei braucht sie, genau so, wie sie die Partei brauchen. Ein von einander abhängiges Ganzes.“
Ich wundere mich, daß der Major und sein Bekannter so offen über derart heikle Dinge sprechen. Es ist die merkwürdige Nachkriegsatmosphäre in der Armee und im ganzen Lande. Die Menschen hatten das Gefühl, die Freiheit erkämpft zu haben, Sieger zu sein. Dieses Gefühl war weit verbreitet, und dazu noch gefördert durch das Sichtbarwerden der Kontraste bei der Berührung mit dem Westen. General Schabalin stieg für die Zeit unseres Aufenthaltes in Dresden in der Villa ab, die General Dubrowskij – der Chef der SMA-Wirtschaftsabteilung Sachsen – bewohnte. Es war die ehemalige Villa eines deutschen Großkaufmanns. Hinter der Villa liegt ein wundervoller Garten. Hier spazierten nach der Konferenz Major Kusnezow und ich eine Weile umher. Wenig später kam Mischa, der Fahrer des Generals, und überbrachte uns die Aufforderung General Schabalin, uns umgehend bei General Dubrowskij zu melden.
Im Arbeitszimmer General Dubrowskijs findet eine Sitzung von etwas anderer Art statt. An der einen Seite des Tisches sitzt General Schabalin, neben ihm General Dubrowskij. Ihnen gegenüber der Chef der Regierung Sachsens, der Landrat des Kreises Dresden, und der Dresdner Oberbürgermeister. Ein Mitglied des Magistrats spricht ein tadelloses Russisch. Er war noch vor kurzem Oberstleutnant der Roten Armee. Verhandelt werden die wirtschaftlichen Aufgaben Sachsens im Hinblick auf das Besatzungsregime. Diese Sache wickelt sich erstaunlich glatt ab. Der Bürgermeister ist nicht nur ein gehorsamer Vollstrecker, sondern ebenso ein wertvoller Berater in Lokalangelegenheiten. Wir befehlen und fordern nicht. Nein, der Bürgermeister empfiehlt uns zweckdienliche Maßnahmen und legt sie uns zur Bestätigung vor.
Nur ein einziges Mal kommt das Bewußtsein seiner deutschen Abstammung beim Bürgermeister andeutungsweise zum Durchbruch. Als der große Mangel an Grubenholz erörtert wird, schlägt General Schabalin, ohne lange zu überlegen, vor: „Hier ist doch genügend Wald – holzt ihn ab!“
Der Bürgermeister und ehemalige Oberstleutnant der Roten Armer schlägt entsetzt die Hände zusammen: „Wenn wir die Wälder abholzen, wird unser blühendes Sachsenland in fünf Jahren zu einer Wüste!“
Eine Kompromißlösung wird angenommen: andere Quellen sollen gesucht und bis dahin der vorhandene Wald abgeholzt werden.
Der Regierungschef dient als Aushängeschild – ein verweichlichtes Geschöpf irgendeiner demokratischen Partei, bereit, jegliches Schrillstück unbesehen zu unterschreiben. Hinter ihm steht unser Mann; dieser trug gestern noch sowjetische Achselstücke und ist heute hundertprozentiger Deutscher und Bürgermeister. Er scheut keine Anstrengung, um möglichst viel Reparationen herauszuschlagen. Das „klassenfremde“ Element wurde über Nacht beseitigt, die übrigen sind vor Schreck gelähmt, unsere Leute aber arbeiten unter der Maske der neuen Demokratie.
Die Massen müssen geschickt von oben gelenkt werden. Die Psychologie der Massen ist eine exakte Wissenschaft, vom Kreml bis in alle Einzelheiten ausgearbeitet. Der Mensch ist ein Herdentier. Die heutigen Lebensbedingungen machen ihn viel abhängiger von der Herde, als es seine sämtlichen vierbeinigen Vorfahren waren. Heute ist es unmöglich, einfach in den Wald davonzulaufen. Der Hirte im Kreml versteht seine Sache.
Zum Abschied schüttle ich dem Bürgermeister die Hand. Aus Höflichkeit rede ich ihn deutsch an, damit er sich nicht allzusehr als Kriecher fühlt. Manchmal ist es ganz nützlich, einen Lakaien glauben zu machen, daß man ihn für seinesgleichen hält.
Am nächsten Tage fahren wir nach Halle, der Hauptstadt der Provinz Sachsen. Hier trifft Schabalin seinen alten Freund, General Kotikow – den Chef der Wirtschaftsverwaltung der SMA Halle. In der Folge wurde General Kotikow als sowjetischer Kommandant von Berlin bekannt. Die Alliierten werden seinen Namen wohl lange im Gedächtnis behalten. Äußerlich aber ist General Kotikow ein sehr sympathischer Mann, zudem ein gastfreier Hausherr. In Halle spielen sich ähnliche Sitzungen ab wie in Dresden. Zuerst ein Intermezzo mit den Kommandanten – genau wie im Bundesland Sachsen. Darauf kontrolliert General Schabalin die Arbeit der neuen Demokratie. Der hiesige deutsche Bürgermeister hat fast fünfzehn Jahre in der Pokrowskijstraße in Moskau gelebt, wir sind also beinahe Nachbarn. Er legt bei seiner Tätigkeit noch mehr Dienstbeflissenheit an den Tag als sein Kollege in Dresden. General Schabalin muß seinen Eifer dämpfen, als er ein ellenlanges Verzeichnis von Unternehmen vorlegt, die zur Sozialisierung vorgesehen sind.
„Nicht so rasch“, sagt General Schabalin, „Sie müssen die Besonderheiten der deutschen Wirtschaft und des Übergangsstadiums berücksichtigen. Legen Sie Ihre Vorschläge General Kotikow zur Prüfung vor.“
Stalin hat recht, wenn er sagt: „Die Kader entscheiden alles!“ Der Allgewaltige im Kreml versteht, seine Handlanger zu wählen! Auf unserem Rückweg nach Berlin gibt es eine unvorhergesehene Verzögerung. In der Nähe der Lutherstadt platzt einer der Hinterreifen. Unser Fahrer hat weder einen Reservereifen noch einen Reserveschlauch, nicht einmal Gummiklebstoff. Der General schimpft wütend. Er will um jeden Preis noch vor Eintritt der Dunkelheit in Berlin sein. Anscheinend hat er kein großes Zutrauen zu der Tätigkeit der Kommandanturen.
Ich werfe Kusnezow einen Blick zu – wir werden einen Reifen beschaffen müssen, denn Chauffeur Mischa hat vor lauter Schreck die berühmte Erfindungsgabe der sowjetischen Fahrer verloren. Es gibt nur einen Ausweg – den Reifen von irgendeinem vorbeifahrenden Auto zu „organisieren“. Das ist heutzutage auf den deutschen Landstraßen eine alltägliche Erscheinung. Wir blockieren nach allen Regeln der Kriegskunst die Straße, halten sämtliche vorbeifahrenden Pkws an und unterziehen sie einer eingehenden Besichtigung. Kein einziger Reifen paßt zu unserem „Admiral“. Zur Verwunderung der Aufgehaltenen lassen wir sie ungehindert weiterfahren. Sie haben sicher schon ihre ganzen Koffer auf Nimmerwiedersehen verloren gegeben. Eine ziemlich imponierende Kontrolle – der General selbst stellt sich neben uns und läßt seine Generalsstreifen und die übrigen Zeichen seiner Würde funkeln. Nach einiger Zeit kommt uns langsam eine merkwürdige Autokolonne entgegen. Einige überdeckte Lastkraftwagen, in sämtlichen Regenbogenfarben gestrichen, mit bunten Theaterzetteln verziert – es riecht nach gebratenen Zwiebeln und nach Boheme: ein Wanderzirkus – Zigeuner des zwanzigsten Jahrhunderts. Es fehlt nur die schwarzhaarige Carmen, um den Eindruck vollständig zu machen. Den malerischen Zug beschließt ein amerikanischer Jeep. Am Steuer sitzt ein amerikanischer Hauptmann.
Ich versuche, den Kommandeur dieser Parade herauszufinden. Während ich überlege, in welcher Sprache ich mich verständigen muß, springt aus dem Jeep eine moderne Carmen heraus und wendet sich im waschechten Dialekt des Berliner Wedding an uns. Major Kusnezow und ich vergessen für einen Augenblick, warum wir eigentlich all diese Autos angehalten haben. Das Veilchen vom Wedding ist verteufelt schön! Nicht umsonst riskiert es der amerikanische Hauptmann, sich mit der Dame seines Herzens auf die gefährliche Reise über die Straßen der sowjetischen Zone zu begeben. Wegen einer solchen Frau kann man tatsächlich sämtliche Vorschriften von Eisenhower und Shukow vergessen. Wir reißen uns mit Mühe von dem verlockenden Anblick los und beginnen, die Reifen der Wagen zu untersuchen, wobei uns Mischa mit Ratschlägen technischer Art unterstützt. Endlich kommt die Reihe an den Jeep.
„Wie steht es mit den Reifen des Jeep – passen sie?“ fragt Kusnezow.
„Die Löcher passen. Wir werden zwar ein wenig hinken, aber bis nach Hause schaffen wir es“, entscheidet Mischa. Damit ist das Problem gelöst. Gleich werden wir eine Zusatzlieferung laut Pacht- und Leihvertrag erhalten, überdies hat der Jeep ein Reserverad. Unnötiger Luxus.
Ich erkläre Carmen unsere Notlage und zeige mit dem Finger auf den fünften Reifen des Jeep. Der General erinnert sich an das Potsdamer Abkommen und an die Technik der Einschüchterung: „Fragen Sie den Amerikaner, ob er einen Passierschein für die Sowjetzone besitzt. Wozu fährt er hier herum?“
Aber Künstler und Mäzen sind auch ohne psychologischen Druck bereit, so billig davonzukommen: ein Autoreifen für die Verletzung des Potsdamer Abkommens und das Befahren fremden Territoriums. Ich notiere die Berliner Adresse des Hauptmanns, um das enteignete Objekt dem Eigentümer zurückerstatten zu können. Später befahl ich Mischa mehrfach, den Reifen abzuliefern. Offen gestanden befürchte ich aber, daß der Reifen sich in eine Flasche Wodka verwandelte und spurlos in Mischas Magen verschwand. In der Dämmerung nähern wir uns Berlin.
Der General wird plötzlich unruhig und befiehlt Mischa: „Fahr auf keinen Fall durch den amerikanischen Sektor. Such die Strecke über Rudow.“
Das ist leichter gesagt als getan. An einer Stelle sind die Brücken nach Rudow gesprengt, an der anderen die Straßen gesperrt, überall, wo wir hinkommen, führen die Straßen durch den amerikanischen Sektor. Der General flucht und schimpft und bekundet eine merkwürdige Abneigung, durch amerikanisches Gebiet zu fahren.
Schließlich landen wir doch im amerikanischen Sektor. Der General weigert sich ganz kategorisch, den üblichen Weg über die Potsdamer Straße zu nehmen und befiehlt Mischa, sich durch die südlichen Vororte Berlins durchzuschlängeln, bis wir in den sowjetischen Sektor gelangen. Mischa schüttelt nur den Kopf. Im Sommer 1945 nachts durch Berlin zu fahren, und dazu noch durch unbekannte Vororte, ist eine schwierige Aufgabe.
Der General macht uns was vor. Er kann doch nicht im Ernst ein Attentat oder eine Schikane befürchten. Die Durchfahrt durch Berlin ist allen Alliierten gestattet. Geheimdokumente führen wir nicht mit. Ganz klar – der General will uns auch hier einen ideologischen Bluff vormachen.
Langsam kriecht unser Wagen wie ein mächtiger Käfer durch verwinkelte Gassen. Manchmal reißen die Scheinwerfer die Gestalt eines amerikanischen Postens aus der Dunkelheit. Immer sind es Doppelposten! Der brave Posten blinzelt ärgerlich ins grelle Licht, seine Freundin überwindet rasch den ersten Schreck und lächelt. Natürlich ahnen die aufgestörten Pärchen nicht, daß die Augen eines sowjetischen Generals aus dem Dunkel auf sie schauen. Der General brummt: für ihn ist das ein klarer Beweis für den moralischen Verfall der amerikanischen Armee.
Nach längerem Umherirren zwischen den Ruinen und Schrebergärten der Berliner Vororte fallen unsere Scheinwerfer auf einen gelben Pfeil mit der Aufschrift „Karlshorst“.
2.
Vom 17. Juli bis zum 2. August fand in Potsdam das erste Nachkriegstreffen der Großen Drei statt, das als Konferenz von Potsdam in die Geschichte eingegangen ist.
Die Konferenz von Jalta hatte in großen Zügen die Probleme behandelt, die mit der Beendigung des Krieges und dem Aufbau der Weltordnung nach dem Kriege zusammenhingen; die Potsdamer Konferenz befaßte sich mit den Einzelheiten der gleichen Probleme. Deutschland hatte bedingungslos kapituliert und es war notwendig geworden, die Politik der Siegermächte in bezug auf Deutschland, die Methodik ihrer Durchführung und die Koordinierung der Arbeit der Besatzungsbehörden endgültig abzustimmen und genau festzulegen. Im Verlauf der Konferenz wurde der große Unterschied zwischen dem Verhalten der Sowjetseite und dem der westlichen Alliierten auffallend deutlich sichtbar. Die westlichen Demokratien bestanden grundsätzlich auf einer Politik, die die Möglichkeit einer Wiedergeburt des deutschen Militarismus, die Möglichkeit einer neuen deutschen Aggression für die Zukunft ausschließen sollte. Das wollte man einerseits durch die Vernichtung und fernere Begrenzung des Kriegsindustriepotentials, andererseits durch eine demokratische Umerziehung Deutschlands erreichen.
Sobald es um die Zukunft Deutschlands im allgemeinen ging, konnte sich die Sowjetseite nicht genug tun an blumigen Auslassungen zum Thema Demokratie. Kaum kamen jedoch Einzelheiten zur Sprache, begannen die sowjetischen Vertreter schweigend aus den auf dein Tisch aufgestellten Karaffen Wasser zu trinken und Zigaretten zu rauchen. Es schien, als hätten die Sowjets keinen genauen Plan bezüglich dieser Fragen. Diesen Eindruck mußten jedenfalls die Vertreter des Westens erhalten. Obwohl die Sowjets gewöhnlich mit außerordentlich gründlich ausgearbeiteten Plänen zu Konferenzen erscheinen, verhielten sie sich diesmal merkwürdig zurückhaltend. Wohl wenige westliche Politiker ahnten zu jener Zeit, daß der Kreml einen sehr sorgfältig durchdachten Plan der sowjetischen Politik in Deutschland besaß. Vorerst hatte es nur keinen Sinn, diesen Plan auf den Tisch der Konferenz zu legen. Er wurde später ohnehin aus dem Verhalten der sowjetischen Besatzungsbehörden klar ersichtlich. Stalin vergaß die Worte nicht: „Deutschland ist der Schlüssel zu Europa.“
In Fragen der fernen Zukunft Deutschlands legte der Kreml auf der Potsdamer Konferenz eine große Nachgiebigkeit an den Tag und erklärte sich mit der Politik der westlichen Verbündeten im wesentlichen einverstanden. Dafür legte die Sowjetseite ein um so größeres Interesse, um so mehr Aktivität und ungewöhnliche Beharrlichkeil bei der Behandlung von Fragen an den Tag, die die nahe Zukunft betrafen – in der Frage der deutschen Reparationen und der Gebietsansprüche an den Ostgrenzen Deutschlands.
Das Rätsel war leicht zu lösen. Allzu leicht, als daß die westlichen Politiker auf eine so einfache Lösung verfallen konnten. Die Zukunft — das sind zu nichts verpflichtende Zusagen. Vorläufig aber gilt es, auf Kosten dieser Zusagen vom Westen möglichst viel Reparationen und Zugeständnisse herauszuschlagen. Die westlichen Demokratien, beruhigt durch die verhältnismäßige Nachgiebigkeit oder die scheinbare Uninteressiertheit des Kreml in bezug auf die grundsätzliche Politik, ließen sich nun ihrerseits auf Zugeständnisse ein, d. h. auf die umfassenden Reparations- und Gebietsansprüche des Kreml, die Deutschland automatisch von der Sowjetunion abhängig machten. Die westlichen Alliierten gaben Stalin selbst die Zügel in die Hand, mit denen er Deutschland regieren sollte.
Sie betrachteten das als Lösegeld, das die wirtschaftlichen Interessen des Kreml befriedigen und ihn nachgiebiger machen mußte in den Fragen der Neuordnung der Nachkriegswelt und der gegenseitigen Zusammenarbeit. Sie vertraten den idealistischen Standpunkt. Der Kreml hingegen geht immer vom materialistischen Standpunkt aus. Zuerst die materielle Grundlage schaffen, und dann, gestützt auf diese Grundlage, die weitere Politik aufbauen, nun nicht mehr von veralteten Verpflichtungen, sondern von den realen Gegebenheilen ausgehend.
Der Westen beging einen schweren Fehler, als er dem Kreml in Deutschland eine riesige materielle Grundlage im Austausch gegen nebelhafte politische Garantien überantwortete. Die Garantien werden nur so lange eingehalten werden, als es der Kreml für notwendig hält, den Anschein zu wahren.
Wenn man an die Großen Drei der Potsdamer Konferenz denkt, empfindet man unwillkürlich eine gewisse Leere. Es fehlt der vertraute Name Präsident Roosevelts.
Roosevelt starb buchstäblich wenige Tage vor dem Sieg, dem er soviel Kraft und Willensstärke opferte. Möglicherweise liegt ein gewisser Trost darin, daß es ihm auf diese Weise erspart blieb, mit eigenen Augen den Zusammenbruch der Illusionen ansehen zu müssen, auf die er seine Pläne einer Neuordnung der Nachkriegswelt aufgebaut hatte. Er war ein wahrhaft großer Mann, ein guter Mensch und kristallreiner Idealist. Es war für ihn schwer, den „guten Burschen Jo“ zu erkennen.
In den Tagen der Potsdamer Konferenz unternahm Stalin gemeinsam mit den hohen Vertretern der westlichen Alliierten eine Autorundfahrt durch Berlin. Eine Folge dieser Fahrt war der Befehl an die Sachverständigen der Luftwaffenabteilung der SMA, Stalin einen persönlichen Bericht über die Einzelheiten der alliierten Luftangriffe auf Berlin vorzulegen. Die Ruinen Berlins sprechen eine deutlichere Sprache als Zeitungsberichte und Zahlenangaben über die auf Berlin abgeworfene Bombentonnage.
Wenn man, durch Berlin fährt und den endlosen Steinfriedhof der Hausruinen sieht, könnte man glauben, jemand hätte die riesige Stadt mit einem ebenso riesigen Hammer zerschlagen. Vergleicht man die Spuren der deutschen Fliegerangriffe auf Moskau und Leningrad mit dem Anblick Berlins nach den Angriffen der USAF und RAF, zwingt das zum Nachdenken.
Dieses Bild machte auf Stalin einen größeren Eindruck als die Berichte seiner militärischen Ratgeber während des Krieges und hatte zweifellos einen viel größeren Einfluß auf seine Friedensliebe als alle Beteuerungen und Zusagen Roosevelts. Kein Zufall, daß er einen Sonderbericht zu diesem Thema verlangte.
Während die Großen Drei auf der Potsdamer Konferenz verhandelten, führte die SMA ihre Arbeit weiter. Eine der ersten Maßnahmen der SMA, die einen wesentlichen Einfluß auf die innere Struktur der deutschen Wirtschaft hatte, war Marschall Shukows Befehl Nr. 124. Er verfügte die Beschlagnahme des unbeweglichen Eigentums ehemaliger Nationalsozialisten und enthielt ferner, scheinbar ganz nebenbei, Anweisungen zur Vorbereitung der Verstaatlichung der Grundindustrie und zur Ausarbeitung eines Planes für eine Bodenreform. Die sogenannte Bodenreform machte General Schabalin nicht wenig Scherereien. Die deutschen Behörden waren an die sowjetischen Führungsmethoden noch nicht gewöhnt und verstanden es nicht, zwischen den Zeilen zu lesen. Der Befehl Nr. 124 enthielt keine genauen Angaben. Er wimmelte von demagogischen Phrasen und gewährte den neuen deutschen Behörden umfassende Vollmachten. Das deutsche „Volk“ in Gestalt seiner „besten Vertreter“ sollte selbst den Plan entwerfen und ihn der SMA zur Prüfung und Bestätigung vorlegen. Das heißt, die Landräte der einzelnen Länder sollten ihn zugeschnitten auf die Verhältnisse eines jeden Landes aufstellen Gleichzeitig mit dem Befehl Nr. 124 erhielt General Schabalin geheime Ausführungsbestimmungen zu diesem Befehl, die völlig eindeutig festlegten, wie die ganzen Reformen auszusehen hätten, deren Ausarbeitung angeblich den deutschen Selbstverwaltungen überlassen werden sollte.
Ich hatte mehrfach Gelegenheit, den Vorgang der Schaffung einer Bodenreform im Arbeitszimmer General Schabalins zu beobachten. Vor der Einfahrt zur Wirtschaftsverwaltung rollt ein solider „Maybach“ vor, geschmückt mit jahrmarktsbunten Fähnchen, auf denen Hähnchen und Ziegenböcke dargestellt sind. Aus dem Fond des riesigen Wagens steigt unentschlossen eine farblose Gestalt in Zivil. Es ist ein Landrat von der SMA Gnaden, einer der „besten Vertreter“ des deutschen Volkes. Mit tänzelnden Schritten schlängelt er sich durch den Korridor. Im Vorzimmer des Generals beugt er kriecherisch den Rücken. Einen kittelähnlichen Mantel über dem Arm, darunter eine verschlissene Aktentasche eingeklemmt, drückt er seinen Hut vor den Leib, als wollte er sich vor einem Schlag schützen. Mit einschmeichelndem Lächeln läßt sich der „beste Vertreter“ vorsichtig auf einen Stuhl nieder, als setze er sich auf lauter Nägel, und erwartet geduldig die Audienz.
Schließlich ist er an der Reihe, ins Arbeitszimmer gerufen zu werden. Der General läßt sich den Plan einer Bodenreform im Bundesland Sachsen durch einen Dolmetscher erklären. „Welche Höchstgrenze schlagen sie diesmal vor?“ fragt er. „Hundert bis zweihundert Morgen unter Berücksichtigung eines jeden Einzelfalles, Genosse General“, antwortet der Dolmetscher, der den Plan der Bodenreform in der Hand hält.
„Idioten! Der dritte Entwurf und wieder zu nichts nutze. Sagen Sie ihm, daß wir darauf nicht eingehen können.“
Der Dolmetscher übersetzt. Der Landrat knetet ratlos seine Aktentasche zwischen den Händen. Dann beginnt er auseinanderzusetzen, daß der vorliegende Entwurf unter Berücksichtigung des größtmöglichen wirtschaftlichen Nutzens der Bodenreform, angepaßt an die Verhältnisse des betreffenden Landes, ausgearbeitet wurde. Er bemüht sich, die Besonderheiten der sächsischen Landwirtschaft klarzumachen, redet davon, daß es unter den Deutschland von der Natur auferlegten harten Bedingungen unumgänglich notwendig sei, einen engen konstruktiven Zusammenhang zwischen Viehzucht, Forstwirtschaft und Ackerbau beizubehalten, und erläutert die Eigenart der auf kleine Verhältnisse zugeschnittenen, aber alles umfassenden Mechanisierung der deutschen Landwirtschaft. Der Landrat gerät nach und nach in Begeisterung, aus seinen Worten spricht der aufrichtige Wunsch, die beste Lösung des Problems zu finden, das der Befehl Nr. 124 auf wirft.
Selbst wenn mein Dienst es nicht unmittelbar erfordert, versuche ich immer, Besprechungen solcher Art beizuwohnen. Die scheinbar planlose kapitalistische Wirtschaft Deutschlands erweist sich bei näherer Betrachtung als organisch und konstruktiv so ineinander verflochten, daß sie für einen sowjetischen Fachmann ein interessantes Studienobjekt bietet.
Die deutsche Wirtschaft – das ist ein außerordentlich genauer und komplizierter Mechanismus, in dem der Spielraum für Experimente und ähnliche Toleranzen sehr begrenzt ist. Ich hatte oft Gelegenheit zu sehen, wie die deutschen Fachleute entsetzt die Hände zusammenschlugen, wenn der General ihnen Ratschläge erteilte oder Aufforderungen unterbreitete, die unter sowjetischen Verhältnissen bei Neuplanungen oder beim Wiederaufbau üblich gewesen wären. Die Fachleute pflegten wie aus einem Mund zu rufen: „Das ist doch gleichbedeutend mit Selbstmord!“
So ist es auch diesmal. Der General spielt mit dem Bleistift, zieht mit tiefsinnigem Blick an seiner Zigarette, bläst den Rauch in Ringen gegen die Decke. Er läßt sich die Darlegungen des Landrats nicht einmal übersetzen. Für ihn ist das leerer Schall. Als der General glaubt, daß die Zeit abgelaufen ist, runzelt er die Stirn und wendet sich an den Dolmetscher.
„Sagen Sie ihm, daß der Plan umgearbeitet werden muß. Wir müssen für die Interessen der deutschen Bauernschaft eintreten, nicht aber für die der Großgrundbesitzer.“
Der General ist ein klassischer Typ des Sowjetfunktionärs, der als automatisches Vollzugsorgan nicht imstande ist, eine Beweisführung der anderen Seite aufzunehmen oder die Dinge selbständig kritisch zu beurteilen. Dieser Automat trägt die Rangabzeichen eines Generals auf den Schultern und entscheidet heute über das wirtschaftliche Schicksal Deutschlands.
Der Landrat erhebt sich verwirrt. Alle seine Ausführungen waren nutzlos. Der Entwurf der Bodenreform wird noch mehrere Male umgearbeitet werden. Und zwar solange, bis der „selbständige“ deutsche Planentwurf in allen Einzelheiten der geheimen Ausführungsbestimmung entspricht, die der General in seinem Safe aufbewahrt. Die Bodenreform ist nicht so sehr eine wirtschaftliche als vielmehr eine politische Maßnahme. Es geht darum, eine der stärksten Gruppen der deutschen Gesellschaft – vorerst wirtschaftlich – zu vernichten, und andererseits eine neue Gruppe zu schaffen, die mit der neuen Macht sympathisiert. In der folgenden Etappe, d. h. nach der Festigung der neuen Macht, wird die erste Gruppe auch physisch vernichtet, während die zweite die in der Sowjetunion weitbekannte Formel: „Der Boden ist euer, die Früchte sind unser!“ kennenlernen wird. Aus diesem Grunde zeigt General Schabalin auch keinerlei Interesse an den Darlegungen über den wirtschaftlichen Nutzen der Bodenreform.
Manchmal überkommt mich ein Gefühl des Mitleids, wenn ich die Deutschen betrachte, mit denen ich im Arbeitszimmer General Schabalins zusammentreffe.
Die meisten von ihnen sind Kommunisten. Sie haben in dieser oder jener Form gegen das Hitlerregime gekämpft, viele haben für ihre Überzeugung gelitten. Nach dem Zusammenbruch begrüßten sie uns freudig. Die einen als ihre Befreier, die anderen als ihre ideologischen Verbündeten. Viele kamen zu uns, weil sie zum Nutzen eines zu künftigen Deutschland arbeiten wollten. Selbstverständlich gab es auch unter ihnen die unvermeidlichen Konjunkturritter.
Bevor sie mit leitenden Stellungen betraut wurden, unterzog die SMA diese Leute einer sorgfältigen Überprüfung auf ihre politische Zuverlässigkeit. Da sie in uns ihre ideologischen Verbündeten erblickten, scheuten sie sich in der ersten Zeit nicht, ihre Ansichten offen zu äußern. Dabei fiel es scharf in die Augen, wie sehr dir Überzeugung und das Streben vieler von ihnen im Gegensatz zu den Anweisungen standen, die sie von der SMA erhielten. Die SMA braucht stumme Vollstrecker, nicht aber gleichberechtigte Partner. Es wird der Augenblick kommen, in dem diese Menschen vor du Entscheidung gestellt werden: entweder widerspruchslos Befehle ans zuführen und gehorsame Werkzeuge zu werden, oder beiseite zu gehen und ihren Platz anderen einzuräumen.
Außer den offiziellen Vertretern der deutschen Behörden kommen auch andere Leute in die Wirtschaftsverwaltung. Besonders interessante Besucher hat die Abteilung Wissenschaft und Technik aufzuweisen. Der Chef dieser Abteilung, Oberst Kondakow, war vor dem Krieg Chef der Abteilung für Höhere Militär-Lehranstalten beim Allunionskomitee für Angelegenheiten der höheren Schulen. Er ist ein nicht mehr junger und sehr kultivierter Mann, der seine Sache beherrscht und es versteht, sich in die Menschen einzufühlen. Einmal traf Oberst Kondakow mich im Korridor. Er machte einen verzweifelten Eindruck.
„Gregory Petrowitsch“, wandte er sich an mich. „Seien Sie so gut – erlösen Sie mich!“
„Was gibt es denn, Genosse Oberst?“ fragte ich.
„Ein Deutscher bringt mich zur Verzweiflung. Hat irgend so eine Teufelssache erfunden und bietet sie uns an. Einzelheiten will er nicht preisgeben, daraus, was er erzählt, können wir aber überhaupt nicht klug werden.“
Im Arbeitszimmer des Obersten saß ein hagerer, weißblonder Deutscher. Als wir eintraten, stellte er erst sich und dann seine junge, puppenhafte Frau vor. „Na, Herr Ingenieur, was haben Sie?“ fragte ich.
„Vor allen Dingen, Herr Major, möchte ich Ihre Aufmerksamkeil auf die Tatsache lenken, daß ich das größte Interesse daran habe, meine Erfindung der großen Sowjetunion zur Verfügung zu stellen, wo sie dem Nutzen aller Werktätigen dienen wird ...“ „Gut, was haben Sie denn?“ unterbrach ich ihn, wobei ich die Gelegenheit nutzte, als er Luft schöpfte für weitere Ergüsse.
„Ich möchte nicht, daß meine Erfindung den Amerikanern in die Hände fällt, obwohl ich weiß, daß diese mir mehr zahlen würden. Ich liebe die Imperialisten nicht. Ich bin überzeugter Kommunist und ...“
„Na, gut! Daran zweifle ich nicht“, unterbrach ich von neuem; ich war an solche Art politischer Einführungsreden gewöhnt. „Was haben Sie nun eigentlich?“
Nach einer einstündigen Unterhaltung war ich genau so klug wie vorhin der Oberst. Es handelte sich um einen geheimnisvollen Motor mit einem ungeheuerlichen Leistungskoeffizienten und vielen anderen verlockenden Eigenschaften. Der Erfinder machte sehr durchsichtige Andeutungen darüber, daß sein Motor eine Revolution der Kriegsführung hervorrufen, daß er die gesamte moderne Kriegstechnik auf den Kopf stellen werde. Zur gleichen Zeit behauptete er, er habe seine Erfindung jahrelang unter Lebensgefahr vor den „Faschisten“ versteckt gehalten, damit sie nicht zum Schaden der Menschheit ausgenutzt werde.
Als ich ihn fragte, mit welchem Brennstoff der Motor angetrieben wird, zog er eine Grimasse, als wollte ich ihm das Patent mitsamt den Urheberrechten entreißen. Er bat, ihm Gelegenheit zu geben, seine Arbeiten abzuschließen oder vielmehr auszuführen und Modelle seines Motors anzufertigen. Die Sache sei nämlich die, daß alle seine Berechnungen, Planskizzen und Modelle während der amerikanischen Bombenangriffe vernichtet wurden. Wir hatten uns inzwischen daran gewöhnt, daß die Bombenangriffe immer dann herhalten mußten, wenn etwas zu verdecken war oder dramatische Wirkungen zur Ausschmückung der Geschichten gebraucht wurden. Im Austausch gegen unseren Beistand verpflichtete sich der Erfinder, sein Patent der Sowjetregierung zur Verfügung zu stellen. Ich bat den Erfinder, mir eine Aufstellung der Dinge zu machen, die er für seine Arbeit brauchte.
Mit verdächtiger Bereitwilligkeit, als hätte er nur auf das Stichwort gewartet, öffnete der Erfinder seine Mappe und überreichte mir eine dreifach ausgefertigte Aufstellung. Sie enthielt alles, was das Herz begehrt – Geld, Lebensmittel, selbst Zigaretten – nur nicht Dinge, die für die Durchführung einer solchen Arbeit notwendig waren. Die Frist für den Abschluß der Arbeit hatte er auf sechs Monate festgesetzt.
Ich verspürte, genau wie vorhin der Oberst, eine starke Versuchung, dem Erfinder ein paar Ohrfeigen zu versetzen und ihn die Treppe hinabzubefördern. Ich war überzeugt, daß er diesen Trick gleichzeitig bei allen vier Besatzungsmächten in Berlin ausprobiert. Anstandshalber schleppte er seine Frau oder Freundin dabei mit sich herum. Aber solche Methoden stünden im Widerspruch zu den Grundsätzen der Abteilung Wissenschaft und Technik.
Der Oberst beschloß, dem Erfinder Gelegenheit zu bieten, die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen zu beweisen. Gleichzeitig murmelte er: „Na, warte! Wenn Du mich an der Nase herumführen willst, sollst Du den Keller kennenlernen.“
Um die einzelnen Abteilungen der Wirtschaftsverwaltung schwirren wie Fliegen um den Misthaufen die flinken Geschäftemacher herum. Die einen befassen sich mit Denunziationen, die anderen bieten ihre Dienste auf anderen aktuellen Gebieten an. Als die Berliner Zeitungen von Nachrichten über den amerikanischen Atombombenabwurf auf Japan zu wimmeln begannen, erhielt die Abteilung Wissenschaft und Technik tagtäglich Angebote zum Ankauf von Atombombenpatenten. Die Atombomben wurden uns en gros und en detail auf Rabatt und auf Abzahlung angeboten.
Selbstverständlich bewegt sich die eigentliche Arbeit der Abteilung Wissenschaft und Technik auf anderen Bahnen. Leute, die tatsächlich von Interesse sind, kommen nicht von selbst zur SMA. Gewöhnlich werden sie gesucht und aufgesucht.
Die Abteilung Wissenschaft und Technik der SMA ist nur eine äußerliche Fassade, eine Sammel- und Klärstelle der gleichnamigen Abteilung der NKWD. Oberst Kondakow sichtet das anfallende Material, bestimmt seinen Wert und übergibt es darauf der Abteilung Wissenschaft und Technik der NKWD in Potsdam. Dort arbeiten von Moskau abgestellte hochqualifizierte sowjetische Fachleute aller Gebiete der Wissenschaft und Technik. Das beweist wieder einmal, daß Moskau zur NKWD mehr Zutrauen hat als zur SMA.
Meine Tätigkeit im Apparat General Schabalins bringt es mit sich, daß ich oft mit der Abteilung Wissenschaft und Technik zu tun habe. Die Hauptaufgabe dieser Abteilung ist die Jagd nach Gehirnen. Moskau weiß die deutschen Gehirne wohl zu schätzen. Genau so steht es auch mit den westlichen Alliierten. Auf dieser Grundlage entbrannte zwischen den westlichen und östlichen Verbündeten vom ersten Tag der Besetzung Deutschlands an ein erbitterter Kampf. Bei der Kapitulation befand sich Thüringen und ein großer Teil Sachsens in den Händen der Amerikaner. Zwei Monate darauf – gleichzeitig mit dem Einmarsch der westlichen Alliierten in Berlin – wurde dieses Gebiet in Übereinstimmung mit den früher abgeschlossenen Abkommen den sowjetischen Besatzungsbehörden übergeben.
Bei seinen Inspektionsreisen durch die Länder forderte General Schabalin von den jeweiligen Militärgouverneuren Angaben darüber, wieweit der Befehl des SMA-Hauptstabes über die Suche und Registrierung deutscher Fachleute erfüllt sei. Dabei schimpfte der General in ärgerlicher Überraschung über die rasche und gründliche Arbeit der „verteufelten Alliierten“.
Während ihrer kurzen Anwesenheit in Thüringen und Sachsen hatten es die Amerikaner verstanden, den ganzen Rahm der deutschen Wissenschaft und Technik abzuschöpfen. Große Gelehrte, wertvolle Forschungslaboratorien, technische Archive – alles war nach Westen gebracht. Wissenschaftler, die die Aufforderung erhielten, sich evakuieren zu lassen, konnten nicht nur unbegrenzte Mengen von Material mitnehmen, das sie für ihre Arbeit brauchten, sondern ebenso auch nach ihrem Ermessen ganze Einrichtungen mitsamt den wissenschaftlichen Mitarbeitern. Die Sowjetseite fand in diesen Gebieten nur noch verhältnismäßig unwichtige Dozenten und Assistenten vor. Die Zeisswerke in Jena wurden als besonders wertvolle Beute betrachtet. Aber auch hier hatten die Amerikaner es verstanden, die ganze technische Spitzengruppe mitzunehmen. Mit dem verbliebenen Personalbestand konnte Zeiss wohl arbeiten, aber keine Fortschritte erzielen. Dasselbe Bild bot sich in allen Forschungsinstituten Dresdens und Leipzigs.
Sehr wichtig war ferner der Umstand, daß die Mehrzahl der bedeutenden Wissenschaftler noch während des Einmarschs der Roten Armee nach Westen geflohen war. Das Kaiser-Wilhelm-Forschungsinstitut, eine der größten wissenschaftlichen Einrichtungen der Welt und für Moskau von besonders starkem Interesse, erwies sich für uns als ebenso nützlich wie die Ruinen des Kolosseums. Um sich auf irgendeine Weise vor Moskau rechtfertigen zu können, versuchte die SMA mit allen Mitteln, die in ihre Hände gefallenen drittrangigen Wissenschaftler als Leuchten erster Größe hinzustellen. Assistenten des Laboratoriums Messerschmidt wurden als seine engsten Mitarbeiter ausgegeben. Die übliche Methode der Sowjetführung – von oben nach unten geht der Plan, und von unten wird nach oben Sand in die Augen gestreut.
Angeblich zum Zweck der Festigung des Friedens sucht die SMA in allen Ecken Deutschlands mit Feuereifer nach militärischen Sachverständigen. Wie hungrige Wölfe stöbern ihre Vertreter alles durch auf der Suche nach Konstrukteuren von V-2-Geschossen, reaktiven Flugzeugen, schweren Panzern. Schwärme von Schuften in Kleinformat umlagern die SMA mit dem Anerbieten, ihre Dienste zur Vervollkommnung von Todeswaffen zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig laufen häufig an Marschall Shukow adressierte Briefe ein, die der Verwaltung für Wirtschaft zur Bearbeitung zugeleitet werden. Viele von ihnen sind mit der Hand auf einem einfachen Blatt Papier geschrieben und enthalten als Anlage kunstlose Konstruktionsskizzen und Berechnungen. Manchmal zeigt Oberst Kondakow sie mir mit ratlosem Lächeln. Diese Briefe landen im Papierkorb. Dabei sind es die bedeutsamsten Briefe, die die SMA von Deutschen erhält.
Sie stammen von einfachen Menschen, die weder über Schreibmaschinen noch über Reißzeug verfügen. Diese Leute fordern keine Patente. In der kunstlosen Schlichtheit ihrer Briefe liegt ein eigenartiges Pathos. Unbekannte Deutsche, die weder Gelehrte noch Erfinder sind, bieten uns eigene Konstruktionen von Selbstfahrern für Kriegsversehrte an. Mit typisch deutscher Genauigkeit verweisen sie auf die Bequemlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Billigkeit der Massenherstellung dieser Wagen. Denn es gibt heute in Deutschland wie in der Sowjetunion Hunderttausende Krüppel ohne Beine, die so etwas brauchen.
Auch diese Briefe fliegen in den Papierkorb, während immer neue Fabrikanten des Todes an die Tür klopfen.
In der Abteilung Wissenschaft und Technik habe ich häufig mit Major Popow zu tun. Vor dem Krieg war er Leiter des Forschungsinstitutes für Fernsehtechnik. In der SMA ist er der Stellvertreter Oberst Kondakows. Major Popow unterstreicht mit Vorliebe die Verantwortlichkeit seiner Arbeit und seine früheren Verdienste. Dadurch versucht er, die unanständig geringe Anzahl von Ordensbändchen auf sein auf Brust wettzumachen.
Einmal gehe ich während der Mittagspause in das Arbeitszimmer Oberst Kondakows. Dort sitzt Major Popow. Wir kommen auf die letzten technischen Errungenschaften zu sprechen, auf die Luftwaffe und die amerikanischen „fliegenden Festungen“ B-29.
Major Popow bemerkt nebenher: „Solche Vögelchen haben wir jetzt auch.“
Anschließend wendet er sich an mich: „Erinnern Sie sich, Gregory Petrowitsch, 1943 berichteten die Zeitungen, daß einige fliegenden Festungen nach einem Bombenangriff auf Japan den Kurs verloren, auf unserem Gebiet landeten und interniert wurden?“
„Ja, ich erinnere mich“, antworte ich.
„Das war damals eine recht heikle Angelegenheit“, sagt Popow. „Ein bißchen anders, als die Zeitungen meldeten.“
Oberst Kondakow, dem das unaufhörliche Geschwätz seines Mitarbeiters langweilig wird, geht hinaus. Major Popow erzählt mir die Geschichte der Entstehung der sowjetischen „fliegenden Festungen“.
Als die in die Irre geflogenen, amerikanischen Flugzeuge über sowjetischem Gebiet entdeckt wurden, schickte man eine Staffel sowjetischer Jäger nach. Die amerikanischen Superbomber flogen jedoch mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Jäger sie nicht einholen konnten. Daraufhin wurde eine Staffel besonders schneller Jäger zur Hilfe gerufen. Diese holten die Amerikaner ein und forderten sie durch Signal auf zu landen.
Die Amerikaner hatten Befehl, mit den fliegenden Festungen unter keinen Umständen auf unbekanntes Gebiet niederzugehen. Die Maschinen waren die letzte Neuigkeit der amerikanischen Flugzeugtechnik und ihre Konstruktion wurde strengstens geheim gehalten. Im Falle einer Notlandung über unbekanntem Gebiet hatte die Besatzung Befehl, mit Fallschirmen abzuspringen und das Flugzeug in der Luft zur Explosion zu bringen. Die Amerikaner ließen, ohne die Signale der sowjetischen Jäger zu beachten, ihre Motoren weiter über der sibirischen Taiga heulen. Darauf gaben die Verfolger eine Warnsalve aus ihren „Katjuschas“[1] ab, den in den Flügeln dieser neuesten Modelle der sowjetischen Flugzeugtechnik einmontierten Bordwaffen.
Schließlich gelang es den Jägern, die Flugordnung der Bomber zu durchbrechen und einen von ihnen zur Landung auf dem Flugplatz Chabarowsk zu zwingen. Die Besatzung des Bombers wurde am Boden mit außerordentlicher Freudigkeit in Empfang genommen. Trotz aller Überredungsversuche weigerten sich die Amerikaner aber, sieh von ihrer Maschine zu entfernen, bis der amerikanische Konsul käme. Ein Konsul konnte nicht so rasch aufgetrieben werden, dafür wurde aber in Gegenwart der Amerikaner das ganze Flugzeug von der Nase bis zum Schwanz versiegelt. Das Siegel wurde feierlichst dem Flugzeugkommandanten in die Tasche gesteckt und den Amerikanern versichert, es wäre alles in Ordnung und sie könnten sich ruhig die paar Stunden bis zur Ankunft des Konsuls in dem modern eingerichteten Hotel „Intourist“ erholen. Dort erwarteten sie bereits ausgesuchteste Speisen nebst unbegrenzten Mengen ermunternder Getränke im Verein mit verführerischen Intouristgirls. Während die Besatzung des Bombers mit allen irdischen Verlockungen im „Intourist“ festgehalten wurde, summten zwischen Moskau und Chabarowsk die Telegrafenleitungen von Geheimanfragen einerseits und Befehlen andererseits. Flugzeuge mit den besten sowjetischen Fachleuten aller Gebiete der Flugzeugtechnik trafen im Eiltempo aus Moskau ein. In der Nacht wurden die Amerikaner mit Hilfe von Überredung und, wo es not tat, Gewalt, in die Betten des „Intourist“ verfrachtet, wobei dafür Sorge getragen war, daß sie sich nicht in der Einsamkeit langweilten. Zu dieser Zeit entfaltete sich auf dem Flugplatz, eine fieberhafte Tätigkeit. Die Siegel waren entfernt. Beim Lichte riesiger Scheinwerfer wimmelten auf dem und im Flugzeug sowjetische Ingenieure, Techniker und Konstrukteure umher. Aufgabe der sowjetischen Brigaden war es, vollständige Konstruktionsskizzen und Pläne aufzunehmen und anhand des Modells alles auf Pausleinwand und Blaupause zu übertragen.
Mit einem der Flugzeuge traf gleichzeitig mit einer Gruppe von Mitarbeitern seines Forschungsinstitutes Popow ein. Er beteiligte sich an der Ausführung des Befehls des Kreml, „alles zu Papier zu bringen!“ Die technischen Brigaden studierten die B-29 im Laufe mehrerer Tage. Die amerikanische Besatzung blieb während dieser Zeit im „Intourist“ interniert.
Die Tatsache der Landung einer B-29 im Fernen Osten wurde durch TASS-Meldungen bestätigt. Auch ohne die Erzählungen Major Popows war durchaus anzunehmen, daß sich die Sache so abgespielt hatte, wie er schilderte. Daher wunderte ich mich nicht im geringsten, die Einzelheiten aus dem Munde eines Augenzeugen und Teilnehmers des „Sonderauftrages“ zu hören.
Nachdem Popow die Schwierigkeiten seiner Arbeit bei der Anfertigung der Konstruktionsskizzen der B-29 und seine persönlichen Verdienste um diese Sache genügend gewürdigt hat, beendet er seine Geschichte in einer romantischeren Form.
Einem der Mitglieder der Flugzeugbesatzung, das Schlimmes zu ahnen begann, gelang es nachts, heimlich aus dem „Intourist“ zu entkommen und sich zum Flugplatz durchzuschleichen. Dort sah er, was mit dem „versiegelten“ Flugzeug geschah. Zu seinen Kameraden im „Intourist“ zurückgekehrt, erzählte er, was sich auf dem Flugplatz abspielte. Die Amerikaner hatten ein für Notfälle bestimmtes kleines Kurzwellen-Sendegerät bei sich. Sie sendeten sofort Chiffrezeichen, die die Lage der Dinge darlegten und an das amerikanische Hauptquartier gerichtet waren, in den Äther.
Gleichzeitig führten Moskau und Washington aus Anlaß der Internierung des fliegenden Giganten einen lebhaften diplomatischen Notenaustausch. Washington verlangte die ungesäumte Herausgabe des Flugzeugs. Moskau entschuldigte sich in übertrieben höflicher Form wegen der Verzögerung und berief sich dabei auf das Wetter und ähnliche Ursachen.
Als das Chiffretelegramm der Besatzung der fliegenden Festung das von amerikanischen Militär-Rundfunkstationen auf dem Kriegsschauplatz im Stillen Ozean aufgenommen und bestimmungsgemäß weitergeleitet worden war, in Washington eintraf, war die Arbeit der sowjetischen technischen Brigaden bereits abgeschlossen. Das Geheimnis der B-29 hatte, wenigstens was die äußere Technik und die Konstruktion anbelangte, für Moskau aufgehört, ein Geheimnis zu sein.
Die amerikanische Besatzung wurde freundschaftlich auf den Flugplatz hinausgeleitet und der Flugzeugkommandant feierlichst aufgefordert, sich von der Unversehrtheit der Siegel zu überzeugen. In einem außerordentlich herzlichen Telegramm setzte Stalin Präsident Roosevelt davon persönlich in Kenntnis.
Wenige Minuten vor dem Abflug der fliegenden Festung erhielt Stalin ein Telegramm von Roosevelt: „Nehmen Sie die B-29 von mit als Geschenk entgegen.“
Als sowjetische Piloten sich mit dem Geschenk des Präsidenten befaßten, um es auf dem Luftwege nach Moskau zu überführen, stießen sie auf unerwartete Schwierigkeiten. Es war nicht so einfach, den Giganten zum Fliegen zu bringen. Die besten Flieger des Fernen Ostens erwiesen sich als außerstande, mit dieser Aufgabe fertig zu werden. Einer der besten Versuchsflieger für schwere Flugzeuge mußte speziell von Moskau abkommandiert werden. Nach eingehendem Studium des Giganten gelang es ihm endlich, die fliegende Festung in die Luft zu erheben und sie wohlbehalten auf dem Flugplatz Tuschinsk bei Moskau zu landen. Dafür wurde er mit dem Ehrentitel „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet. Einige führende Konstruktionsbüros – ZKB – des Volkskommissariats für Flugzeugindustrie erhielten den Auftrag, die Fabrikation von Flugzeugen dieses Typs vorzubereiten. Im letzten Kriegsjahr wurden die Montagearbeiten an den ersten Probeexemplaren zu Ende geführt. Wenig später begann in einer Reihe von Flugzeugwerken des Urals die Serienproduktion des neuen Typs. Mit der Schaffung der sowjetischen fliegenden Festungen wurde A. N. Tupolew gemeinsam mit dem begabten Flugzeugkonstrukteur Petljakow betraut.
3.
Im Laufe der Zeit kommen immer neue Mitarbeiter in die SMA. Als ich einmal das Vorzimmer General Schabalins betrat, erblickte ich ein junges Mädchen in einem Sessel zurückgelehnt. Ein Bein über das andere geschlagen, eine Zigarette in der Hand, unterhielt es sich ungezwungen mit dem am Tisch sitzenden Major Kusnezow.
Auf der Zigarette, die es immer wieder zum Munde führte, blieben grellrote Spuren ihres Lippenstiftes zurück. Das Mädchen warf mir einen raschen abschätzenden Blick zu und wandte sich dann wieder an Major Kusnezow: Es lag etwas Besonderes in seinem Benehmen, in der betont nachlässigen Haltung, dem tiefen Einziehen des Zigarettenrauches und dem Verziehen seiner grellroten Lippen. Das warr kein junges Mädchen, sondern eine einzige Herausforderung. Als Major Kusnezow es bat, sich ins Arbeitszimmer des Generals zu begeben, fiel die Tür hinter ihm mit einem für eine solche Tür reichlich unziemlichen Krach ins Schloß.
„Was ist denn das für eine Schönheit?“ fragte ich.
„Sie hat als Dolmetscherin bei einem der Demontage-Generale gearbeitet. Jetzt ist er nach Moskau abgereist und der Chef des Stabes hat sie unserem Hausherrn empfohlen. Sie wird wahrscheinlich als Dolmetscherin bei ihm bleiben.“
Auf diese Weise wurde Lisa Stenina zur Dolmetscherin General Schabalins. Privatdolmetscherin, wie sie immer betonte. Sie beherrscht die deutsche Sprache hervorragend, ist vielseitig gebildet, belesen und klug. Außerdem verfügt Lisa über eine Menge origineller Eigenschaften.
Lisa mißbraucht die Kosmetik im Übermaß. Ein Straßenmädchen, das etwas auf sich gibt, wird sich hüten, so viel Rouge und Puder zu gebrauchen wie Lisa. Wenn sie in Eile ist, arbeitet sie wie ein Stukkateur. Obwohl sie nicht jünger als fünfundzwanzig aussieht, behauptet sie hartnäckig, dieser Tage gerade erst siebzehn geworden zu sein. Und obwohl sie in allen Urkunden als Jelisaweta Jefimowna geführt ist, stellt sie sich immer als Jelisaweta Pawlowna vor. Jefimowna ist plebejisch, dafür klingt Pawlowna nach Puschkinschen Heldinnen.
Lisa ist nicht Armeeangehörige. Ungeachtet dessen trägt sie über ihrem Seidenkleid einen Offiziersmantel mit Leutnants-Rangabzeichen und behauptet, sie habe nichts anderes anzuziehen. Natürlich ist das leine Erfindung; sie trägt den Offiziersmantel aus purer Prahlsucht. Die Privatdolmetscherin hat ihre Zunge nicht im Zaum, überdies liebt sie es, Diskussionen über reichlich heikle politische Themen vom Zaun zu brechen. Solche Gespräche sind unbeliebt unter Leuten, die einander wenig kennen. Ich pflege in solchen Fällen das Gespräch auf lebensnähere Dinge zu bringen.
„Lisotschka, weißt Du was?“ frage ich.
„Was denn, Grigorij Petrowitsch“, läßt Lisa sich vernehmen.
„Zeig mal Deine Zunge. Sei so gut.“
„Was haben Sie denn im Sinn?“
„Na, zeig erst mal. Dann sage ich Dir schon, warum.“
Von Neugier getrieben macht Lisa vorsichtig ihren Mund auf und zeigt ein Stückchen ihrer spitzen Zunge.
“Nein, das ist zu wenig“, sage ich. „Mach es, wie beim Arzt. A—a—a ...“
Lisa streckt ihre Zunge heraus, so weit sie kann, in neugieriger Erwartung von irgend etwas Interessantem.
„Und das ist alles?!“ staune ich. „Ich dachte, sie reicht bei Dir bis zum Fußboden!“
Lisa verschlägt es für einen Augenblick vor Wut die Sprache, dann ergießt sich ein Strom giftiger Schimpfnamen gegen mich, über alles liebt es Lisa, Wirkungen zu erzielen. Bei jeder passenden Gelegenheit erzählt sie, daß ihre Schwester mit General Rudenko verheiratet ist. Wenn die Zuhörer über diese Tatsache nicht in genügende Begeisterung geraten, erklärt Lisa weiter, daß General Rudenko Chef der sowjetischen Einkaufskommission in Amerika ist. Wenn auch das nicht wirkt, teilt Lisa mit, daß General Rudenko nicht einfach der sowjetische Handelsvertreter im Auslande ist. Er ist eine viel wichtigere Persönlichkeit. Er ist – das Haupt der sowjetischen Aufklärung in Amerika.
Daraufhin beginnt Lisa, auf Grund ihrer Familienbeziehungen zu Rudenko, zahlreiche Geschichten über die Tätigkeit der sowjetischen Handels- und diplomatischen Vertreter in Amerika zu erzählen. Insbesondere begeistert sie sich für die Erfolge eines gewissen Majors Romanow. Nach Lisas Beschreibung zu urteilen ist er ein schöner und tollkühner Bursche, dessen Spezialität es ist, amerikanische Frauen zu betören, um mit ihrer Hilfe gewissen geheimen Dingen auf die Spur zu kommen. Lisa vergöttert diesen herzensbrechenden Major förmlich.
Einmal fehlte Lisa einen ganzen Tag lang unentschuldigt in der Dienststelle. Spät abends erschien sie im Zimmer der Dolmetscherinnen. Aber in was für einem Zustand – völlig zerkratzt, in zerrissenem Kleid, mit verbundenem Kopf.
Ich wurde telefonisch benachrichtigt, als sie zehn Minuten vor Schluß der Dienstzeit auftauchte. Ich ging hin, um mich zu erkundigen, was los sei.
„Was ist passiert, Lisotschka?“ fragte ich beunruhigt. „Ein Oberst lud mich zu einer Spazierfahrt ein und brachte mich in den Wald. Na, und dann ...“
„Und dann hast Du ihn wahrscheinlich zum Narren gehalten“, folgerte ich nach einem Blick auf ihren verbundenen Kopf. „Wo ist Dein Krätzchen?“ fragte jemand.
„Verloren“, antwortete Lisa, um damit den ganzen Ernst der Lage zu betonen, aus der sie als Siegerin hervorgegangen ist. „Und sonst hast Du nichts verloren, Lisotschka?“ fragte ich, indem ich ein Höchstmaß an Besorgnis in meine Stimme zu legen versuchte. Als Antwort blitzte mir ein vernichtender Blick Lisas entgegen. „Was sollen wir nur mit Dir tun?“ fragte ich teilnahmsvoll. „Wenn Du Leutnant bist, hast Du wegen eigenwilliger Entfernung Arrest verdient. Was wird nur der General jetzt sagen?“
„Das ist schon meine eigene Sache. Sie brauchen sich darum keine Sorge zu machen, Genosse Major!“
„Arme Lisa!“ seufzte ich.
Nach ein paar Tagen sagte Major Kusnezow zu mir im Vorbeigehen: „Du hast Lisa geärgert, höre ich. Sei vorsichtig mit ihr!“
„Warum denn?“
„Einfach so. Selbst der General hat Angst vor ihr. Denk daran!“
„Was ist denn los?“
„Sie ist nicht zufällig zum General gekommen. Verstehst Du?“ Kusnezow senkte die Stimme: „Ich sage Dir das als Freund. Spiel nicht mit dem Feuer.“ Später lernte ich Lisa Stenina und ihre Vergangenheit näher kennen.
[1] Sowjetische Bezeichnung für reaktive Geschosse.
Aus dem Buch: Berliner Kreml