Heinz Guderian
Am 10. März wurde ich gegen 16 Uhr zum Chef des Generalstabes des Heeres, General Beck, gerufen und erfuhr von ihm unter dem Siegel tiefer Verschwiegenheit, daß der Führer mit dem Gedanken umgehe, den Anschluß Österreichs an das Reich zu vollziehen, und daß hierzu eine Reihe von Formationen mit dem Marschbefehl rechnen müßten: „Sie müssen Ihre alte zweite Panzer-Division wieder übernehmen“, sagte er zu mir. Ich wendete ein, daß der General Veiel, mein Nachfolger, der doch ein tüchtiger General sei, dadurch gekränkt würde. „Sie sollen aber unter allen Umständen die motorisierten Einheiten bei diesem Anlaß führen“, erwiderte Beck. Ich schlug darauf vor, das Generalkommando XVI. A.K. mobil zu machen und ihm außer der 2. Panzer-Division noch einen weiteren Verband zu unterstellen. General Beck bestimmte hierfür die SS-Leibstandarte „Adolf Hitler“, die gleichfalls an dem Einmarsch teilnehmen sollte. Er meinte abschließend: „Wenn man den Anschluß überhaupt vollziehen will, ist jetzt wahrscheinlich der günstigste Moment gekommen.“
Ich begab mich auf mein Geschäftszimmer, befahl die nach Lage der Dinge möglichen Vorbereitungen und überlegte, welche Maßnahmen zu treffen wären, um den Auftrag auszuführen. Gegen 20 Uhr wurde ich erneut zu Beck gerufen und erhielt nach einigem Warten zwischen 21 und 22 Uhr den Befehl, die 2. Panzer-Division und die SS-Leibstandarte „Adolf Hitler“ zu alarmieren und bei Passau zu versammeln. Ich erfuhr bei diesem Anlaß, daß die zum Einmarsch nach Österreich bestimmten Verbände dem Befehl des Generaloberst von Bock unterstellt werden sollten. Südlich meines Armeekorps sollten Infanterie-Divisionen den Inn überschreiten, weitere Kräfte waren für Tirol bestimmt.
In der Zeit zwischen 23 und 24 Uhr erteilte ich die Alarmbefehle für die 2. Panzer-Division durch Fernsprecher, an den Kommandeur der Leibstandarte, Sepp Dietrich, persönlich. Allen Verbänden wurde als Marschziel Passau gesetzt. Während die Übermittlung des Alarmbefehls an die Leibstandarte keine Schwierigkeiten bereitete, kam es bei der 2. Panzer-Division dadurch zu Reibungen, daß sich sämtliche Stabsoffiziere unter Leitung des Divisions-Kommandeurs zu einer Übungsreise im Moselgebiet in Trier aufhielten. Die ganze Division war also beim Eintreffen des Befehls ohne ihre Kommandeure. Diese mußten erst von der Mosel im Kraftwagen herangeholt werden. Trotz dieser Komplikationen drang der Befehl schnell durch, und die Truppe wurde unverzüglich in Marsch gesetzt.
Die Entfernung aus dem Unterkunftsraum der 2. Panzer-Division um Würzburg nach Passau betrug durchschnittlich 400 km, die von Passau nach Wien 280 km und von Berlin nach Wien 962 km.
Bevor ich Sepp Dietrich entließ, sagte er mir, daß er noch zum Führer müsse. Nun lag mir daran, daß der Anschluß sich ohne Kampfhandlungen vollzog. Es sollte ja eine für beide Teile freudige Angelegenheit werden. Daher kam mir der Gedanke, die Panzer zum Zeichen unserer friedlichen Absichten zu flaggen und mit frischem Grün zu schmücken. Ich bat Sepp Dietrich, mir die Erlaubnis des Führers zu dieser Maßnahme zu erwirken und hatte sie eine halbe Stunde später.
Das Generalkommando XVI. A.K. traf am 11. März gegen 20 Uhr in Passau ein. Dort wurde der Befehl für den Einmarsch am 12. März um 8 Uhr vorbereitet. Gegen Mitternacht traf der Kommandeur der 2. Panzer-Division, General Veiel, an der Spitze seiner Truppen in Passau ein. Er besaß weder Karten von Österreich noch Brennstoff für die Fortsetzung des Marsches. Bezüglich der Karten mußte ich ihn auf den für Reisende üblichen „Baedeker“ verweisen. Die Brennstoffrage war schwieriger zu lösen. Zwar befand sich in Passau ein Heeresbrennstofflager, aber es war für den Aufmarsch mit der Front nach Westen zur Verteidigung des Westwalls bestimmt und durfte nach seiner Mobilmachungsanweisung nur für diesen Fall Brennstoff abgeben. Die maßgebenden Vorgesetzten waren über unseren Auftrag nicht unterrichtet und daher in der Nacht nicht zu erreichen. Der pflichttreue Verwalter des Lagers verweigerte mir also die Herausgabe des kostbaren Stoffes, und es bedurfte der Drohung mit Gewalt, bis er nachgab.
Da keine Nachschubkolonnen mobilgemacht waren, mußte ein Behelf geschaffen werden. Der Bürgermeister von Passau half durch Bereitstellen einer Anzahl von Lastkraftwagen zur beschleunigten Aufstellung der notwendigen Betriebsstoffkolonnen. Im übrigen wurden die österreichischen Tankstellen längs der Vormarschstraße gebeten, sich auf Dauerbetrieb einzurichten.
Trotz aller Mühe, die sich General Veiel gab, gelang es nicht, den Grenzübergang pünktlich um 8 Uhr durchzuführen. Es wurde 9 Uhr, bis die ersten Einheiten der 2. Panzer-Division den hochgezogenen Schlagbaum passierten, auf der österreichischen Seite freudig von der Bevölkerung begrüßt. Die Vorhut der Division setzte sich aus den Panzer-Aufklärungs-Abteilungen 5 (Kornwestheim) und 7 (München), sowie dem Kraftradschützen-Bataillon 2 (Kissingen) zusammen. Diese Vorhut eilte über Linz, das gegen Mittag durchfahren wurde, nach St. Polten. Ich fuhr am Anfang des Gros der 2. Panzer-Division, während die Leibstandarte „Adolf Hitler“, die nach ihrem weiten Anmarsch von Berlin her sich der Panzer-Division anschloß, den Beschluß machte. Die Beflaggung und Ausschmückung der Panzer bewährte sich. Die Bevölkerung sah, daß wir in friedlicher Absicht kamen, und der Empfang war überaus herzlich. Die alten Soldaten des ersten Weltkrieges standen mit ihren Kriegsdekorationen auf der Brust am Wege und grüßten. Die Fahrzeuge wurden bei jedem Halt geschmückt, die Soldaten mit Lebensmitteln versehen. Es gab Händeschütteln, Umarmungen, Freudentränen. Kein Mißklang störte den von beiden Seiten ersehnten, bereits mehrfach vereitelten Anschluß. Die Kinder eines Volkes, die eine unglückliche Politik durch lange Jahrzehnte getrennt gehalten hatte, fanden zueinander und jubelten sich zu.
Der Vormarsch vollzog sich auf der einzigen, über Linz führenden Straße. Kurz nach 12 Uhr traf ich in Linz ein, begrüßte die Behörden und nahm einen kurzen Imbiß ein. Im Begriff, die Stadt in Richtung St. Polten zu verlassen, begegnete ich dem Reichsführer SS Himmler und den österreichischen Ministern Seiß-Inquart und von Glaise-Horstenau. Diese teilten mir mit, daß der Führer um 15 Uhr in Linz eintreffen würde und baten mich, die Absperrung längs der Einzugsstraße und auf dem Markt zu übernehmen. Ich ließ daraufhin die Vorhut in St. Polten anhalten und ordnete die Absperrung der Straßen und des Marktes von Linz durch die verfügbaren Teile des Gros an. An dieser Absperrung beteiligte sich auch die Garnison des Bundesheeres auf eigenen Wunsch. Bald füllten etwa 60 000 Menschen Straßen und Plätze. Eine ungeheure Begeisterung hatte die Massen ergriffen. Die reichsdeutschen Soldaten wurden stürmisch bejubelt.
Das Eintreffen Hitlers verzögerte sich bis zum Einbruch der Dämmerung. Ich empfing ihn am Eingang der Stadt und wurde nun Augen- und Ohrenzeuge seines triumphalen Einzuges in die Stadt und seiner Ansprache vom Balkon des Rathauses. Ich habe weder vorher noch nachher eine so elementare Begeisterung erlebt wie in dieser Stunde. Nach seiner Ansprache begab sich Hitler zu einigen Verwundeten aus den Zusammenstößen vor dem Anschluß und sodann in sein Hotel, wo ich mich zur Fortsetzung des Marsches nach Wien bei ihm abmeldete. Er war während des Empfanges auf dem Markt sehr ergriffen gewesen.
Gegen 21 Uhr verließ ich Linz, war etwa um Mitternacht in St. Polten, setzte meine Vorhut wieder in Marsch und erreichte an ihrer Spitze bei heftigem Schneesturm am 13. März gegen 1 Uhr Wien.
In Wien war gerade ein großer Fackelzug zu Ehren des Anschlusses beendet und die Straßen voller festlich gestimmter Menschen. So war es kein Wunder, daß das Erscheinen der ersten deutschen Truppen stürmischen Jubel auslöste. An der Oper fand ein Vorbeimarsch der Vorhut nach den Klängen einer Musikkapelle des Bundesheeres und in Anwesenheit des Kommandeurs der Wiener Division des Bundesheeres, General Stümpfl, statt. Nach Beendigung des Vorbeimarsches brach die Begeisterung erneut stürmisch aus. Ich wurde in mein Quartier getragen. Die Knöpfe meines Mantels verwandelten sich im Handumdrehen in Andenken. Wir erfuhren sehr viel Freundlichkeiten.
Nach kurzer Nachtruhe begab ich mich am Vormittag des 13. März auf Besuchsfahrten zu den Befehlshabern des österreichischen Bundesheeres, bei welchen ich durchweg eine sehr höfliche Aufnahme fand.
Der 14. März war ausgefüllt durch die Vorbereitung der für den 15. befohlenen großen Parade. Man hatte mir die Leitung der Vorbereitungen übertragen, und so hatte ich das Vergnügen, zum ersten Male mit unseren neuen Kameraden dienstlich zusammenzuarbeiten. In kurzer Zeit waren wir zu einer Übereinkunft gelangt, und am nächsten Tag hatten wir die Genugtuung, daß dieser erste öffentliche Akt in dem nunmehr reichsdeutsch gewordenen Wien gut verlief. Bei der Parade eröffneten Formationen des Bundesheeres den Vorbeimarsch. Dann folgten abwechselnd je eine Formation des reichsdeutschen Heeres mit einer österreichischen. Die Begeisterung der Bevölkerung war groß.
An einem der nächsten Abende vereinigte ich eine Anzahl österreichischer Generale, die ich in diesen Tagen kennen gelernt hatte, zu einem kleinen Abendessen im Hotel Bristol, um die neue Kameradschaft auch außerhalb des Dienstes zu festigen. Sodann begab ich mich auf Besichtigungsfahrten, um die motorisierten Verbände des Bundesheeres kennen zu lernen und mir über die Art ihrer Eingliederung in das Reichsheer Klarheit zu verschaffen. Von diesen Fahrten sind mir zwei besonders in Erinnerung geblieben. Die erste führte mich nach Neusiedel am See, wo ein Kraftfahrjäger-Bataillon in Garnison lag. Die zweite ging nach Brück an der Leitha zum Panzer-Bataillon des Bundesheeres. Dieses Bataillon stand unter der Führung des Oberstleutnants Theiß, eines besonders tüchtigen Offiziers, der durch einen schweren Unfall mit dem Panzer körperlich behindert war. Seine Truppe machte einen vorzüglichen Eindruck, und ich fand rasch Verbindung mit den jungen Offizieren und den Männern. In beiden Formationen herrschte ein sehr guter Geist und eine ebenso gute Disziplin, so daß man nur mit Freude und Hoffnung an die Vereinigung dieser Truppen mit dem reichsdeutschen Heer herangehen konnte.
Um nicht nur den deutschen Soldaten Österreich, sondern auch den österreichischen Deutschland zu zeigen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken, wurden eine Reihe von Einheiten des Bundesheeres zu kurzen Besuchen ins Altreich geschickt. So kam auch eine Formation nach meiner alten Garnison Würzburg, wo sie unter der Leitung meiner Frau festlich empfangen und bewirtet wurde.
Sehr bald konnte ich meine liebe Frau nach Wien nachkommen lassen, um am 25. März ihren Geburtstag mit ihr zu verleben.
Für die deutsche Panzertruppe ergaben sich aus dem Unternehmen des Anschlusses einige wichtige Lehren.
Der Marsch war im allgemeinen reibungslos verlaufen. Die Ausfälle an Radfahrzeugen waren gering, die an Panzern waren höher. Ich kann mich der genauen Daten nicht mehr erinnern; mehr als 30% betrugen sie jedenfalls nicht. Bis zur Parade am 15. März waren fast alle Panzer zur Stelle. Diese, angesichts der Länge des zurückgelegten Weges und der Schnelligkeit des Vormarsches nicht übermäßig hohe Ausfallziffer erschien dem Laien auf dem Panzergebiet, zumal dem Generaloberst von Bock zu hoch. Daher wurden nach dem Einmarsch von dieser Seite heftige Kritiken an der jungen Panzerwaffe laut. Man glaubte, ihr die Fähigkeit zum Durchhalten großer Märsche absprechen zu sollen. Die sachliche Kritik kam jedoch zu anderen Ergebnissen. Bei Bewertung der Leistungen der Panzertruppe auf dem Marsch nach Wien müssen folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden:
a) Die Truppe war in keiner Weise auf ihre Aufgabe vorbereitet. Sie befand sich Anfang März im Beginn der Kompanie-Ausbildung. Die theoretische Ausbildung der Stabsoffiziere, die im Winter im Bereich der 2. Panzer-Division sehr intensiv betrieben wurde, sollte auf der erwähnten Reise an der Mosel ihren Abschluß finden. An eine unvorbereitete Winterübung im Divisionsrahmen dachte niemand.
b) Die obere Führung war auf das Ereignis ebenso wenig vorbereitet. Der Entschluß dazu entsprang der Initiative Hitlers. Das Ganze stellt sich also als eine Improvisation dar, bei den erst seit dem Herbst 1935 bestehenden Panzer-Divisionen als ein Risiko.
c) Der improvisierte Marsch nach Wien verlangte von den Truppen der 2. Panzer-Division eine Leistung von etwa 700 km, von der SS-Leibstandarte „Adolf Hitler“ eine Leistung von etwa 1000 km in einem Zeitraum von 48 Stunden. Im Wesentlichen wurde dieser Anspruch erfüllt.
d) Der wichtigste Übelstand, der sich geltend gemacht hatte, war die ungenügende Instandsetzung, besonders der Panzer. Dieser Fehler war bereits in den Herbstmanövern 1937 in Erscheinung getreten. Die zu seiner Behebung gemachten Vorschläge waren aber im März 1938 noch nicht berücksichtigt. Der Fehler hat sich nie wiederholt.
e) Demnächst hatte sich die Versorgung mit Brennstoff als wesentlich erwiesen. Die auf diesem Gebiet zutage getretenen Mängel wurden alsbald behoben. Da kein Munitionsverbrauch eingetreten war, konnten auf diesem Gebiet nur durch Analogie Erfahrungen konstruiert werden. Sie genügten, um Vorsorge zu treffen.
f) Jedenfalls war bewiesen, daß die theoretischen Behauptungen von der Verwendbarkeit der Panzer-Divisionen zu operativen Aufträgen stimmten. Marschleistungen und Geschwindigkeiten hatten die Erwartungen übertroffen. Die Truppe war in ihrem Selbstvertrauen gestärkt. Die Führung hatte viel gelernt.
g) Der Marsch hatte gelehrt, daß man ohne Schwierigkeit mehr als eine motorisierte Division auf einer Straße bewegen konnte. Der Gedanke an die Aufstellung und operative Verwendung motorisierter Korps setzte sich durch.
h) Man muß jedoch betonen, daß Erfahrungen nur bezüglich der Alarmierung, der Bewegung und der Versorgung von Panzerverbänden gesammelt werden konnten, aber nicht bezüglich ihres Kampfes. Indessen hat die Zukunft bewiesen, daß die deutsche Panzertruppe auch hierin auf dem richtigen Wege war. —
Winston Churchill gibt in seinen bemerkenswerten und hoch bedeutenden Memoiren (Band l/I, S. 331 der deutschen Ausgabe, Alfred Scherz Verlag, Bern) allerdings eine ganz andere Darstellung des Anschlusses. Sie verdient, im Wortlaut wiedergegeben zu werden:
„Ein triumphaler Einzug in Wien war von jeher der Traum des österreichischen Gefreiten gewesen. Auf den Samstagabend des 12. März hatte die nationalsozialistische Partei in Wien einen Fackelzug zum Empfang des siegreichen Helden geplant. Aber es erschien niemand. Drei verstörte Bayern aus den Nachschubtruppen, die mit der Bahn gekommen waren, um für die Invasionsarmee Quartier zu machen, mußten daher auf den Schultern durch die Straßen getragen werden. Der Grund dieser Verzögerung sickerte langsam durch. Die deutsche Kriegsmaschine war schwankend über die Grenze gerumpelt und in der Nähe von Linz zum Stillstand gekommen. Trotz tadellosen Wetter- und Straßenverhältnissen versagte die Mehrzahl der Panzer. In der motorisierten schweren Artillerie ereigneten sich Pannen. Die Straße von Linz nach Wien war durch steckengebliebene schwere Fahrzeuge blockiert. General von Reichenau, Hitlers besonderer Günstling, der Kommandant der Armeegruppe IV, galt als verantwortlich für ein Versagen, das den unfertigen Zustand der deutschen Armee in diesem Stadium ihres Wiederaufbaus enthüllte.
„Hitler selbst, der im Auto durch Linz fuhr, sah die Verkehrsstockung und war rasend vor Wut. Die leichten Panzer wurden aus dem Gewirr befreit und rollten einzeln in den frühen Morgenstunden des Sonntags in Wien ein. Die schweren Panzer und die motorisierte Artillerie wurden auf die Bahn verladen und kamen nur auf diese Weise rechtzeitig für die Zeremonie an. Die Bilder von Hitlers Fahrt durch Wien inmitten jubelnder oder verängstigter Menschenmengen sind bekannt. Aber dieser Augenblick mystischer Glorie hatte einen unruhigen Hintergrund. In Wahrheit schäumte der Führer vor Wut über die offensichtlichen Mängel seines Militärapparates. Er fuhr seine Generale an, und sie blieben ihm die Antwort nicht schuldig. Sie erinnerten ihn an seine Weigerung, auf Fritsch und dessen Warnungen zu hören, daß Deutschland nicht in der Lage sei, das Wagnis eines größeren Konfliktes auf sich zu nehmen. Der Schein wurde immerhin gewahrt. Die offiziellen Feierlichkeiten und Paraden fanden statt ...“
Winston Churchill ist offenbar falsch informiert worden. Soviel ich weiß,[1] verkehrten am 12. März keine Züge von Bayern nach Wien. Die „drei verstörten Bayern“ müßten also auf dem Luftwege dorthin gekommen sein. Die deutsche Kriegsmaschine war in Linz lediglich zum Empfang Hitlers von mir angehalten worden, aus keinem anderen Grunde. Sie wäre andernfalls am Nachmittag in Wien eingetroffen. Das Wetter war schlecht; es fing nachmittags an zu regnen, und nachts herrschte ein erheblicher Schneesturm. Die einzige Straße, die von Linz nach Wien führte, war wegen Neubeschotterung kilometerweit aufgerissen und im übrigen ziemlich schlecht. Die Mehrzahl der Panzer traf ohne Zwischenfall in Wien ein. Pannen bei der schweren Artillerie konnten nicht eintreten, weil wir keine besaßen. Die Straße war zu keiner Zeit blockiert. General von Reichenau hatte den Befehl über die Heeresgruppe 4 erst am 4. Februar 1938 übernommen, konnte also für eventuelle Versager des Materials nicht verantwortlich gemacht werden, da er erst 5 Wochen im Amt war. Auch sein Vorgänger, Generaloberst von Brauchitsch, war nur so kurze Zeit in seiner Stellung gewesen, daß man ihm die Verantwortung nicht zuschieben konnte.
Wie oben geschildert, habe ich Hitler in Linz empfangen. Er zeigte nicht die geringste Wut. Es war vielleicht das einzige Mal, daß ich ihn ergriffen sah. Während seiner Ansprache an die begeisterten Massen stand ich neben ihm auf dem Balkon des Rathauses von Linz und konnte ihn genau beobachten. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, und er spielte hier bestimmt nicht Theater.
Wir hatten damals überhaupt nur leichte Panzer in der Truppe. Schwere Panzer waren ebenso wenig vorhanden wie schwere Artillerie, konnten daher auch nicht auf die Bahn verladen werden.
Kein General wurde angefahren, jedenfalls ist mir nichts darüber bekannt geworden. Auch die erwähnten Antworten konnten daher nicht erteilt werden; auch über diese ist mir nichts bekannt geworden. Persönlich wurde ich sowohl in Linz wie in Wien von Hitler in diesen Märztagen durchaus höflich behandelt. Der einzige Tadel, den ich erhielt, kam von Generaloberst von Bock, dem Oberbefehlshaber der einmarschierenden Truppen, und betraf die von mir erwähnte Beflaggung der Panzer, die er für unvorschriftsmäßig hielt. Der Hinweis auf die Erlaubnis Hitlers erledigte auch diese Angelegenheit.
Die gleiche Kriegsmaschine, die hier „schwankend über die Grenze gerumpelt“ war, hat 1940 in nur wenig verbesserter Form jedenfalls genügt, um die veralteten Heere der Westmächte in kurzer Frist zu überwinden. Aus den Memoiren Winston Churchill's geht klar hervor, daß er den Nachweis führen will, die politischen Führer Großbritanniens und Frankreichs hätten 1938 mit guter Aussicht auf Erfolg Krieg führen können. Die militärischen Führer waren mit guten Gründen skeptischer. Sie kannten die Schwäche ihrer Heere, ohne jedoch den Weg zu deren Erneuerung zu betreten. Die deutschen Generale wollten auch den Frieden, jedoch nicht aus Schwäche oder Furcht vor Neuerungen, sondern weil sie glaubten, die nationalen Ziele ihres Volkes auf friedlichem Wege erreichen zu können.
Die 2. Panzer-Division verblieb im Raume um Wien und erhielt vom Herbst ab österreichischen Ersatz. Die SS-Leibstandarte und das Generalkommando XVI. A. K. gingen im April nach Berlin zurück. In dem leer gewordenen Unterkunftsraum um Würzburg wurde im Herbst 1938 die 4. Panzer-Division unter General Reinhardt neu aufgestellt. Außerdem wurden noch die 5. Panzer-Division und die 4. Leichte Division formiert.
Während der Sommermonate 1938 widmete ich mich meinen Friedensaufgaben als Kommandierender General. Diese bestanden hauptsächlich in Besichtigungen der mir unterstellten Truppen. Sie gaben mir Gelegenheit, Offiziere und Männer kennen zu lernen und die Grundlage zu dem im Kriege zutage getretenen Vertrauensverhältnis zu legen, auf das ich immer besonders stolz gewesen bin.
Im August d. J. konnte ich die mir in Berlin zugewiesene Dienstwohnung beziehen. In diesen Monat fiel der Besuch des ungarischen Reichsverwesers Horthy und seiner Gemahlin, sowie des ungarischen Ministerpräsidenten Imredy. Ich erlebte den Empfang auf dem Bahnhof, die Parade, die Abendtafel bei Hitler und die Festvorstellung in der Oper. Nach der Abendtafel setzte sich Hitler einige Zeit an meinen Tisch und unterhielt sich über Panzerfragen.
Die politischen Ergebnisse des Besuchs Horthy's waren unbefriedigend für Hitler. Er hatte wohl gehofft, den Reichsverweser zu einem Militärbündnis bewegen zu können, sah sich aber in dieser Hinsicht getäuscht. Leider verlieh er seiner Enttäuschung bei der Tischrede und durch sein Verhalten nach der Abendtafel ziemlich deutlich Ausdruck. —
Vom 10.—13. September nahm ich mit meiner Frau am Reichsparteitag in Nürnberg teil. Im Laufe dieses Monats hatte die Spannung zwischen dem Reich und der Tschechoslowakei ihren Höhepunkt erreicht. Die Atmosphäre war geladen. Dies fand seinen lebhaftesten Ausdruck in Hitlers großer Schlußrede in der Nürnberger Kongreßhalle. Man konnte der nächsten Zukunft nur mit größter Sorge entgegensehen.
Ich mußte mich vom Parteitag weg auf den Truppenübungsplatz Grafenwöhr begeben, wo die 1. Panzer-Division und die SS-Leibstandarte untergebracht waren. Die nächsten Wochen waren mit zahlreichen Übungen und Besichtigungen ausgefüllt. Gegen Ende des Monats wurde der Einmarsch in das Sudetenland vorbereitet. Angesichts der ablehnenden Haltung der Tschechei gegen jederlei Konzessionen wuchs die Kriegsgefahr. Die Stimmung wurde ernst.
Das Münchener Abkommen machte jedoch den Weg zu einer friedlichen Lösung frei, und so konnte der Anschluß des Sudetenlandes ohne Blutvergießen vollzogen werden.
Ich mußte der Politik noch ein persönliches Opfer bringen, denn am 1. Oktober feierte ich das Fest meiner silbernen Hochzeit allein in Grafenwöhr, während meine liebe Frau ebenso allein in Berlin saß, da auch unsere beiden Söhne sich im Grenzgebiet befanden. Das schönste Geschenk zu diesem Tage war der noch einmal gewahrte Frieden.
Am 2. Oktober wurde mein Stab nach Plauen im Vogtland verlegt und am 3. begann der Einmarsch in das deutsche Sudetenland.
(Aus dem Buch: Heinz Guderian. Erinnerungen eines Soldaten)
[1] Wie die Eisenbahndirektion München freundlichst mitteilte, sind nach übereinstimmenden Äußerungen damals tätiger Beamter am Tage des Einmarsches keine Sonderzüge mit Militärpersonen oder Militärgut von Deutschland nach Wien gefahren. Letzteres hätte eine Vereinbarung zwischen deutschen und österreichischen Eisenbahnstellen vorausgesetzt, was keinesfalls zutraf. Die Infanterie-Divisionen sind einen Tag vor dem Einmarsch in grenznahen Räumen um Berchtesgaden, Freilassing und Simbach ausgeladen und die Leerzüge sofort wieder zu neuen Verladungen zurückgeleitet worden. Am zweiten Tage des Einmarsches wurden diese Truppen bereits in Salzburg ausgeladen und erst am dritten Tage bis Wien durchgefahren.