Prof. Dr. Pjotr Chomjakow
Moskau 2006
Die Entlarvung des größten Geheimnisses der russischen Geschichte. Wer den Einfall Batys „bestellte und bezahlte“, wer davon profitierte, wer zu den Verlierern zählte. Helden entpuppen sich als Halunken. Doch die russische Geschichte wurde nicht nur von Lakaien und komplexbehafteten Sadisten geschrieben. Der Widerstand hat niemals aufgehört. Und nun besitzt das Russenland endlich die Chance, das Rußland aufgezwungene Joch der Horde abzuschütteln.
INHALTSVERZEICHNIS:
Teil I. RUSSLAND GEGEN RUSSENLAND
Kapitel 1. METHODOLOGISCHE BETRACHTUNGEN
Kapitel 2. DAS GRÖSSTE GEHEIMNIS
Kapitel 3. DER GROSSE BÜRGERKRIEG
Kapitel 5. ZUSAMMENFASSUNGEN, PROGNOSEN, PROVISORISCHE EMPFEHLUNGEN
Teil II. RUSSENLAND GEGEN RUSSLAND
Kapitel 2. DIE PERSPEKTIVEN DES RUSSISCHEN WIDERSTANDES GEGEN DAS JOCH DER HORDE
Postscriptum für einen unbekannten Gönner
Verehrte Leser! Das Buch Rußland gegen Russenland entstand im Jahre 2004 und war in gewisser Hinsicht eine Frucht der Kampagne für die damaligen Parlamentswahlen, bei denen der Verfasser im 188. Wahlkreis für einen Sitz in der Duma kandidierte. Diese in der unterhaltsamen Form eines historischen Kriminalromans verfaßte geschichtliche Untersuchung ermöglichte es dem Leser, sich mit den grundlegenden Zügen unserer Weltanschauung vertraut zu machen – der Weltanschauung eines Mannes, der seit 1979 in der Russischen Bewegung aktiv ist und sich immer wieder darüber gewundert hat, daß ein großer Teil der sogenannten „russischen Nationalisten“ ehrfürchtig zu gewissen „Helden“ der Vergangenheit aufblickt, deren Wirken zu einer argen Dezimierung des russischen Volkes und zu seiner verstärkten Unterdrückung durch seine Herrscher geführt hat. Er hat sich wiederholt darüber gewundert, warum die russischen Nationalisten einige dieser Unterdrücker als Feinde ihres Volkes einstufen, während sie anderen gegenüber wohlwollende Nachsicht an den Tag legen – und zwar just jenen, für die das einfache Volk selbst kaum mehr Liebe empfindet als für diejenigen, welche für die Nationalisten ein rotes Tuch darstellen. Zu guter Letzt hat er sich auch darüber gewundert, daß so viele „Führer“, die ohne die Hilfe der Nationalisten nicht zu solchen geworden wären, uns schamlos verraten.
Hinter all dem schien sich ein schicksalhaftes Geheimnis zu verbergen. Ein Geheimnis, dessen Wurzeln durchaus nicht in den Intrigen der Gegenwart zu suchen sind, sondern in einer fernen Vergangenheit, als der russische Staat sowie das Weltbild des russischen Volkes entstanden. Letzteres ist allem Anschein nach in gewissen Punkten zutiefst unrichtig, treibt es uns doch dazu, immer und immer wieder dieselben Fehler zu begehen.
Wir verhehlen nicht, daß unsere Schlußfolgerungen auch für uns selbst unerwartet und für viele unserer Kampfgefährten sehr schmerzhaft waren. Doch auch dem Arzt, der eine Diagnose stellt, geht es vor allem um deren Richtigkeit und weniger um die Besorgnis, die sie beim Patienten hervorrufen mag. Will dieser geheilt werden, muß er nämlich die Wahrheit kennen und, gestützt auf deren Erkenntnis, dem Arzt mit ganzer Kraft bei der Überwindung der Krankheit helfen.
Die Wahlkampagne ist natürlich längst vorbei, und bei ihrem Ausgang hat das vorliegende Buch kaum eine Rolle gespielt. Doch dann erwarb Rußland gegen Russenland ein Eigendasein und wurde bei den Lesern zum gefragtesten unter meinen in der Serie Swarogow Kwadrat erschienenen Werken. Schon aus diesem Grund kommt dem in ihm behandelten Thema in unserem Denken auch weiterhin ein zentraler Stellenwert zu.
In den beiden vergangenen Jahren hat der Verfasser aus verschiedenen Quellen eine Unmenge von Informationen geschöpft, die fast alle unsere Schlußfolgerungen bezüglich des sogenannten „Tatarenjochs“ sowie der „Invasion Batys“ erhärten.
Es erschien uns zweckmäßig, unser Buch mit diesen neuen Daten zu vervollständigen, um so mehr, als das Thema – dem Leserinteresse nach zu urteilen – viele Menschen in seinen Bann zieht. Aus diesem Grund entschieden wir uns dafür, eine zweite, erweiterte und korrigierte Auflage herauszugeben. Doch bei der Überarbeitung des Textes gelangten wir zum Schluß, daß es mit einer verbesserten Neuauflage von Rußland gegen Russenland nicht getan war: Allzu zahlreich waren die Fragen, die diese Schrift offen ließ, und auch ein mehr oder weniger langes Nachwort reichte zu ihrer Beantwortung nicht aus.
Nachdem wir der Frage auf den Grund gegangen waren, wie sich das russische politische Modell mit dem sogenannten „Einfall der Goldenen Horde“ und dem darauf folgenden sogenannten „Tatarenjoch“ herauskristallisiert hat, stand es uns nicht frei, uns mit ein paar flüchtig hingeworfenen Bemerkungen über die Überwindung dieses Jochs zu begnügen. Wie der Leser noch sehen wird, war es nämlich in keiner Weise tatarisch, und überwunden ist es bis zum heutigen Tage nicht. Deshalb müssen wir jenen unter unseren Lesern, welche die Ansichten des Autors teilen, eine positive Perspektive eröffnen. Eben dies tun wir im zweiten Teil des vorliegenden Werks.
Erstens zeigen wir unseren Gesinnungsgenossen, daß wir nicht allein stehen. Wir hatten heroische Vorgänger, die für die Wiedergeburt des Russenlandes fochten und das unmenschliche, volksfeindliche, antirussische Joch bekämpften. Dieser Kampf dauert seit Beginn der russischen Geschichte an; er hat seine Helden und seine Traditionen.
Wenn wir dieses Joch abzuschütteln trachten, heißt dies somit durchaus nicht, daß wir vergessen, woher wir kommen und welchem Geschlecht wir angehören. Nur haben wir, um es bildlich auszudrücken, nicht dieselben Ahnen und Verwandten wie jene, die uns unter dieses Joch gezwungen haben. Zweitens weisen wir den Weg zum Sieg über die „Horde“ (die, wiederholen wir es, nichts Tatarisches an sich hat).
Zum Abschluß dieses Vorworts wollen wir unsere treuen Leser noch darauf aufmerksam machen, daß bereits der erste Teil des Buchs, das sie in den Händen halten, Rußland gegen Russenland, im Vergleich zu der gleichnamigen Schrift aus dem Jahre 2004 erheblich erweitert und verbessert worden ist. Unsere Schlußfolgerungen fußen nun auf noch soliderer Grundlage, und unser Urteil über gewisse Phänomene fällt noch dezidierter als damals aus. Deshalb hoffen wir, daß bereits der erste Teil der vorliegenden Neufassung auch für jene von Interesse sein wird, welche die erste Ausgabe von Rußland gegen Russenland bereits gelesen haben.
RUSSLAND GEGEN RUSSENLAND
Vorwort zum ersten Teil
Verehrte Leser, liebe Landsleute! Ich stelle Ihnen ohne Umschweife folgende Frage: Gefällt Ihnen Ihr heutiges Leben? Ich fürchte, mich nicht zu irren, wenn ich Ihre Antwort vorwegnehme. Nein, es gefällt Ihnen nicht. In keiner Weise. Um so zu antworten, braucht man kein Obdachloser und kein Invalider zu sein; man braucht keine Verwandten verloren zu haben oder von einem vergleichbaren Unglück heimgesucht worden zu sein. Um steten Abscheu vor der Realität unseres heutigen Lebens zu empfinden, braucht man kein Opfer irgendwelcher außergewöhnlich widrigen Umstände zu sein.
Und dies ist das Schlimmste. daß es dem Menschen „schlecht geht, wenn es ihm schlecht geht“, ist nichts weiter als natürlich. Heute geht es ihm schlecht, aber schon morgen wird es ihm gut gehen. Doch im heutigen Rußland ist die überwältigende Mehrheit seiner Bürger sogar zu Zeiten, wo äußerlich gesehen alles normal verläuft, düster und pessimistisch gestimmt. Die Tragik unseres heutigen Lebens liegt darin, daß auch der am Rande des Existenzminimums dahinvegetierende Ingenieur, Lehrer und Arzt, ja sogar der scheinbar wohlhabende Geschäftsmann und gelegentlich selbst der Oligarch im russischen Hinterland Unzufriedenheit, Unsicherheit, Angst und Müdigkeit empfinden.
Der Verfasser hat persönlich viele recht erfolgreiche Mitbürger kennengelernt, die ihr Leben in schwärzesten Farben schilderten, und noch von weit mehr solchen Fällen gehört. Und stellen Sie sich das Leben des Milliardärs Chodorkowski vor... Nein, nicht in der Gefängniszelle, wo er heute hockt, sondern vielleicht ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung, als im Grunde genommen schon alles klar war.
Wenn aber selbst Milliardäre (darunter solche, die sich ihrer Freiheit erfreuen) bei uns unglücklich sein können, wie muß es da erst um jene Dorfschullehrer bestellt sein, die monatelang ihr Gehalt nicht bekommen? Oder um die Arbeiter in der Provinz, die sich täglich zwölf Stunden lang abrackern und dafür einen Lohn erhalten, der gerade ausreicht, um nicht zu verhungern?
„Halt, halt“, wird da der eine oder andere Leser erbost ausrufen. „Will der Verfasser etwa behaupten, heute sei alles schlecht, aber früher sei es gut gewesen?“
Um Himmels willen nein! Der Verfasser erinnert sich mit Schaudern an das vielstündige Schlangenstehen, die leeren Regale in den Geschäften, die Kälte und den Gestank der großen Gemüsemärkte, die abscheulichen Wohnheime und die anderen Herrlichkeiten des „entwickelten Sozialismus“. Und vor allem an die Aussichtslosigkeit und Trostlosigkeit, welche damals dieselbe war wie heute.
Doch nicht nur wir und unsere Väter haben so gelebt. Wenn wir die großen Werke der russischen Literatur lesen, finden wir dort lauter „Gedemütigte und Beleidigte“ und außer diesen vielleicht noch „überflüssige Menschen“ aus den höheren Kreisen, denen weder ihr Reichtum noch ihre Zugehörigkeit zum Adel Freude bescheren. Nach selbstbewußten, freudigen Helden, Kämpfern, Suchern und Siegern, von denen die westliche Literatur nur so strotzt, hält man bei unseren Dichtern und Schriftstellen vergebens Ausschau. Man findet sie weder im „goldenen“ noch im „silbernen“ Zeitalter unserer Literatur.
Nein, meine Landsleute, es hilft nichts, um den heißen Brei herumzureden: Wir müssen uns der Frage stellen, weshalb wir von Generation zu Generation so trostlos und so elend leben, wer unser Land mit einem Fluch belegt und wem wir für diese
Segnungen zu danken haben. Nur wenn wir diese Fragen beantworten, können wir wenigstens begreifen, in welcher Richtung wir uns bewegen müssen, um uns aus diesem Jammertal zu befreien.
Wenn wir über all dies nachdenken, müssen wir uns freilich vor der Versuchung hüten, einfache Antworten zu suchen. Allzu sehr glich das Leben unserer Großväter und Väter dem unseren, trotz der ungeheueren Unterschiede zwischen der zaristischen, der bolschewistischen und der heutigen „liberalen“ Herrschaft über unser Land. Es heißt also tiefer schürfen. Bedeutend tiefer.
Dies brauchen übrigens nur jene zu tun, denen die hier zur Sprache gebrachten Probleme ans Herz gehen. Vielleicht sind Sie, mein Leser, ein Mitarbeiter der Regierung im Kreml oder der Staatlichen Aufsichtsbehörde für Sicherheit im Straßenverkehr. Dann ist für Sie „alles in Butter“, und Sie haben es nicht nötig, sich von irgendeinem Professörchen die Laune verderben zu lassen - besonders wenn dieses Professörchen dazu noch Russe ist...
In einem bekannten Trickfilm sagt eine der Hauptfiguren: „Haiti, Tahiti... Man füttert uns auch hier nicht schlecht.“ Recht hat er, dieser Kater. Seinesgleichen füttert man hier in der Tat nicht schlecht, schon seit etlichen Jahrhunderten.
Und für uns, russische Ingenieure, ist es an der Zeit, uns entsprechende Aufgabe zu stellen, und, nachdem wir sie uns gestellt haben, zu lösen. „Wir müssen das asiatische Element ein und für alle Male aus unserem Leben verbannen!“, ereifert sich ein scharfsinniger Leser, den der Verfasser für seinen Gesinnungsgenossen hielt. Nein, mein Freund, hier sind Sie gründlich auf dem Holzweg! Beleidigen Sie Asien nicht, indem sie ihm die Schuld an den trostlosen Zuständen in Rußland in die Schuhe schieben. Viele machen Asien für alles und jenes verantwortlich, was in unserem Land schief läuft, doch dies entspricht nicht der Realität.
„Was, es entspricht nicht der Realität? Wir begreifen nicht, worauf der Verfasser hinauswill. Sind die ganzen Übelstände, die er anprangert, denn nicht die Folge des berüchtigten Tatarenjochs? Haben uns die hassenswerten mongolischen Eroberer etwa nicht um zwei Jahrhunderte zurückgeworfen – jene zwei Jahrhunderte, die wir einfach nicht aufholen können, um normale Europäer zu werden?“
Ja und nein, lieber Leser. Die Mißstände, an denen unser Leben krankt, stammen tatsächlich ungefähr aus jener Zeit, welche die traditionelle Geschichtsschreibung als Epoche des Tatarenjochs bezeichnet, und sie hindern uns in der Tat daran, normale „weiße Menschen“ zu werden. Doch ein „Joch“ gab es nicht, schon gar kein tatarisches.
Was ist damals dann wirklich geschehen?
Auf diese Frage versuchen wir im vorliegenden Buch eine Antwort zu finden. Wir garantieren, daß unsere Untersuchung der massivsten „Spezialoperation“ in der Geschichte Rußlands – einer Spezialoperation, die sogar den berühmt-berüchtigten „Großen Oktober“ in den Schatten stellt -, interessant, ja fesselnd sein wird.
Nehmen Sie sich aber bitte die Mühe, die unumgänglichen einleitenden Bemerkungen zu lesen, ohne die unsere Darlegung des Themas nicht voll verständlich sein wird.
Kapitel 1. METHODOLOGISCHE BETRACHTUNGEN
1. Traktat, Essay, historischer Detektivroman. Einige Worte zum Genre, und nicht nur zu ihm
Zu Beginn eines Buches lohnt es sich in der Regel, zu definieren, welchem Genre es angehört. Unsere Schrift ist kein wissenschaftliches Werk, obwohl sie sich gelegentlich auf wissenschaftliche Quellen stützt. Es beginnt als Traktat, fährt als historischer Kriminalroman fort und endet als politische Kampfschrift.
Das Genre des Traktats hat unserer Auffassung nach am treffendsten L. N. Gumilew definiert. Bisweilen spricht man statt von einem Traktat auch von einem Essay; ich vermag keinen besonderen Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken zu erkennen.
Die Besonderheit dieses Genres liegt seinem freien Umgang mit den im Traktat bzw. Essay verwendeten Informationen. Diese sind zum größten Teil Gemeinwissen eines jeden gebildeten Menschen; nur eine Minderheit davon ist lediglich Spezialisten bekannt, aber auch in diesen Fällen sind die Fakten meist unbestritten.
Wenn der Verfasser eines Traktats oder Essays zu neuen Schlußfolgerungen gelangt, dann nicht aufgrund neuer und vielleicht sogar explosiver Informationen, sondern weil er die betreffenden Probleme von einem neuen Standpunkt aus betrachtet und zahlreiche Querverbindungen zu anderen Fächern zieht.
In diesem Genre haben viele originelle russische Denker fruchtbar gewirkt. Wir haben bereits auf L. N. Gumilew hingewiesen, der in den späten siebziger Jahren sowie in der ersten Hälfte der achtziger Jahre geradezu richtungsweisend für die intellektuelle Mode und das Moskauer Leserpublikum war. Der bekannte Begründer der slawophilen Strömung, A. S. Chomjakow, formulierte die grundlegenden Postulate seiner Denkrichtung im Traktat Semiramis.
Diese Methode ist ihrem Wesen nach streng wissenschaftlich, doch ohne Pedanterie und akademischen Formalismus, um so mehr, als letzterer in wissenschaftlich-publizistischen und erst recht in weltanschaulichen Schriften überflüssig ist.
In dieser Situation kann der Autor nichts weiter tun, als auf das Vertrauen seiner Leser zu hoffen, denn auch ein emotionaler und parteilicher Autor braucht nicht zu Fälschungen und Verzerrungen Zuflucht zu nehmen, um die Richtigkeit seiner Ideen zu beweisen.
Übrigens hat der Verzicht auf akademischen Formalismus viele unserer Vorläufer, die dem Genre des Traktats huldigten, nicht daran gehindert, interessant, fesselnd, unterhaltsam und wissenschaftlich zugleich zu schreiben.
Den einen oder anderen Leser mag hier vielleicht die Furcht packen, etwas „Philosophisches“ gekauft zu haben. Nein, lieber Leser, dem ist nicht so. Eine weltanschauliche Grundlage besitzt unsere Studie gewiß, doch beschränkt sich unser Buch nicht auf deren Darlegung. Unser Traktat – oder Essay – geht bereits im zweiten Kapitel ins Genre des historischen Kriminalromans über und endet mit polemischen Anmerkungen, so wie es bei politisierten Internet-Websites der Fall ist.
Bei den Websites ist alles ohne zusätzliche Erläuterungen klar. Ein historischer Kriminalroman erinnert an Fernsehsendungen wie Sowerschenno Sekretno [Streng geheim] oder Moment Istiny [Augenblick der Wahrheit], befaßt sich jedoch im Gegensatz zu diesen mit den Geschehnissen einer fernen Vergangenheit. Im Genre des historischen Kriminalromans kann man beispielsweise Fragen wie die folgende stellen: Wer hat das Gemetzel der Bartholomäusnacht begonnen - vielleicht die Hugenotten selbst? Es liegt ja ein streng geheimer Bericht über entsprechende Pläne von ihrer Seite vor, von denen die Katholiken erst im letzten Augenblick erfuhren.
Und so weiter, und so fort. Starke Ähnlichkeit mit unserem Genre weisen die Bücher des wohlbekannten Viktor Suworow auf. Freilich wirkt Herr Suworow allzu voreingenommen. Immerhin stellt er die offizielle Version gewisser Ereignisse in Frage, die sich in einer noch nicht allzu fern zurückliegenden Vergangenheit abgespielt haben. Je tiefer man in die Vergangenheit zurückgeht, desto unvoreingenommener kann man sein.
Und doch: Auch die Geschichte verflossener Jahrhunderte kann recht aktuell sein, wenn man sie durch eine neue Brille liest...
Schließen wir unsere Einleitung mit einer letzten Bemerkung ab. Das vorliegende Werk beruht in erheblichem Grad auf methodologischen und weltanschaulichen Grundsätzen, die man als global bezeichnen kann und die in unserem anno 2003 erschienenen Buch Die Eigenen und die Fremden. Das Drama der Ideen eingehend dargelegt werden. Wer dieses Buch schon gelesen hat, kann das erste Kapitel auslassen. Der Verfasser kam jedoch nicht umhin, gewisse Punkte jener früheren Schrift hier teils in gebündelter Form, teils fast wortwörtlich zu wiederholen, da sie zur Analyse der größten Intrige der russischen Geschichte notwendig sind.
2. Die Geschichte, mit den Augen eines Naturwissenschaftlers, Ingenieurs, Propagandisten und Polittechnologen gesehen. Die Historiker – Ermittler oder Kulturologen
Ohne jeden Zweifel war der Große Vaterländische Krieg das zentrale Ereignis in der Geschichte der UdSSR und Rußlands im 20. Jahrhundert. Wer diesen Krieg nicht begreift, dem bleibt das Verständnis unserer ganzen jüngeren Geschichte versagt.
Die Frage, ob die Russen von 1941 bis 1945 tatsächlich gegen die Deutschen gekämpft haben, mutet geradezu aberwitzig an. Nichtsdestoweniger ist laut soziologischen Umfragen ein erheblicher der heutigen Amerikaner davon überzeugt, daß die UdSSR im Zweiten Weltkrieg Seite an Seite mit dem nationalsozialistischen Deutschland gegen die USA und Großbritannien kämpfte. Diese abstruse Vorstellung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern entstammt gewissen Erzeugnissen der populären Literatur (freilich handelt es sich dabei ausschließlich um Boulevardblätter). Würde man die Geschichte des Zweiten Weltkriegs anhand dieser Boulevardzeitschriften rekonstruieren, könnte man letzten Endes also zum Schluß kommen, daß die Russen gemeinsam mit den Deutschen gegen die Amerikaner fochten.
Übrigens wird in gewissen dem Thema des Zweiten Weltkriegs gewidmeten russischen Phantasiegeschichten dasselbe behauptet; wir denken etwa an die höchst populären Romanen Sturmvogel und Alye krylja ognja [Die roten Flügel des Feuers], die reißenden Absatz gefunden haben. Ein Historiker, dem diese Druckerzeugnisse in tausend Jahren in die Hände geraten, wird sie vielleicht in guten Treuen für objektive historische Schilderungen halten. Und was, wenn der Inhalt dieser Schilderungen noch durch die eben erwähnten amerikanischen Dreigroschenromane und Boulevardblätter erhärtet wird? Dann sind die in den russischen Publikationen aufgestellten Behauptungen ja „durch unabhängige ausländische Quellen bestätigt“! Außerdem wird eine Analyse des Papiers sowie der Phototechnik ergeben, daß diese amerikanischen Boulevardromane einige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, also zu einem Zeitpunkt, wo manche Teilnehmer an diesem Krieg noch am Leben waren. Unter diesen Umständen wird eine plumpe Fälschung ausgeschlossen scheinen.
Führen wir unser Gedankenexperiment weiter. In tausend Jahren wird es den Historikern vielleicht schwerfallen zu unterscheiden, was ein seriöses geschichtliches Dokument und was ein Dreigroschenroman ist. Ist das Hohelied Salomons eine Liebesgeschichte, oder Bestandteil einer Sammlung historischer Zeugnisse, die man als Bibel bezeichnet, oder – halten wir einen Augenblick inne – gar eine Sammlung außerordentlich geschickt zusammengestellten ideologischen Propagandamaterials? Von unseren Historikern eine klare Antwort auf diese Frage zu erhalten, ist recht schwierig.
Doch kehren wir zu unserem Thema zurück. Der Große Vaterländische Krieg war ein absolut epochales Ereignis, und wir haben die Möglichkeit, daß künftige Historiker dieses möglicherweise vollkommen falsch deuten werden, lediglich zu Demonstrationszwecken in Betracht gezogen. Wie aber stehen die Dinge, wenn es um vergleichsweise nebensächliche Fragen geht, etwa die, wie oft man Basajew, Chattab, Barajew senior und Barajew junior während des gegenwärtigen Tschetschenienkrieges „getötet“ oder ihnen Arme und Beine abgehauen hat? Vergleicht man sämtliche in den offiziellen russischen Medien erschienenen Berichte, so kann man diese Frage natürlich korrekt beantworten: Chattab und Barajew sind tatsächlich tot, und Basajew hat ein Bein verloren und war zumindest zum Zeitpunkt, wo ich das vorliegende Buch schrieb, noch am Leben. Doch hält man sich sämtliche Gerüchte vor Augen, die im Verlauf der Jahre über diese Leute verbreitet wurden, so macht es den Anschein, als hätten sie alle bedeutend mehr als jeweils zwei Arme und Beine und auch mehr als nur ein Leben gehabt.
Sind die Legenden von den „unsterblichen“ Helden und Bösewichtern des Altertums etwa nicht genau so entstanden? Wir brauchen übrigens nicht einmal ins Altertum zurückzugehen: Ein halbes Jahrhundert lang hat man regelmäßig die Frage aufgeworfen, ob Bormann noch am Leben sei, und noch heute zweifeln viele daran, daß Hitler im Jahre 1945 starb.
Und warum immer nur von Krieg und Tod sprechen? Wenden wir uns einem weniger blutigen Thema zu. Seit sechs Jahren versucht man vergeblich zu ermitteln, wohin die 4,8 Milliarden Dollar verschwunden sind, die Rußland vor dem Währungskollaps vom Internationalen Währungsfonds erhalten hat. Und dies, obgleich alle finanziellen Operationen heutzutage von Computern registriert werden, jeder größere Kauf dokumentiert, jede Tätigkeit einer Finanzgruppe von deren Konkurrenten mit Argusaugen überwacht und das kleinste Informationsleck von den gedruckten und elektronischen Medien im Nu ausgenutzt wird!
Diese ausführlichen Darlegungen sind unerläßlich, damit sich der Leser nicht nur verstandesmäßig-abstrakt, sondern auch gefühlsmäßig bewußt wird, in welchem Umfang die öffentlich zugänglichen Informationsquellen die Fakten verzerren. Und dies unter Umständen, wo die Sammlung, Bewahrung, Kontrolle und Verarbeitung von Informationen zu einer recht eigentlichen Industrie geworden ist. Solchen Verzerrungen sind auch taufrische Informationen unterworfen und nicht nur „Schnee von gestern“.
Wie ist es nun um den Wahrheitsgehalt der von den Historikern gelieferten Informationen bestellt? Hier geht es um Ereignisse, die zu ihrer Zeit von höchster Bedeutung waren. Anzunehmen, diese Informationen seien von den damaligen Chronisten objektiv festgehalten worden, wäre der Gipfel der Naivität. Es liegt auf der Hand, daß es auch in der historischen Vergangenheit Desinformations- und Propagandakampagnen gab und schon damals ein „Informationskrieg“ tobte, nur eben auf niedrigerem technischeren Niveau als heute. Die Behauptung, Informationskriege habe es damals schon darum nicht geben können, weil es in jenen Zeiten keine Zeitungen und kein Fernsehen gab, wäre ungefähr so sinnvoll wie diejenige, es habe keine Kriege geben können, weil den verfeindeten Lagern noch keine Luftwaffe zur Verfügung stand. Die Möglichkeiten zur Entstellung und Fälschung der Tatsachen waren in verflossenen Zeiten noch bedeutend größer als heutzutage. Informationen wurden damals noch nicht massenhaft verbreitet wie in unseren Tagen. Sie wurden fixiert, ohne daß ihr Wahrheitsgehalt überprüft worden wäre, und dazu noch auf Material, das – um es in unserer heutigen Sprache zu sagen – dem Einwirken schädigender Faktoren gegenüber höchst verletzlich war. Wieviele Manuskripte, von denen es nur ein einziges Exemplar gab, sind bei Feuersbrünsten vernichtet worden!
Warum sollen wir den in den einschlägigen „historischen Dokumenten“ aufgestellten, vorsätzlich tendenziösen Behauptungen Glauben schenken, wenn die Originale meist verloren gegangen sind und wir lediglich über Kopien verfügen, die erst Jahrhunderte nach den (hypothetischen) Originalen entstanden sind? Warum sollen wir einer Kopie von Povest' vremennych let [Chronik der laufenden Ereignisse, Nesterchronik] glauben und nicht einer im Weles Buch enthaltenen? Um jeden Zweifel auszuräumen, hält der Verfasser gleich fest, daß er weder der einen noch der anderen Quelle vertraut, obwohl er beide mit Interesse gelesen hat und beide einen Kern an Wahrheit enthalten.
Anhand eines einfachen Beispiels läßt sich veranschaulichen, daß das Vorhandensein einer Quelle an sich noch gar nichts beweist und letzten Endes alles davon abhängt, ob man „glaubt oder nicht“. In der Bibel steht geschrieben, Christus habe sehr viel später als Moses gelebt, während es im Koran heißt, er sei der Neffe und somit ein jüngerer Zeitgenosse von Moses gewesen.
Gegenwärtig sind opportunistische russische Gelehrte bereit, die biblischen Texte als historische Zeugnisse anzuerkennen. Dies ist jedoch nichts weiter als eine politische Modeerscheinung, die zu einer Zeit entstand, wo die ehemaligen Kommunisten in den hastig wiederaufgebauten Kirchen plötzlich mit Kerzen in den Händen vor die Fernsehkameras traten. Und ihre ideologischen Steigbügelhalter aus dem Kreis der „Geisteswissenschaftler“ entbieten ihnen dabei ihren Salut – obwohl dieselben Geisteswissenschaftler noch vor nicht allzu langer Zeit die Bibel als historische Quelle in Bausch und Bogen verwarfen. Doch letzten Endes läuft trotzdem alles auf die Frage nach dem Glauben hinaus. Für die Christen ist Jesus ein entfernter Nachkomme Mose, für die Moslems sein Neffe und jüngerer Zeitgenosse. Wenn letztere Version zutrifft, hat Christus übrigens das Recht, sich nicht nur im übertragenen, sondern auch im direkten Sinne des Wortes „König“ zu nennen.
Übrigens: Gibt es nicht noch eine weitere Möglichkeit, nämlich die, daß sowohl die Bibel als auch der Koran nichts weiter als Romane im Stil des Sturmvogels oder der Roten Flügel des Feuers sind, in denen Geschehnisse geschildert werden, welche sich niemals zugetragen haben? Und daß all diesen Schriften lediglich Motive tatsächlich geschehener Lebens- und Geschichtsdramen zugrunde liegen? daß ihr Wahrheitsgehalt nicht größer ist als derjenigen der Behauptung, wonach „Deutsche und Russen während des Zweiten Weltkriegs Schulter an Schulter gegen die Amerikaner und die russischen Reformatoren [!!!] gekämpft haben“ (so wörtlich im Sturmvogel)? Warum auch nicht.
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts sind alternative Deutungen der Geschichte bei uns groß in Mode. Der Grund dafür liegt nicht, wie viele wähnen, in neuen astronomischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Informationskrieg, den die UdSSR seinerzeit führte, bedurfte einer soliden naturwissenschaftlichen Abstützung. Gewisse Arten der Verfälschung von Information konnte man anhand einer mathematischen Auslegung verschiedener Texte vornehmen. Mehr als fünfzehn Jahre lang haben sich zahlreiche Kollektive von Spezialisten mit dergleichen Dingen befaßt. Nach so langer, intensiver Auseinandersetzung mit dieser Problematik mußten sich diese Spezialisten zwangsläufig die Frage stellen, worin sich die Desinformationskampagnen der Neuzeit von ihren Vorgängerinnen unterscheiden. Und da man heute tendenziöse Lügen in den Massenmedien – aber auch in offiziellen Dokumenten und gezielten „Lecks“ – erfolgreich entlarven kann, warum sollte man dasselbe dann nicht auch mit historischen Dokumenten versuchen?
Möglicherweise war dies anfangs bloß ein Spiel, eine Art Gedankengymnastik, die man betrieb, wenn man bei der Lösung aktueller Aufgaben eine Pause einlegte. Doch dann begann man Vergnügen an diesem Spiel zu finden. Um so mehr, als die primitiven mittelalterlichen Fälscher es scheinbar ganz und gar nicht verstanden hatten, ihre Fälschungen so zu „verbergen“, wie dies heute möglich – und, nebenbei gesagt, für angehende Spezialisten ganz natürlich – ist. Es mußten viele Jahrhunderte vergehen, ehe der Informationskrieg seine heutige Brillanz und Raffinesse erreichen konnte.
So gelangte eine Gruppe von Mathematikern unter der Führung des Akademikers A. T. Fomenko, die sich bei der Analyse historischer Texte äußerst effektiver und erfolgreicher Methoden bediente, zum Ergebnis, das die meisten davon Fälschungen sind. Wir gehen hier nicht näher auf dieses Thema ein, sondern begnügen uns vorerst mit dem Hinweis darauf, daß sich in den uns überlieferten historischen „Dokumenten“ unwiderlegbare Beweise für die Realität von „Informationskriegen“ finden.
Dazu kommt, daß ein Teil der vorhandenen Informationen im Verlauf der Zeit unvermeidlicherweise verloren gegangen und in noch tendenziöserer Form „wiederhergestellt“ worden ist. Dies ist nicht verwunderlich. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft“ ist eine schon seit langem bekannte Wahrheit.
Das erwähne Mathematikerkollektiv bemühte sich, seine Schlußfolgerungen mit Daten aus anderen Wissenschaften zu untermauern, und erkannte dabei, daß verschiedene Autoren die offizielle Geschichte schon seit vielen Jahren in Frage gestellt hatten. Gestützt auf mathematische und astronomische Argumente, hat schon der große Newton die landläufige Geschichtsversion und insbesondere die offizielle Chronologie angezweifelt.
Der russische Enzyklopädist N. A. Morosow hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewisse Revisionen am vorherrschenden Geschichtsbild vorgenommen, wobei er sich auf geologische, geographische, astronomische und linguistische Daten berief.
In der Gegenwart bezweifeln oder bestreiten Demographen, Geographen, Ökologen, Mediziner und Militärwissenschaftler, daß sich gewisse Ereignisse so zugetragen haben können, wie gemeinhin behauptet wird. Sie weisen beispielsweise nach, daß die in den „Dokumenten“ genannten Zahlen von Verteidigern dieser oder jener Festungen in diesen überhaupt keinen Platz gefunden hätten; daß die angeblichen Verluste des Gegners bei dieser oder jener Schlacht größer waren als die Gesamtzahl der Einwohner der betreffenden Fürstentümer; daß die berittenen Horden ihre Pferde nicht hätten ernähren können und sich die Reiter mit der Geschwindigkeit von Automobilen hätten fortbewegen müssen, wenn die offizielle Geschichtsversion zuträfe. <…> Suworow soll in Ismail beispielsweise dreimal mehr Feinde vernichtet haben, als man dort hätte unterbringen können, selbst wenn sie im Hof dichtgedrängt nebeneinander gestanden hätten. <…>
In diesem Zusammenhang wollen wir darauf hinweisen, daß gewisse Ungereimtheiten bei der Beurteilung historischer Ereignisse sowie die (in der Regel nicht akzeptierte) Kritik daran überhaupt im Wesen der Dinge liegen. Solche Ungereimtheiten gibt es in der offiziellen Geschichte zu Hauf. Hier einige unwiderlegliche Beispiele:
1) Die Datierungen zwar nicht aller, doch sehr vieler bekannter geschichtlicher Ereignisse der Zeit bis zum 10. Jahrhundert lassen sich mit den astronomischen Berechnungen nicht unter einen Hut bringen. Paradoxerweise haben die Widersprüche zwischen der Datierung aller bis zum 10. Jahrhundert bekannten Sonnenfinsternisse und den Gesetzen der Himmelsmechanik die Astronomen zur Auffassung bewogen, vom 8. bis zum 10. Jahrhundert habe der Mond aus unerklärlichen Gründen seine Beschleunigung geändert. Es ist dies eine völlig bizarre Hypothese. Weit vernünftiger wäre die Annahme, daß die entsprechenden Datierungen in den alten Manuskripten nicht stimmen.
2) Wir verfügen über kein einziges Original „alter“ Manuskripte. Alle sogenannten „alten“ Dokumente und Bücher sind lediglich aus (oft bereits gedruckten) Kopien bekannt, die in keinem Fall früher als im 14. Jahrhundert entstanden sind. Es wäre reichlich naiv, davon auszugehen, daß sich die mittelalterlichen Teilnehmer an „Propaganda- und Informationskriegen“ bei der Erstellung dieser Urkunden von reiner Wahrheitsliebe leiten ließen.
3) Zahlreiche Forschungen unterschiedlichen Charakters, sowohl nach anspruchsvollen mathematischen Methoden vorgenommene als auch elementare Analysen von Abschriften verschiedener angeblich „unabhängig voneinander entstandener“ Texte, lassen nur eine Schlußfolgerung zu: Bei der gesamten sogenannten „alten Geschichte“ handelt es sich um die viele Male aus ein und derselben Quelle (oder aus einer begrenzten Zahl von Quellen) abgeschriebe Darstellung ein und derselben Ereignisse. Wann und wo dies geschehen ist, weiß allein Gott. Das hier Gesagte gilt übrigens auch für die biblische Geschichte.
4) Die in Werken über die alte Geschichte genannten Ziffern, die Distanzen, welche die Armeen zurücklegten, die Zahl der Kämpfer, das Ausmaß der Schlachten und der Umfang der Verluste sind in der Regel um das Zehn- bis Hundertfache, manchmal gar um das Tausendfache übertrieben.
5) Ein erheblicher, wenn nicht der größere Teil der historischen Rekonstruktionen der staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Altertum hält nicht einmal den elementarsten Berechnungen des ökologisch und ökonomisch Möglichen stand. Viele dichtbesiedelte Reiche sollen auf einem Gebiet gelegen haben, das auch mit unseren heutigen technischen Mitteln keine große Bevölkerung ernähren könnte. Zentren der Metallurgie sollen sich an Orten befunden haben, wo es keine entsprechenden Erzvorkommen gibt und wo jeder Brennstoff zum Betreiben von Metallverarbeitungsstätten fehlt. Es wäre übrigens interessant zu wissen, welchen Brennstoff die Waffenschmiede der zahlreichen „Nomadenstaaten“ verwendet haben: Etwa getrockneten Mist oder Lumpen? Solche Ungereimtheiten finden sich in der historischen Geographie des Altertums auf Schritt und Tritt.
Würden sich die Verfasser nonkonformistischer Geschichtsauffassungen mit solchen Bemerkungen begnügen, so wären sie unangreifbar, und die traditionellen Historiker sähen sich früher oder später gezwungen, die nackten Fakten anzuerkennen; sie müßten bei ihrer Rekonstruktion der alten Geschichte von vorn beginnen und dabei den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen, mathematischen und astronomischen Erkenntnissen Rechnung tragen. Doch sämtliche Kritiker der offiziellen Geschichtsschreibung sind der Versuchung erlegen, ein alternatives Konzept der Ereignisse zu entwerfen, ihre eigene „globale Chronologie“. Dabei zeigten sie sich höchst verwundbar, und sowohl die professionellen Historiker als auch die Naturwissenschaftler können ihre Schwächen weidlich ausschlachten. Es läßt sich nicht leugnen, daß sie oft angreifbarer sind als ihre Opponenten aus dem traditionalistischen Lager. Im folgenden werden wir noch mehrmals auf gewisse Absurditäten stoßen, welche die Verfechter einer alternativen Geschichtsdeutung in vollem Ernst von sich geben.
Hier ist freilich nicht der Ort, um diese Fehler und Ungereimtheiten, von denen die „alternative Geschichtsschreibung“ nur so wimmelt, näher zu untersuchen. Der Kuriosität halber sei nur erwähnt, daß verschiedene „alternative“ Autoren, gestützt auf ein und dieselben Fakten, zu vollkommen verschiedenen Schlüssen gelangen. So folgern A. T. Fomenko und seine Anhänger, welche die Realität des „Tatarenjochs“ in Rußland bestreiten, die furchterregende „Horde“ sei der altrussische (slawisch-türkische) Staat selbst gewesen, der ungeheure Territorien sowie den ganzen Handel im Osten kontrolliert habe. Andere Verfasser wie S. Valjanski und D. Kaljuschin halten das Tatarenjoch ebenfalls für einen Mythos, behaupten jedoch, ein Joch habe es sehr wohl gegeben – kein tatarisches oder türkisches freilich, sondern eines der deutschen Kreuzritter, und die „Horde“ (russisch Orda) sei in Wahrheit der Orden der Kreuzritter gewesen. Den Kosaken-Hetman identifizieren sie schließlich mit einem deutschen Hauptmann. Wie man diesem Beispiel entnehmen kann, läßt die alternative Geschichtsschreibung Raum für die unterschiedlichsten Interpretationen.
Dies alles wirkt nicht sonderlich seriös. Doch auch die traditionelle, offizielle Version der alten Geschichte läßt sich mit den Mitteln der modernen exakten Wissenschaften und Naturwissenschaften aufs schwerste erschüttern.
Unter diesen Umständen kann die offizielle Version der Geschichte nur dann nur dann zumindest in groben Zügen bestätigt werden, wenn man sich ihr aus der Position eines stalinistischen Untersuchungsrichters nähert, der hinter allem und jedem eine Fälschung wittert. Gelingt es, die Beschuldigungen dieses „Untersuchungsrichters“ zu entkräften, kann man an der Geschichte der alten Welt die notwendigen Korrekturen vornehmen, ohne sie gleich von A bis Z neu schreiben zu müssen.
Der Verfasser hat hier nicht einfach eine Formulierung aus der Juristensprache übernommen. Die moderne Wissenschaft, die in der Neuzeit ihre Ausformung gefunden hat, betrachtet die wissenschaftliche Methodologie als „Befragung der Natur unter der Folter“. Dieser Geist prägt die äußerst strengen Gedankengänge Decartes’ und Bacons. Was diesem anspruchsvollen Kriterium nicht gerecht wird, gilt nicht als Wissenschaft. Ob diese Vorgehensweise gut oder schlecht ist, mag hier dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedoch, daß dies das Wesen der modernen Wissenschaft ausmacht.
Vorläufig sind die Historiker nicht bereit, solche Maßstäbe an die Quellen anzulegen, denen sie „vertrauen“. Nun, das ist ihr gutes Recht. Doch dann ist es auch das gute Recht des Naturwissenschaftlers, die Deutung der alten Geschichte mit all ihren zahlreichen Varianten als einen einzigen großen Mythos zu betrachten – und die Historiker als Mythenforscher.
Mit diesen Feststellungen könnte man das vorliegende Kapitel eigentlich abschließen. Wir kommen jedoch nicht umhin, daran zu erinnern, daß sich die offizielle Geschichte nicht nur in Rußland, sondern auch jenseits unserer Landesgrenzen einer höchst ernsthaften Kritik ausgesetzt sieht. In diesem Zusammenhang ist Uwe Toppers Werk Die große Aktion. Die erfundene Geschichte Europas von besonderem Interesse. Hier zeigt es sich, daß in Westeuropa schon längst Forschungen im Gange sind, die darauf abzielen, die offizielle, verfälschte Version der Weltgeschichte zu entlarven. Das Interessanteste ist aber, daß diese Forschungen von offiziellen Historikern und Kultorologen durchgeführt werden. Mit den Methoden der Geisteswissenschaften gelangen sie de facto zu denselben Ergebnissen wie die Naturwissenschaftler und Mathematiker.
Und nicht genug damit: Manche westlichen Historiker hoffen ernsthaft, daß es ihnen in naher Zukunft gelingen wird, das offizielle Paradigma der Geschichtswissenschaft zu widerlegen. Deshalb, aus taktischen Erwägungen, machen sie sich die Erkenntnisse der russischen Naturwissenschaftler nur sehr vorsichtig und in kleinen Dosen zu eigen. Nicht weil letztere Russen, sondern weil sie Vertreter anderer Wissenschaftszweige sind.
Vom Standpunkt der reinen Wahrheitssuche aus gesehen mag diese Strategie nicht die beste sein, doch aus der Warte eines Wissenschaftlers, der innerhalb seiner eigenen Zunft Veränderungen durchsetzen will, hat sie durchaus Hand und Fuß. Die russischen Historiker, die zwischen den Hammer ihrer westlichen Kollegen und den Amboß der russischen Naturwissenschaftler geraten werden, sind freilich alles andere als beneidenswert, um es zurückhaltend auszudrücken. Doch das ist ihr Problem.
Mit Sicherheit konstatieren können wir vorderhand nur, daß mittlerweile genügend viele Argumente dafür sprechen, die scheinbar bekannten historischen Ereignisse vor dem 14. Jahrhundert mit kriminalistischen Maßstäben zu untersuchen und einzig und allein nachgewiesene Fakten zu akzeptieren. Alle Zeugen lügen nämlich. Warum, wissen wir vorderhand noch nicht. Ob sich unter ihnen vielleicht die Bösewichter dieser oder jener historischen Dramen verbergen?
3. Die Methodologie des gesunden Menschenverstandes. Eine Lektion in christlicher Demut für die Erschaffer einer neuen Chronologie
Bisweilen sind kleine Details und “unbewußte“ Legenden wichtiger als direkte Zeugnisse. Beispielsweise unterrichten in den Schulen Rußlands ein und dieselben Lehrer die miteinander eng verknüpften Fächer „russische Sprache und „Literatur“. In den Republiken der ehemaligen Sowjetunion wurden „Heimatsprache und Heimatliteratur“ gelehrt. Doch in Ungarn steht „ungarische Geschichte und Literatur“ als ein einheitliches Fach auf dem Stundenplan, und auch in einer ganzen Reihe anderer europäischer Sprachen bietet sich das Bild ähnlich dar.
Dies bedeutet, daß sich im Unterbewußtsein anderer Völker Geschichte und Literatur nicht allzu sehr voneinander unterscheiden. Die einen Mythen werden in Romanen und Gedichten neu erzählt, die anderen in pseudo-objektiven „historischen Quellen“.
Gleichzeitig zeigt die Praxis, daß auch der Mythos nicht einfach verworfen werden darf. Hinter ihm steht zweifellos etwas Reales, doch kann man mit ihm recht frei umspringen. Im Wagnerschen Stil heißt dies: „Sucht nicht das Geschichtliche in den Nibelungen, sucht die Nibelungen in der Geschichte.“ Paraphrasiert man diesen Ausspruch im Rahmen unseres Themas, könnte man sagen, daß wir nicht nach dem Realitätsgehalt der historischen Mythen suchen, sondern die am wahrscheinlichsten anmutenden reellen Fakten mit Hilfe der historischen Mythen veranschaulichen und dann mit wahrhaftig wissenschaftlicher Strenge eine entsprechende Rekonstruktion des tatsächlich Vorgefallenen vornehmen werden. Dabei werden wir lediglich die Reihenfolge der einzelnen Glieder in der Kette bestimmter Ereignisse sowie die Verbindungen zwischen diesen Gliedern rekonstruieren. Es sind dies Glieder, deren reale Existenz unstrittig ist und die aus objektiven geoökologischen, technologischen und demographischen Gründen unter keinen Umständen ausgelassen werden können. Doch gerade kraft der erwähnten objektiven Ursachen konnten diese Glieder (oder Episoden) nur in ganz bestimmten Territorien und in einer ganz bestimmten Reihenfolge Wirklichkeit werden.
In unserem Buch Die Eigenen und die Fremden gelang es uns, vor dem Hintergrund der allgemeinsten Tendenzen jene objektiv bedingten Strömungen in der Entwicklung der Zivilisation sowie des Staates als Institution aufzuspüren, welche das Auftreten bestimmter Probleme und Perspektiven der weißen Menschheit sowie insbesondere des russischen Volkes bewirkt haben. Wir wollen jenes Buch hier nicht zusammenfassen, sondern begnügen uns mit der Bemerkung, daß bei äußerst breiter Behandlung der historischen Mythen, von der traditionellen Spielart bis hin zu den exotischsten alternativen Varianten, die historische Entwicklung in all diesen Versionen in gewissem Sinn ein und dasselbe Bild ergibt. Sie verlief vollkommen gesetzmäßig und logisch.
Eine Analogie veranschauliche dies: Die historische Entwicklung läßt sich mit einer komplizierten Marschroute vergleichen, die eine Anzahl kritischer Punkte wie z.B. Bergpässe oder Furten aufweist. Man kann erraten, wie der Weg zwischen diesen Punkten verlief, und verschiedene Varianten dieser „Marschroute“ rekonstruieren. Unzweifelhaft ist aber, daß bei der Bewegung „vom Punkt A zum Punkt B“ all diese Punkte durchschritten wurden, und zwar in einer ganz bestimmten Reihenfolge. Dabei spielten sich die interessantesten und dramatischsten Ereignisse nicht zwischen diesen Punkten, sondern an ihnen, „an den Pässen und Furten“, ab. – Diese Betrachtungsweise reicht allerdings nur aus, um den historischen Prozeß in seiner Gesamtheit zu erfassen; zur Rekonstruktion des Weges sowie zur Enthüllung der durchaus konkreten und realen, jedoch im Nebel verborgenen Intrigen reicht sie nicht aus. Sollen wir also „kapitulieren“ und uns einer bewährten Forschungsmethode zuwenden, der Analyse der Mythen sowie der Desinformationskampagnen vergangener politischer Schlachten?
Mitnichten! Dies würde einer kriminalistischen Untersuchung gleichen, die sich einzig und allein auf die Aussagen von Zeugen und Verdächtigen stützte und auf Sachbeweise, forensische und ballistische Expertisen, Fingerabdrücke etc. verzichtete. Wie unsere jüngere Vergangenheit zeigt, kann man mittels solcher Untersuchungen zu jedem beliebigen Resultat gelangen – nur die Wahrheit ermitteln kann man damit nicht.
Während wir uns bei der Bestimmung der allgemeinen Richtungen des geschichtlichen Prozesses grundsätzlich naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden bedienten, werden wir bei der Erforschung der großen Intrigen der Vergangenheit auf folgende Faktoren stützen:
1. Die bereits ermittelten Gesetzmäßigkeiten der politischen Entwicklung; von ihnen wird später die Rede sein.
2. Die innere Logik, die Pragmatik der politischen, kriegerischen und ökonomischen Maßnahmen. Entsprechend dieser Logik ist es beispielsweise ein Ding der Unmöglichkeit, in der kahlen Steppe eine hunderttausendköpfige Reiterarmee Hunderte von Kilometern in geschlossener Formation vorrücken zu lassen. Entweder löst sich eine solche Masse auf und zerfällt in zahllose, über viele Kilometer zerstreute Haufen, oder die Pferde der Vorhut fressen alles Gras ab und trinken sämtliche Brunnen leer, so daß die Pferde der nachrückenden Einheiten an Hunger und Durst eingehen. Vom Standpunkt der elementaren politischen Logik aus ist es beispielsweise ebenso unmöglich, daß der Papst durch die ihm unterstehenden Organisationen die Orthodoxie in Rußland stärkt, oder daß die Christen das Heidentum fördern, etc. - So merkwürdig es anmuten mag: Eine solche elementare Analyse macht den meisten historischen Mythen mit einem Schlage den Garaus – jenen der „alternativen Historiker“ ebenso wie jenen der Traditionalisten.
3. Manche politischen Prozesse der fernen Vergangenheit, über die wir nur verschwommen Bescheid wissen, lassen sich mit Hilfe einfacher Analogien zu Ereignissen aus einer weniger fernen Vergangenheit erklären und rekonstruieren. Dies trifft insbesondere auf die gegenseitige Beeinflussung von „Wald und Steppe“ im Russenland zu. Wenn Zweifel daran bestehen, wie diese Beziehungen in einer weit zurückliegenden Vergangenheit aussahen, empfiehlt es sich vielleicht, den Stand der Dinge ein oder zwei Jahrhunderte später zu untersuchen. Obwohl sich prinzipiell nichts geändert hatte, weder geopolitisch noch ethnopolitisch, sind wir über diese weniger fernen Perioden bedeutend besser unterrichtet.
Noch ein letzter Punkt. Wir werden uns bemühen, nicht in unnötigen Einzelheiten zu versinken. Man muß sich allgemein zugängliche Informationen zunutze machen können. Vergleicht man unsere Forschung mit der naturwissenschaftlichen Methodologie, so läßt sich sagen, daß man „eine Graphik aus Punkten“ erstellen kann. Dennoch ist es besser, ganz einfach die Formel der entsprechenden Abhängigkeit zu kennen. Deshalb werden wir nicht auf eine Unzahl von Büchern verweisen, wie es unsere Kollegen von der Historikerzunft zu tun pflegen. Uns genügt bereits eine wesentlich geringere Menge von Informationen, um die Geschehnisse zu rekonstruieren. Um die Analogie zu einem Kriminalroman zu ziehen: Wenn eine zufällig in der Nähe installierte Videokamera das Geschehene klar und deutlich festgehalten hat, können wir uns die Befragung Hunderter von Zeugen sparen.
Übrigens: Alles Überflüssige ist ungesund. Deshalb werden wir auf unnötige Details verzichten, von denen leider nicht nur die Werke der ungeliebten Traditionalisten, sondern auch jene der „alternativen Historiker“ nur so strotzen. Dies ist auch der Grund dafür, daß wir nur dann auf alternative Geschichtsversionen und eine neue Chronologie zurückgreifen werden, wenn es wirklich nicht anders geht.
Gesagt sei noch folgendes: Bei der Erforschung der politischen Entwicklung Rußlands liegen bereits hinreichend viele kritische Schlußfolgerungen alternativer Historiker vor, die begründete Zweifel an der Ehrlichkeit und Unparteilichkeit der Chronisten und traditionalistischen Historiker erwecken.
Darin erschöpfen sich aber die Verdienste der alternativen Geschichtsforscher. Wir stehen den meisten von den alternativen Historikern und ihren Kollegen erstellten Chronologien höchst skeptisch gegenüber. Als Fachmann hat der Verfasser jedenfalls das Recht zu behaupten, daß sehr viele Gedankengänge der Historikergruppen um A. T. Fomenko, S. I. Valjanski, D. V. Kaljuschny etc. vom Standpunkt der Geoökonomik und Technologie aus keiner ernsthaften Kritik standhalten. Wir würden beispielsweise weit vorsichtiger über die Zugänglichkeit dieser oder jener Territorien während des Mittelalters sprechen. Damals bewegte man sich in den flachen Gebieten Rußlands nämlich hauptsächlich auf den Flüssen fort, im Sommer auf dem Wasser und im Winter auf dem Eis, und die Flüsse waren damals viel wasserreicher und tiefer als heute. Landwege und Landstrassen erfüllten zu jener Zeit lediglich eine Hilfsfunktion.
Der Mythos von einem Netz großartiger Strassen, das während des Mittelalters in Rußland bestanden haben soll, ist übrigens ein Schwachpunkt der Legende vom Tatarenjoch und der Herrschaft der Goldenen Horde, die sich von einem Ozean zum anderen erstreckt haben soll. Wo sind denn diese Strassen, die angeblich zur Herrschaftszeit der Horde gebaut worden sein sollen? Es gibt sie schlicht und einfach nicht! Zum Vergleich: Die Strassen des Römischen Imperiums sind bis zum heutigen Tage erhalten.
Von diesen Überlegungen ausgehend, kann man sich ohne weiteres vorstellen, daß Nowgorod in der Tat sämtliche Voraussetzungen erfüllte, um zum bedeutenden Handelszentrum am Ufer eines großen, rege befahrenen Flusses zu werden und nicht zum „Krähwinkel zwischen Sümpfen“, wie A. T. Fomenko behauptet.
Nebenbei gesagt war das Vorhandensein von Sümpfen damals, in den ersten Phasen der Eisenverarbeitung, für die regionale Wirtschaft nicht etwa ein Minus, sondern ein dickes Plus. Die ersten Zentren der Eisenverarbeitung beruhten nämlich auf der Ausbeutung von Erzvorkommen in den Sümpfen. Aus diesem Grund konnte Ungarn kein Zentrum der frühen Eisenverarbeitung sein, wie S. I. Valjanski und D. V. Kaljuschny behaupten, denn dort gibt es überhaupt keine Sümpfe. Und das von A. T. Fomenko als „Krähwinkel“ geschmähte Nowgorod, das inmitten von Sümpfen stand, besaß in der Tat alle Voraussetzungen, um nicht nur ein Handels-, sondern auch ein mächtiges Industriezentrum des Mittelalters zu werden.
Und so weiter, und so fort. Der römische Papst, dem militärisch-geistliche Orden unterstanden, konnte die Eroberung Rußlands durch einen „Orden“, der dann gemeinsam mit dem deutschen Kaiser das Schwert gegen Rußland erhob, nicht zulassen. Darauf laufen die Theorien S. I. Valjanskis und D. V. Kaljuschnys, für die das Tatarenjoch oder Joch der Horde in Wirklichkeit ein Joch des Ordens war, nämlich hinaus.
Besonders abwegig erscheinen uns schließlich die philologischen Seiltänzerakte aller „alternativen Historiker“. Aufgrund klanglicher Ähnlichkeiten zwischen diesen und jenen Wörtern stellen sie Thesen auf, über die man nur betreten den Kopf schütteln kann. Ich will den Leser nicht mit einer Kritik dieser Konstrukte langweilen, denn von diesen gibt es bei den „alternativen Historikern“ nur allzu viele. Ich begnüge mich mit der Bemerkung, daß sie sie mich an die Auslassungen eines Teilnehmers an einer politischen Diskussionsrunde in Moskau erinnern, der mit Bierernst erklärte, die Tschetschenen stammten aus Zentralamerika, und zwar aus der berühmten alten Stadt Tschetschen Iza. Folglich seien die Tschetschenen Erben des Aztekenreichs... Andere Diskussionsteilnehmer konterten mit dem Hinweis, daß lediglich der erste Teil des Stadtnamens an die Tschetschenen erinnere. Es liege aber eine genaue Übereinstimmung vor, wehrte sich der Angegriffene, und der zweite Teil des Namens sei möglicherweise im Lauf der Zeit entstellt worden. Überhaupt habe Tschetschen Iza in alter Zeit Tschetschen Jurt geheißen, und daß die Tschetschenen in Jurten wohnten, wisse doch jeder.
Eine systematische Kritik an den „alternativen Historikern“ gehört übrigens nicht zu den Aufgaben, die wir uns gestellt haben. In diesem Zusammenhang drängt sich unwillkürlich folgende Analogie auf: Jeder Wanderer und Naturfreund weiß, daß das Feuer eines Scheiterhaufens nicht etwa heller lodert, sondern im Gegenteil erlischt, wenn man allzu große Scheite auf ihn legt. Viele Theorien der „alternativen Historiker“ erinnern uns unwillkürlich an dieses Phänomen. In ihren Konstrukte findet sich jede Menge Überflüssiges und Fragwürdiges, was die Schlagkraft ihrer Argumente und ihrer Kritik an der traditionalistischen Geschichtsschreibung in den Augen von Naturwissenschaftlern, Polittechnologen und anderen logisch denkenden Menschen zwangsläufig schwächt.
So möchte man seinen Kollegen den Rat geben, bescheidener zu sein und sich in christlicher Demut zu üben – und dies, obwohl der Verfasser der Lehre der Kirche ablehnend gegenübersteht. Doch bisweilen erweist sich ein Gift als Heilmittel, wenn man es in kleinen Dosen einnimmt.
Entwickeln wir dieses Thema noch etwas weiter. Um gewisse besonders absurde historische Mythen zu widerlegen, die den meisten zeitgenössischen politischen Modellen zugrunde liegen, besteht überhaupt keine Notwendigkeit zur Konstruierung eines „alternativen Modells“, bei dem Namen, Fakten und Daten ausgetauscht werden. Es reicht völlig aus, diese Mythen Mythen zu nennen und sie als solche zu betrachten. Und sogar in der offiziellen, von vielen Generationen von Ideologen und Polittechnologen „gesäuberten“ Version der Geschichte, finden sich genügend viele Fakten, um zu ganz unerwarteten Schlußfolgerungen zu gelangen, die den traditionalistischen Historikern arges Bauchgrimmen bereiten müssen.
Es ist wie in einem Kriminalroman. Der Bösewicht bringt es einfach nicht fertig, alle Spuren seiner Missetat zu verwischen. Und die Politik war seit jeher ein gar schmutziges Gewerbe. Vom gewöhnlichen Verbrecher unterscheidet den Politiker lediglich das Ausmaß seiner Schurkentaten.
Deshalb bitten wir noch einmal, den Verfasser nicht zu den „alternativen Historikern“, „Zeithüpfern“ und ähnlichen Gestalten zu zählen. Zur Begründung unserer Schlußfolgerungen reichen die allgemein bekannten Interpretationen der Ereignisse des für das Russenland so kritischen 13. Jahrhunderts – und erst recht der folgenden Jahrhunderte – völlig aus. Dem sensationellen Charakter unserer Rekonstruktionen tut dies indessen keinen Abbruch.
4. Die angeborenen Defekte der Staaten und Imperien. Eine knappe Darlegung
Wir bitten die ungeduldigen unter unseren Lesern um Nachsicht: Unser historischer Kriminalroman beginnt hier noch nicht. Wir sehen uns genötigt, dieses Kapitel zu Ende zu führen, damit klar wird, welche Interessen die Teilnehmer am künftigen „Mord an Rußland“ verfolgen. Dazu müssen wir jedoch neben vielem anderen einige Züge des „Staatsaufbaus“ im allgemeinen etwas näher unter die Lupe nehmen.
Kaum jemand bestreitet, daß die ersten Staaten der Welt, jene Staaten, wo das Modell dieser Organisation der Gemeinschaft begründet wurde, in den Tälern großer Ströme lagen, die durch tropische Wüsten flossen.
In allen frühen Staaten des Altertums bildete eine auf dem Prinzip der Bewässerung fußende Landwirtschaft dabei den Eckpfeiler des Wirtschaftssystems. Diese Tatsache veranlaßte viele Forscher dazu, die ersten Staaten der Erde als „hydraulische“ politische Regime zu bezeichnen.
Diese „hydraulischen“ Regime gemahnen auffallend an eine Karikatur des Sozialismus: Dieselbe totale Verstaatlichung, totale Bürokratisierung, totale Entmündigung des Menschen. Ausführlicheres hierzu findet man übrigens bei Igor Schafarewitsch (Der Sozialismus als Erscheinung der Weltgeschichte, Moskau 2003).
Ein Vergleich der ersten Staaten der Welt mit den sozialistischen ist natürlich außerordentlich interessant, doch darum geht es hier nicht in erster Linie. Betrachten wir aber die systembildenden Prinzipien, die dem Aufbau dieser politischen und wirtschaftlichen Systeme zugrunde liegen, so zeigt sich, daß sie auf ein und demselben Prinzip beruhen. In diesen Staaten fehlt es an allem und jedem; im Überfluß vorhanden sind lediglich Menschen. Ein relativer Überschuß an Arbeitskräften bei allgemeinem Mangel an allen notwendigen Dingen bildete auch die Kulisse, vor der die ersten Staaten entstanden. In unserem Buch Die Eigenen und die Fremden haben wir neben vielem anderen aufgezeigt, daß sich die ersten Staaten unter den Bedingungen einer sich verschärfenden Ressourcenverknappung sowie einer ökologischen Krise, welche fast schon die Ausmaße einer Katastrophe annahm, gebildet haben. Dies ist übrigens der Grund dafür, daß ihr Entstehen mit ganz bestimmten ökologischen Bedingungen verbunden ist und sie regelmäßig in den Tälern großer Flüsse inmitten von Wüsten entstanden. Wir in unserem oben erwähnten Buch gezeigt haben, waren diese Wüsten von Menschenhand geschaffen worden.
Diese Staaten entstanden unter den Bedingungen einer auf begrenzten Fläche zusammengedrängten Bevölkerung, kolossalen Stresses und einer Aktivisierung von im wahrsten Sinne des Wortes kannibalischen Instinkten.
Deswegen ist der Staat als Regierungsorganisation vor allem unter den Bedingungen einer zahlenmäßig starken und auf engem Raum zusammengedrängten Bevölkerung von optimaler Effizienz. Er behandelt seine Bevölkerung mit äußerster Rücksichtslosigkeit und löst sämtliche Probleme mittels einer gnadenlosen Ausbeutung der menschlichen Ressourcen. Der klassische imperiale Staat ist infolgedessen stets kannibalischer Natur, und zwar besonders gegenüber seinen loyalsten Untertanen.
Von diesem Standpunkt aus bestehen tatsächlich frappierende Parallelen zwischen den Reichen der alten Ägypter, Assyrier, Babylonier und Inkas einerseits sowie der Sowjetunion während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den als Reaktion auf die Massenarbeitslosigkeit (d.h. das Vorhandensein „überflüssiger“ Menschen) entstandenen faschistischen Regimen. Dies haben wir in Die Eigenen und die Fremden mit Zahlen und Fakten hieb- und stichfest nachgewiesen.
Eine solche Situation ist wohlverstanden nicht immer vorhanden. Es tauchen neue Technologien auf, welche die Nutzung neuer Ressourcen ermöglichen. Das Verhältnis zwischen Menschen und Ressourcen ändert sich; nun fehlt es an Menschen. Diese durch mörderische Arbeit zu verheizen, wie es im alten Ägypten oder in der UdSSR der Stalinzeit der Fall war, wäre kontraproduktiv. Unter diesen Umständen verwischen sich die Grenzen zwischen den klassischen Staatsformen. Das sozialistische Imperium wandelt sich zu einer geschmeidigeren Form der gesellschaftlichen Organisation. Die Macht der Bürokratie schrumpft.
Gerade aus diesem Grund ist die imperiale Bürokratie niemals an einer Entwicklung der Gesellschaft interessiert, sondern hemmt diese stets auf alle erdenkliche Art und Weise und erstrebt eine Konservierung der bestehenden Verhältnisse an, unter denen es weniger Ressourcen als Menschen gibt. Dieser Prozeß ist komplex und facettenreich, verläuft jedoch im Prinzip immer nach demselben Strickmuster. Wer sich für diese Interpretation interessiert und ihre Einzelheiten kennenlernen möchte, der greife zu Die Eigenen und die Fremden. Um dieses Buch zusammenzufassen – und sei es auch nur in gedrängter Form –, fehlt uns hier die Zeit.
Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft würde schlicht und einfach stagnieren, gäbe es keine Konkurrenz zwischen den Staaten und bestünden keine Herde der zivilisierten Entwicklung. Glücklicherweise gibt es aber sowohl eine Konkurrenz zwischen den Staaten als auch ein zivilisatorisches Schaffen beim Prozeß der natürlichen Entwicklung der Produktion. Imperien werden schwach, die Allmacht der Bürokratie stößt an ihre Grenzen. Und die modernen Staaten werden ihrem klassischen Modell ebenso unähnlich wie ein wohlerzogener Rassehund einem rasenden Wolf.
Aber – und dies ist sehr wichtig – das imperiale Staatsmodell packt jede Gelegenheit beim Schopf, verlorenes Terrain zurückzuerobern, sich zu behaupten, sich auf Kosten anderer Staatsformen zu erweitern, etc. Dabei leben imperiale Überreste in jedem bürokratischen System weiter. Wie eine unterdrückte chronische Infektion schwelen sie im gesellschaftlichen Organismus weiter. Diese Infektion ist nicht klinischer Art, kann jedoch in ungünstigen Situationen jäh wieder ausbrechen.
Die Bürokratie selbst nutzt dabei jede Gelegenheit, solche Situationen heraufzubeschwören, unter anderem durch den Entwurf expansionistischer Projekte. Dieser Fortbestand überalterter Strukturen, dieser Versuch, sich auf neuen Territorien festzusetzen, die Lebensfähigkeit des imperialen Modells auf dem Buckel neuer Sklaven zu bewahren, bringt den Menschen, die Opfer eines solchen Prozesses werden, nichts als Unglück und Leid. Diese Menschen zwingt man mit Gewalt und Betrug, unter den Bedingungen sozialen und demographischen Drucks zu leben, wie er im alten Ägypten oder in Assyrien herrschte, indem man solche Bedingungen künstlich heranzüchtet. Und all dies um der Interessen der bürokratischen Oberschicht und eines Klüngels vaterlandsloser Degeneraten willen, die es in jeder Gesellschaft - auch in einer verhältnismäßig humanen – gibt.
All dies ermöglicht eine gewichtige Schlußfolgerung. In einer Krisensituation gibt es stets zwei Wege: Entweder man schreitet vorwärts und überwindet die Krise mittels Entwicklung und Evolution, durch eine grundlegende Lösung der Probleme. Oder aber man schreitet zurück, indem man zu einem „imperial-sozialistischen“ Gesellschaftsmodell zurückkehrt, das in Krisenzeiten ja durchaus lebensfähig sein mag, jedoch strategisch gesehen keine Perspektiven aufweist und zwangsläufig neue Krisen gebären muß. In diesem System beruhen alle Lösungsversuche auf einer mitleidlosen Ausbeutung der Menschen.
5. Der Bischof ist wichtiger als der General. Das Primat gewaltloser Herrschaftsmethoden
Zahlreiche Erforscher der Gesellschaftsstruktur messen der Gewalt als grundlegendem Mechanismus bei der Staatsbildung große Bedeutung bei. Sie tun dies mit Fug und Recht, denn in seiner Anfangsphase kristallisierte sich der Staat als rein gewaltsame, kannibalische Struktur heraus.
Doch damit, daß sich der Staat herauskristallisiert, ist es nicht getan – er muß, nachdem er feste Konturen gewonnen hat, auch bewahrt werden. Hier erweist sich nackte Gewalt als kontraproduktiv, ganz abgesehen davon, daß nur selten Bedingungen vorlegen, die einer offenen, rohen Gewaltherrschaft Vorschub leisten. Ein Beispiel dafür bot das Niltal, das von allen Seiten von Wüsten, vom Meer sowie von Wäldern, in denen schwarze Menschenfresser hausten, umgeben war und somit ein ideales, von der Natur geschaffenes Konzentrationslager war. Solche Orte gibt es auf Erden glücklicherweise nicht mehr allzu viele.
Viele Forscher, welche die historische Realität systematisch rekonstruieren, haben sich gefragt, ob sich das Niltal-Modell nicht – wenn auch in abgeschwächter Form - auf andere Weltteile ausgebreitet und zum Entstehen einer auf Sklavenarbeit basierenden Wirtschaftsstruktur geführt habe. Wie dem auch sei, jedenfalls entstanden fast alle landwirtschaftlichen Zivilisationen und Staaten unter Verhältnissen, die denen in Ägypten glichen, nämlich in den Tälern tropischer Ströme, die durch Wüsten und Halbwüsten flossen. Doch später griffen auch sie auf die angrenzenden Gebiete über.
Was hinderte die Menschen denn daran, dem „von der Natur geschaffenen Konzentrationslager“ den Rücken zu kehren! Warum sollten beispielsweise hundert Männer mit Hacken, d.h. Stöcken mit Metallspitzen, einem Sklaventreiber gehorchen, der einen Speer trug, also auch nicht mehr als einen Stock mit einer Metallspitze! Seine Metallspitze mochte ja schärfer und der Stock länger sein, aber er stand allein gegen hundert Sklaven.
Es ist dies eine extrem vereinfachte und extrem zugespitzte Darstellung der Ausgangslage. Betrachtet man sie jedoch genauer, so erweist sich, daß in höher entwickelten Gesellschaften mit vielschichtigeren Problemen nicht der Aufseher, sondern der Sklave am längeren Hebel saß.
Doch die Sklaven flüchten nicht. Genauer gesagt, es flüchten schon welche, aber weitaus weniger, als dazu in der Lage wären.
Als in den letzten Jahrzehnten Forschungen über die mathematische Modellierung der Lenkung großer Systeme erschienen, ergaben diese geradezu sensationelle Resultate. Hier ein Fallbeispiel. Auf der Strasse flüchtet ein Krimineller, dem ein Polizist auf den Fersen ist.
Variante Nummer eins: Die Passanten helfen dem Polizisten.
Variante Nummer zwei: Die Passanten mischen sich nicht ein.
Variante Nummer drei: Die Passanten behindern den Polizisten.
Wie viele Polizisten braucht es in jeder der drei Situationen, um den Kriminellen bei ansonsten gleicher Ausgangslage zu erwischen? Es erwies sich, daß es in der zweiten Situation ungefähr zehnmal mehr Polizisten braucht als in der ersten und in der dritten ca. zehnmal mehr als in der zweiten oder hundertmal mehr als in der ersten.
Seltsamerweise empören sich viele unserer Landsleute darüber, daß die Menschen in den Vereinigten Staaten in ihrer großen Mehrheit ihrer Polizei helfen. Gewiß, Spitzel mag man in Rußland nicht. Aber mag man bei uns etwa Polizisten?
Nun denn, in New York gab es zu Beginn der achtziger Jahre etwas über 30.000 Polizisten, während Moskau mit seiner um einiges geringeren Einwohnerzahl zur selben Zeit 200.000 Milizionäre zählte, also, gemessen an der Bevölkerungszahl, zehnmal mehr.
Im heutigen Moskau hat die Zahl der Gesetzeshüter im Vergleich zur Sowjetzeit stark zugenommen. Doch die Einstellung der Bevölkerung gegenüber den „Bullen“ hat sich seither drastisch verschlechtert, und die Effizienz der Miliz nähert sich dem Nullpunkt – genau wie man es den vorausgeschickten theoretischen Darlegungen nach erwarten müßte. Die Untersuchungen haben nämlich ergeben, daß es ab einem bestimmten Ausmaß an Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber den Ordnungshütern prinzipiell nicht mehr möglich ist, die Kriminalität zu bekämpfen. Die Aufdeckung eines Verbrechens ist dann lediglich dem Zufall zu verdanken. Und Versuche zur zahlenmäßigen Verstärkung der Polizei sind nichts weiter als ein Herumkurieren an Symptomen. Dieser Zustand ist im heutigen Rußland übrigens bereits erreicht; das Thema verdient eine ausführlichere Behandlung.
Dieses Beispiel stellt lediglich eine – und noch nicht einmal die wichtigste – Veranschaulichung der Tatsache dar, daß man einen Staat nicht mit roher Gewalt allein lenken kann, auch wenn der Staat auf den ersten Blick vor allem als Gewalttäter in Erscheinung tritt.
In der Populationsbiologie existiert ein Gesetz, wonach der wildeste und tüchtigste Räuber, der virulenteste und lebhafteste Mikroorganismus sowie der fruchtbarste und giftigste Parasit auf Dauer nicht überleben. Sie alle vernichten nämlich die Population ihrer Opfer und gehen dann selbst zugrunde – an Hunger.
Der Staat war ursprünglich ein Kannibale und nichts anderes. In manchen Fällen blieb er dies auch später; dieses Phänomen findet sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Doch wäre der Staat immer und überall nur Kannibale geblieben, wäre er über kurz oder lang eingegangen, so wie eine tödliche Pest erlischt, wenn sie alle Lebewesen in ihrer Reichweite dahingerafft hat.
All diese Probleme hat als erster Antonio Gramsci in seinen bekannten Heften aus dem Gefängnis, in denen er seine „Theorie der Hegemonie“ darlegte, des eingehenden erörtert. Gramsci zufolge kann der Staat nicht über einen längeren Zeitraum hinweg bestehen, wenn er von der Mehrzahl seiner Untertanen abgelehnt wird.
Dazu ist es durchaus nicht nötig, „auf die Barrikaden zu gehen“. Es reicht völlig aus, wenn man diesem Staat einfach die Unterstützung entzieht und ihn als Unglück betrachtet oder, um auf unser Beispiel zurückzukommen, dem Polizisten, der dem flüchtigen Gauner auf den Fersen ist, wie unabsichtlich ein Bein stellt. Eine solche massenhafte Ablehnung des Staates, eine solche massenhafte Weigerung, ihn zu unterstützen, zeigt schon recht bald Auswirkungen. Aktive Feinde hat jedes Regime in genügend großer Zahl, um ihn zu stürzen, wenn er schwankt. Wir denken hier nicht bloß an personifizierte Feinde. Es gibt auch natürlich bedingte Herausforderungen und zufällige Häufungen bestimmter Umstände, die den Staat noch nicht auf die Probe stellen würden, träten sie für sich allein auf.
Somit ist der Staat lebensfähig, solange ihn die Mehrzahl seiner Bevölkerung zumindest passiv unterstützt. Sich die Unterstützung dieser Mehrheit zu sichern wird für den Staat mit der Zeit weitaus wichtiger als plumpe Gewalt. Die gewaltlose Sicherung der Unterstützung durch die Bevölkerungsmehrheit wird zur Hauptaufgabe der Machthaber, und die Gewalt richtet sich fortan nicht mehr gegen alle, sondern lediglich gegen zum Opfer auserkorene Stände und Gruppen.
Die moderne Welt bietet dem Staat eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Erlangung dieser Unterstützung. Diese Möglichkeiten wurden im Prozeß der politischen Praxis auf empirische Weise ermittelt oder auf Geheiß der Machthaber zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten zielstrebig geschaffen. Doch dieser Prozeß, die Suche nach angemessenen, sich nicht auf rohe Gewalt beschränkenden Führungstechniken ist schon seit langer Zeit im Gange. In Die Seinen und die Fremden gehen wir ausführlich auf dieses Thema ein.
Radikal vereinfacht ausgedrückt lassen sich all diese Ziele und Aufgaben einer nicht gewaltbetonten Politik auf zwei allgemeine Prinzipien zurückführen:
Erstens: Die Massen betören.
Zweitens: Die Spitze enger zusammenschweißen.
Die Betörung erfolgte auf zwei Wegen. Der erste davon besteht bis zum heutigen Tage. Es ist dies die klassische Religion, die Staatsreligion. Sie fußt auf der Einimpfung der Idee von einem mächtigen Gott, oder von mächtigen Göttern. Doch das Wichtigste bei einer Staatsreligion ist es, die Herde davon zu überzeugen, daß Gott – oder die Götter – auf der Seite der Herrschenden stehen.
Das historische Gedächtnis hat im allgemeinen recht späte Varianten der Verwirklichung dieser Aufgabe fixiert. Es sind dies die vorgetäuschten Überzeugungen und das spezifische „religiöse Theater“ der Gottesdienste. Im Altertum war dieses Theater bedeutend vielseitiger und ging mit einer weitaus größeren Anzahl von Wundern Hand in Hand, von denen viele nichts als simple Taschenspielertricks waren. (Wir machen den Leser übrigens darauf aufmerksam, daß in vielen europäischen Sprachen die Wörter für „Kirche“ und „Zirkus“ auf dieselbe Wurzel zurückgehen.)
Ursprünglich, im reinen Terrorstaat, war das „religiöse Theater“ meist abschreckender Art. „Sondereffekte“ wurden dabei mit echten Opferakten erzielt. Diese Entwicklungsstufe der Religion fanden die Spanier im präkolumbianischen Amerika vor.
Weisen wir darauf hin, daß das Gesellschaftssystem der auf einer bewässerten Landwirtschaft fußenden Zivilisationen sowie der entsprechenden Imperien des präkolumbianischen Amerika in vielen Punkten eine starke Ähnlichkeit mit dem Ersten Imperium aufwiesen (diesen Begriff verwenden wir für die schließlich in einem einzigen Staat vereinigten „hydraulischen“ Regime des Östlichen Mittelmeers; im folgenden werden wir diesen Ausdruck für alle imperialen Staatsbildungen dieser Region benutzen, wo die Rolle der Metropole der Reihe nach Ägypten, Assyrien, Babylon und Byzanz zufiel). Deshalb kann man annehmen, daß auch die Regierungsformen dort ähnlich waren, und deshalb waren auch die Religionen dieser Zivilisationen ähnlich und trugen größtenteils einschüchternden Charakter.
Doch das Erste Imperium brachte diese Periode hinter sich, die amerikanischen Imperien nicht, obwohl gewisse Tendenzen auf eine solche Entwicklung hindeuteten. Wie und warum dies alles so verlief, ist eine andere Frage. Sie ist zwar sehr interessant, doch würde ihre Behandlung den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen.
Begnügen wir uns mit der Feststellung, daß die Religionen der von Cortez und Pizarro zertrümmerten Staaten uns eine Vorstellung von der ursprünglichen Religion des Ersten Imperiums vermitteln. Viele Forscher empfinden Verwunderung über die architektonische Ähnlichkeit zwischen den religiösen Bauten Ägyptens und denjenigen des Azteken- und des Inkareichs. Und hier argwöhnen manche sogleich, hier hätten die Außerirdischen Geburtshelferdienste geleistet. Doch lassen wir diese garstigen Kobolde hier aus dem Spiel: Die Erklärung des Rätsels liegt einfach darin, daß technische Konstruktionen, die ein und denselben Zwecken dienen, einander gewöhnlich sehr ähnlich sind, mögen sie auch von verschiedenen Ingenieuren stammen; Bauwerke machen hier keine Ausnahme.
Übrigens brauchen wir uns nicht lange bei den Ingenieuren aufzuhalten. In der Biologie kennt man den Begriff der konvergenten Evolution. Von einer solchen spricht man, wenn vollkommen verschiedene Arten einander infolge einer idealen Anpassung an ein und dieselben Umweltbedingungen einander morphologisch (also ihrer Form nach) auffallend gleichen.
Unter diesen Umständen ist es ganz natürlich, daß die auf Furcht beruhenden Religionen jener Imperien, deren Grundlage eine bewässerte Landwirtschaft war, ähnliche religiöse Bauten errichteten. Allein schon die sehr spezifischen und ähnlichen äußeren Bedingungen gaben den Anstoß zu deren Aufkommen. Manche Forscher weisen noch heutzutage darauf hin, daß gewisse Gebäude der alten Kulte eine unerklärliche Furcht einflössen. Ja, die Sondereffekt-Lieferanten der kannibalischen Imperien verstanden ihr Handwerk!
Doch diese Etappe in der Entwicklung der Religion des Ersten Imperiums ist nicht die interessanteste. Solange die Religion auf Furcht basierte, erfüllte sie lediglich eine Hilfsfunktion bei der Unterstützung des staatlichen Terrorapparates. Das Erste Imperium ging infolge endloser und unfruchtbarer Kriege und Feldzüge – also einer Form von Terror gegen äußere Feinde – langsam zugrunde, nachdem es nicht nur die unteren, sondern auch die oberen Schichten seiner Gesellschaft in Furcht und Schrecken versetzt hatte.
Unterstreichen wir nochmals, daß ein solches staatliches System bedrohlich instabil ist. Den Beweis dafür lieferten Cortez und Pizarro. Es ist doch merkwürdig, daß 200 Conquistadoren 200.000 Azteken besiegen konnten. Ein paar Pferde und Musketen (deren Laden mehrere Minuten in Anspruch nahm) reichten bestimmt nicht aus, um den Sieg zu erringen. Dieser wurde erst dadurch möglich, daß sich 300.000 Aufständische auf die Seite der Konquistadoren schlugen. Dieses Beispiel zeigt schlagend, wie gebrechlich ein nur auf Abschreckung beruhender Staat ist.
Das Erste Imperium hingegen fand genügend Kraft, um seine Strategie zu ändern. Damals wurde die Staatsreligion (im weitesten Sinne des Wortes) zur Grundlage des imperialen politischen Modells. Was aber änderte sich als Folge dieses Kurswechsels an der Religion selbst?
Eine höchst willige Rolle begannen nun narkotische Halluzinationen zu spielen. Gewisse extrasensuelle Methoden, Formen der Psychotechnik, im Rauschzustand erlebte Wahnvorstellungen – all dies schuf einen unerschütterlichen Glauben an die von der Staatsreligion suggerierten Ideen – einen Glauben, zu dessen Aufrechterhaltung es nicht mehr nötig war, den Opfern vor den Augen einer schreckerstarrten Menge bei lebendigem Leibe das Herz aus dem Leib zu reißen.
Der Verfasser hat gute Gründe dafür, auf die Funktion der Narkotika bei der Betörung des Volkes hinzuweisen, wird dieses Faktum doch in zahlreichen Quellen erwähnt. In einigen der apokryphen Evangelien kritisiert Christus die offizielle Religion und ruft – um es in unserer heutigen Sprache zu sagen – dazu auf, sich beim Gottesdienst des Alkohol- und Opiatengebrauchs zu enthalten. Er predigt auch Maßhalten beim Alkoholkonsum.
Diese Zeugnisse werden in den Werken N. A. Morosows angeführt.
Wenn die Angaben N. A. Morosows stimmen, wirft Christus hier eine zweifellos sehr wichtige Frage auf (überhaupt befaßte sich der Sohn Gottes niemals mit zweitrangigen Fragen). Der Konsum von Alkohol und Narkotika zugleich konnte leicht dazu führen, daß die Menge nicht nur verblödete, sondern ihr menschliches Aussehen vollkommen verlor und infolgedessen zugrunde ging. Nebenbei erwähnt hat auch Zoroaster die Notwendigkeit der Bekämpfung des „Somma“-Missbrauchs während des Gottesdienstes hervorgehoben. Unter Somma verstand man eine Mischung von Alkohol und leichten Opiaten, welche die Feueranbeter – zu denen Zoroaster zählte – während ihrer kultischen Handlungen einzunehmen pflegten. Es ist bezeichnend, daß sich die an Rauschmittel gewöhnte Menge regelrecht zu solchen Gottesdiensten drängte und empört reagierte, als man ihnen diese Narkotika verbot.
Dieses Problem machte freilich nicht nur den Feueranbetern zu schaffen. Wir erinnern daran, daß die blutigen Hussitenkriege im Europa des Mittelalters nicht zuletzt geführt wurden, um den Laien die Möglichkeit zu verschaffen, beim Abendmahl Wein zu sich zu nehmen. Die damaligen Bevölkerungsverluste Tschechiens, Süddeutschlands und Ungarns lassen sich prozentuell mit jenen während des Zweiten Weltkriegs vergleichen.
Daß den Gottesdiensten der Frühchristen regelmäßig Gastmähler in der Kirche selbst zu folgen pflegten, hat übrigens ein sehr moderater zeitgenössischer Kirchenhistoriker, A. Men, hervorgehoben. Nur in einem Punkt sind wir mit Pater Alexander nicht einverstanden. Es ist bedeutend wahrscheinlicher, daß diese Praxis nicht bei den Frühchristen selbst entstand, sondern daß diese sie von älteren Formen des Gottesdienstes übernommen haben, die zur Zeit des Ersten Imperiums Brauch waren. Und das Erste Imperium umfaßte auch die Gebiete, in denen sich die in der Bibel geschilderten Ereignisse abgespielt haben.
Hier ist es nun an der Zeit, eine äußerst wichtige Bemerkung anzubringen. Wenn der Verfasser von der Religion des Ersten Imperiums spricht, denkt er dabei überhaupt nicht an das Christentum, das Judentum oder den Islam, ja nicht einmal an den Zoroastrismus.
Wir wissen nicht, wie wir diese Religion bezeichnen sollen. Doch indirekte Zeugnisse dafür, daß sie auf Blendwerk und Furcht beruhte, gibt es sehr wohl. Anhängern einer der heutigen Weltreligionen können wir lediglich sagen, daß gerade die Begründer und Propheten letzterer erbittert dagegen gekämpft haben, daß der Glaube an Gott – ein geheimer, zutiefst persönlicher Weg der Erkenntnis des Erhabenen – durch einen grobschlächtigen Betrug ersetzt wurde. Bei diesem Kampf sind denn auch die heutigen Weltreligionen entstanden.
Gegen diese Entwicklung stemmte sich in erster Linie Christus. Zeugnisse für seinen Kampf findet man in den kanonischen, vor allem aber in den apokryphen Evangelien. Auch Zoroaster bekämpfte solche Tendenzen, und viele Päpste des Zeitraums vom 7. bis zum 11. Jahrhunderts fochten denselben Strauss aus.
Doch religionswissenschaftliche Fragen sind nicht das Thema der vorliegenden Studie. Uns geht es um die Polittechnologien des Ersten Imperiums, in denen die Religion ein notwendiger, wenn nicht gar der hauptsächliche Bestandteil war.
Manche werden mir ja widersprechen, doch Religion und der Glaube an Gott sind nicht miteinander identisch. Eine Staatskirche ist ihrem Wesen nach nicht zuletzt eine politische Struktur, und da sie politische Funktionen erfüllt, wird sie sich unter allen Umständen die vorhandenen Polittechnologien zunutze machen. Ansonsten hört sie auf, Bestandteil eines politischen Systems zu sein.
Aus diesem Grund war es pure Notwendigkeit, daß die religiösen Strukturen des ersten, alles andere als heiligen Imperiums zumindest teilweise auch von all jenen Kirchen übernommen wurden, welche später auf den einst zum Ersten Imperium gehörenden Territorien entstanden – sofern diese Kirchen zu Staatskirchen wurden, wohlverstanden. Da gewisse Elemente des Ersten Imperiums in der staatlichen Praxis weiterlebten, bestanden sie zwangsläufig auch in der Praxis der Staatskirchen weiter, auch wenn es oft vorkommen mochte, daß die Kirche die staatlichen Bräuche abzumildern versuchte.
So oder so steht aber eines fest: Im imperialen Modell der Gesellschaftsordnung wird die Kirche zum Rückgrat des Staates. Das klassische „sozialistische Imperium“ ist ohne Kirche nicht denkbar, so wie umgekehrt auch die orthodoxeste Kirche nicht ohne „sozialistisches Imperium“ denkbar ist.
Der Leser möge sich nicht über unsere Terminologie wundern. Im vorletzten klassischen sozialistischen Imperium, der UdSSR (das letzte war China) wurden sämtliche Funktionen der Kirche von der Kommunistischen Partei erfüllt.
Doch weichen wir nicht von unserem Thema ab und begnügen wir uns mit dem Hinweis darauf, daß die Kirche gerade dank dieser Verbindung zwischen orthodoxer institutionalisierter Religion und orthodoxem Staat gemeinsam mit der Bürokratie als Initiatorin imperialer Projekte auftreten kann. Eine besonders wichtige Rolle spielt sie bei Projekten zur Bewahrung des Imperiums, denn um dieser willen werden Kirchen gebaut, wenn die Welle der Gewalt verebbt ist.
Und die Kirche bewahrt das Imperium. Sie bewahrt es auch dann, wenn die Heerscharen des Imperiums auf den Schlachtfeldern verblutet sind. Sie bewahrt es um jeden Preis. Sie ist daran interessiert und versteht sich auf diese Kunst.
Behalten wir dies gut in Erinnerung.
Kapitel 2. DAS GRÖSSTE GEHEIMNIS
1. Das Tatarenjoch oder die Inventarisierung einer plumpen Geschichtsfälschung
Hiermit haben wir die einleitenden Anmerkungen hinter uns gebracht, und wir können zu unserem historischen Kriminalroman übergehen, dessen Thema die Erforschung des sogenannten Tatarenjochs ist. Letzteres soll den Russen angeblich als Ergebnis eines Einfalls von Eroberern aufgezwungen worden sein, die aus dem ungeheuren Reich des Dschingis Khan eingedrungen waren. Dieses legendäre Reich selbst soll von den Mongolen geschaffen worden sein, nachdem sie China, ganz Zentralasien, den Iran und den Kaukasus unterworfen hatten.
Eine gewaltige Zahl nomadischer Mongolen, heißt es, habe sich urplötzlich in riesigen, aus Hunderttausenden von Reitern bestehenden Horden vereinigt und sei zu einem großen Eroberungsfeldzug aufgebrochen, der mit der Errichtung der Tatarenherrschaft in Rußlands seinen krönenden Abschluß gefunden habe.
Doch hält bereits diese Vorgeschichte des angeblichen Tatarenjochs keiner Kritik stand. Sie widerspricht nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch den Naturgesetzen.
Tatsache ist, daß Nomaden, die in trockenen Steppen lebten, aufgrund des Zwangs der äußeren Umstände nicht in der Lage sind, sich in großen Scharen zu konzentrieren. Das ganze System der nomadischen Wirtschaft bedingt nämlich eine möglichst breite Streuung auf dem zur Verfügung stehenden Territorium. Konzentriert sich eine größere Zahl von Nomaden über längere Zeit auf einem kleinen Gebiet, so führt dies zu einem Mangel an Futter für das Vieh. Auf diese Tatsache haben etliche Kritiker des Mythos vom Tatarenjoch hingewiesen.
Doch auch Pferd und Schaf leben nicht vom Futter allein. Einer derartige Masse von Menschen und Herden hätte der Durst noch weit ärger zu schaffen gemacht als der Hunger. Keine einzige Oase kann Hunderttausenden von Menschen und Tieren auch nur einen oder zwei Tage lang ausreichend Wasser bieten. Man möchte die traditionalistischen Historiker nur allzu gerne fragen: „Meine Herren, haben Sie je versucht, Ihren Durst mit fauligem Wasser aus einem erschöpften Brunnen zu stillen? Wissen Sie, wie rasch das Wasser in einem solchen in der Steppe, und erst recht in der Wüste, zur Neige geht?“
Hätten die Mongolen es je fertiggebracht, ein so ungeheures Heer auf die Beine zu stellen, so hätte sich dieses bei der Suche nach Wasser und Gras für seine Pferde schon bald in alle vier Himmelsrichtungen zerstreut. Doch dieses Heer hätte sich recht lange an ein und demselben Ort aufhalten müssen. Schließlich hätte man diese gewaltige Zahl von Reitern und Pferden zuerst formieren müssen. Es wäre unabdingbar gewesen, dieser anfangs amorphen Masse eine Struktur zu verleihen, die Beziehungen zwischen den einzelnen Unterabteilung festzulegen, Offiziere für die einzelnen Unterabteilungen zu ernennen, etc.
Nein, die Mongolen hätten keine solche Armee aufbieten können. Sie wären rein physisch dazu nicht in der Lage gewesen.
„Vielleicht war die Region, in der sie sich konzentrierten, sehr groß?“ wird man da einwenden. „Sie braucht ja nicht unbedingt in einer einzigen Oase oder an einem einzigen Steppenfluß gelegen zu haben.“
Wir wollen unsere Leser nicht mit einer Zahlenflut verwirren. Elementare Berechnungen, die auf dem erfahrungsgemäßen durchschnittlichen Futter- und Wasserbedarfs eines Pferdes, auf der Menge des von ihm zertretenen Grases, der verfügbaren Biomasse an Vegetation in der Steppe etc. fußen, ergeben aber folgendes:
Nehmen wir an, die mongolische Armee habe aus nur hunderttausend Reitern bestanden (was bedeutet, daß sie mindestens dreihunderttausend Pferde benötigte). Nehmen wir weiter an, sie sei nicht etwa in der Wüste Gobi, sondern in der verhältnismäßig wirtlichen, mit Wäldern durchsetzten Steppe der Nordmongolei aufmarschiert. Unter diesen Bedingungen hätte sie sich zwangsläufig über ein Territorium von ungefähr anderthalbtausend Quadratkilometern zerstreuen müssen und nicht länger als fünf Tage dort verweilen können.
Man frage jeden beliebigen militärischen Fachmann, ob man innerhalb von fünf Tagen eine solche Masse auf einer so großen Fläche strukturieren und ordnen kann, wenn man über keine anderen Verbindungsmittel verfügt als über berittene Boten, die selbst auf den besten Pferden pro Tag nicht mehr als hundert Kilometer zurücklegen können. Er wird die Frage verneinen.
Und wenn der Aufmarsch nicht in der Nord-, sondern in der Zentralmongolei erfolgte? Dann hätte er auf einem noch drei- bis viermal größeren Gebiet stattfinden müssen, und die Strukturierung der Armee wäre sogar theoretisch unmöglich gewesen.
Wissen Sie übrigens, lieber Leser, woran der berühmt-berüchtigte Baron Ungern-Sternberg, einer der Führers der Weißen Bewegung, gescheitert ist? Er wollte seine aus knapp viertausend Reitern bestehende asiatische Division durch die Wüste Gobi führen. Die Division meuterte, da sie den Baron für verrückt hielt und meine, ein solches Unterfangen sei kein Feldzug, sondern kollektiver Selbstmord. Interessanterweise bestand diese Division zu zwei Dritteln aus Mongolen, welche mit den Regionen, wo sich weiland Hunderttausende von Kriegern Dschingis Khans versammelt und die Wüste durchquert haben sollen, bestens vertraut waren.
Die mongolischen Reiter Baron Ungern-Sternbergs hielten es also für Wahnsinn, die Wüste mit viertausend Mann durchqueren zu wollen. Mit viertausend Mann – nicht mit vierzigtausend und erst recht nicht mit dreihunderttausend.
Woher hätte ein solch gewaltiges Aufgebot in der Mongolei des Mittelalters überhaupt kommen sollen? Die demographische Struktur der patriarchalischen nomadischen Gesellschaft zeichnet sich durch Kinderreichtum aus. Um auch nur hunderttausend Reiter im kampffähigen Alter aufbieten zu können, hätte die Mongolei eine Bevölkerung von einer halben Million besitzen müssen. Die Einwohnerzahl der heutigen Mongolei beträgt ungefähr eine Million. In den meisten Ländern hat sich die Bevölkerung seither um wenigstens das Zehnfache vermehrt. Wenn die Mongolei keine Ausnahme darstellt, konnte ihre Gesamtbevölkerung zur Zeit Dschingis Khans hunderttausend kaum überschreiten, so daß eine Armee von hunderttausend, ja selbst von dreißigtausend Reitern von vorne herein an in Reich der Fabel zu verweisen ist. Wer unter diesen Umständen auch weiterhin von einer mehrere hunderttausend Reiter zählenden Armee Dschingis Khans schwadroniert, ist schlicht und einfach ein Banause, der nicht einmal die Grundbegriffe der Arithmetik beherrscht.
Doch nicht genug damit: Wie waren diese Massen von Reitern eigentlich bewaffnet? Eisen wurde zu jener Zeit hauptsächlich in Sumpfzonen gefördert (auf diese Frage gehen wir später noch ausführlicher ein), und in der Mongolei gibt es keine Sümpfe mit Erzvorkommen, was bedeutet, daß Eisen dort Mangelware gewesen sein muß.
Dieser Sachverhalt wird übrigens durch historische Quellen bestätigt. In China war es verboten, den Nomaden des Nordens Eisen und aus Eisen bestehende Gegenstände zu verkaufen. Da es in der Mongolei an Eisen mangelte, konnten die Mongolen sich letzteres einzig und allein in China besorgen (eine populärwissenschaftliche Darstellung dieses Themas findet man in einem Artikel A. Volkovs in der Zeitschrift Snanije-Sila [Wissen ist Stärke], Nr. 10/2004). Das von den Herrschern Chinas erlassene Verbot, Eisen und eiserne Gegenstände zu exportieren, diente also dazu, eine wirksame Bewaffnung der Nomaden zu verhüten.
Kurz und gut: Die Bewohner der Mongolei waren auf den Import von Eisen angewiesen, das sie sich aber auf legalem Wege nicht besorgen konnten. Nichtsdestoweniger will man uns weismachen, sie hätten es fertiggebracht, ein gewaltiges, bis zu 300.000 Mann zählendes Heer ausreichend zu bewaffnen. Dazu hätten sie jahrzehntelang Eisen horten müssen, und dies hätte eine landesweit zentral gesteuerte Wirtschaft vorausgesetzt. Unter den damaligen Bedingungen war dies eine radikale Unmöglichkeit. Erst recht unmöglich war es, einen „großen Führer“ zu wählen, der innerhalb einiger Jahre alle politischen Probleme löste und dann mit einer vieltausendköpfigen Armee in China einfiel.
Womit war diese Armee eigentlich bewaffnet? Etwa mit Stöcken?
An den Mythen von den „Nomadenstaaten“ ist von Anfang an etwas faul. Aus irgendwelchen Gründen haben diese von Nomaden geschaffenen Imperien weder in der materiellen noch in der geistigen Kultur irgendwelche Spuren hinterlassen. Viele Historiker haben denn auch Zweifel an der Realität der nomadischen Reiche geäußert. Solche Zweifel finden sich in den Werken sämtlicher „alternativen Historiker“, die von uns zuvor erwähnten nicht ausgenommen. Wie wir im ersten Kapitel dieses Buches festgehalten haben, ist der Staat ein Organismus, der auf Gewalt beruht und unter den Bedingungen einer großen Konzentration von Menschen entsteht. Doch niemand unterwirft sich der Knute und dem Beil aus freiem Willen. Wer die Möglichkeit besitzt, der Gewalt des Staates zu entrinnen, nutzt diese in der Regel, und gerade Nomaden besitzen diese Möglichkeit in besonders hohem Grade. Noch im 20. Jahrhunderts vermochte der Sozialismus des Stalinschen Imperiums gewisse Nomadenstämme nicht einmal mit Maschinengewehren und Flugzeugen in die Kolchosen zu treiben. Die Uiguren beispielsweise setzten sich ganz einfach nach Xinjiang ab. Weiter nördlich lebende Völker vermochten sich dem Zugriff der eifrigen sowjetischen Bürokraten zu entziehen, indem sie jahrzehntelang durch die Tundra streiften.
Daß sich Nomaden auf Wunsch irgendwelcher „Führer“ plötzlich freiwillig zu Hunderttausenden versammelten, geduldig am Hungertuch nagten und ihren Durst mit einer übelriechenden Lauge aus erschöpften Brunnen stillten, ist erst recht unvorstellbar. Das System der nomadischen Wirtschaft, deren Grundprinzip die territoriale Dezentralisierung ist, steht an sich in völligem Widerspruch zur Praxis der Staatenbildung im Altertum sowie im Mittelalter, die eine Konzentrierung möglichst vieler Menschen auf einem möglichst kleinen Gebiet voraussetzte (vgl. unser Buch Die Eigenen und die Fremden).
Somit behalten die Kritiker der Mythen von den „nomadischen Imperien“ recht. Es geht hier wohlverstanden nicht um bloße Details. Nomaden können sich grundsätzlich nicht in Staaten organisieren. Die systembildenden Merkmale der nomadischen Wirtschaft lassen sich mit denen eines straff organisierten Staates nicht unter einen Hut bringen. Nomaden kann man einen Staat allenfalls aufzwingen, und auch dann sind sie dessen unzuverlässigste Untertanen.
Führen wir diesen Gedankengang weiter. Betrachtet man die wirtschaftliche Tätigkeit vom allgemeinsten Standpunkt, nämlich als Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur, so kann man gewisse Merkmale des Nomadentums auch heutzutage in anderen wirtschaftlichen und sozialen Organismen finden. Nicht ohne Grund war der Ausdruck „Neue Nomaden“ im Westen zu einer gewissen Zeit so modisch. Interessant ist nun folgendes: Je stärker die Tendenzen des „Nomadentums“, desto schwächer sind die staatlichen Institutionen. Wie könnte es auch anders sein.
Kurz und gut: Die mythischen mongolischen Nomaden aus der Zeit des mythischen Dschingis Khan konnten kein Imperium schaffen.
Zur Untermauerung des bisher Gesagten wollen wir darauf hinweisen, daß der erwähnte Baron Ungern-Sternberg noch im 20. Jahrhundert nur ein viertausendköpfiges Reiterkorps zusammentrommeln konnte (das zu einem erheblichen Teil nicht aus Mongolen, sondern aus Weißen Emigranten und östlich des Baikalsees lebenden Kosaken bestand). Dieses Korps verfügte – wenn auch nur in bescheidenem Masse – über Transportmittel, die es in der mittelalterlichen Mongolei noch nicht gab, u.a. auch über ein paar Flugzeuge. Mit diesem Korps vermochte sich Ungern-Sternberg de facto zum Herrn der Mongolei aufzuschwingen. Als Retter dieses Staates vor der chinesischen Aggression besaß er große Autorität. Dabei halte man sich vor Augen, daß die Bevölkerung der Mongolei größer war als zur Zeit Dschingis Khans.
Trotz allem gelang es ihm nur gerade viertausend Reiter zu mobilisieren. Gesetzt, der legendenumrankte Dschingis Khan hatte ein wirkliches historisches Vorbild – wie hätte dieser denn ein mehrhunderttausendköpfiges Reiterheer aufbieten können? Einige tausend Mann mag er zusammenbekommen haben, nicht mehr.
Und mit einer solchen „Horde“ soll er sich die halbe Welt untertan gemacht haben? Wollt ihr uns eigentlich zum Narren halten, ihr Herren Hofhistoriker?
Doch nehmen wir einmal an, dieser Horde sei tatsächlich zu einem Feldzug aufgebrochen. Einem Feldzug, der sie durch ein viele tausend Kilometer breites Gebiet führte. Sie besaßen keine Karten und wußten vor allem nicht, wohin die Reise ging. Nehmen wir ferner an, fünfhundert Marodeure hätten diese Reise erfolgreich hinter sich gebracht. Fünfhundert, nicht fünfhunderttausend. Eine solche Horde kann tatsächlich ausreichend Futter für die Pferde und genügend Brunnen finden, wenn sie einigermaßen mit der Gegend vertraut ist.
Beiläufig sei noch darauf hingewiesen, daß eine Bande ihre zahlenmäßige Stärke durch die Aufnahme Angehöriger irgendwelche „unterworfener“ Völker nicht nennenswert erhöhen kann. Sobald ihre Zahl ein paar tausend überschreitet, kann sie sich nicht mehr als kompakte Formation auf den dürren Steppen – oder gar in den Wüsten – fortbewegen, weil es dann nicht mehr genügend Futter und Wasser für die Pferde gibt. Zerstreut sie sich aber, so setzen sich die zwangsrekrutierten Angehörigen der besiegten Völker flugs ab.
Angesichts dieser Voraussetzungen bleibt die Horde zwangsläufig klein. Doch nehmen wir an, sie sei von Tatendrang erfüllt und zielstrebig wie zu Beginn des Feldzugs. Wenn die offizielle Geschichtsversion auch nur einigermaßen stimmt, legt sie in Wüstenzonen Hunderte von Kilometern zurück, wird dann in Kämpfe verwickelt und setzt anschließend ihre Wanderung fort – und dies alles mehrere Jahre hintereinander. Hält man sich vor Augen, daß ihr Marsch durchaus nicht auf einer geraden Linie verlief, mußten sie dabei wenigstens 15.000 Kilometer zurücklegen, wobei sie der Reihe nach die Mongolei, Xinjiang, Zentralasien sowie die Territorien des heutigen Kasachstan. (Mit dem Flugzeug wären es heute von der Zentralmongolei bis zu den Ufern der Wolga fünfeinhalbtausend Kilometer.)
Kann man so etwas glauben? Ganz eindeutig nein. Um so mehr, als es in unserer jüngeren Geschichte einen Präzedenzfall gibt, der die physischen Möglichkeiten und Begrenzungen eines solchen Unterfangens veranschaulicht. Im Jahre 1935 zogen turkmenische Reiter von Aschchabad nach Moskau. Ihre Anzahl betrug nicht mehr als ein paar Dutzend. Ihnen standen Funker und Flugzeuge zur Verfügung, ferner Lastwagen mit Futter für die Rosse und Proviant für die Männer. Daß man ihnen die besten Pferde zugeteilt hatte, versteht sich von selbst.
Doch nach ihrer Ankunft in Moskau waren die Pferde
Kaum noch gehfähig und mußten per Zug nach Aschchabad zurückgeschafft werden. Die Reiterschar selbst war bis zum äußersten ermattet, und daß sie es überhaupt nach Moskau geschafft hatte, wurde in der Iswestija damals als „weltgeschichtlich einzigartige“ sportliche Großtat gefeiert.
Und nun stellen Sie sich vor, daß ein berittenes Heer während des ganzen Marsches immer wieder in Kämpfe verwickelt wird, auf jede Art moderner Transport- und Kommunikationsmittel verzichten muß und zum krönenden Abschluß in der Nähe von Moskau noch eine gewaltige Schlacht schlagen muß! Es versteht sich von selbst, daß all dies gänzlich wirklichkeitsfremd ist. Doch gerade aus solchen Episoden – einem ein- bis zweitausend Kilometer langen Marsch durch Wüsten und dürre Steppen, gefolgt von siegreichen Schlachten, die mit vorwiegend frischen Kräften aus den Reihen irgendwelcher „unterjochten“ Völker ausgefochten wurden – besteht der ganze mythische Feldzug des Dschingis Khan.
Dies zu glauben ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist dies ein Märchen. Ein finsteres, läppisches Märchen.
Nehmen wir jedoch wieder einmal an, das Unmögliche sei damals möglich geworden, und eine Bande von vielleicht fünfhundert säbelschwingenden Reitern habe es fertiggebracht, die halbe Welt zu erobern. In der mythischen Phantasiegeschichte V. Jans singen die Batyry Tschingis Khans: „Der Sand von vierzig Wüsten hinter uns/ist purpurrot vom Blute feiger Memmen.“ (In Wirklichkeit wäre der „Sand der vierzig Wüsten“ viel eher mit den Leichen dieser „Krieger“ übersät gewesen, die elend an Durst zugrunde gegangen wären.)
Und nun stehen die Schatzkammern der halben Welt den Eroberern offen. Zehntausende von Sklaven bauen diesen neue Residenzen, und das Territorium des Imperiums ist von einem Netz effizienter Strassen durchzogen. Wo, bitteschön, sind die materiellen Spuren all dessen? Die Strassen des Römerreiches sind bis zum heutigen Tage erhalten, und die Spuren wesentlich bescheidener Schatzkammern desgleichen, von den Prachtbauten ganz zu schweigen. Aber vom Imperium Dschingis Khans ist nichts erhalten geblieben. Nicht die geringste Spur!
Es ist nichts erhalten geblieben, weil es dieses Imperium nicht gab. Es gab es nicht und konnte es nach den Naturgesetzen auch gar nicht geben. Es ist an der Zeit, mit dem Nacherzählen dieser alten Legende aufzuhören.
Wer nicht ohne eine ausführlichere Analyse dieser Märchen auskommen kann, dem sei A. Buschkows Buch Rossija, kotoroj ne bylo [Das Rußland, das es nicht gab] (Olma-Press, Moskau 2004) empfohlen. Der Verfasser analysiert darin einige (genauer gesagt sieben) Berichte vom Imperium Dschingis Khans und weist nach, daß sie in Wahrheit Märchen sind. Einige dieser Legenden kommen uns fatal vertraut vor, finden sie sich doch auch in... Tausendundeine Nacht. Dies gilt beispielsweise für das Märchen vom Vogel Roch. Wer hätte das gedacht! Der große Dschingis Khan und der Riesenvogel Roch, der in seinen Klauen Elefanten zu tragen pflegte, entstammen ein und derselben Märchensammlung.
Wir schenken es uns, näher auf diese zusätzlichen Beweise für den legendenhaften Charakter der Geschichte von Dschingis Khan einzugehen, und wiederholen statt dessen noch einmal, daß die Geschichte dieses Imperiums den Naturgesetzen widerspricht.
Da sich unsere Darlegungen an das Genre des Kriminalromans anlehnen, gilt es den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß bereits die Vorgeschichte des sogenannten „Tatarenjochs“ eine totale Lüge ist. Und dies, hohes Gericht, spricht nicht zugunsten der Schöpfer dieser Version von der russischen Geschichte. Wie sollen wir nun weiter verfahren?
Die Antwort auf diese Frage könnte lauten: Man müßte jene Episode, die man als „Schlacht bei Kalka“ zu bezeichnen pflegt, etwas näher unter die Lupe nehmen. Doch dies werden wir nicht tun. Was verbindet Kalka eigentlich mit dem Einfall Batys? Der Legende zufolge erfolgten sowohl der kurze Angriff auf Rußland, der mit der Episode von Kalka zu Ende ging, als auch der Einfall Batys aus dem Reich des Dschingis Khans. Doch wie wir eben nachgewiesen haben, gab es dieses Reich nicht. Demzufolge muß die Legende von Kalka einfach ein Auswuchs des Mythos vom Tatarenjoch sein, der im Grunde nur einen Zweck verfolgt: Er soll den Einfall Batys ein weiteres Mal mit dem mythischen Mongolenreich verknüpfen. Nachdem wir die Legende vom diesem Reich in ihrer Gesamtheit entlarvt haben, brauchen wir einen unbedeutenden Ausläufer dieser Legende nicht mehr lange zu analysieren.
Immerhin lohnt sich der Hinweis darauf, daß die traditionelle Schilderung der Schlacht bei Kalka voller Widersprüche und Ungereimtheiten ist, die A. Buschkow in seinem erwähnten Buch anschaulich aufzeigt. Wir können uns aber nicht lange bei einer der vielen Absurditäten der offiziellen Geschichte aufhalten und kehren deshalb zu unserem eigentlichen Thema zurück.
Laut der offiziellen Geschichtsversion begann der Einfall Batys mit dem Winterfeldzug von 1237. Über Nacht aufgetauchte (oder, wenn wir den Mythos von Dschingis Khan verwerfen, aus dem Nichts gekommene) Horden von Nomaden drangen in Rußland ein. Im Handumdrehen nahmen sie Rjasan ein und erstürmten anschließend andere Städte des Fürstentums von Vladimir und Susdal, darunter Vladimir und Susdal selbst. Am Fluß Sit wurde das Heer des Großfürsten Juri vernichtend geschlagen. Als nächstes marschierten die Tataren gen Nowgorod, kehrten jedoch zurück, nachdem sie die Kleinstadt Torschok mit Mühe und Not erobert hatten. Anschließend fielen sie in das Gebiet des Fürstentums von Tschernigowsk ein und nahmen das kleine Koselsk nach langer und mühevoller Belagerung ein.
Dann kehrten sie „in die Steppe“ zurück. Sie sammelten neue Kräfte und eroberten in den folgenden zwei Jahren die Städte der Fürstentümer von Tschernigowsk und Kiew. Anno 1240 marschierten sie dann weiter nach Westen, ins Herz Europas.
Hier wollen wir vorläufig innehalten und uns einige Gedanken über den Auftakt des Feldzugs machen, den Baty unternommen haben soll. Die Nomaden greifen also im Winter zu den Waffen. Dies mutet bereits recht merkwürdig ein; eine Reiterarmee beginnt einen Feldzug nämlich am besten im Sommer, wenn den Pferden das Futter unter den Hufen wächst. Dabei steht Baty doch gar nicht unter Zeitdruck. Die strategische Initiative liegt ganz bei ihm.
Trotzdem beschließt er, im Winter zuzuschlagen. Laut der offiziellen Legende (pardon, Geschichte) beginnt dieser Winterkrieg mit dem Angriff einer gewaltigen Armee aus einigen hunderttausend Reitern. Dies ist eine reine Absurdität. Wir haben nachgewiesen, daß die Konzentration einer dermaßen riesigen Zahl von Reitern nicht einmal im Sommer und in der den Nomaden vertrauten Steppe zu bewerkstelligen ist – wie soll sie dann erst im Winter und in waldreichen Zonen möglich sein!
Interessanterweise haben die traditionalistischen Historiker ihre Position in dieser Frage lange hartnäckig verteidigt, doch schließlich haben sie die Segel gestrichen und die Zahl der Reiter auf 30.000 herabgesetzt.
Nein und abermals nein, meine Herren. Auch über 30.000 Mann konnte Baty ganz unmöglich verfügen. Die Kriegsgeschichte berichtet von einem gewissermaßen „natürlichen Experiment“, das unter ähnlichen Bedingungen ablief. Im Winter 1942/1943, nach der Einkreisung der Deutschen bei Stalingrad und dem Durchbruch durch die zuvor geschlossene deutsche Front, setzten einige Kavallerieeinheiten der Roten Armee zu einem tiefen Einbruch durch die deutschen Linien an. Den Kavalleristen standen dabei gesonderte motorisierte Verbände bei, und sie verfügten auch über Luftunterstützung. Sie kamen bis Debalzev; vereinzelte Attacken waren sogar in der Umgebung von Saporoschje zu verzeichnen.
Dem deutschen Kommando bereitete dies große Sorgen, während des sowjetische sehr wohl begriff, welche Chancen ihm eine Weiterführung dieser Operation bot. Es plante, die Anstrengungen in dieser Richtung zu verdoppeln und eine regelrechte Reiterarmee aufzubieten. Doch daraus wurde leider nichts.
Der Grund dafür lag darin, daß es unter winterlichen Bedingungen nicht genügend Futter für diese große Zahl von Pferden gab. Das aus den vollen deutschen Arsenalen erbeutete Futter reichte nicht aus. Es kam so weit, daß man das Futter mit Flugzeugen herbeischaffen mußte, doch auch dieser Schritt erwies sich als unzureichend.
Deshalb mußten die Kavallerie-Attacken nach nur drei Monaten eingestellt werden. Die maximale Konzentration berittener Soldaten in einem Frontabschnitt hatte nicht mehr als 10.000 Mann betragen. Es versteht sich von selbst, daß die Verbindung zwischen den an den Einsätzen beteiligten Einheiten per Funk gewährleistet wurde. Die Einsätze erfolgten übrigens auf einem Gebiet vom Don bis zum Dnjepr (von seiner Fläche her war dieses Territorium demjenigen vergleichbar, wo sich die erste Phase von Batys Feldzug abgespielt haben soll).
Selbst mit technischen Hilfsmitteln, von denen Baty nie geträumt hätte, gelang es also nicht, 30.000 Kavalleristen im Winter zu konzentrieren, was beispielsweise die Einnahme Saporoschjes ermöglicht oder es der Roten Armee gestattet hätte, dem Feind fünf oder sechs Monate lang Nadelstiche von hinten zu versetzen.
Somit fällt die Geschichte vom winterlichen Einfall der Nomaden, die nicht mit dem Kriegsschauplatz vertraut waren, keine angemessenen Verbindungs- und Transportmittel besaßen und nicht in der Steppe, sondern in dichten Wäldern operierten, in sich zusammen. Eine Bande von fünfhundert oder auch tausend Säbelschwingern hätte freilich schon in Rußland eindringen können. Doch um mehrere Fürstentümer eines nach dem anderen zu unterwerfen hätte diese Zahl nie und nimmer ausgereicht.
Nehmen wir aber an, es habe sich nicht um aus dem Nichts eingedrungene Nomaden gehandelt, sondern um Aggressoren, welche das Gebiet sehr wohl kannten. Eine solche Reiterschar hätte sehr wohl reelle Chancen gehabt, recht tief auf russisches Territorium einzudringen, ungefähr so tief wie die sowjetischen Kavallerieabteilungen, die im Winter 1942/1943 von der Wolga bis nach Debalzev vorstießen. Doch aufgepaßt: Es kann sich nur um rasch vorgetragene Attacken gehandelt haben, die verhältnismäßig kurze Zeit in Anspruch nahmen. Genau so sind nach Baty die Krimtataren in Rußland eingefallen, und genau so hat Tochtamysch Moskau eingenommen.
Halten wir ein wichtiges Detail fest. Sowohl beim Einfall der Krimtataren als auch beim Feldzug des Tochtamysch bot sich das zahlenmäßige Verhältnis nicht viel anders dar als beim Einfall Batys. Den Tataren des Tochtamysch standen im wesentlichen die Streitkräfte des Fürstentums von Wladimir und Susdal gegenüber, und bei dem zur Zeit Iwans des Schrecklichen erfolgten Einfall der Krimtataren wurden die Heere des formell vereinigten Russenlandes ebenfalls vernichtend geschlagen. Damals tobte der Livländische Krieg, und im Inneren des Landes wütete die Opritschina gegen die Widersacher des Monarchen. Somit war die totale Niederlage der russischen Streitkräfte beim Einfall Batys durchaus kein Sonderfall.
Außerdem liegt die Annahme nahe, daß die Tataren beim Angriff des Tochtamysch genau über das Gelände sowie die Stärke des Gegners Bescheid wußten und ihren Einmarsch folglich präzis planen konnten. Nichtsdestoweniger trugen all diese Feldzüge den Charakter kurzer Überfälle, und nachdem die Angreifer ihren Mobilitätsvorteil eingebüßt hatten und das Überraschungsmoment verpufft war, vermieden sie es, sich in einen Abnützungskrieg hineinziehen zu lassen, und zogen sich zurück.
Dementsprechend konnte auch Baty nicht den ganzen Winter hindurch durch Rußland ziehen und ein Fürstentum nach dem anderen in die Knie zwingen.
Trotzdem wollen wir versuchen, die Umstände zu rekonstruieren, unter denen der in der offiziellen Geschichtsversion geschilderte Einfall Batys vom militärisch-technischen Standpunkt aus am wahrscheinlichsten gewesen wäre. Hier erweist es sich nun, daß wir uns auf eine Vielzahl genau bekannter Analogien stützen können. Diese Analogien sind jedermann bekannt, kommen einem aber einfach nicht in den Sinn. Ziehen wir ein weiteres Mal die Parallele zum Genre des Kriminalromans und erinnern wir uns an die folgenden Worte von Sherlock Holmes: „Sie schauen, Watson, aber Sie sehen nicht.“
Der Haken besteht darin, daß Menschen aus der Steppe – die nicht unbedingt Nomaden zu sein brauchen – bei sonst gleichem Kräfteverhältnis unter den Bedingungen des Mittelalters weniger mobil waren als Waldbewohner. Dies erklärt sich mit der jeweiligen Wirtschaftsstruktur und der Notwendigkeit, Futter für die Pferde aufzutreiben. Wir gehen auf diese Frage im nächsten Kapitel ausführlicher ein, doch lohnt es sich, schon hier auf dieses – übrigens ganz offenkundige – Faktum hinzuweisen.
Angesichts dieser Ausgangslage waren die Streitkräfte der Russen, Kasachen, Polovzen, Tataren etc. beweglicher und schneller mobilisierbar. Diesen Umstand machten sich die russischen Fürsten und nach ihnen die Zaren zunutze, jedoch nicht allein sie. Wir erinnern daran, daß Männer aus Saporoschje im Krieg zwischen Frankreich und Spanien bei Dünkirchen auf französischer Seite fochten. Dort soll gewissen Chronisten zufolge auch Bogdan Chmelnizkij seine militärische Karriere begonnen haben.
Die Teilnahme rasch mobilisierbarer Kontingente von Polovzen, Tataren und Kosaken an verschiedenen Kriegen auf dem Territorium Rußlands, Litauens und Polens war sowohl vor als auch lange nach dem Einfall Batys gang und gäbe. Doch aufgepaßt: Wie lange die Teilnahme der Steppenreiter an solchen Kriegen dauerte, und wie tief sie auf das Territorium Rußlands, Litauens oder Polens vorstießen, hing ganz von den potentiellen Möglichkeiten jener ab, die sie „eingeladen“ hatten.
Im vorliegenden Fall handelte es sich nicht um Überfälle auf ein vollkommen feindliches Gebiet, sondern um Aktionen in Zusammenarbeit mit einer der verfeindeten Gruppen innerhalb des Russenlands, Litauens oder Polens selbst. Dann kam jene Kriegspartei, welche die Hilfstruppen aus dem Osten eingeladen hatte, für deren Versorgung auf. Je größer ihre diesbezüglichen Möglichkeiten waren, je weitverzweigter das Netz der Versorgungsbasen war, desto länger vermochten die Steppenkontingente tief in einem ihnen unbekannten Territorium zu verweilen, und desto größer durften sie sein.
So kann man sich den Einfall Batys theoretisch sehr gut vorstellen. Resümieren wir:
1. Es war kein Einfall irgendwelcher Nomaden, die auf russisches Gebiet eingedrungen waren.
2. Es war der Einfall einer Armee, die in den unmittelbar an das Russenland angrenzenden Regionen aufgeboten worden war.
3. Es war ein Einfall, der im Rahmen einer militärisch-politischen Aktion der russischen Fürsten selbst erfolgte, genauer gesagt eines Teils von ihnen, der gegen einen anderen Teil kämpfte.
Warum übrigens nur der Fürsten? An der „Einladung“ und Versorgung der Eindringlinge konnten auch irgendwelche anderen Elitegruppen teilnehmen, welche dies wünschten und die Möglichkeit dazu besaßen.
Hier wollen wir einen Augenblick innehalten und die sich aufdrängenden Folgerungen aus dem bisher Erschlossenen ziehen. Vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes und des elementaren Professionalismus aus kann man sich lediglich zwei Varianten vorstellen:
Erstens: Der Einfall Batys ist ebenso ein Mythos wie das Imperium Dschingis Khans.
Zweitens: Der Einfall Batys war ein Element der Politik der russischen Elite selbst, die eine Armee von Steppenreitern zu ihren eigenen Zielen ausnutzte.
Das Faktum des Einfalls selbst läßt sich nicht bestreiten, wird er doch durch recht zuverlässige Zeugnisse belegt, die sich keinesfalls nur in den zutiefst lügenhaften und „redigierten“ russischen Chroniken finden. Dies bedeutet, daß die Invasion eine militärische Hilfsoperation im Rahmen eines großen militärisch-politischen Kräftemessens innerhalb des Russenlandes selbst war.
Greifen wir unseren endgültigen Schlußfolgerungen ein wenig vor und weisen wir darauf hin, daß diese These von vielen Autoren vertreten wird. Formell unterschiedliche, doch ihrem Wesen nach übereinstimmende Theorien laufen darauf hinaus, daß zwischen dem nach dem Einfall in Rußland errichteten Regime und der Horde eine gewisse Einheit bestand, und zwar nicht eine Einheit von Siegern und Besiegten, sondern eine Art Symbiose. Wenn dem aber so ist, mußte die Gewinnerin der Invasion eine führende Gruppierung im Russenland - oder mehrere solche Gruppierungen - sein. Genau so verhielt es sich auch.
Erstens siegte, gesamthaft gesehen, das Fürstengeschlecht der Nachkommen des Wsewolod Bolschoje Gnesdo [„Wsewolod das Große Nest“].
Zweitens siegte innerhalb dieses Geschlechts der jüngere Zweig – die Nachkommen des Fürsten Jaroslaws, der in Pereslawl-Salesski geherrscht hatte.
Drittens wurde die wirtschaftliche und politische Macht der orthodoxen Kirche erheblich gestärkt.
Aufschlußreicherweise werden diese Feststellungen praktisch von niemandem angefochten. Die traditionellen Historiker machen lediglich geltend, diese Entwicklung sei die Folge des Verhandlungsgeschicks Jaroslaws, seines Sohnes Alexander Newski sowie schließlich der Moskauer Fürsten Juri und Iwan Kalita gewesen.
Doch jene Historiker, die einer alternativen Sicht der Geschichte huldigen, lächeln nur über diese Behauptungen. So könnten sich die Dinge nicht abgespielt haben, meinen sie. Kein Eroberer festige das Regime des unterjochten Landes; kein Eroberer rüste die Besiegten massiv auf; kein Eroberer stärke die einheimische ideologische Basis in einem unterworfenen Land.
Analysiert man die Auswirkungen, die der Einfall Batys sowie die darauf folgenden Ereignisse gezeitigt haben, so gelangt man zwangsläufig zum Schluß, daß die Tataren ihre Invasion eigens darum unternommen haben, um die politische Linie von Wsewolod Bolschoje Gnesdo, der auf die Erringung der persönlichen Macht im ganzen Russenland aus war, fortzusetzen. Dabei handelten die Tataren nach der Errichtung ihrer Herrschaft niemals auf eigene Faust. Sie unterstützten lediglich die Aktionen der Nachfahren Newskis gegen seine politischen Gegner.
Auch der orthodoxen Kirche brachte die Invasion nur Nutzen, zumindest aber keinen Schaden. Doch wollen wir dieses außerordentlich interessante Thema vorderhand nicht behandeln und uns mit der Wiederholung der bekannten Feststellung begnügen, daß die Tataren die Kirche unter ihre Fittiche nahmen und der Plünderung kirchlicher Güter Einhalt geboten (wie immer im Krieg kam es natürlich zu Exzessen, doch diese blieben Einzelfälle).
Doch alles in allem, vom Standpunkt des Wertesystems der klassischen „Russenländer“ aus gesehen, macht es ganz den Anschein, als habe Batys Einfall überhaupt keine negativen Konsequenzen für das politische System des Russenlandes nach sich gezogen.
Wenden wir uns wieder der vorherrschenden These über den Einfall Batys zu. Sie ist schlicht und einfach einfältig, denn es gibt keine Invasionen, die sich nicht auf das politische Regime der Eroberten auswirken. Die Normannen veränderten im unterworfenen England alles und jedes. Der Boden wechselte seine Besitzer, die sozialen und politischen Institutionen änderten sich, es änderte sich sogar die Sprache. Daß auch eine neue Königsdynastie den Thron bestieg, bedarf kaum der Erwähnung.
Nicht minder einschneidende Veränderungen erzwangen auch die Spanier in den eroberten Reichen der Inkas und Azteken und die Briten im kolonisierten Indien. Ja sogar die – nach Ansicht vieler „sanften“ – russische Eroberungen im Osten zogen den Sturz des kasachischen und des astrachanischen Khanats, des Khanats des Kutschum sowie der daurischen Khanate nach sich. Aber der „Altruist“ Baty begnügte sich damit, am Regierungspersonal des Fürstentums von Vladimir und Susdal einige Korrekturen vorzunehmen, und unterstützte die umgemodelte Regierung fortan nach Kräften! So nachsichtig pflegen Eroberer nicht zu sein.
Deshalb betonen wir ein weiteres Mal: Der Einfall Batys war kein Eroberungsfeldzug.
Der eine oder andere gefühlsbefrachtete Leser wird hier vielleicht empört ausrufen: „Als was soll man denn die Verwüstung von Städten, die massenhafte Verschleppung von Gefangenen und ähnliche Gewalttaten bezeichnen?“ Der Verfasser kann diesen emotionalen Einwand sehr wohl verstehen. Doch die Realitäten des Mittelalters hatten mit unseren heutigen Vorstellungen von zivilisiertem Benehmen leider herzlich wenig gemein.
Wir schenken es uns, hier an die zahleichen, von niemandem geleugneten Scheußlichkeiten der russischen Fürsten zur Zeit der Fehden noch vor dem Einfall Batys zu erinnern. In den russischen Chroniken werden zahlreiche solche Greuel geschildert – und nicht nur in den russischen. Wer sich ein Bild von diesen Grausamkeiten machen will, der greife zu dem interessanten Buch A. Buschows Das Rußland, das es nicht gab.
Wir zitieren hier einen Ausschnitt, der kennzeichnend für das Benehmen der von einem Feldzug zurückkehrenden Kosaken gegenüber der christlichen Bevölkerung eines Staates ist, welcher mit den kosakischen Krieger verbündet war und sie auf sein eigenes Territorium „eingeladen“ hatte:
Und als die Kosaken nach Nis zurückkehrten, fügten sie den Dörfern und Städten großen Schaden zu; sie verschleppten Frauen, Mädchen, Kinder und Pferde; ein Kosake nahm 8, 10, ja 12 Pferde, 3 oder 4 Kinder, 4 oder 3 Frauen oder Mädchen mit. Diese polnische Chronik über die Ereignisse des Jahres 1603 wird in dem von S. Waljanski und D. Kaljuschny verfaßten Buch Drugaja istoria Rusi („Die andere Geschichte des Russenlandes“) zitiert (Verlag Vetsche, Moskau 2001).
„Das ist eine polnische Verleumdung des Kosakentums“, wird ein anderer hurrapatriotischer Leser erbost einwenden. Ach, ihr lieben Patrioten! Wie viele Hohlköpfe gibt es doch unter euch! Entsinnt euch doch des russischen Volksliedes von der „jungen Galja“, das man beim besten Willen nicht als „westliche Propaganda“ abtun kann. Und mit welch tiefem Gefühl singt der höchst patriotische Kosakenchor der Akademie von Kuban doch dieses Lied! Erinnert ihr euch, was die heimkehrenden Kosaken („Vom Don her kehrten die Kosaken heim...“) Galja antaten? Zuerst lockten sie sie herbei und schleppten sie mit sich fort. Dann, nachdem sie abermals ihre Lust an der Maid gestillt hatten, fesselten sie diese an einen Baum und verbrannten sie („Sie verbrannten die Föhre von der Krone bis zum Stumpf“).
Um sich so zu benehmen, brauchte man kein ungetaufter „muselmanischer“ Unhold zu sein. So sprangen regulär getaufte russische Kosaken nach ihrer Heimkehr mit einem christlichen russischen Mädchen um!
Somit stellen alle in den Chroniken geschilderten Schreckenstaten Batys keine Widerlegung der These dar, daß das Russenland niemals Opfer einer Invasion durch barbarische Nomaden war und niemals von solchen unterworfen wurde. Es verhielt sich einfach so, daß ein im Russenland selbst über erheblichen Einfluß verfügender Jemand eine Armee von Steppenkriegern ins Land rief, um seine eigenen militärisch-politischen Intrigen zu unterstützen. Daß das Volk dabei zu leiden hatte, interessierte die Herrschenden keinen Deut. Damals, im Mittelalter, entsprach dies alles gängiger Praxis.
Doch das Schlimmste sollte erst noch kommen. Als Ergebnis dieser blendend durchgeführten Sonderoperation hielten sich diese Gepflogenheiten in Rußland auch nach dem Mittelalter. Hierzu später mehr.
2. Falsche Schlußfolgerungen aus richtigen Voraussetzungen. Ein historischer Kriminalroman oder „Bravo Buschkow!“ Unbeantwortete Fragen.
Konstatieren wir vorerst, daß alle, welche bei der Betrachtung und Deutung der Geschichte ihren gesunden Menschenverstand walten lassen und sich zumindest in gewissem Umfang auf die exakten Wissenschaften und die Naturwissenschaften abstützen, den mythischen Charakter des sogenannten Tatarenjochs anerkennen.
Der vermutlich erste bekannte Forscher, der auf diesen Sachverhalt hingewiesen hat (von früheren Studien dieser Art weiß der Verfasser nichts, was natürlich nicht heißen muß, daß es sie nicht gegeben hat), war L. N. Gumilew. Er untermauerte seine These, wonach der Einfall Batys die Fürstenmacht in Rußland lediglich gestärkt und in der Folge zu einer vermehrten Zentralisierung und Militarisierung des Regimes geführt habe, mit hieb- und stichfesten Argumenten. Das Joch war nach Ansicht Gumilews keine gewöhnliche Eroberung, sondern es zog zum Wehrdienst viele Russen ein und bewaffnete sie. Ein solches Verhalten sei Eroberern nicht eigen, folgerte Gumilew mit Fug und Recht.
Doch Gumilew ging nicht über diese These hinaus; den mythischen Charakter des Imperiums Dschingis Khans hat er nicht bemerkt, sondern versuchte die Konzentration einer riesigen Zahl von Nomaden auf engem Raum mit einer Dürre zu begründen, die sie gezwungen habe, sich zu vereinigen. Für einen Naturwissenschaftler ist dies eine höchst seltsame Schlußfolgerung... In Tat und Wahrheit hätte eine Dürre Nomaden dazu genötigt, sich über ein möglichst großes Territorium zu zerstreuen und nicht, sich um leergetrunkene Brunnen zu drängen!
In einer solchen Situation sind Nomaden bestenfalls dazu fähig, sich gegenseitig zu bekriegen und zu dezimieren, um die Zahl von Menschen und Tieren so zu verringern, daß sie den vorhandenen Nahrungs- und Wasserressourcen gerecht wird. Doch dies schafft keine Staaten, sondern zerstört allenfalls bestehende solche. So geschehen beispielsweise in der Sahelzone (im Süden der Sahara) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Gewiß, eine Dürre kann eine Konzentration von Nomaden bewirken, doch nur unter einer ganz bestimmten, einzigartigen Konstellation, die beispielsweise am Ende des Neolithikums in Ägypten und Mesopotamien eintrat. Übrigens hören die Nomaden nach einer solchen Konzentration auf, solche zu sein, und mausern sich zu seßhaften Ackerbauern, die mit dem Territorium, auf dem sie sich zu ihrem Unglück konzentrieren mußten, eng verbunden sind.
In Die Eigenen und die Fremden haben wir dies eingehend dargelegt, so daß wir den geneigten Leser auf jenes Buch verweisen dürfen. Hier beschränken wir uns auf die Bemerkung, daß eine solche Ausgangslage in der zur Hälfte von Wüsten bedeckten Mongolei auch nicht annähernd gegeben war und prinzipiell gar nicht auftreten konnte.
Doch für Gumilew war das mythische Reich des Dschingis Khan eine Realität. Und seine Erben beschlossen aus irgendwelchen Gründen, Rußland zu beglücken, indem sie seine staatlichen Strukturen stärkten.
Übrigens darf man von einem Menschen, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der UdSSR wirkte, nicht allzu viel erwarten. Zur damaligen Zeit war allein schon die Aufstellung der These, wonach das Tatarenjoch in seiner herkömmlichen Deutung gar nicht existiert habe, ein großer Schritt nach vorne.
Die heutzutage wohlbekannte Gruppe um A. T. Fomenko hat ebenfalls eine große Anzahl sehr stichhaltiger Argumente für den mythischen Charakter dieses Jochs ins Feld geführt. Doch der Akademiker Fomenko, der dazu neigt, viele historische Gestalten zu einer einzigen Figur verschmelzen zu lassen, erteilt eine höchst einfache und bizarre Antwort auf die Frage, weswegen es keine Beweise für ein Tatarenjoch im herkömmlichen Sinne des Wortes gibt. Er behauptet, das Russenland und die Horde sei ein und dasselbe gewesen, und bei Newski und Baty, oder dem Vater Newskis und Baty, habe es sich um ein und dieselbe Person gehandelt.
Unsere Haltung zu den Werken des Akademikers Fomenko haben wir früher schon klargestellt, und wir gedenken nicht auf dieses Thema zurückzukommen. Unserer Ansicht nach ist an dieser These allzu vieles faul. Sie ist unzweifelhaft kühn, doch zugleich viel zu einfach, wenn nicht gar naiv.
Wenn wir, getreu dem Genre, dem dieses Kapitel unseres Buches angehört, das Problem wie einen Kriminalfall anpacken, ist Fomenkos Hypothese zu grobschlächtig und uninteressant. Es war einmal ein riesiges russisch-tatarisches Imperium, das sich von Ozean zu Ozean erstreckte und in dem eitel Freude und Wonne herrschte. Doch dann fuhr in diesem herrlichen Imperium aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen plötzlich jeder jedem an die Gurgel (laut Fomenko geschah dies in der Epoche Iwans des Schrecklichen). Infolgedessen kamen die verruchten Westler von der Romanow-Dynastie ans Ruder und sogen sich die Geschichte vom Tatarenjoch aus den Fingern, um die „russisch-tatarische Dynastie“ anzuschwärzen.
Hier möchte man dem Akademiker ein paar ganz einfache Fragen stellen wie etwa folgende: Wie kam es dann, daß Ihr wundersames Imperium, das keine ebenbürtigen Gegner hatte, urplötzlich in sich zusammenfiel? Wie erklären Sie diesen Sachverhalt?
Wiederholen wir bereits Gesagtes: Die Widersacher Fomenkos sehen sich zwar nicht in der Lage, seine Kritik an der offiziellen Geschichtsversion zu entkräften, doch ist es für sie ein Kinderspiel, seine historischen Konstrukte nach Strich und Faden zu zerpflücken. Man lese hierzu beispielsweise das Buch Losch Nowych Chronologii [Die Lüge von den neuen Chronologien] (Psalomnik, Moskau 2001). Wir verzichten jedoch darauf, die Einwände der Kritiker Fomenkos hier zu wiederholen; statt dessen weisen wir auf einen ganz unerwarteten Aspekt hin. In seinem Konzept eines russisch-tatarischen Super-Imperiums geht Fomenko gewissermaßen nach sowjetischen Muster mit der Holzhammermethode vor. Seine Theorie ist unschön und entbehrt jeder Eleganz. Und wie die Geschichte der Wissenschaft lehrt, sind unschöne Theorien in der Regel zugleich auch unrichtig.
Hiermit wollen wir es bewenden lassen. Da das vorliegende Kapitel als historischer Kriminalroman konzipiert ist, reichen die bisher angeführten Argumente aus. Um es wiederum in der Sprache einer Detektivgeschichte zu sagen: Fomenko erzählt uns von falschen Morden und von falschen Mördern. Wir werden die wahren Opfer noch auffinden und die wahren Täter noch dingfest machen, und dann wird sich jede Polemik gegen das „Imperium“ des ehrenwerten Akademikers erübrigen.
Die „Zeithüpfer“ S. Waljanski und D. Kaljuschin widerlegen die landläufige Vorstellung vom Tatarenjoch ebenfalls sehr überzeugend, stellen jedoch die völlig abwegige Hypothese auf, die Horde sei gleichbedeutend mit dem Orden, und Baty sei der Papst... Es ist dies eine gänzlich abartige Behauptung, zumal Baty, nachdem er Rußland „unterworfen“ hatte, weiter nach Westen marschierte und dort Kleinholz aus vielen treuen Verbündete des Papstes machte. Zudem darf es heute als bewiesen gelten, daß Baty seine Aktionen mit dem Todfeind des Papstes, Kaiser Friedrich von Hohenstauffen, koordiniert hat. Der Theorie der „Zeithüpfer“ zufolge hat der Papst somit ein Eigentor geschossen. Einen Kommentar hierzu sparen wir uns.
Warum erwähnen wir denn all diese Autoren, wenn wir ihren Thesen doch nicht beipflichten? Um zu veranschaulichen, daß Forscher mit grundsätzlich ähnlichen Auffassungen, ähnlichen Ausgangspositionen und einem ähnlichen Geschmack die unterschiedlichsten Argumente dafür anführen, daß es kein Tatarenjoch gegeben hat.
Differenzierter als die bisher zitierten Historiker argumentiert A. Buschkow. In seinem Buch Das Rußland, das es nicht gab verficht er mit sehr soliden Argumenten die Ansicht, das Tatarenjoch habe in der Tat nicht existiert. Teilweise stimmt seine Beweisführung mit den unseren überein. Dem wissensdurstigen Leser sei die Lektüre seines Werkes dennoch nachdrücklich ans Herz gelegt, weil seine Argumentation bedeutend vielschichtiger ist.
Es ist kein Zufall, daß Buschkows Buch raffinierter und zugleich lakonischer ist als die Schriften der zuvor erwähnten Autoren. Genau wie wir vertritt auch Buschkow die Meinung, es habe keine Invasion barbarischer Nomaden aus irgendeinem rätselhaften Imperium gegeben, sondern es hätten lediglich Kontingenten aus den an das Russenland angrenzenden Steppen an den Fehden zwischen den russischen Fürsten teilgenommen.
Doch dann verheddert sich Buschkow bei seinen Forschungen, und wir setzen diese an jenem Punkte fort, wo er nicht mehr weiter weiß.
Wenn der Einfall Batys lediglich einer von mehreren Fällen war, wo eine der verfeindeten russischen Parteien Steppenbewohner zur Hilfe rief, wodurch unterscheidet er sich dann von den anderen?
Durch seinen Umfang. Doch wie wir früher nachgewiesen haben, hing die zahlenmäßige Stärke der Reiterscharen aus der Steppe, die von einer kriegsführenden Partei innerhalb des Russenlandes als Hilfstruppen ins Land gerufen wurden, von den Möglichkeiten eben dieser Partei ab. Um wen handelte es sich bei letzterer im Fall der Invasion Batys? Um jene Kraft, die am meisten von dieser Invasion profitierte und dank ihr an Macht gewann.
Und diese Kraft waren Jaroslawl, der in dem kleinen Städtchen Pereslawl-Salesski residierte, sowie sein Sohn Alexander, der künftige Newski, der zum damaligen Zeitpunkt Fürst von Nowgorod war. (Dieser Titel bedeutete damals bereits nicht mehr allzu viel.) Übrigens verfügte Newski über keine besonders großen Ressourcen, weil der Fürst von Nowgorod jeweils gewählt wurde und sein Rang nicht automatisch auf seinen Sohn überging.
Unter diesen Umständen waren die Möglichkeiten dieser Fürsten recht begrenzt. Es fehlte ihnen an Geld zur Vorfinanzierung eines umfangreichen Projektes sowie an einem dichten Netz von Stützpunkten. Daß jemand auf das bloße Versprechen drittrangiger Fürsten hin ein großes und teures Heer aufgeboten hätte, ist von vorne herein von der Hand zu weisen, und ohne ein wohlorganisiertes Unterstützungsnetz innerhalb Rußlands selbst hätte die Invasion lediglich die Form eines hausbackenen kurzen Raubüberfalls angenommen.
Dies bedeutet, daß Jaroslaw und Alexander zwar sehr wohl als energische und am Erfolg der Operation interessierte Vollstrecker des Plans in Betracht kommen, keinesfalls jedoch als dessen Organisatoren. Versuchen wir also zu ermitteln, welche grundsätzlichen Voraussetzungen jemand erfüllen mußte, um als Initiator und Organisator eines solchen Projekts auftreten zu können.
1. Es mußte sich um eine Kraft handeln, welche erhebliche Mittel zur Finanzierung der Aufbietung und Ausrüstung eines großen Heeres besaß.
2. Es mußte eine Kraft sein, die im ganzen Russenland – mit Vorteil in sämtlichen Fürstentümern - über ein ausgedehntes Netz von Stützpunkten verfügte.
Theoretisch konnte jeder beliebige unter den Großfürsten diesen Anforderungen gerecht werden, vorausgesetzt, ihm standen in den benachbarten Fürstentümern Agenten zur Verfügung. Eine Koalition der Großfürsten hätte diese Voraussetzungen natürlich noch weit eher erfüllt. Allerdings hält die Hypothese von einer solchen Koalition einer Analyse nicht stand. Es ist nicht möglich, daß sich auf Anhieb mehrere Kandidaten an einem Projekt zur Errichtung einer einheitlichen Herrschaft in Rußland beteiligten. Dies würde allzu sehr an das bekannte Sprichwort gemahnen, wonach zwei Bären nicht in einer Höhle leben können.
Man wird auch keinen Großfürsten ausfindig machen, der zum Zeitpunkt der Beginn der Invasion bereits ein solcher gewesen wäre und dank ihr an Macht hätte gewinnen können. Dies bedeutet, daß die Großfürsten nicht in Betracht kommen. Wir müssen also in einer anderen Richtung suchen.
Die erste der beiden von uns genannten Voraussetzungen – das Vorhandensein erheblicher materieller Ressourcen – hätten auch Außenstehende Kräfte erfüllen können, die auf die russische Politik einwirken wollten und an einer bestimmten Entwicklung der russischen Politik interessiert waren. Und daß es solche äußeren Kräfte gegeben hat, mutet durchaus wahrscheinlich an. Gleich nach dem Abschluß seiner Operationen auf russischem Boden fiel Baty nämlich in Europa ein und schlug mit voller Wucht gegen die Verbündeten des Papstes zu, wobei er de facto seine Bündnisverpflichtungen gegenüber Kaiser Friedrich von Hohenstauffen, dem Todfeind des Papstes, erfüllte. Doch eine äußere Kraft konnte über kein Netz von Stützpunkten innerhalb des Russenlandes verfügen. Dies bedeutet nicht, daß es keine solche gegeben hat, sondern lediglich, daß sie ohne einflußreichen russischen Bundesgenossen nicht handlungsfähig war.
Wer war nun dieser mächtige, allgegenwärtige Bundesgenosse innerhalb des Russenlandes? Wer erfüllte beide obengenannte Bedingungen und stand dazu noch in enger Beziehung zur Außenwelt – und zwar zu Kräften, die über große Geldmittel verfügten (ein russischer Teilnehmer an der Operation, und wäre er auch noch so reich gewesen, hätte diese nicht selbst finanzieren, sondern allenfalls als „Kassier“ des äußeren Mitakteurs walten können)? Wer war diese Kraft, die damals an einem Krieg gegen den Papst interessiert war?
Wir werden diese Fragen beantworten – jedoch erst später.
3. Wer war eigentlich das Mordopfer? Vom Russenland zu Rußland.
Wenden wir uns zunächst einer anderen Frage zu, die in jedem beliebigen Kriminalroman am Platz ist: Wer fiel dem Einfall Batys eigentlich zum Opfer? Daß bei diesem eine große Zahl russischer Menschen den Tod fand, versteht sich von selbst. Doch wer war historisch gesehen das Mordopfer?
Diese Frage ist sehr wohl am Platz. In diesem Zusammenhang erinnern wir an jenen bekannten Kriminalroman von Agatha Christie, wo der schlaue Poirot eine bestimmte Person unter allen Umständen von einem Attentat schützen will. In der Folge erweist es sich, daß sämtliche Anschläge inszeniert sind und daß in Wirklichkeit eine Verwandte der Hauptfigur umgebracht worden ist – scheinbar durch ein Mißverständnis. Als Mörderin entpuppt sich die Hauptfigur selbst, die mittels fingierter Attentate auf sich selbst ihr verbrecherisches Vorhaben zu maskieren suchte.
Unser Thema weist unverkennbare Ähnlichkeit mit diesem Agatha-Christie-Roman auf. Die Unschlüssigkeit vieler Historiker über den Charakter der Invasion Batys geht darauf zurück, daß man das wirkliche Opfer nicht sehen will – Das Russenland.
In seinem bekannten Buch Ot Rusi k Rossii („Vom Russenland zu Rußland“) hat L. N. Gumilew überzeugend dargelegt, daß die Entstehung Rußlands in seinen allgemeinen, bis heute bestehenden Zügen durch nichts anderes als eine russisch-tatarische Symbiose bedingt war. Vom Standpunkt Rußlands aus ist also nichts Besonderes geschehen. Und die Unschlüssigkeit zahlreicher Forscher und Ideologen angesichts der Bedeutung jener Ereignisse ist nicht weiter als logisch. In der Tat: Da es das Joch nicht gab, hat Rußland langfristig gesehen nur gewonnen – für wen lohnte sich dann aber das ganze Blutvergießen?
Doch diese Überlegungen gelten nur, wenn man davon ausgeht, daß Rußland die Erbin des Russenlandes ist, sein Kind also. Und daran sind Zweifel erlaubt.
Denn: „Der Name Rossija, Rußland, ist eine Kunstschöpfung; er wurde allem Anschein nach von der Geistlichkeit geschaffen und tritt erst ab dem 14. Jahrhundert als Bestandteil des Zarentitels auf... Seine Künstlichkeit ist daraus zu ersehen, daß die alten Namen Rus und Russija, Russenland, durch das byzantinische [Hervorhebung von uns] Rossija ersetzt wurden“ (D. N. Anutschin, „Velikorusy“, Artikel im Lexikon Brockhaus i Ephon, Band 10, St. Petersburg 1892).
Somit ist „Rußland“ ein künstlicher Name, der uns von der orthodoxen byzantinischen aufgezwungen wurde und den organisch-nationalen Namen „Russenland“ verdrängt hat. Dies ist kein bloßer Namenswechsel, sondern eine Umwandlung des ganzen nationalen Wesens unseres Landes.
Zwischen Rußland und Russenland besteht nämlich ein himmelweiter Unterschied.
Die Gesetzgebung des Russenlandes war eine der mildesten überhaupt. Das Russische Recht Jaroslaws des Weisen ist eines der humansten Strafrechtsbücher der Weltgeschichte. Man mag seine Echtheit wie die anderer Chroniken anzweifeln. Doch ohne Rauch kein Feuer. Öffentliche Hinrichtungen, und erst recht Massenhinrichtungen, gab es erst in Rußland. Im Russenland kam dergleichen nicht vor (von Exzessen bei kriegerischen Auseinandersetzungen abgesehen).
Im Russenland genossen die Städte eine Form der Selbstverwaltung, die weit fortgeschrittener war als in Europa. In jeder größeren Ortschaft gab es Glocken, mit denen die Volksversammlungen eingeläutet wurden. Im folgenden werden wir zeigen, daß dies vom Standpunkt der Entwicklung von Recht und Zivilisation sowie ihrer spezifischen Erscheinung im Russenland aus gesehen vollkommen gesetzmäßig war. Doch in Rußland wurden diese Glocken zerstört, und jede Form der Selbstverwaltung wurde abgewürgt.
Wie wir noch darlegen werden, herrschte im Russenland Glaubensfreiheit. Vorerst begnügen wir uns mit dem Hinweis darauf, daß diese Freiheit in jenen Teilen des Russenlandes, die nicht unter die Herrschaft Rußlands und der Horde gerieten – den Gebieten des litauischen und rußländischen Großfürstentums - lange Zeit Bestand hatte. In Rußland gab es diese Freiheit nicht.
Das Russenland war ein unveräußerlicher und organischer Teil Europas. Nicht genug damit: Gerade jene Tendenzen, die später zur Grundlage der modernen europäischen Zivilisation wurden, keimten in gewissem Ausmaß im Russenland. Rußland hingegen wurde zum ewigen Widersacher Europas und mußte auf zivilisatorischer Ebene in regelmäßigen Abständen überhastete Modernisierungen über sich ergehen lassen. Es wurde zur geistigen Nachfolgerin des sang- und klanglos von der Bühne abgetretenen byzantinischen Reiches. Über Rußland versuchen überholte antizivilisatorische imperiale Traditionen bei jeder weltweiten zivilisatorischen Krise wieder zur Macht zu gelangen.
In diesem Zusammenhang sei auf einen vielleicht nebensächlichen, aber dennoch recht charakteristischen Sachverhalt hingewiesen. Wann immer russenländische Fürsten Ausländerinnen zur Frau nahmen, wählten sie Vertreterinnen westeuropäischer Adelsgeschlechter. Sie nahmen Katholikinnen zur Frau. Es reicht hier, an die bekanntesten Fälle zu erinnern, beispielsweise die Gattin Jaroslaws des Weisen, die schwedische Prinzessin Ingigerda. Entsprechend gingen auch die Töchter russischer Fürsten oft den Ehebund mit westeuropäischen katholischen Königen und Herzogen ein. Als bekannteste Beispiele wären hier Anna Jaroslawna, die zur Königin von Frankreich wurde, und Evpraxia, die Gemahlin des deutschen Kaisers Heinrich IV., der den Gang nach Canossa antreten mußte, zu erwähnen.
Dies sind nur die berühmtesten Fälle. In dem bereits erwähnten Buch S. Waljanskis und D. Kaljuschnys wird eine ganze Reihe weiterer solcher Eheschließungen angeführt.
Dies kann kein Zufall sein. Das Russenland war ein Teil Europas. Der russenländische Adel war ein Teil des gesamteuropäischen Adels.
Das Rußland der Horde hörte auf, Bestandteil Europas zu sein. Die Zahl der Eheschließungen zwischen russischen und westeuropäischen Adligen ging jäh zurück.
Sogar in Alltagsfragen waren Russenland und Rußland ganz verschiedene Staaten. Die russenländischen Namen sind im allgemeinen slawisch – Mstislaw, Jaroslaw, Wladimir, Wjatscheslaw, Perwoslawa, Swetlana, Jaroslawa. Die russischen Namen sind kirchlichen Ursprungs – Iwan, Wasilij, Maria.
Und all diese Veränderungen der Bildes und Charakters des Landes traten fast zur selben Zeit auf - nach dem Einfall Batys. Als das Russenland ermordet wurde.
An seiner Stelle errichtete man ein Rußland, das keine Erbin des Russenlandes sein konnte. Schließlich darf der Mörder nicht den Anspruch erheben, der rechtmäßige Erbe des Ermordeten zu sein. Die Götter aber kennen das Recht. Und der Rächer, der für den Schuldigen das volle Strafmaß fordern wird, ist bereits geboren.
Wir erwarten dich, Mstislaw der Befreier!
4. Wer gewann, wer profitierte?
Die klassische Frage bei der Untersuchung eines Verbrechens lautet: Wer profitiert davon? In unserem Fall gehörten zu den Gewinnern der zweiten Garnitur selbstverständlich die Angehörigen des Fürstenhauses Wladimir-Susdal sowie die Nachfahren Wsewolods „Bolschoje Gnesdo“ – Jaroslaw und sein Sohn Alexander. Ihre aktive Teilnahme an der Operation ist augenscheinlich – so augenscheinlich, daß fast alle Forscher, die dieser Frage ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben, auf die Identität der Politik Batys und Newskis hinweisen. Die Traditionalisten erklären dies freilich mit dem außergewöhnlich großen Einfluß Newskis auf seinen Adoptivvater Baty. (Laut der offiziellen Geschichtsversion war Newski Batys Adoptivsohn, ein weiteres Beispiel für die geradezu herzlichen Beziehungen, die zwischen „Eroberern“ und „Eroberten“ geherrscht haben sollen.)
Die radikalsten Konsequenzen daraus zieht A. T. Fomenko, für den Newski Baty ein und dieselbe Person sind und zusammen mit Jaroslaw gewissermaßen eine Dreifaltigkeit bilden. Bezeichnenderweise fragt sich selbst der ironische und skeptische Buschkow, ob Fomenko letzten Endes womöglich recht haben könnte - so unübersehbar ist die Ähnlichkeit zwischen den Handlungen Batys und Newskis.
Doch lassen wir die Details vorerst beiseite. Laut sämtlichen Versionen der Ereignisse waren Jaroslaw und Newski vor dem Einfall Batys nicht mehr als „Autoritäten“ mittleren Ranges, die niemanden außer sich selbst vertraten. Infolge der Invasion gewannen sie gewaltig an Einfluß – doch nur sie persönlich.
Im folgenden gewährten recht viele zweitrangige russische Fürsten der Horde ihre Unterstützung. Dies erfolgte jedoch ganz automatisch. Jede Elite ist zwangsläufig hierarchisch strukturiert, und in Krisenzeiten treten stets Vertreter der zweiten Garnitur in Erscheinung, die auf eine Verschärfung der Krise hinarbeiten, um selbst in die höchsten Positionen aufzurücken.
Vollzog sich Ähnliches nicht in jüngerer Vergangenheit vor unseren Augen, als die zweiten Sekretäre der Bezirkskomitees die Perestroika unterstützten, um die Stelle ihrer Vorgesetzten einzunehmen? Und worin unterschied sich ein Fürst der KPDSU von den Fürsten des Mittelalters? Alles in allem gesehen in nichts.
In Anbetracht dieser Umstände war es nichts weiter als natürlich, daß Fürsten, die im allgemeinen der zweiten Garnitur angehörten, die Invasion Batys unterstützten. Doch durfte letzterer nicht bereits im voraus auf ihre Hilfe bauen, denn dieser Prozeß konnte erst nach den ersten politischen Erfolgen der Eindringlinge in Gang kommen.
Fassen wir zusammen: Die Fürsten minderen Ranges, die sich rechtzeitig auf die Seite Batys und Newskis schlugen, hatten auf das richtige Pferd gesetzt und profitierten vom Einfall der Tataren, jedoch ist es ausgeschlossen, daß der Mord am Russenland von ihnen geplant und begonnen wurde. Welche große, wohlorganisierte Kraft zog nun als gesellschaftliche Institution den größten Nutzen aus der Invasion?
Wir wollen den Leser nicht weiter auf die Folter spannen: Die orthodoxe Kirche. Dies bestreitet übrigens niemand, nicht einmal die Traditionalisten selbst. Es ist allgemein bekannt, daß die Tataren aufs strengste über die Unverletzlichkeit der kirchlichen Besitztümer wachten (was nicht ausschließt, daß es zu vereinzelten Exzessen kam). Die Kirche erweiterte ihren Einflußbereich (im Territorium der Horde wurde ein neues Bistum gegründet). Im Gegensatz zu den anderen Elitegruppierungen, die durch die Invasion arg gebeutelt wurden, gewann die Kirche erheblich an Macht. Das von der Horde errichtete Regime gewährte der Kirche eine ganze Reihe wirtschaftlicher Privilegien, insbesondere völlige Steuerfreiheit. Auch dies wird von niemandem in Abrede gestellt.
Wir möchten hier auf ein scheinbar nebensächliches Detail aufmerksam machen. Die Sprache der Liturgie gewann in der Zeit, die unmittelbar auf den Einfall Batys folgte, an Präzision und Eleganz, aber eine Sprache kann sich nicht losgelöst von der Sphäre ihres Gebrauchs entwickeln. Folglich drängt sich die Schlußfolgerung auf, daß sich auch der Gottesdienst selbst sofort nach der Tatareninvasion entwickelte und vervollkommnet wurde.
Es spricht Bände, daß die führenden Vertreter der Geistlichkeit den Chroniken zufolge nicht unter der Invasion zu leiden hatten. Dies galt bezeichnenderweise auch für die Bischöfe der am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Regionen. Der Bischof von Tschernigow beispielsweise setzte sich rechtzeitig in ein abgelegenes Städtchen ab, genau wie sein Amtskollege aus Rostow. Und der Bischof des in Schutt und Asche gelegten Rjasan – wo die Fürstenfamilie bei der Invasion den Tod fand – machte sich schon aus dem Staub, als „die Horde die Stadt umzingelte“. Dies kann nur darauf zurückzuführen sein, daß all diese kirchlichen Persönlichkeiten rechtzeitig gewarnt worden waren und unter dem Schutz der Angreifer standen. Anders lassen sich die nackten Fakten nicht erklären.
Auf den ersten Blick scheint der Metropolit Josif, der unter merkwürdigen Umständen verschwand, eine Ausnahme darzustellen. Doch war Josif der Mann des Patriarchen von Konstantinopel, und letzterer unterstand damals seinerseits der Kontrolle der katholischen Kreuzritter, die Konstantinopel eingenommen hatten. Für die Organisatoren einer umfassenden antikatholischen Operation waren sowohl der Patriarch als auch der Metropolit unerwünschte Figuren.
Somit ist es völlig logisch, daß man Josif verschwinden liess; an seine Stelle rückte ein Hampelmann Newskis, ein Vertreter jener, die das als „Einfall Batys“ in die Geschichte eingegangene Projekt in die Wege geleitet hatten.
All dies ist höchst verwirrend. Besonders verwirrend wirkte es auf die aufrichtigen russischen Patrioten und die Anhänger der Orthodoxie, die nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen wollen, daß die Invasion durchaus keine rein ausländische Aggression war, sondern etwas ganz anderes.
So schrieb E. E. Golubinski, Professor der theologischen Akademie Moskaus, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Wenn man davon ausgeht, daß es die Pflicht der höheren Geistlichkeit gewesen wäre... die Fürsten und alle Bürger zu tapferem Widerstand gegen die Feinde zu ermutigen... geben uns die Chroniken nicht das Recht zu sagen, daß sich die Bischöfe auf der Höhe ihrer Aufgabe befanden... Sie vermitteln uns keine Auskunft darüber, daß im Lande diese ermutigende, beseligende Stimme erscholl.“
Man kann die Verlegenheit Herrn Golubinskis gut begreifen. Sie wäre noch größer gewesen, wenn er sich in Erinnerung gerufen hätte, daß die Vertreter der Geistlichkeit gewissen Urkunden zufolge panische Gerüchte verbreiteten und die Verteidiger der großen Städte zur Kapitulation überredeten.
Es ist übrigens sehr bezeichnend, daß sich auch die Konversion der Horde zum Islam anfangs nicht auf die Position der Orthodoxie in den von den Tataren beherrschten Gebieten auswirkte. Die bekannten Konflikte zwischen Orthodoxen und Moslems fanden zu einer Zeit statt, die der Schlacht auf dem Schnepfenfeld (russisch: Bitwa na Kulikowom Pole) unmittelbar vorausging, also lange nach dem Übertritt der Horde zum morgenländischen Glauben, der seinerseits erst geraume Zeit nach dem Einfall Batys erfolgte.
Im folgenden werden wir unsere These von der einzigartigen Verbesserung der Stellung der orthodoxen Kirche infolge der tatarischen Invasion noch mehrmals erhärten. Hier begnügen wir uns mit der Bemerkung, daß die orthodoxe Kirche die idealen Voraussetzungen dafür erfüllte, um diese Invasion zu organisieren.
Erstens besaß sie beträchtliche finanzielle Mittel. Zweitens verfügte sie über ein Netz von Stützpunkten auf dem gesamten Territorium des Russenlandes. Drittens stand sie in Verbindung zur Einflußreichsten und reichsten Kraft außerhalb des Landes – der orthodoxen Kirche von Byzanz, genauer gesagt jenem Teil letzterer, der seine Position auch nach der Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzritter behauptet hatte (Imperium von Nikäa).
Die katholische Kirche war damals in einen Konflikt mit dem römischen Papsttum verwickelt. Nachdem die Horde und Newski das das Russenland unterworfen hatten, konnten sich sämtliche infolge der Invasion Batys vereinigten Staaten an diesem Kampf beteiligen und wurden für einen Feldzug gegen die europäischen Verbündeten des Papstes mobilisiert.
Somit hat die orthodoxe Kirche des Russenlandes:
- Am meisten vom Einfall Batys profitiert;
- Sich als einzige Kraft im Russenland entpuppt, die „technisch“ in der Lage war, diesen Einfall zu organisieren.
Ist sie nun schuldig oder nicht? Fällen Sie Ihr Urteil, meine Herren Geschworenen!
5. Kommentar eines Analytikers.
Zahlreiche Forscher neigen dazu, die Abschaffung der feudalen Zersplitterung im Russenland mit dem Ende des Feudalismus in Westeuropa auf eine Stufe zu stellen. Formell gesehen war tatsächlich hüben und drüben eine Tendenz zur Stärkung des zentralisierten Staates zu beobachten. Sowohl im Russenland als auch in Westeuropa wurde die Souveränität der Lehensfürsten, Herzoge und Grafen liquidiert, wobei dieser Vorgang mit Prozessen Hand in Hand ging, die für den außenstehenden Beobachter identisch und vom emotionalen Standpunkt aus sehr bemerkenswert waren: Schrumpfen der Unabhängigkeit und des tatsächlichen (nicht äußerlichen) aristokratischen Charakters der gesellschaftlichen Elite, Zerfall der Sitten, Verschwinden des Rittertums und der Ritterlichkeit, kriecherische Speichelleckerei des Adels und Bürokratisierung der Verwaltung.
Davon berichten manche Schriftsteller, die den Geist dieser oder anderer historischer Prozesse feinfühlig erahnen; man denke nur an Dumas Senior.
Doch hiermit ist die Ähnlichkeit bereits zu Ende. Im Westen wächst parallel zu der eben geschilderten Entwicklung die Unabhängigkeit der Städte, und gerade diese erleichtern es den Königen, den freien Adel unter Druck zu setzen. Im Russenland – das man nun bereits als Rußland bezeichnen kann – geht es mit der städtischen Selbstverwaltung immer rascher zu Ende. In den Anfangsphasen sind nicht etwa die Lehensfürsten, sondern weit mehr die früher von der Volksversammlung regierten Städte dem Druck Alexander Newskis, Iwan Kalitas, Iwans III. und Iwans IV. ausgesetzt.
Im Westen wachsen aus den freien Städten schließlich der Parlamentarismus und die Volksherrschaft heran, und es entstehen die Voraussetzungen für die Entwicklung des Geschäftswesens. In Rußland fehlte für all dies die Grundlage.
Diese unterschiedlichen Bedingungen führten dazu, daß im Westen Nationalstaaten entstanden, während Rußland die Restaurierung eines multinationalen Imperiums nach byzantinischen Schablonen erlebte.
Byzanz aber war die direkte Nachfolgerin der ältesten Staaten des östlichen Mittelmeerbeckens. Hier hatte eine lange Reihe bizarrer Imperien bestanden – das ägyptische, das babylonische, das assyrische etc. Wie wir in unserem Buch Die Eigenen und die Fremden aufgezeigt haben, waren diese Imperien außerstande, einen zivilisatorischen Impuls zu erzeugen. Ganz im Gegenteil: Sie wurden zu Opfern einer zivilisatorischen Revolution – der Revolution des Eisens.
Wir verzichten darauf, den Inhalt von Die Eigenen und die Fremden hier zusammenzufassen, und beschränken uns auf folgende Bemerkung. Ganz allgemein gesprochen entstand die westliche Zivilisation als Kompromiß zwischen der wissenschaftlich-technischen Revolution des Eisens und den archaischen imperialen Staatsmodellen, wobei anfangs eine sehr radikale Abwendung von diesen Modellen erfolgte, und zwar in Gestalt des Feudalismus.
Aus der feudalen Ordnung hinaus führten zwei Wege, einer voran, zum Nationalstaat und über diesen zum demokratischen Staat, der andere durch die Etappe der Zentralisierung, die freilich durchaus keinen imperialen, sondern gewissermaßen „städtischen“ Charakter trug. Ähnliches spielt sich in der Evolution großer Systeme oft ab. Um einen Sprung nach vorne zu machen, muß man zunächst ein wenig zurückschreiten. Dieser Rückschritt ist jedoch zeitlich strikt begrenzt. Es ist dies „die Dunkelheit vor der Morgendämmerung“, die Vorstufe zur radikalen Erneuerung.
Es gab auch einen Weg zurück – in das klassische multinationale, bürokratische und ideokratische Imperium byzantinischen Strickmusters.
Im Zeitraum vom 12. bis zum 15. Jahrhunderts beschritt der Westen den Weg nach vorne. Dieser Weg stand auch Rußland offen. Wie wir in Bälde nachweisen werden, hätte es ihn sogar zügiger als der Westen beschreiten und sich somit an die Spitze der westlichen Zivilisation stellen können.
Doch nun erdröhnte ein Paukenschlag: Der von der byzantinischen Orthodoxie sowie zweitrangigen Fürsten organisierte Einfall Batys. Und an die Stelle des Russenlandes trat eine Filiale des sterbenden Byzanz – Rußland. Ein Imperium, in dem sich das weiße arische russische Volk nun schon bald acht Jahrhunderte lang abquält.
Reicht das etwa nicht, meine Herren?
Kapitel 3. DER GROSSE BÜRGERKRIEG
1. Die Beschreibung der wissenschaftlich-technischen Revolution. Die ethnopolitische Situation zu Beginn der Aktion. Schluß mit der Verleumdung der Tataren! Vom angeblich asiatischen Charakter der Russen.
Lieber Leser! Wir wollen nun zur Schilderung des größten Bürgerkriegs in der Geschichte des Russenlandes und Rußlands übergehen. Wie bei der Beschreibung eines Krieges üblich, beginnen wir mit dem Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzungen. Zunächst wollen wir uns der Frage zuwenden, was für ein Volk sich an ihm beteiligte.
Stellen wir uns vor, lieber Leser, daß in tausend Jahren irgendein Archäologe die heutige Tverskaya-Straße in Moskau ausgräbt und dabei feststellt, daß große Aufschriften ab 1991 meist in englischer Sprache verfaßt sind. Dann findet einer seiner Kollegen Schriften aus den frühen neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in denen oft davon die Rede von der „Niederlage der UdSSR im kalten Krieg“ die Rede ist.
Zu welchen Schlußfolgerungen werden diese beiden Spezialisten gelangen, wenn sie in den Kategorien ihrer heutigen Kollegen denken werden? Ganz richtig: Sie werden folgern, daß der zentrale Teil der UdSSR – Rußland – militärisch besiegt und von englischsprechenden Erobern besiedelt worden sei und daß physisch keine Russen mehr übriggeblieben seien. Die Überzeugung, daß die Bevölkerung der Sowjetunion vollkommen ausgetauscht worden sei, wird sich bei diesen Forschern noch verstärken, wenn ihnen auf dem Territorium der GUS-Staaten in russischer Sprache abgefaßte Dokumente in die Hände geraten.
Wir wissen allerdings, daß ein solcher Bevölkerungsaustausch zum Glück nicht stattgefunden hat. Wenigstens vorderhand nicht. Doch das ist eine andere Frage.
Über die Mentalität der Bevölkerung, ihren Geist, ihre Kultur usw. ließe sich unendlich viel sagen. Doch vom rassisch-biologischen Standpunkt aus fällt dies alles nicht ins Gewicht, und die Kardinalfrage ist die nach dem Blut, der Abstammung des Menschen.
Tatsache ist, daß die gesamte Bevölkerung der russischen Ebene sich rassisch und genetisch außergewöhnlich nahe steht. Sie entstand aus den Nachfahren von Menschen, die bereits zur Eiszeit hier ansässig waren. Das hauptsächliche Merkmal dieser Bevölkerung ist nichts anderes als die ungebrochene Kontinuität, die sie mit den weißen Menschen der Eiszeit verbindet.
Zu dieser Frage haben wir uns in Die Eigenen und die Fremden bereits ausführlicher geäußert. Wer sich mit den Einzelheiten unserer Argumentation vertraut machen will, den verweisen wir auf dieses Buch.
Die Richtigkeit dieser These wird freilich jedem beliebigen Leser einleuchten, der sich auf seine konkrete Lebenserfahrung stützt. In ihrer großen Mehrheit gleichen sich die Russen äußerlich sehr und sind nicht von den Kasan-Tataren, den Weißrussen, Tscheremissen oder Ukrainern zu unterscheiden. Dieser rein äußerliche Eindruck wird durch biochemische Untersuchungen erhärtet.
Dies bedeutet, daß die Bevölkerung der russischen Ebene von den Karpaten bis zum Ural und vom Weißen bis zum Schwarzen Meer in biologischer, rassischer, genetischer Hinsicht ein und denselben Menschentyp vertritt. Verschiedene Umstände haben freilich dazu geführt, daß sie unterschiedliche Sprachen spricht – meist slawische, in nicht unerheblichem Umfang türkische und in weit geringerem Masse ugro-finnische. Letztere stammen mit großer Wahrscheinlichkeit von den Sprachen der Menschen der Eiszeit ab. Auf finnisch heißt Fluß „oka“, auf russisch „reka“. Zahlreiche andere russische Bezeichnungen für Gewässer lassen sich ebenfalls auf ugro-finnische Wörter zurückführen.
In diesem Zusammenhang erinnern wir übrigens daran, daß die Slawen in der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends noch nicht weiter östlich als bis zum Dnjepr vorgestoßen waren.
Doch lassen wir diese Detailfragen beiseite. Die Verbreitung der Sprachen konnte natürlich nicht unabhängig von der Verbreitung ihrer Träger erfolgen. Eine gewisse Anzahl von Slawen gelangte aus Zentraleuropa in die Regionen um den Dnjepr, die Pripjat-Sümpfe und die obere Wolga und brachten selbstverständlich ihre Sprache mit, genauer gesagt die Ursprache, aus der sich in noch nicht allzu ferner Vergangenheit die verschiedenen slawischen Idiome entwickelt haben. Dementsprechend brachten Angehörige von Turkvölkern ihre Sprache mit, welche dann von den Wolgabulgaren – heute nennt man sie Kasan-Tataren – übernommen wurde.
Diese frühen Mischungen waren jedoch sehr unbedeutend und bewirkten keine Veränderung des physischen Typs der betreffenden Völker.
Diese frühen Mischungen waren jedoch sehr unbedeutend und bewirkten keine Veränderung des physischen Typs der betreffenden Völker. Es versteht sich von selbst, daß es Züge der Persönlichkeit gibt, die nicht genetisch bedingt sind, sondern auf Kultur- und Umweltfaktoren zurückgehen. In diesem Fall führt die Annahme des einen oder anderen kulturell-zivilisatorischen Modells bei einem Volk zum Auftreten entsprechender äußerlicher Charakterzüge (Mimik, Gesten etc.). Dabei ist es sehr wohl möglich, daß diese neu erworbenen Züge nicht dem rassischen Archetyp entsprechen, und dann wird die Ethnie, welche fremdrassige Verhaltensstereotypen angenommen hat, weniger nach ihren – unverändert gebliebenen – Rassenmerkmalen als nach diesen rein äußerlichen Verhaltensmustern beurteilt. Dies ist der Grund dafür, daß manche weißen Völker, die von der asiatisch-byzantinischen Macht unterjocht worden waren und denen die Kultur dieser Macht aufgezwungen wurde, von den Europäern nicht als weiße Brüder, sondern als Asiaten empfunden werden. Von sozialen Stereotypen ganz zu schweigen.
In solchen Situationen kann der interessierte Beobachter bisweilen die Einheit des Bluts vergessen und die durch eben diese Einheit bedingten ähnlichen Charakterzüge übersehen. Nach Beispielen dafür braucht man nicht lange zu suchen. Serben, Kroaten und Bosniaken sind an und für sich ein Volk und sprechen ein und dieselbe Sprache. Doch daß sie verschiedene Religionen und damit auch verschiedene kulturell-zivilisatorische Modelle annahmen, machte aus diesen drei Ethnien tödliche Feinde – was nichts daran ändert, daß sie physisch und genetisch weiterhin eine Einheit bilden. Die Vorfahren eines der Führer der Bosniaken, Isetbegowitsch, „wurden“ erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu solchen, indem sie zum Islam übertraten. Doch hat die Annahme einer anderen Religion etwa eine Änderung des Genpools zur Folge?
Diese Überlegungen helfen uns dabei, ein ethnopolitisches Bild der russischen Ebene vor dem Einfall Batys zu zeichnen. Man darf behaupten, daß die Bevölkerung des Territoriums vom Djestr bis zur Kama und vom Ladogasee bis hin zum Donezkbecken mehr oder weniger einheitlich war.
Gewisse Unterschiede, die uns heute auffallen, haben sich erst in späterer Zeit herausgebildet, als sich ein Teil dieser Bevölkerungsgruppe dem orthodoxen, ein zweiter dem muselmanischen und ein dritter (im äußersten Westen) dem katholischen Glauben zuwandte, womit jeweils eine Übernahme des entsprechenden kulturellen und zivilisatorischen Modells Hand in Hand ging.
Zu diesem Zeitpunkt setzte die Vermischung des Genpools des zum Islam übergetretenen Bevölkerungsteils mit dem mongoloiden Element der Turkvölker ein. Doch noch heute, viele Jahrhunderte später, ist dieser Einfluß nicht sonderlich groß. Die Mehrheit der Kasan-Tataren gehören dem europäischen und nicht dem turkischen Menschentyp an.
Der Einfluß westlicher Komponenten im Einflußbereich des Katholizismus hat das äußere Erscheinungsbild der Bevölkerung nicht verändert. Schließlich stammen die Einwohner der im Westen an Rußland angrenzenden Territorien von derselben eiszeitlichen Bevölkerungsgruppe ab wie die Russen selbst. Wer Näheres hierzu erfahren möchte, greife zu Die Eigenen und die Fremden.
Fassen wir zusammen:
1.In rassischer und ethnogenetischer Hinsicht war die Bevölkerung der russischen Ebene vor dem Einfall Batys größtenteils homogen und gehörte ohne den geringsten Zweifel der europäiden Rasse an; ihr äußeres Erscheinungsbild glich dem der heutigen Russen.
2.Die heute bestehenden, nicht allzu großen Unterschiede zwischen den slawischen und den turksprachigen Völkern im Norden und in der Mitte der russischen Ebene – vor allem den Kasan-Tataren – bildeten sich erst nach dem Einfall Batys während eines recht langen Zeitraums heraus.
3.Im Osten und Südosten grenzten an diese ethnisch einheitliche Bevölkerung der russischen Ebene Völker an, in deren Adern ein erhebliches Maß an mongolischem Blut floß; die südlichen Nachbarvölker gehörten einer Rasse an, die wir als die „semitisch-kaukasische“ bezeichnen. (In Die Eigenen und die Fremden haben wir die Stichhaltigkeit dieser Klassifizierung hervorgehoben.)
In Anbetracht dieser Voraussetzungen lassen sich gewisse Fakten, die früher bei einer Reihe traditionalistischer Historiker Skepsis hervorriefen, unschwer begreifen, beispielsweise die Tatsache, daß die Polowzen manchen historischen Quellen nach mehrheitlich blauäugig und blond waren und der Name „Polowzen“ vom Wort „polowyj“ – „strohfarben - herrührt.
Völlig logisch erscheinen in diesem Licht auch die Schlußfolgerungen des wenig bekannten, doch äußerst seriösen Forschers A. Lyslow, der am Ende des 18. Jahrhunderts tätig war (A. Lyslow, Skyfskaja Istoria [Skythische Geschichte], Verlag Nauka, Moskau 1990). Lyslow schrieb insbesondere von „europäischen Tataren“, die er zu den slawischen Völkern zählte.
Wir wollen uns nun der Frage zuwenden, zu welchen Sprachgruppen die auf der russischen Ebene siedelnden Völker gehörten. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit sprachen bereits damals die meisten slawische Sprachen. Ein vermutlich weit größerer Teil als heute gehörte der ugro-finnischen Sprachfamilie an; ugro-finische Idiome waren die Muttersprachen der Menschen, welche während der Periode, die an die Eiszeit grenzte, auf der russischen Ebene lebten. Damals, im Neolithikum, bildete sich die Bevölkerung der heutigen russischen Ebene physisch und genetisch heraus.
Analog zur Ausbreitung der slawischen Sprachen aus dem Westen drangen aus dem Osten Turksprachen ein, die von einer Reihe von Völkern übernommen wurden.
In diesem Zusammenhang drängt sich eine wichtige Bemerkung auf. In einer Situation, wo sich der kulturell-zivilisatorische Typ noch nicht endgültig herauskristallisiert hatte und es nirgends eine dominierende Religion gab, waren die sprachlichen Grenzen sehr verschwommen, und die meisten Menschen beherrschten wenigstens zwei Sprachen.
Im folgenden werden wir zeigen, daß die Russische Ebene vom Standpunkt der damaligen Geoökonomie aus ein bereits recht kompakter Wirtschaftsraum war. Dies bedingte, daß die wirtschaftliche und politische Elite sowohl das Slawische als auch die Turksprache (sprechen wir einfachheitshalber von „Altslawisch“ und „Alttatarisch“) beherrschen mußte und möglicherweise auch das im Volk verbreitete „Protofinnisch“.
Anfangs führte der Einfall Batys dazu, daß sich die genetisch recht homogenen Bevölkerungsgruppen all dieser Regionen noch stärker miteinander vermischten. Anschließend führten die durch die Invasion ausgelösten Prozesse jedoch zu einer Absonderung und zu wachsender Feindschaft zwischen der Bevölkerung der verschiedenen Gebiete. Infolgedessen gewannen anfangs die sprachlichen und später auch die rassischen Unterschiede erheblich an Konturen. Noch schroffer entwickelte sich die Mentalität der Völker auseinander, die unter die Herrschaft miteinander tödlich verfeindeter totalitärer Regime und monotheistischer Religionen gerieten. Auf diesen Fragenkomplex kommen wir noch zu sprechen.
Es ist nun an der Zeit, den Mythos vom angeblich „asiatischen“ Charakter der Russen zu entlarven. „Kratze an einem Russen, und es kommt ein Tatar zum Vorschein“ ist eine weitverbreitete „Weisheit“, die sich in gewissen Kreisen hoher Beliebtheit erfreut. Doch erstens ist es längst nicht gewiß, daß tatsächlich ein Tatar zum Vorschein kommen wird. Die objektiven anthropologischen Daten bezeugen nämlich das Gegenteil und belegen klipp und klar, daß den Russen eine für ein so großes Volk geradezu erstaunliche Einheitlichkeit der Rassenmerkmale eigen ist. In ihren Adern rinnt kaum mongolisches oder sonstiges fremdes Blut. Dies ist eine wissenschaftliche Tatsache, die wir in unserem Buch Die Eigenen und die Fremden gebührend betont haben.
Zweitens: Angenommen, es käme wirklich ein Tatar zum Vorschein – na und? Der Tatar, den man finden mag, wenn man an einem Russen kratzt, ist kein Mongole, ja nicht einmal ein Angehöriger eines Turkvolkes. Der „Tatar“ der Epoche, während welcher sich die Invasion Batys abspielte, war ein typischer Europäider, von dem man nicht weiß, welche Sprache er flüssiger beherrschte, das Altrussische oder das Alttatarische. Von ihrer Religion her waren die meisten damaligen „Tataren“ durchaus keine Muselmanen, sondern Christen verschiedener Glaubensbekenntnisse. Es wird nebenbei nicht bestritten, daß der leibliche Sohn Batys Christ war. Manchen Unterlagen zufolge bekannte sich ein erheblicher Teil selbst der „typischen Tataren“ bis ins 15. Jahrhundert zum Christentum. Sogar die Moschee in Kasimow – einem Ort mit fast rein tatarischer Bevölkerung – wurde erst später erbaut.
Sehr aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang übrigens die Illustrationen jener Chroniken, welche von den Zeiten Batys künden. Auf ihnen läßt sich anhand der äußeren Erscheinung, der Kleidung und der Bewaffnung unmöglich unterscheiden, wer die „Russen“ und wer die „Tataren“ sind. Auch Litauer und Polen unterscheiden sich weder von den Russen noch von den Tataren. Sie sehen einander zum Verwechseln ähnlich. Die Illustrationen lassen keine Vertreter unterschiedlicher Rassen oder Zivilisationstypen erkennen.
Hier ist eine der breiten Öffentlichkeit kaum bekannte Tatsache Erwähnung wert. Die Bezeichnung „Tataren“ tritt schon lange vor dem Einfall Batys in verschiedenen Chroniken auf!
In seinem bereits mehrfach zitierten Buch weist A. Buschkow darauf hin, daß die Tataren über hundert Jahre vor der Invasion Batys bei polnischen, ja sogar französischen (!) Autoren erwähnt werden. Dies kann nur bedeuten, daß sie auch im Westen, von Rußland ganz zu schweigen, bereits vor Baty, ja sogar vor der Schlacht an der Kalka, wohlbekannt waren. Zur damaligen Zeit pflegten sich die Kasan-Tataren freilich Bulgaren zu nennen.
In Anbetracht dieser Fakten hat die These Lyslows, wonach die Tataren keinesfalls identisch mit den Bewohnern des Khanats von Kasan gewesen seien, Hand und Fuß. Die reiche Geschichte der Wolga-Bulgaren und ihrer Kultur geriet nämlich als Ergebnis der Tatareneinfälle in Vergessenheit. Zur Zeit Lyslows und früher wurde der Name „Tataren“ durchaus nicht nur für ein bestimmtes Volk verwendet. Lyslow führte eine regelrechte Liste von „Tataren“ an, von den Krimtataren bis hin zu denen von ... Belgorod!
Doch gilt dies nur für die Zeit Lyslows? Erinnern wir daran, daß noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in offiziellen Polizeiberichten beispielsweise von „armenisch-tatarischen Unruhen“ die Rede war. Damit waren die ethnischen Konflikte zwischen Armeniern und Aserbeidschanern gemeint. Damals, vor hundert Jahren, bezeichnete man ausnahmslos alle islamischen Turkvölker des russischen Zarenreiches als „Tataren“.
Den schlagendste Beweis dafür, daß die „Tataren“ der russischen Ebene keine echten Tataren waren, liefert aber das Volksgedächtnis. Heutzutage ziehen 91% der Tataren für ihr Volk die Bezeichnung „Bulgaren“ vor und empfinden Unbehagen darüber, daß der Einfall Batys sowie das Tatarenjoch dem tatarischen Volk angelastet werden. Dies geht aus soziologischen Untersuchungen hervor, die in der Zeitschrift Snanije – Sila [Wissen ist Stärke) (Nr. 9, 2004) veröffentlicht worden sind.
Volkes Stimme, Gottes Stimme... Es ist längst an der Zeit, die bösartige Verleumdung der arbeitsamen und zivilisierten, voll und ganz europäischen Wolgabulgaren einzustellen, die aus purer Dummheit – oder im Gegenteil aus weitsichtiger, berechnender Boshaftigkeit – „Tataren“ getauft wurden.
Das endgültige Urteil bleibt Ihnen überlassen, lieber Leser, doch der Verfasser fühlt sich aufgrund der hier erwähnten, seines Erachtens beweiskräftigen Fakten zu folgender Schlußfolgerung berechtigt: Der Name „Tataren“ ist ein Sammelbegriff, mit dem nicht so sehr ein bestimmtes Ethnos als vielmehr ein bestimmter Stand bezeichnet wurde, genau wie dies bei den „Kosaken“ oder „Reiterscharen“ der Fall war. Vielleicht bedeutete er ursprünglich einfach eine „Hilfspolizei, die in Steppengebieten unter teilweiser Hinzuziehung fremdstämmiger Turkvölker aufgeboten wurde“?
Wenn dies der Fall sein sollte, muß man freilich gewisse Behauptungen, die sich selbst in der offiziellen Geschichtsversion finden, in neuem Lichte sehen, beispielsweise den Hinweis darauf, daß die Bezeichnung „Tataren“ im Heer des Dschingis Khan angeblich für die aus Vertretern unterworfener Völker rekrutierte Vorhut verwendet wurde. Bei „Dschingis Khan und den von ihm unterworfenen Völkern“ zu verweilen lohnt sich nicht; es handelt sich hier um Mythen. Doch daß solchen „Reiterschwadronen“, die für Feldzüge zweifelhaften Charakters zusammengetrommelt wurden, nicht gerade die besten Elemente der Bevölkerung der betreffenden Regionen angehörten, und daß vielleicht sogar Sklaven zu ihr zählten, mutet durchaus wahrscheinlich an. Deutet man die Bezeichnung „Tataren“ so, wird der „tatarische“ Charakter der Invasion Batys vollkommen verständlich.
Dies alles heißt, daß am Einfall Batys keine aus dem Nichts aufgetauchten Nomaden und keine Mongoloiden teilgenommen haben. In den Steppenzonen der russischen Ebene, wo damals den Russen rassisch und ethnisch nahe verwandte Völkerschaften lebten, wurde eine Reiterarmee aufgeboten, die unter der Ägide der orthodoxen Kirche in das Fürstentum von Rjasan und später in das von Wladimir und Susdal einfiel. Der Zweck der Invasion bestand darin, zuerst den zweitrangigen Fürsten Jaroslaw von Pereslawl-Salesski und später seinen noch weniger bekannten Sohn Alexander auf den Thron zu bringen. Es war dies ein typischer Bürgerkrieg - in politischem, aber, wie wir nun aufgezeigt haben, auch in ethnischem Sinne.
2. Der Faktor Eisen. Ein russischer Ruhm, der keiner Übertreibung bedarf.
Man hat den Zweiten Weltkrieg oft als „Krieg der Motoren“ bezeichnet. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß unter modernen Bedingungen das Problem der Bewaffnung nicht weniger bedeutsam ist als die anderen Aspekte kriegerischer Auseinandersetzung. Doch was für die großen Kriege der jüngeren Vergangenheit gilt, traf schon auf die bewaffneten Konflikte früherer Zeiten zu. Jeder beliebige Krieg ist nicht nur eine militärische, sondern auch eine wirtschaftliche Auseinandersetzung, bei der die Frage der Produktion eine entscheidende Rolle spielt. Um es bildlich auszudrücken: Im Krieg war der Schmied von alters her nicht minder wichtig als der Soldat. Wenn jemand dies nicht kapieren wollte und sich dessen erst bewußt wurde, nachdem vom Himmel Bomben auf seinen schwerfälligen Schädel gefallen waren, so war er selbst daran schuld.
Leider haben es jedoch selbst die mächtigsten Bomben nicht vermocht, gewisse Träger von Hosenstreifen und Epauletten davon zu überzeugen, daß man gut daran täte, das Kriegsbeil ein für alle Male zu begraben. Der Krieg ist nämlich kein Sport, sondern gleichbedeutend mit der Vernichtung des Feindes, und die effizienteste Vernichtung ist eine massenhafte, totale, rasche und auf industrielle, fliessbandartige Weise betriebene. Nur so, und nicht mit juristischen Empfehlungen, kann man eine so abscheuliche Erscheinung wie den Krieg aus der Menschheitsgeschichte verbannen.
Der Verfasser ist überzeugt, daß längst keine Kriege mehr geführt würden, wenn die Atombombe sofort nach ihrer Erfindung in großem Maßstab eingesetzt worden wäre. Dann gäbe es auch keine „Kriege niedriger Intensität“, keine „Kriege gegen den Terrorismus“ und ähnliche Akte der politischen Selbstbefriedigung mehr, mittels welcher der Pubertät niemals entwachsene Liebhaber von Kriegsspielen ihre Wichtigkeit auf unsere Kosten nach den Regeln des vorletzten Jahrhunderts demonstrieren. - Doch wir sind von unserem Thema abgekommen.
Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, auch nur einen mehr oder weniger großen Konflikt zu begreifen, wenn man die kriegswirtschaftlichen und militärtechnischen Aspekte außer Betracht läßt. Dies gilt namentlich zur Zeit zivilisatorischer Krisen oder wissenschaftlich-technischer Revolutionen. Gerade am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts – also zu jener Zeit, wo sich die von uns geschilderten Ereignisse abspielten - endete jedoch die erste Etappe einer der bedeutsamsten wissenschaftlich-technischen Revolutionen in der Geschichte der Zivilisation – der Revolution des Eisens.
„Halt!“ wird der eine oder andere Leser hier ausrufen. Schon vor der christlichen Zeitrechnung wurde doch Eisen gegossen und geschmiedet. Ganz richtig. Doch erstens darf man im Lichte der Kritik der traditionellen Chronologie, die bezüglich der Geschehnisse vor Christi Geburt praktisch unwiderlegbar ist, begründete Zweifel an den gemeinhin akzeptierten frühen Datierungen der eisernen Revolution hegen. Zweitens: Selbst wenn man die traditionelle Geschichtsschreibung als richtig anerkennt, begann eine eigentliche Massenproduktion von Eisen und Stahl erst während des Übergangs vom 13. zum 14. Jahrhundert, als dieses Metall bereits zum Bestandteil des Alltagslebens geworden war. Es war dies die Zeit der sogenannten „Revolution der Mühlen“. Gestützt auf Wasserkraft, setzte damals die Massenherstellung eiserner Nägel, Schrauben, Klammern und anderer Gebrauchsgegenstände ein – sowie natürlich auch von soliden eisernen Zimmermannswerkzeugen.
Noch zwei Jahrhunderte zuvor war dies ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, weil es an Eisen fehlte. Es gab nicht nur keine eisernen Werkzeuge oder Nägel, sondern nicht einmal metallene Waffen (jede technische Neuerung, neues Material nicht ausgenommen, wird zuerst in der Rüstung ausprobiert). Und in der Schlacht bei Hastings fochten viele Sachsen noch mit steinernen Äxten.
Dies bedeutet, daß der Einfall Batys und die sich an ihn anschließenden Umwälzungen ausgerechnet zu einer Zeit stattfanden, als der Faktor Eisen eine vom militärischen Standpunkt aus absolut zentrale Rolle zu spielen begann und die erste Etappe der eisernen Revolution noch nicht abgeschlossen war. Lassen wir die wichtigsten Stufen der wissenschaftlich-technischen Revolution des Eisens deshalb kurz Revue passieren; die Fakten sind unserem Buch Die Eigenen und die Fremden entnommen.
Vor der Entdeckung des Eisens war das einzige Metall, das vor allem bei der Anfertigung von Waffen Verwendung fand, die Bronze. Zu deren Herstellung braucht es Kupfer. Der allergrößte Teil des Kupfers wurde zu jener Zeit auf dem Balkan, auf Zypern und in Großarmenien gefördert. Die – von uns gesamthaft als „erstes Imperium“ bezeichneten - Reiche des östlichen Mittelmeerbeckens, denen diese Gebiete unterstanden, besaßen somit das Monopol auf die Herstellung des einzigen Metalls, aus dem man damals Waffen schmiedete.
Wir rufen dem Leser in Erinnerung, daß es in der Erdkruste fünfhundertmal mehr Eisen als Kupfer gibt. Es zu finden, ist somit im Prinzip weitaus leichter. Merkwürdigerweise – oder vielleicht durch göttliche Fügung – gibt es jedoch gerade auf dem Territorium des Ersten Imperiums – in Ägypten, Mesopotamien, Palästina, dem Libanon, in Syrien, Armenien und Kleinasien – fast kein Eisen, und auch auf dem Balkan finden sich nur sehr begrenzte Vorkommen dieses Metalls. Dafür ist es in den Gebieten nördlich des Ersten Imperiums – auf der russischen Ebene und in Zentraleuropa - im Überfluß vorhanden.
Es kommt freilich nicht nur darauf an, wo sich Adern welcher Metalle finden, sondern auch darauf, wie leicht man diese mit den vorhandenen technologischen Möglichkeiten ausbeuten kann. Man stelle sich beispielsweise vor, man müßte mit der Technologie der Bronzezeit das harte und massive Eisenquarz in der Gegend um Kursk fördern! Mit bronzenen Spitzhacken kommt man da nicht weit, und außerdem muß die Bronze von weither eingeführt werden. Aufgrund des intensiven Arbeitsaufwandes und des Mangels an geeigneten Werkzeugen käme das geförderte Eisen teuer zu stehen als die Bronze selbst. Man lächle nicht über dieses Beispiel: Ohne angemessene Werkzeuge ist keine Produktion möglich, weder im Bronzezeitalter noch in einer anderen Zeit. Zweifellos wird unser heutiges Instrumentarium, dem wir so hochtrabende Namen verleihen, den Menschen der Zukunft ebenso unzulänglich vorkommen wie uns eine Hacke aus Bronze.
Zum nächsten Punkt. Es reicht nicht, das Eisen zu fördern, man mußte es auch schmelzen. Hierzu bedarf es einer Temperatur von über tausend Grad, die mittels einfachen Brennholzes nicht zu erreichen ist. Es braucht Holzkohle. Ferner muß man das Feuer im Schmelzofen mit einem Blasebalg schüren, und zu dessen Herstellung brauchte man Felle.
Zur Verwertung des im eigenen Land gefundenen Kupfers waren keine solchen Vorkehrungen vonnöten; man konnte es in einem gewöhnlichen Ofen schmelzen. Die Notwendigkeit der Erhöhung der Schmelztemperatur begriffen die Menschen, nachdem sie sich die Technik des Schmelzens von Kupfer aus Kupferschwefelkies-Erz angeeignet hatten. Sie schmolzen auch Blei. Die Verwendung von Holzkohle war für die Bedürfnisse der Bronzeherstellung nicht unbedingt notwendig, brachte jedoch gewisse Vorteile mit sich. Und die Entdeckung dieser Technologie erfolgte während der sogenannten evolutionären Etappe der Entwicklung der Bronzeherstellung auf empirischem Wege.
Es besteht übrigens ein gewisses Mißverhältnis zwischen der Lage der Fundstätten von Bronze und Halbmetallen und den viel einfacher zu fördernden Holzkohlelagern. Die Suche nach „konzentriertem“ Brennstoff in Form von Holzkohle in den Zentren der alten Metallurgie mochte für das Erste Imperium einen zusätzlichen Ansporn darstellen.
Ob es mit den damaligen Werkzeugen möglich war, gewisse Arten von Eisenerz auszubeuten, bleibt offen. Viele Autoren neigen dazu, die Zentren der ursprünglichen Eisenverarbeitung nach Deutschland oder ins Mittlere Donaubecken zu verlagern, an jene Orte, wo sich im Mittelalter hochentwickelte metallurgische Zentren befanden. Es sei darauf verwiesen, daß in diesen Zentren damals bereits dieselben Arten von Eisenerz gefördert wurden wie in der Gegenwart. Ihre Ausbeutung bedingt das Vorhandensein fortgeschrittener Werkzeuge: Stählerne Hacken, Hämmer, Meißel.
Uns scheint es weitaus logischer, die ersten Zentren des Eisenschmelzens an den Fundstätten verhältnismäßig weicher und lockerer Erze zu suchen, d.h. in Sumpfgebieten. Diese Erze, Lagerungen gewöhnlichen lockeren „Rostes“, lassen sich leicht fördern, liegen sie doch praktisch an der Erdoberfläche. Man kann sie schon mit hölzernen Hacken ohne weiteres ausbeuten. Dank ihrer relativ hellen rotbraunen Farbe heben sie sich schroff von ihrem trüben Hintergrund ab und sind deshalb sofort zu erkennen.
Sumpferze waren übrigens noch im Spätmittelalter und darüber hinaus als Rohstoff zum Schmelzen von Eisen durchaus konkurrenzfähig. Erinnern wir nur an die berühmten, in der Stadt Worsma (Gegend von Nischegorod) angefertigten Messer, die sich noch am Ende des 18. sowie zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis hin nach Afghanistan und Indien hoher Wertschätzung erfreuten. Sie wurden aus Eisen hergestellt, welches aus den Erzvorkommen der örtlichen Moore stammte. Entsprechende Erze dienten im Westen des Russenlandes als Rohstoff für die Anfertigung der im Frühmittelalter ungemein populären Schwerter. Angesichts dieser Fakten liegt die Annahme erst recht nahe, daß in Sumpfregionen geförderte Erze die erste Rohstoffquelle für die Eisenverarbeitung in ihrer Anfangsphase darstellten, als es noch keine Werkzeuge zur Förderung von Erzen in Bergwerken gab.
Dadurch wird die Situation noch interessanter. In Sumpfzonen gelegene Erzvorkommen oder analoge sekundäre Eisenerze bilden sich aus „Rost“ (die Spezialisten mögen uns diesen vereinfachenden Ausdruck nachsehen) in der Umgebung von Lagerungen kompakter, eisenhaltiger Bergerze und können einzig und allein unter entsprechenden geologischen und geochemischen Bedingungen entstehen. Dazu gehören ein ausgesprochen feuchtes Klima sowie saure Erde. Starke Feuchtigkeit ist aber für keine der Regionen, die zum Ersten Imperium gehörten, kennzeichnend, auch nicht für die angrenzenden Gebiete um das Schwarze Meer herum. Der Boden ist dort im wesentlichen kalksteinhaltig und nur selten leicht sauer. Und das Vorgebirge dieser Orte besteht oft aus Kalkstein oder kalksteinartigem Erz, wo der Boden noch stärker alkalihaltig ist.
Dies alles heißt, daß es im Ersten Imperium sowie in den an dieses anschließenden Gebieten keine zugänglichen, leicht erkennbaren sekundären Eisenerze und in Sumpfgebieten liegenden Erzvorkommen gegeben hat. Solche fanden sich in erster Linie in der Russischen Ebene sowie in Zentraleuropa - aber nicht in den größten Fundstätten eisenhaltiger Erze, sondern dort, wo diese mit einem höheren Feuchtigkeitsgrad sowie dem Fehlen von Kalksteinen Hand in Hand gingen. Man darf folglich annehmen, daß die ersten Zentren der Eisenarbeiten in Zentraleuropa durchaus nicht dort lagen, wo man sie später geortet hat. Auch war diese Region anfangs für die Metallverarbeitung keinesfalls sonderlich rentabel.
Interessanterweise gehen in manchen europäischen Sprachen die Bezeichnungen der roten Farbe, des Bluts und der Blutsverwandtschaft sowie das Wort „Erz“ auf ein und dieselbe Wurzel zurück. Dies veranschaulichen die russischen Wörter rod („Geschlecht“), rudy („rot“) und ruda („Erz“), deren Verwandtschaft mit dem deutschen rot und dem englischen red ins Auge springt. Wahrscheinlich war das rote sekundäre Eisenerz für die Europäer Symbol für das Erz überhaupt. Wenn sich ein Leser aus Moskau davon überzeugen will, daß das sekundäre Erz tatsächlich von hellroter Farbe ist, so kann er sich beispielsweise in der Umgebung von Kolomenskaja ans Ufer des Moskwa-Flusses begeben. Die hellrote Böschung aus eisenhaltigem Sandstein bietet auf dem Hintergrund der grünen Matten einen reizvollen Anblick. Und unten, im Wasser des Flusses selbst, befinden sich dichte Ansammlungen von „Rost“.
Zum Glück ist das nicht das Ergebnis irgendwelcher Abwässer, sondern eine rein natürliche Erscheinung. Erinnern wir übrigens nochmals daran, daß es im Russenland des Mittelalters durchaus nicht an Eisen mangelte. Es gab Unmengen an Erz, die zur Stillung der damaligen Bedürfnisse völlig ausreichten.
Noch auf ein anderes Moment sei hingewiesen. Das Schmelzen von Eisen erfordert sehr viel mehr Brennstoff als jenes von Kupfer. Stellen wir uns eine Situation vor, wo es erst wenige Äxte gab: Entweder sündhaft teure aus Bronze oder schwere, leicht zerbrechliche aus Stein, die sich nur schlecht zum Holzfällen eigneten.
In dieser Lage fällt sogar ins Gewicht, was für Baumarten es in der entsprechenden Gegend gab. Heute gilt das harte Eichenholz natürlich als wertvoller denn Fichten- oder Birkenholz, doch damals, wo man mit steinernen Äxten möglichst viel Holz für die Metallschmieden gewinnen mußte, war das weichere und folglich leichter zu hackende Birkenholz begehrter. Das Fehlen leicht zu fällender Baumarten konnte die Eisenverarbeitung in den ersten Phasen ihrer Entwicklung ebenfalls hemmen.
Doch solche Baumarten gab es im Süden, besonders auf dem Territorium des Ersten Imperiums, nur in geringer Zahl, während sie im Norden massenhaft vorhanden waren. Auch nach diesem Kriterium boten die russische Ebene sowie die nördliche Hälfte Zentraleuropas demnach die besseren Perspektiven.
Resümieren wir das bisher Erarbeitete: Hier lagen alle Voraussetzungen für den Beginn einer wissenschaftlich-technischen Revolution vor, und hier erfolgte diese denn auch. In den sumpfigen Gebieten der westlichen Hälfte der russischen Ebene und den an diese angrenzenden Zonen im Westen mit ähnlichen geologischen und klimatischen Bedingungen.
Außer der unerbittlichen Logik der Entwicklung der Produktion gibt es noch eine große Zahl anderer Argumente, welche für diese These sprechen. Insbesondere unterliegt es keinem Zweifel, daß die weltweit erste „Massenherstellung“ von Eisen lediglich mit Erz aus Sumpfgebieten erfolgen konnte. Dieser Meilenstein in der Geschichte der Zivilisation mußte zwangsläufig seinen Niederschlag in der Sprache finden.
Die Beziehung zwischen Erz aus Sumpfgebieten und Eisen ist jedoch einzig und allein in den slawischen Idiomen klar erkennbar. Die russischen Wörter scheléso („Eisen“) und schelesá („Drüse“) gehen auf ein und dieselbe Wurzel zurück. Doch in den altslawischen Sprachen hieß schelesá nicht nur „Drüse“, sondern auch „Knäuel“, und eine knäuelartige Struktur ist für Sumpf-Erz ebenso charakteristisch wie für die „Trauben“ der Drüse.
Wiederholen wir es: Nur in den slawischen Sprachen, insbesondere im Russischen, ist der Begriff „Eisen“ mit dem frühsten Stadium der Förderung dieses Metalls aus Erzen in Sumpfgebieten verbunden. Und scheléso gehört den ältesten Sprachschichten des Russischen an, während das Wort ruda – „Erz“ – später erscheint. Dies bedeutet, daß sämtliche Begriffe, die mit Metallverarbeitung und Erz zu tun haben, erst Einzug in unsere Sprache gehalten haben, als unser Volk den Umgang mit Eisen bereits gemeistert hatte. Das Eisen war das erste Metall unserer Ahnen, und diese waren ihrerseits die ersten, die den Umgang mit diesem Metall meisterten.
Ausführlicher und wissenschaftlich weit korrekter behandelt O. N. Trubatschew diese Fragen in seinem Buch Etnogenes i kultura drevjejschich slawjan („Ethnogenese und Kultur der ältesten Slawen“, Nauka, Moskau 2003). Seine Schlußfolgerungen werden durch die Erkenntnisse anderer Zweige der Wissenschaft erhärtet. So wurden die allerfrühsten Spuren der Herstellung von Eisen, die sogenannten Krizy (formlose Barren harten, groben Eisens mit Schlackeneinfügungen) in der russischen Ebene gefunden.
Es versteht sich, daß die ersten aus Eisen – und erst recht aus Stahl - angefertigten Gegenstände selten und exklusiv waren. Solche Gegenstände waren die Schwerter, die in den frühesten Etappen der wissenschaftlich-technischen Revolution individuell beschriftet waren. Von solchen Schwertern sind 165 Stück erhalten, die in verschiedenen europäischen Museen aufbewahrt werden. 45 davon wurden in der ehemaligen Sowjetunion gefunden (zu mehr als drei Vierteln in deren westlichen Regionen), 30 in der Ex-DDR, 19 in Finnland, 11 in Polen. Insgesamt wurden in den eben genannten Gebieten also 105 von 165 oder rund zwei Drittel dieser Schwerter gefunden – und just diese Gebiete fallen mit jenen zusammen, wo es in Sumpfgebieten gelegene Erzvorkommen gibt. Schließlich fand sich ein sehr erheblicher Teil der Schwerter in den Siedlungsgebieten der alten Slawen. Erinnern wir beiläufig daran, daß das Territorium der ehemaligen DDR zur Zeit, wo die wissenschaftlich-technische Revolution des Eisens einsetzte, von slawischen Stämmen der Veleter und Obodriten bewohnt war. Kurzum: Die Mehrzahl dieser Schwerter wurde in einem von Slawen oder ihren nächsten Nachbarn besiedelten Gebiet hergestellt.
Zum Vergleich: Auf dem Territorium der alten BRD (also ohne die DDR) wurden 12 solche Schwerter vorgefunden, in Frankreich 8, in Großbritannien 6, in Norwegen 4, in Spanien eines. (Diese Angaben entstammen dem von N. N. Efimow und anderen verfaßten Buch Sagowor protiv russkoj istorii [Verschwörung gegen die russische Geschichte], AIWIK, Moskau 1998).
Übrigens waren Schwerter zu jener Zeit nur einer unter vielen wichtigen Gebrauchsgegenständen aus Stahl. Und wenn in Rußland und seiner nächsten Umgebung davon 45 gefunden wurden und in Norwegen bloß 4, wird es klar, warum die Wikinger ihre Kettenpanzer in Nowgorod zu kaufen pflegten. Die Anfertigung eines Kettenpanzers ist noch komplizierter als die eines Schwertes, und wenn es schon an Schwertern fehlte, werden Kettenpanzer erst recht Mangelware gewesen sein. Der unter dem Namen „Lederhosen-Rangar“ bekannte Räuber trieb sein Unwesen kurze Zeit in der Gegend um Nowgorod, holte sich jedoch eine blutige Nase und ließ sich fortan nie mehr dort blicken, sondern brandschatzte statt dessen England. Die dortigen Einwohner waren quantitativ und qualitativ gleich gut bewaffnet wie die Wikinger, aber viel schlechter als die Bewohner des Russenlandes.
Halten wir einen Augenblick inne und denken wir über diese Tatsachen nach. Wir leben alles in allem noch heute im eisernen Zeitalter. Vom Standpunkt der zivilisatorischen Entwicklung aus gesehen kann man die Meisterung der Eisenverarbeitung nur mit der Beherrschung des Feuers vergleichen. Und am Anfang dieses Meilensteins in der Geschichte der menschlichen Zivilisation standen unsere Altvorderen, die im nordwestlichen Viertel sowie im Zentrum der russischen Ebene lebten, also dort, wo die Erde mit Sümpfen übersät ist. Dort befand sich damals ein weltweites Industriezentrum, mit allen sich daraus ergebenden Folgen, wozu namentlich ein verhältnismäßig hoher Lebensstandard, ein hohes Maß an Freiheit für die qualifizierten Teile der Bevölkerung sowie die Entwicklung von Städten gehörten. Da verwundert es nicht, daß das Russenland „Das Land der Städte“ genannt wurde; es war das Gardarik der skandinavischen Sagas.
In diesem Land der Städte konnte fast die gesamte Bevölkerung lesen und schreiben. Als letzte Insel dieser städtischen Kultur und Zivilisation kann man Weliki Nowgorod mit seinen Urkunden auf Birkenrinde bezeichnen, die von einem für die damalige Zeit äußerst hohen Bildungsstand der Bevölkerung kündeten. In der Zivilisation ist schließlich alles miteinander verbunden – der Alphabetisierungsstand, das Produktionsniveau, der Lebensstandard, das Ausmaß an politischer Freiheit etc.
Betrachtet man übrigens unsere Frühgeschichte von diesem Standpunkt aus, mutet die Hypothese, wonach die Ahnen der Russen mühelos Feldzüge in die Länder des Südens unternehmen konnten, recht plausibel an. Mit einem eisernen Schwert, dem der Feind lediglich einen bronzenen Dolch entgegenzusetzen hatte (ein Schwert kann man nicht aus Bronze anfertigen, da es sonst bricht), konnte man bis nach Etrurien gelangen und, gestützt auf die Errungenschaften der Eisenherstellung sowie die Fruchtbarkeit des dortigen Bodens, eine neue Zivilisation begründen. Dafür besaß Rußland nicht nur genügend Kraft, sondern auch das erforderliche kulturelle Potential.
Doch eine Analyse dieser von alternativen Historikern verfochtenen Thesen gehört nicht zu unseren Aufgaben. Schließlich sind Eroberungen nicht das Wichtigste. Im Vergleich zu einem so gewaltigen Beitrag zur Weltzivilisation wie der eisernen technisch-wissenschaftlichen Revolution verblaßt alles andere, verblaßt jede Eroberung. Und das Russenland stand an der Spitze einer der zwei (nur zwei!) größten technisch-wissenschaftlichen Revolutionen in der Geschichte der Menschheit. Größeres hat die byzantinische Nachfolgerin des Russenlandes nie erreicht, ungeachtet aller noch so ehrgeiziger, endloser Eroberungsfeldszügen und fieberhafter Modernisierungskampagnen zwecks Einholen des Westens, bei denen die Kräfte des Volkes bis zum äußersten strapaziert wurden.
Das Russenland aber vermochte niemand je einzuholen. Es war Spitze, Weltspitze. Denken wir darüber nach und erheben wir stolz das Haupt, wenn wir dem wahren Ruhm unserer Vorfahren den Salut entbieten. Sie waren Meister und Priester, wahre Söhne ihrer Götter.
Leider wurde das Russenland nach dem Einfall Batys und der Errichtung der despotischen einheitlichen Regierung Newskis und seiner Nachfahren – Kalitas, Iwans III. und Iwans des Schrecklichen – zu Rußland, wobei sein zivilisatorisches Potential unerbittlich schrumpfte (verglichen mit jenem zeitgenössischer existierender Staaten in jeder konkreten historischen Periode). Es wurde aus einem Land der Meister, der im Reichtum lebenden Städte zu einem Land von Bauern, die sich auf kalten, kargen Feldern abrackerten.
Endgültig verschwunden ist das städtische Russenland nach der Vernichtung Nowgorods durch Iwan den Schrecklichen. Doch noch lange danach zehrte Rußland von den Früchten der ersten und leider auch letzten zivilisatorischen Großtat seiner Geschichte in einer Zeit, wo es Weltspitze gewesen war.
Nach der Invasion Batys schrieb Michalon Litwin noch: „Die Städte [der Moskauer] sind durch verschiedene Meister auf dem Gebiet des Handwerks berühmt: Sie stellen Schwerter... und verschiedene Waffen her“ (zitiert nach S. Waljanski und D. Kaljuschny, Drugaja istoria Rusi, Wetsche, Moskau 2001).
Später sinkt das Niveau der Metallproduktion immer mehr. Doch in der Herstellung des Eisens selbst war Rußland in Europa noch lange Zeit führend. Zur Zeit Peters I. produzierte Rußland insgesamt gleich viel Eisen und Stahl wie England. Sogar in der Mitte des 19. Jahrhunderts führte es mehr Eisen sowie einfache eiserne Gebrauchsgegenstände aus als ein so bekannter Metallexporteur wie Belgien. Tragischerweise war dies nichts als ein letztes Aufbäumen vor dem Niedergang.
Vor dem Einfall Batys aber war das Russenland, genauer gesagt seine nördlich von Oka gelegene Hälfte) noch ein Land der Städte, ein Land der Meister, eine der industriellen Führungsmächte der damaligen Welt. Es war übrigens auch ein Land, das dank seinem Potential jede beliebige politische Konfiguration in Europa, und nicht nur dort, auf den Kopf stellen konnte.
3. Beschreibung des Kriegsschauplatzes. Die geopolitische Situation bis zum Beginn der Aktion. Wald und Steppe
Der bewaldete Teil des Russenlandes, wo starke Feuchtigkeit herrscht, war vor dem Einfall Batys ein „Land der Städte“. Diese Tatsache stellt die wahrscheinlichste Erklärung für folgendes Phänomen dar:
Der von Steppen oder Steppenwald bedeckte Teil der russischen Ebene besitzt dank der Fruchtbarkeit des Bodens sowie der wärmeren Temperatur ein im Schnitt zweieinhalb- bis dreimal höheres Potential als die dicht bewaldeten Gebiete. Doch die wirtschaftlichen Zentren und ein großer Teil der Städte befanden sich im weit weniger fruchtbaren Norden und Nordwesten. Folglich konnte der wirtschaftliche Vorsprung des Nordens nicht auf der Landwirtschaft fußen. Er beruhte – wenn man diesen Ausdruck für das Mittelalter brauchen darf – auf der industriellen Produktion und dem damit Hand in Hand gehenden intensiven Warenaustausch.
Im übrigen sei daran erinnert, daß in jenen Zeiten die bequemste und preisgünstigste Art des Transportes in den kontinentalen Zonen der Transport auf den Flüssen war. Die nördliche Hälfte der russischen Ebene ist reich an Flüssen, die bedeutend mehr Wasser führten als heutzutage, und bot deshalb ideale Voraussetzungen für die Entwicklung des Handels.
Unter diesen Umständen spricht alles dafür, daß im Süden keineswegs Nomaden hausten, sondern daß es dort rentabler war, sämtliche Zweige der Landwirtschaft zu betreiben und den Produktionsüberschuß zu verkaufen. Die Abnehmer wohnten in nächster Nähe, jenseits der Oka und des Dnjepr.
Aus diesem Grund ist es ganz natürlich, daß von den Dörfern der Polowzen berichtet wird. Die Wirtschaft des Südens, die Wirtschaft der Steppe, basierte auf einer optimalen Kombination von Landwirtschaft und Viehzucht, die nur zu einem geringen Teil halbnomadischen Charakter trägt.
Was die Struktur des Südens selbst betraf, so besaßen gewisse seiner Regionen, die vollständig von der Landwirtschaft abhingen, ein ökonomisches Potential, das sich genau proportional zum bioklimatischen Potential verhielt. In anderen Worten: Am reichsten und entsprechend auch politisch am stärksten waren die Länder westlich der Wolga, genauer gesagt, jene Länder, die unmittelbar südlich vom Nordteil des Russenlandes lagen. Beispielsweise ist das bioklimatische Potential des Südens der Gegend von Tula dreimal größer als dasjenige der Gegend von Saratow östlich der Wolga. Dementsprechend konnten die zahlenmäßig stärksten „Horden“ keinesfalls östlich der Wolga, sondern südlich des heutigen Tula oder des mittelalterlichen Rjasan aufgeboten werden.
Vom geoökonomischen und geopolitischen Standpunkt aus ist es ganz augenscheinlich, daß sich der Norden und der Süden nicht zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Komplex verbinden ließen. Es ist allgemein bekannt, daß Nowgorod seine Nahrungsmittel von „unten“ – d.h. aus bedeutend weiter südlich gelegenen Gebieten – bezog. Doch nicht um der schönen Augen der Nowgoroder Mädchen willen belieferten die Menschen aus den Zonen um die untere Wolga und den Oberen Don Nowgorod mit Lebensmitteln. Es muß ihnen als Gegenleistung gewisse Waren zur Verfügung gestellt haben. Und so war es natürlich auch.
Die politischen und kulturellen Ergebnisse dieser Beziehungen finden ihren Ausdruck insbesondere in der Zweisprachigkeit der Ober- sowie der Mittelklasse. Dies läßt sich anhand zahlreicher Zeugnisse belegen, die weder von den traditionellen noch von den alternativen Historikern angefochten werden. Eine weitere Folgeerscheinung dieser Beziehungen sind die vielen dynastischen Eheschließungen zwischen Angehörigen russischer und „polowezkischer“ (richtiger wäre: „steppenbewohnender“ oder „südlicher“) Fürstengeschlechter.
„Wie erklären sich dann die zahlreichen Kriege mit den Polowzen und überhaupt den Steppenbewohnern?“ wird da mancher Leser einwenden. Auf diese Frage antworten wir mit einer Gegenfrage: Bitte sehr, haben die russischen Fürsten etwa nicht permanent Krieg gegeneinander geführt? Und nicht nur sie. Auch die Steppenbewohner befehdeten sich gegenseitig unaufhörlich.
Wir werden die Geduld des Lesers nicht mit langen Zitaten und Schilderungen verschiedener Feldzüge strapazieren, sondern begnügen uns mit der Bemerkung, daß jemand, der die Chroniken dieser endlosen Fehden liest, kein einziges systembildendes Kennzeichen dieser Zwistigkeiten zu erkennen vermag, anhand dessen er die Einfälle der Polowzen im Russenland von den brudermörderischen Auseinandersetzungen zwischen den russischen Fürsten, aber auch jenen zwischen den Steppenbewohnern, zu unterscheiden vermöchte, besonders wenn er die Dinge in einem neuen Licht betrachtet. Außerdem ist es vor der Invasion Batys überhaupt schwierig, irgendwelche Feldzüge zu ermitteln, bei denen sich die jeweiligen Heere ausschließlich aus Angehörigen einer bestimmten Nationalität rekrutiert hätten. Die russischen Fürsten und die Steppenbewohner schlossen sich immer wieder zu verschiedenen Koalitionen zusammen, die sich gegenseitig bekämpften.
Dies fand übrigens seinen Widerhall auch in der Schilderung der Schlacht bei Kalka. Auch wenn wir diese Schlacht als halbmythisch betrachten: Ohne Rauch kein Feuer! Damit dieser Mythos entstehen konnte, brauchte es eine Situation, in welcher die russischen Fürsten im Bündnis mit manchen Steppenbewohnern (den „Polowzen“) gegen andere Steppenbewohner (die „Tataren“) fochten, auf deren Seite ihrerseits russische „Vagabunden“ unter der Führung eines Christen, des Vojevoden Ploskina, kämpften.
Wir würden also der Beschreibung der inneren Fehden während der Periode der feudalen Zerstrittenheit keine übermäßige Bedeutung zumessen. Sie entsprachen den Gepflogenheiten der damaligen Zeit. Bezeichnenderweise stellten sie kein prinzipielles Hindernis für wirtschaftliche Beziehungen dar, obwohl sie diese selbstverständlich hemmten. Wie gesagt herrschten damals überall solche Zustände. Unterstreichen wir jedoch, daß es vor dem Einfall Batys keine objektiven geoökonomischen Voraussetzungen für einen unversöhnlichen Gegensatz zwischen Wald und Steppe, Nord und Süd gab.
Wir wollen uns nun der Frage zuwenden, wie sich diese wirtschaftliche Struktur auf die militärischen Aspekte der inneren Fehden und später des großen Bürgerkriegs auswirken konnte. Offensichtlich war der Norden, oder der Wald, besser bewaffnet und der Süden, oder die Steppe, dafür beweglicher, weil es dort weit mehr Pferde gab und ein Teil der Bevölkerung immerhin ein halbnomadisches Leben führte und sich darum rascher mobilisieren ließ. Aus diesen Voraussetzungen folgt, daß die optimale Struktur jeder beliebigen militärisch-politischen Koalition in unterschiedlichem Umfang sowohl Vertreter des Waldes als auch solche der Steppe umfassen mußte. Genau dies finden wir in den Schilderungen der Fehden vor dem Einfall Batys.
Wir haben keinen Grund zur Annahme, daß bei der Vorbereitung und Verwirklichung der Invasion Batys selbst von dieser optimalen Struktur abgewichen worden wäre. Diese Überlegungen bekräftigen übrigens von einem ganz anderen Standpunkt aus die These, wonach der Einfall, um Chancen auf Erfolg zu haben, „gemischter“ Natur sein mußte. Er war es auch tatsächlich, wie wir später zeigen werden.
Erinnern wir aber an eine unabänderliche Regel militärisch-politischer Bündnisse. Die führende Kraft bei solchen ist stets die besser organisierte und bewaffnete Partei, mögen jene, welche die Pferde und die Soldaten stellen, bei den Kämpfen auch die Hauptlast zu tragen haben.
So ist es, so wird es künftig sein, und so war es auch in einer nicht allzu fern zurückliegenden Vergangenheit. Wir sehen keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß es auch zur Zeit Batys und Newskis so war. Die erste Geige spielte durchaus nicht Baty, sondern seine russischen Verbündeten.
4. Zivilisation, Religion, Politik. Die internationale Konstellation um Rußland herum.
Den Einfall Batys von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten ist nicht bloß interessant, sondern auch brandaktuell. Er spielte sich nämlich unter den Bedingungen einer historischen Periode ab, in der sich die Zivilisation sehr rasch entwickelte. Solche Konstellationen sind in der Menschheitsgeschichte nicht sonderlich häufig, und es lohnt sich deshalb, nach möglichen Analogien Ausschau zu halten.
Wir werden die verschiedenen Theorien der „Zeithüpfer“ hier nicht untersuchen, obwohl diese unsere Thesen noch erhärten würden, sondern gehen im folgenden von der offiziellen Version aus. Welches Bild bietet die Zivilisation jener Epoche?
Anno 1066 wehrten sich viele Sachsen bei Hastings noch mit Steinäxten gegen die normannischen Eindringlinge. Doch schon im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts gab es auf jedem englischen Bauernhof Nägel und stählerne Tischlerwerkzeuge. Es begann die „Revolution der Mühlen“, die erste Etappe der industriellen Revolution, die dann im 20. Jahrhundert in die Errichtung der Industriegesellschaft mündete.
Wie verändert sich vor dem Hintergrund einer solch stürmischen Entwicklung das gegenseitige Verhältnis zwischen dem wirtschaftlichen Potential gewisser Regionen und Länder? Das byzantinische Reich geht seiner Götterdämmerung entgegen. Es besteht nur noch aus einem Konglomerat von Regionen, wo die natürlichen Ressourcen durch jahrhundertelange intensive Ausbeutung großenteils erschöpft sind. Außerdem hat Byzanz keinen Anteil an der „eisernen“ wissenschaftlich-technischen Revolution, weil dort keine natürlichen Voraussetzungen für die Entwicklung der schwarzen Metallurgie bestehen.
Als direkte Erbin der ersten Staaten des Erdballs überhaupt, der ganzen Reihe von Reichen des östlichen Mittelmeerraums, hat Byzanz keine andere Wahl, als die Ausbeutung seiner Untertanen immer mehr zu verschärfen. Andere Wege stehen einem Imperium nicht zur Verfügung, wie wir schon früher festgestellt haben.
Doch damals hieß es: „Alle Reichtümer der Welt zerfallen in zwei Teile: Der eine davon ist weltweit zerstreut, der andere befindet sich in Konstantinopel.“ Schätze von ungeheurem Wert, das Erbe aller alten Imperien von der Zeit Ägyptens und Assurs an, sind in Byzanz konzentriert. Darüber hinaus war dieses Hüterin alter Traditionen, die man in der heutigen Sprache als Diplomatie und Geheimdienst zu bezeichnen pflegt.
Mit der Entwicklung der schwarzen Metallurgie beginnt die Ausbeutung und Verwertung der kompakten Eisenerze. Hacke und Meißel machen deren Ausbeutung möglich. Nach und nach entwickelt sich die Metallurgie wie zuvor im Russenland jetzt auch in Deutschland und den Regionen um die Donau herum; Europa holt das Russenland unerbittlich ein und läßt Byzanz weit hinter sich zurück. Zugleich erlebt Europa nicht nur einen wirtschaftlichen, sondern auch einen demographischen Aufschwung.
Parallel dazu vollziehen sich in den östlichen Regionen jener Territorien, die einst den ersten Staaten untertan waren, hochinteressante Prozesse. Dort gewinnt die islamische Zivilisation immer mehr an Konturen. Von allen monotheistischen und – um die Dinge bei ihrem Namen zu nennen – totalitären Religionen ist der Islam seinen Anhängern gegenüber am humansten.
Dies ist durchaus erklärbar, denn den Islam schufen Nomaden, d.h. Menschen, die ursprünglich viel freier waren als die Schöpfer des Judaismus und des Christentums. Diese Verbindung der Prinzipien der Freiheit – oder vielmehr der nationalen Selbstorganisation und gegenseitiger Hilfe – mit einem imperialen staatlichen und religiösen Erbe (und der Islam hat viele Merkmale der alten Imperien übernommen) bewirkt, daß der Islam ohne weiteres mit dem Christentum und dem Judentum konkurrieren kann. Dank dem Islam lassen sich viele Schwierigkeiten der imperialen Entwicklung mildernd oder ganz aus der Welt schaffen.
Bisweilen macht es den Anschein, als könne der Islam überhaupt alle Entwicklungsprobleme lösen. Doch dies ist ein Irrtum. Der Islam „rettet“ das imperiale Modell in gewissen Etappen, doch das Modell selbst führt letzten Endes in eine Sackgasse.
Und dies definiert die Schwächen des Islam. Die islamische Zivilisation ist zur Stimulierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts fast gänzlich unfähig und bestenfalls dazu imstande, von anderen Zivilisationen erreichten Modernisierungen nachzueifern.
Hier drängen sich einige Bemerkungen auf, um dem politisch interessierten russischen Leser unseren Standpunkt zu erläutern. Der Verfasser ist alles andere als ein Verehrer des Islam und der monotheistischen semitischen Religionen überhaupt. Wir Russen haben unsere eigenen Götter, von denen der vornehmste der Erste Schmied der Erde, Swarog, der Welt das Eisen geschenkt hat.
Als überzeugte Anhänger des Fortschritts können wir außerdem
nicht für ein religiöses Modell erwärmen, das keinerlei zivilisatorischen Perspektiven besitzt. Schließlich sind wir uns selbstverständlich bewußt, welche Gefahren für das russische Volk von den islamischen Regionen ausgehen.
Dies alles entbindet uns freilich nicht von der Pflicht, das Potential eines möglichen Gegners objektiv einzuschätzen. Die Stärken dieses Gegners aus primitiver ideologischer Verblendung nicht erkennen zu wollen, wäre schlechthin selbstmörderisch, und der Islam besitzt sehr wohl Stärken. Hierzu zählt vor allem, daß er sich auf die Selbstorganisation des Volkes stützt.
Dies nehmen wir bei unseren Forschungen gebührend zur Kenntnis. Wenn die Arier im Kampf um ihr Land den Sieg über die islamischen Völker davontragen und dabei arischen Werten entsprechende religiöse Systeme schaffen wollen, so müssen sie eine noch stärkere Struktur der nationalen Selbstorganisation schaffen als die Moslems. Basta.
Wir sind uns bewußt, daß unsere Erwägungen in diesem Abschnitt recht oberflächlich anmuten, doch angesichts des Genres, das wir für die vorliegende Studie gewählt haben, müssen wir auf tiefschürende Erklärungen verzichten. Die hier gestreiften Fragen sind so komplex, daß eine gebührend ausführliche Behandlung einen größeren Umfang erfordern würde als unser ganzes Buch.
Einem Leser, der unser Werk Die Eigenen und die Fremden kennt, fällt das Verständnis unseres Standpunktes wesentlich leichter; allerdings werden auch dort nicht alle hier berührten Fragen zum vorliegenden Problem behandelt.
Wie gesagt hat der Islam in der Frage der Bewahrung der imperialen Strukturen seine Form des Kompromisses gewählt und das sich stürmisch modernisierende Europa die seine. Ein Ergebnis dieses Kompromisses war die Stärkung und Entwicklung der katholischen Kirche. Der Katholizismus, der zur allgemeinen europäischen Zivilisation geworden war, bildete die ideelle und religiöse Grundlage des Versuchs, die imperialen Strukturen mit dem Fortschritt zu verbinden. Als Ergebnis dieses Kompromisses wurden die imperialen Strukturen erheblich geschwächt. Die katholische Kirche führte ihre Herde auf einen Weg, an dessen Ende die Entstehung jener modernen Nationalstaaten stand, wo die wissenschaftlich-technische Revolution dann erfolgte.
Auch hier eine Anmerkung für den politisch bewußten russischen Leser. Der Verfasser ist kein Anhänger des Katholizismus, doch auch hier gilt, daß ihn dies keineswegs der Pflicht enthebt, seine Stärken objektiv einzuschätzen. Diese bestehen vor allem darin, daß die katholische Kirche genau so mächtig war wie die staatliche Bürokratie, ganz im Gegensatz zur Orthodoxie, die nie mehr als eine Dienerin der jeweiligen staatlichen Macht gewesen ist. Gerade diese „Bipolarität“ der Macht in der katholischen Welt bot letzten Endes auch allerlei Möglichkeiten zur zivilisatorischen Entfaltung. Im übrigen gleichen sich die christlichen Geistlichen aller Schattierungen.
Doch bei der Entwicklung komplexer Systeme in Übergangsetappen der Evolution fallen scheinbar kleine Unterschiede bei diesen und jenen Faktoren oft stark ins Gewicht. Solche auf dem ersten Blick geringfügig anmutenden Unterschiede boten der katholischen – sowie der aus dieser hervorgegangenen protestantischen – Welt die Möglichkeit, einen Weg zu beschreiten, der mit der Gründung der Nationalstaaten seinen Abschluß fand.
Der moderne Nationalstaat weist – wie bereits mehrfach betont – eine ungefähr gleich große Ähnlichkeit mit dem Imperium auf wie ein dressierter Hund mit einem reißenden Wolf.
Allerdings gibt es Kräfte, welche den reißenden Wolf der imperialen Staatlichkeit um jeden Preis am Leben erhalten wollen. Wir meinen die byzantinische Orthodoxie, die keinen Kompromiß mit dem Volk und keinen Kompromiß mit dem Fortschritt eingehen will, keine anderen Waffen als plumpe Verdummung und Einschüchterung kennt und sich bei jedem politischen Machthaber anbiedert. Hierzu kommt, daß sie über jahrhundertelange Erfahrung im Schmieden tückischer Intrigen verfügt. Diese Erfahrung veranlaßt die byzantinischen Führer, darunter auch jene der orthodoxen Kirche, sich im Kampf zwischen Katholizismus und Islam auf die Seite des Islam zu schlagen. Kaiser Isaak schließt heimlich ein Bündnis mit dem östlichen Herrscher Saladin und verhindert während des dritten Kreuzzugs den Durchzug der Kreuzritter.
Es sei darauf hingewiesen, daß dies durchaus kein bloßes taktisches Manöver war, sondern eine strategische Wahl. Die Vorstellung, es gebe eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Orthodoxie und Islam, blieb im Bewußtsein der byzantinischen Bevölkerung noch lange danach lebendig. Dies liefert nach Ansicht mancher Forscher auch eine Erklärung dafür, daß die orthodoxe Bevölkerung Konstantinopels ihre Stadt 1453 nur halbherzig gegen die türkischen Belagerer verteidigte. Sie faßte den türkischen Ansturm als „Zank zwischen Brüdern“ auf...
Doch nicht genug damit. Gewisse Parallelen zwischen der byzantinischen Orthodoxie und dem Islam bewogen den illustren Historiker und Denker Arnold J. Toynbee zur Schlußfolgerung, nach dem Fall von Konstantinopel hätten die Türken anfangs sogar den Versuch unternommen, die Orthodoxie und den Islam zu einer einzigen Religion zu vereinigen (A. J. Toynbee, Postischenie Istorii [Verständnis der Geschichte], AIRIS PRESS, Moskau 2002).
Selbstverständlich wird sich die offizielle Orthodoxie mit Händen und Füssen gegen solcherlei Behauptungen verwahren. Doch sind die Gedankengebäude anderer politischer Denker wie jener, die sich um die Zeitung Savtra gruppieren und von einer orthodox-islamischen Einheit sprechen, etwa im luftleeren Raum entstanden? Kein Rauch ohne Feuer. Irgend etwas muß also dran sein.
Betrachten wir solche Tendenzen jedoch nicht behaglich aus unserer fernen Perspektive, sondern sehen wir sie mit den Augen der Menschen jener Zeit. Wenn wir die Details beiseite lassen, bot sich die Lage damals wie folgt dar: Die Kreuzritter marschieren kämpfend in Richtung Palästina, wo ihre Glaubensgenossen in schwerster Bedrängnis stecken und sehnsüchtig auf Verstärkung aus dem Westen warten. In Palästina wird ein Krieg bis aufs Messer geführt. Hüben und drüben metzeln die Widersacher oftmals auch die Zivilbevölkerung der feindlichen Seite nieder. Ich verzichte darauf, hier sämtliche Beispiele anzuführen, und erinnere lediglich an die vollständige Ausrottung der Christen von Jaffa durch die Mameluken während des achten Kreuzzugs.
Ungeachtet der Bedrängnis, in der die Christen in Palästina stecken, unterstützt das „christliche“ Byzanz die Muselmanen in ihrem Kampf gegen die Kreuzritter. Darüber kann man nur Empörung empfinden. Es ist dies ein Dolchstoß in den Rücken jener, welche die Byzantiner als „Glaubensbrüder“ betrachten. Dieser schmähliche Verrat war denn auch der Grund für die jähe Abkühlung des Verhältnisses zwischen Katholiken und Orthodoxen. Bis vor kurzem war diese Abkühlung lediglich abstrakter, „theoretischer“ Art. Doch nun ist sie real geworden.
Die Doppelzüngigkeit Konstantinopels war der Grund dafür, daß die Europäer im vierten Kreuzzug gegen Byzanz zuschlugen, die Stadt einnahmen und auf den westlichen Territorien des byzantinischen Imperiums das sogenannte Lateinische Reich gründeten. Dies geschah im Jahre 1204.
Man darf sich mit Fug und Recht fragen, weshalb denn das wirtschaftlich und militärisch starke Russenland, das laut der offiziellen Geschichtsversion damals doch bereits dem orthodoxen Glauben huldigte, Byzanz nicht zur Hilfe geeilt ist.
Vielleicht, weil es damals noch gar nicht orthodox war?
5. War das Russenland eigentlich orthodox? Nochmals zu den Organisatoren der Invasion.
Der empfindliche Leser sei gleich beruhigt: Natürlich war es orthodox. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Doch gerade da liegt der Hase im Pfeffer. Die Position der orthodoxen Kirche im Russenland war zwar äußerst stabil, aber ... nicht stabil genug. Jedenfalls nicht genügend stabil, um das Russenland zu einer Unterstützung der Byzantiner zu bewegen. Mit etwas gutem Willen kann man das damalige Russenland fast schon als laizistischen Staat mit einem außerordentlich hohen Maß an religiöser Toleranz bezeichnen.
Eine unwahrscheinliche Behauptung? Doch genau dies blieb der westliche Teil des Russenlandes, der nicht unter die Herrschaft der Nachfahren Newskis geriet – jener Teil, der zur Basis des litauisch- russischen Großfürstentums wurde und wo bis zur Vereinigung mit Polen die Orthodoxie, der Katholizismus, verschiedene Formen des Arianismus (einer sowohl der Orthodoxie als auch dem Katholizismus fremden Variante des Christentums) und sogar das Heidentum Seite an Seite koexistierten.
Laut der offiziellen Geschichtsversion soll der Arianismus übrigens schon im 4. Jahrhundert verschwunden sein, doch nach jüngsten Forschungen waren manche seiner Spielarten in Litauern und Weißrußland noch bis ins 17. Jahrhundert verbreitet (D. Kaljuschin und J. Keller, Drugaja istoria Moskovskogo Zarstva [Die andere Geschichte des Moskauer Zarentums], Moskau 2005).
Weshalb sollen wir glauben, daß sich dieses Fürstentum, wo die staatliche Sprache das Russische war, nach dem Einfall Batys und der Liquidierung des Russenlandes plötzlich „neu organisiert“ hat? Die Wirklichkeit könnte doch bedeutend einfacher gewesen sein: In den eben erwähnten Gebieten blieb alles so, wie es vor der Invasion Batys im ganzen Russenland gewesen war.
Diese Deutung ist weitaus logischer und wahrscheinlicher. Wenn sie zutrifft, war es im Russenland, das sich zwar mehrheitlich zur Orthodoxie bekannte, wo die orthodoxe Kirche aber nicht das Monopol der geistigen Macht besaß, ein Ding der Unmöglichkeit, alle Fürsten zu einer Art Kreuzzug unter anderen Vorzeichen für byzantinische Interessen zu erwärmen. Der Papst hingegen hatte es sehr wohl vermocht, die europäischen Könige, Barone und Ritter für einen Kreuzzug zur Unterstützung der Christen Palästinas zu mobilisieren.
Diese Lage der orthodoxen Kirche im Russenland entsprach den historischen Voraussetzungen voll und ganz. Die Vorstellung, die byzantinische Orthodoxie habe im Russenland schon seit dem Fürsten Wladimir das geistige Monopol besessen, ist nämlich ein Irrtum, der von der offiziellen Orthodoxie seit dem Einfall Batys sorgsam kultiviert worden ist. So einfach lagen die Dinge durchaus nicht.
Die in den Chroniken wiedergegebene Mär, wonach sich Wladimir für den orthodoxen Glauben entschieden haben soll, hält keiner ernsthaften Prüfung stand. Sie ist voll von Unstimmigkeiten, Widersprüchen und Anachronismen, die S. Waljanskis und D. Kaljuschnys in ihrem bereits mehrfach erwähnten Buch aufgezeigt haben. Doch wir, die wir das Genre eines historischen Kriminalromans gewählt haben, beginnen mit folgendem Hinweis: Es liegen viele Indizien dafür vor, daß das Russenland ursprünglich, jedenfalls zur Zeit Olgas, nach katholischem Brauch getauft worden ist. Eine ganze Reihe dieser Indizien findet man bei S. Waljanski und D. Kaljuschny; wir fassen sie hier kurz zusammen:
1) Die russische Bibelübersetzung läßt deutlich erkennen, daß sie nicht anhand byzantinischer, sondern lateinischer Originale angefertigt worden ist. Beispielsweise fehlt in den byzantinischen und griechischen Originalen das dritte Buch Esra. Dieses findet sich einzig und allein in der lateinischen Vulgata sowie in der russisch-orthodoxen Variante der Bibel.
Neben diesem höchst gewichtigen Argument führen Waljanski und Kaljuschny noch zahlreiche andere an, und wir verzichten darauf, sie alle zu wiederholen, sondern begnügen uns mit einigen wenigen:
2) 1634 sprach Papst Urban VIII. Wladimir den Täufer heilig. Keinem anderen orthodoxen Heiligen ist je eine solche Ehrung widerfahren.
3) In der russischen Sprache erhielt sich eine Unmenge kirchlicher Ausdrücke, die nicht griechisch-byzantinischen, sondern lateinischen Modellen nachgebildet sind. Zu diesen Wörtern gehören pop („Pope“), krest („Kreuz“), altar, zerkow („Kirche“) etc.
Die Geschichte, wonach der Benediktinermönch Alberg 961 aus Deutschland nach Kiew geschickt worden sein soll, um dort die Stelle eines „russischen Bischofs“ anzutreten, ist recht undurchsichtig. Die orthodoxen Historiker verweisen darauf, daß die Mission Alberts gescheitert ist, während ihre Gegner hervorheben, daß Alberg nach Kiew eingeladen wurde.
Fazit: Die Geschichte der Einführung des Christentums im Russenland ist wahrhaftig nicht so einfach, wie manche wähnen. Andererseits liegen viele Beweise dafür vor, daß das Russenland das Christentum ursprünglich vom Patriarchat der Horde übernommen hat, nämlich aus Bulgarien. Allerdings herrschten zur Zeit Wladimirs des Täufers in Byzanz und Bulgarien unterschiedliche Formen der Orthodoxie. Beweise hierfür findet man in J. Tabows Buch Kogda krestilas Kiewskaja Rus [„Als das Kiewer Russenland getauft wurde“], Verlag Newa, St. Petersburg 2003. Tabows Beweisführung sei hier kurz resümiert:
1. Die von Wladimir gegründete Desjatinnaja-Kirche in Kiew wurde 50 Jahre später ein zweites Mal eingeweiht. So verfuhr man nur mit von Ketzern errichteten Gotteshäusern, und vom Standpunkt der byzantinischen Orthodoxie aus war die wolgabulgarische Kirche zur Zeit Wladimirs häretisch.
2. Es gibt Grund zur Vermutung, daß die letzte Frau Wladimirs, Anna, nicht die Schwester, sondern die Base byzantinischer Kaiser und der bulgarischen Zarin war. In einer Reihe von Chroniken wird sie unverblümt als „Bulgarin“ bezeichnet. Doch in diesem Fall muß Anna, die der Überlieferung nach die Taufe des Russenlands möglich gemacht hat, die bulgarische Variante der Orthodoxie vertreten haben.
3. Die ersten Kirchen im Russenland wurden in bulgarischem architektonischem Stil gebaut. Insbesondere wiederholt die Desjatinnaja-Kirche fast genau den Stil des Doms von Pereslawl. In Bulgarien selbst wurden solche Kirchen nach der Eroberung des Landes durch Byzanz meist als häretisch zerstört. Der Stil der eigentlichen byzantinischen Kirchen ist ganz anders.
Wie erklärt es sich übrigens, daß die „Tataren“ – richtiger wäre: die Heere Newskis – die Desjatinnaja-Kirche in Kiew zerstörten, während sie anderswo Kirchen und Klöster unter ihre Fittiche nahmen? Vielleicht darum, weil die byzantinischen Orthodoxen entsprechende Kirchen mit dem gleichen Eifer abgerissen hatten?
Die einzelnen Steine fügen sich allmählich zu einem immer lückenloseren Mosaik zusammen. Nach dem – von der byzantinischen Orthodoxie vorbereiteten und finanzierten – Einfall Batys verfuhr man mit einem der letzten Denkmäler häretischen Charakters genau so, wie zu erwarten gewesen war. Offenbar erschien die 1037 erfolgte zweite Einweihung in Anbetracht der neuen Situation unzureichend.
Der interessanteste Punkt, auf den Tabow hinweist, ist unserer Meinung nach jedoch das, was er über arianische Kirchen zu sagen hat. Rufen wir uns in Erinnerung, daß in Byzanz zuerst der Arianismus herrschte, ehe sich die Orthodoxie durchsetzte. Doch viele byzantinischen Untertanen blieben dem arianischen Glauben treu, beispielsweise die Goten, welche die kaiserliche Leibgarde stellten.
Die arianischen Kirchen waren daran erkennbar, daß sie aus weißem Stein und Ziegelstein gebaut und außen nicht einfach weiß, sondern rot-weiß gestrichen wurden. Die Verbindung dieser beiden Farben wirkte sehr anziehend. Zur Verstärkung des äußeren Effekts wurden einige Teile der Kirche außen mit Streifen schwarz-goldenen Ornaments verziert. So boten diese Gotteshäuser einen außergewöhnlich farbigen Anblick. Doch der byzantinischen Auffassung zufolge war dies für eine Kirche nicht statthaft. Deshalb wurden die arianischen Kirchen nach dem Triumph der Orthodoxie zerstört oder, als dies nicht mehr als nötig erachtet wurde, außen weiß gestrichen.
Wie groß war unsere Verblüffung, als wir erfuhren, daß die Kirchen in der Residenz Iwans des Schrecklichen in Alexandrowsk ausgerechnet aus rotem Ziegelstein und weißem Stein erbaut und außen auf verschiedener Höhe mit rot-golden Bordüren verziert worden waren! Einheitlich weiß angestrichen wurden diese schönen Gebäude erst nach Iwan dem Schrecklichen, zur Zeit der Romanow-Dynastie. Die Touristenführer erklären dies verlegen damit, daß dieser Schritt erfolgt sei, „um Farbe zur Aufrechterhaltung der Bordüre zu sparen“. Deutet dies etwa nicht darauf hin, daß noch Iwan der Schreckliche Arianer war?
Doch diese Frage ist nicht Gegenstand des vorliegenden Buchs, auch wenn man in diesem Zusammenhang kaum umhinkommen wird, folgenden Ausspruch Iwans des Schrecklichen gegenüber seinen orthodoxen Kritikern zu zitieren: „Welcher Glaube der richtige ist, weiß einzig und allein Gott. Uns ist es nicht vergönnt, dies zu wissen.“ Je weniger exotisch ein Gedankenkonstrukt ist, desto überzeugender wirken selbst die unerwartetsten Schlußfolgerungen, die sich aus ganz unspektakulären Voraussetzungen ergeben.
Daß sich im Russenland, und darüber hinaus in Rußland, noch sehr lange Spuren (auch solche materieller Art) einer Kooexistenz verschiedener christlicher Konfessionen finden, belegen die Kirchen von Alexandrowsk höchst anschaulich. Sie sind freilich nicht das einzige Zeugnis dafür, daß der Arianismus noch lange Zeit überlebte. Sogar in der Povest vremmench let, einer von den Popen vielfach überarbeiteten Chronik, steht nämlich, Fürsten Wladimir habe das arianische Glaubensbekenntnis „Der Sohn aber ist dem Vater ähnlich und wie er ohne Anfang“ ausgesprochen. Doch laut der orthodoxen Lehre ist der Sohn dem Vater nicht ähnlich, sondern gleich.
Hier gibt es wohl nichts mehr hinzuzufügen. Alles ist auch so klar.
Aus all dem bisher Gesagten ziehen wir folgenden Schluß:
Vor dem Einfall Batys koexistierten im Russenland mehrere christliche Konfessionen, von denen die byzantinische Orthodoxie zwar die verbreitetste, jedoch keinesfalls die einzige war und das geistige Leben durchaus nicht monopolartig kontrollierte. Außerdem war sie nicht die erste Variante des Christentums gewesen, die im Russenland Fuß gefaßt hatte.
Nach dem Einfall Batys wird die byzantinische Orthodoxie in den von Baty und Newski eroberten Teilen des Russenlandes zur einzigen Religion. Doch weiter westlich, in den nicht ihrer Herrschaft unterstellten Gebieten, den Territorien des großen litauisch-russischen Fürstentums, bestehen auch weiterhin mehrere Konfessionen nebeneinander.
Wiederholen wir unsere Frage: In wessen Interessen lag die Errichtung eines Monopols der orthodoxen Kirche in Rußland? Die Antwort ist eindeutig. Es lag in den Interessen der byzantinischen Orthodoxie sowie deren Vertretung im Russenland selbst. Sie waren auch die hauptsächlichen Anstifter der Invasion Batys gewesen.
6. Plan und Verlauf des Feldzugs. Erklärung der ersten Merkwürdigkeiten.
Die nach der Einnahme Konstantinopels durch die Kreuzritter im Jahre 1204 noch übriggebliebenen Reste des byzantinischen Imperiums konsolidieren sich in Form des sogenannten Imperiums von Nikäa, eines kleinen Staates im nördlichen und zentralen Teil Kleinasiens, der den katholischen Westen als seinen Hauptfeind betrachtete.
Die Byzantiner verfügen weiterhin über gigantische Reichtümer (es gibt Anlaß zur Vermutung, daß sie diese vor dem Fall Konstantinopels aus der belagerten Stadt wegzuschaffen vermochten), ein feingesponnenes Netz der Diplomatie sowie – um es in moderner Sprache auszudrücken – einen effizienten Geheimdienst mit vielen Kontakten. Die Stärke dieses unbesiegten Imperiums ist sein Recht, im Namen der byzantinischen Orthodoxie aufzutreten, obwohl der Patriarch von Konstantinopel im Grunde nichts weiter als eine Geisel der Kreuzritter ist.
Damit hat es sich aber. Weitere Trümpfe besitzt diese Nachfolgerin des byzantinischen Reiches nicht. Ihr Heer ist schwach, ihre Bevölkerung erschöpft, ihr Produktionspotential erbärmlich gering.
Unter diesen Umständen lauert das Imperium von Nikäa auf die erstbeste Gelegenheit, seinen Feinden einen wuchtigen Schlag zu versetzen. Doch wie und wo soll es zuschlagen? Gewiß nicht an der Grenze zur westlichen Welt und nicht mit seinen eigenen, vom katholischen Westen bereits arg dezimierten Streitkräften. Vielversprechender ist es doch, dem Westen von fremder Hand einen Stich ins Herz versetzen zu lassen! Es gilt also mittels Geld, Diplomatie und Intrigen einen Handlanger im Westen selbst zu rekrutieren – oder besser noch gleich mehrere Handlanger. Gibt es in Europa solche?
Jawohl, es gibt sie. Da wäre zunächst Friedrich II. von Hohenstauffen zu nennen, der Nachfolger des deutschen Kaisers Heinrich VII., der sich mit dem Papst zerstritten hatte und von der katholischen Kirche exkommuniziert worden war. Somit liegt die Feindschaft gegen den Papst bei den Hohenstauffern gewissermaßen im Blut. Übrigens standen sowohl Heinrich als auch Friedrich auf Kriegsfuß mit den Städten und stützten sich auf den Adel; „klassenmäßig“ standen sie den Byzantinern somit nahe.
Doch Friedrich ist vorderhand erst König (seit 1212); den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wählen die Kurfürsten, Wahlen kosten Geld, und König Friedrich ist pleite: Der dritte Kreuzzug hat sein ganzes Vermögen verschlungen. Trotz all dieser Hindernisse wird er 1220 zum Kaiser gewählt. Er muß also von irgendwem Geld bekommen haben. Etwa von Nikäa?
Um allein mit dem Papst anzubändeln, ist Friedrich zu schwach; er braucht noch einen Verbündeten, der an einer anderen Front zuschlägt. Wie wäre es mit dem Versuch, mit Hilfe von Nikäa das Russenland von der Leine zu lassen?
Dieser Gedanke muß dem Hohenstauffern damals gekommen sein, und er muß die ersten diesbezüglichen Pläne geschmiedet haben. Im Jahre 1223, also bereits drei Jahre nach dem unerwarteten Triumph Friedrichs, erfolgte gewissermaßen eine Generalprobe der Invasion Batys. Wir sprechen von der halblegendären Schlacht bei Kalka. Die historischen Hintergründe dieses Geschehens liegen im dunkeln; ihre Darstellung wimmelt nur so von Widersprüchen und Unstimmigkeiten, die von vielen alternativen Historikern analysiert worden sind. Wir werden dies hier nicht tun. Für uns sind hier nur zwei Fakten von Bedeutung, die in keiner Version der Ereignisse bestritten werden. Wie eben erwähnt wurde das Russenland 1223 wieder aus dem Osten angegriffen. Doch diesmal scheiterte das Unterfangen, vielleicht, weil es zu wenig gründlich vorbereitet worden war. Die „Tataren“ und anderes fahrende Volk waren im Sommer zusammengetrommelt worden, also zu einer Jahreszeit, wo man durchaus mit der Inszenierung irgendwelcher Abenteuer in der Steppe rechnen mußte. Der Feldzug selbst erfolgte von eben dieser Steppe aus. Doch obgleich die vereinigten Streitkräfte der russischen und polowzischen Fürsten laut der offiziellen Geschichtsversion eine vernichtende Niederlage erlitten, nutzten die „Tataren“ diesen glänzenden Sieg nicht etwa aus, sondern zogen sich hinter die Wolga zurück! Manchen Angaben zufolge erlitten sie beim Übersetzen schwere Verluste, und zwar durch einen Überfall der ... Kasan-„Tataren“ (richtiger wäre der Ausdruck „Wolgabulgaren“). Sich daraus einen Reim zu machen, ist außerordentlich schwierig.
Schon beim Auftakt zu diesem Feldzug ging vieles schief. Das aufgebotene „tatarische“ Heer wurde bereits in der Steppe in Scharmützel mit den „polowezkischen“ Fürsten verwickelt, was einen Zeitverlust nach sich zog und bewirkte, daß der Feind schon im voraus über den bevorstehenden Angriff im Bild war. Für eine dermaßen erbärmliche Planung militärisch-politischer Aktionen bekommt man in Spionage-Schulen die Note „ungenügend“.
Ja, meine Herren aus Nikäa. Diesmal ging es nicht um Wahlen in Europa, wo man sich den Sieg kaufen konnte. Im Russenland entschied Geld bei weitem nicht alles, denn dieses war noch ein weißes, arisches Land, das Russenland der Meister und Ritter, und nicht die „Russische Föderation“ des Jahres 2004. Doch nur Geduld. Es wird euch schon noch gelingen, daß reine, ehrliche Russenland in ein korrumpiertes Rußland zu verwandeln; ihr dürft euch bei den Vorbereitungen nur nicht übereilen.
Vermutlich hat man dies alles in Nikäa begriffen und den nächsten Versuch bedeutend sorgfältiger geplant.
Im Jahre 1237 versammelten sich die Invasionsstreitkräfte im Winter unmittelbar vor der Grenze des Russenlandes. Unter den russischen Fürstentümern und Fürsten hatte man ein „schwaches Glied“ gefunden – die Herrschaft der Nachfahren von Wsewolod Bolschoje Gnesdo, der dem Feind „sozial nahe“ gestanden und danach gestrebt hatte, den Byzantinismus selbst im Russenland einzuführen. In der Familie seiner Nachkommen fanden sich in der Kunst der Verschwörung wohlbewanderte junge Männer, die bereit waren, als Gegenleistung für das Recht auf unbeschränkte Machtausübung ihren eigenen Bruder zu verkaufen – ganz wörtlich.
Es liegt auf der Hand, daß die Verschwörer auch die russenländische Kirche zu einer aktiven Teilnahme an diesem Projekt anspornten. Genauer gesagt, sie wählten sie zu ihrer wichtigsten Partnerin innerhalb des Russenlandes.
Woher konnte ein Angriff auf Wladimir und Susdal kommen? Am besten natürlich aus dem Osten. Unter den Wolgabulgaren Feinde des Fürstentums von Wladimir zu finden, war geradezu ein Kinderspiel, hatte dieses doch schon sehr oft gegen die Wolgabulgaren gekämpft. Doch die Erfahrung von Kalka lehrte, daß man mit schablonenmäßig durchgeführten Angriffen auf das Russenland nicht weit kam. Die Wolgabulgaren lehnten den Plan entschieden ab. Es ist fürwahr merkwürdig – die „Tataren“ sind gegen ein Projekt zur Errichtung eines „Tatarenjochs“! Schon nach der Schlacht von Kalka hatten sie den Vorgängern Batys eine gehörige Lektion erteilt. Am schwersten aber fällt ins Gewicht, daß es mit dem Einfluß der byzantinischen Orthodoxie in Wolgabulgarien nicht allzu weit her ist. In Wolgabulgarien kann man sich eine blutige Nase holen, so wie man 1223 in den polowezkischen Fürstentümern eine blutige Nase geholt hat. Es gibt dort einfach nicht genug Christen der byzantinischen Richtung. Die Steppenbewohner sind Heiden, nestorianische Christen und arianische Christen.
Deshalb wird beschlossen, die Invasionsarmee in der Steppe unmittelbar neben den Grenzen des Russenlandes aufzustellen, zwischen den polowezkischen Gebieten und den Gebieten des Fürstentums von Rjasan, in einem „neutralen Niemandsland“. Im Winter ist es dort zwar nicht so kalt, daß man erfriert, doch verlangsamt die Kälte jede Aktivität erheblich. Die Wintersteppe, wo die Menschen ihre Winterlager kaum verlassen, weist Ähnlichkeit mit einer Stadt in der Nacht auf, wo jedermann in seinem Haus bleibt.
Außerdem sit die Südgrenze des Fürstentums von Rjasan keine gewöhnliche Grenze. Es ist die Grenze zwischen dem eigentlichen Russenland und der Steppe, den „polowezkischen“ oder kosakischen Ländern oder wie man sie sonst noch nennt. An solchen Grenzen läßt sich im Mittelalter in der „toten Saison“ ohnehin kaum jemand blicken, und man kann unbemerkt eine recht große Streitkraft zusammenziehen. Freilich muß man diese dann ohne Verzug im Marsch setzen, denn sonst gibt es bald kein Futter für die Pferde und keine Nahrung für die Menschen mehr.
Wahrscheinlich war dies die schwierigste Aufgabe. Klammheimlich, in einzelnen Gruppen, unter Umgehung größerer Ortschaften, mußte eine „Horde“ aufgeboten werden. Doch diesmal war alles generalstabsmäßig durchdacht. Das byzantinische Geld muß reichlich geflossen sein, und in der Steppe hatten die Urheber des Plans man alle Unzufriedenen unter ihrem Banner versammelt.
Dazu kam folgendes: Da die byzantinische Kirche mit den Verschwörern unter einer Decke steckte, spielten die orthodoxen Klöster im Süden des Russenlandes bei der Mobilisierung der Invasionsstreitkraft wohl eine recht bedeutende Rolle als Stützpunkte. Wie viele dieser Klöster es an der Grenze zwischen der Steppe und dem Fürstentum von Rjasan gegeben hat, sei dahingestellt, doch zweifellos dienten sich bei der Mobilisierung der Horde als Basen.
So sammelt sich die Horde und marschiert sofort auf Rjasan zu. Daß Baty ohne Säumen gegen Rjasan zuschlägt, läßt sich ohne weiteres erklären: Gelingt ihm die Eroberung der Stadt nicht, muß das gesamte Projekt scheitern; sein Heer zerfällt dann, und die bewaffneten Streitkräfte der selbstbewußten Steppenfürsten machen aus dem auseinanderstiebenden Gesindel Kleinholz, genau wie es die Wolgabulgaren nach Kalka getan haben.
Doch Rjasan fällt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Bischof der Stadt hierzu sein Scherflein beigetragen – dafür spricht, daß er diese unbehelligt verlassen kann, während ihre Bevölkerung großenteils niedergemetzelt wird. Können Sie, lieber Leser, sich beispielsweise vorstellen, der erste Sekretär der Kiewer Sektion der KPDSU hätte nach der Umzingelung und Einnahme Kiews im Jahre 1941, als die Deutschen die gesamte Führung der sowjetischen Heeresgruppe vernichtend geschlagen hatten, die ukrainische Kapitale „erfolgreich verlassen“ können, wie es der Bischof von Rjasan den Chroniken zufolge tat? Der Verfasser kann es sich einfach nicht vorstellen. Wenn es aber doch geschehen wäre, würde jedermann den betreffenden ersten Sekretär als deutschen Spion verdächtigen. Dementsprechend muß der „erste Sekretär“ – pardon, Bischof – von Rjasan ein Spion Batys gewesen sein.
Doch die Fürstenfamilie von Rjasan hatte bei dem Projekt nicht die Hand im Spiel und mußte deshalb sterben.
Nachdem Batys Armee in Rjasan große Mengen an Futter, Proviant und auch Waffen erbeutet hatten, zog sie nach Norden. Der Großfürst von Wladimir verhielt sich in dieser Situation äußerst widersprüchlich, ja unbegreiflich. Daß er Rjasan nicht zur Hilfe kam, kann man ja noch verstehen, auch wenn jemand, der sich an die offizielle Geschichtsversion hält, angesichts dieser Passivität die Stirne runzeln muß. Immerhin war das Fürstentum von Tschernigow weiter von Rjasan entfernt als Wladimir, was ein Heer unter der Führung Ewpati Kolowrats aber nicht daran hinderte, Rjasan zur Hilfe zu eilen.
Während ich diese Zeilen schreibe, schnürt es mir die Kehle zu. Kolowrat heißt das heidnische Sonnensymbol. Und ein Wojewode mit diesem Namen geht in den sicheren Tod. Er tritt zum Kampf gegen eine mit schmutzigem byzantinischem Geld aufgebotene Horde an
und fügt den Eindringlingen empfindliche Verluste zu. Ach, hätte es doch damals im Russenland lauter solche Kolowrate gegeben; sie hätten unter diesem arischen Sonnenzeichen gefochten und die Erde unseres reinen Russenlandes nicht dem imperialen Geschmeiß überlassen.
Doch die byzantinische Orthodoxie hatte das Russenland bereits durch und durch vergiftet. Es war geschwächt und vermochte nicht den gebotenen Widerstand zu leisten. Nehmen wir den Fall des Großfürsten von Wladimir, Juri. Wahrscheinlich war er teilweise in das Projekt eingeweiht. Er rührte keinen Finger für Rjasan – vielleicht, weil man ihm irgendwelche Versprechungen gemacht hatte, die man dann nicht hielt? Sehr vieles spricht für diese Version.
Jedenfalls ist er verblüfft über das Tempo, mit dem sich Batys Scharen fortbewegen, erst recht aber über das Ziel, auf das sie zumarschieren. Doch schließlich bekommt Baty hier, auf dem Gebiet des Fürstentums von Wladimir, Hilfe von der Kirche sowie der Agentur Brüderchen Jaroslaws. Batys Krieger bewegen sich auf dem Territorium des Fürstentums von Wladimir so ungehindert fort wie bei einer Parade und marschieren schnurstracks auf Juris Regierungssitz zu, die Stadt Wladimir. Dabei beeilt sich Baty durchaus nicht, die Rechte Juris anzuerkennen, und läßt nicht erkennen, daß er diesem gegenüber freundliche Absichten hegt. Juri gerät in Panik und flüchtet Hals über Kopf aus Wladimir, entsendet dann aber ein dreitausendköpfiges Heer, um die Stadt zu entsetzen. Doch diese Armee erreicht ihr Ziel nicht. Juri ist ratlos. Wahrscheinlich begreift er, daß er verraten und verkauft ist, und der Tod ereilt ihn am Flusse Sit.
Auch an dieser Geschichte ist sehr vieles unklar. Am Flusse Sit soll eine Schlacht zwischen Juri und der Horde stattgefunden haben – doch der Fürst wurde von einem seiner eigenen Gefolgsleute getötet worden sein! Vermutlich handelte es sich also nicht um eine Schlacht, sondern um eine Meuterei des eigenen Heeres im Angesicht des Feindes.
Warum eigentlich nicht? Schließlich war Juris Heer orthodox, und seine orthodoxen Krieger hörten im Zweifelsfall auf die Popen und nicht auf den Fürsten. Unwahrscheinlich? Im Gegenteil, äußerst wahrscheinlich! Viele Historiker verstehen nicht, wie eine viertausend Mann umfassende Truppe Iwans III. eine zahlenmäßig um das zehnfache stärkere Nowgoroder Armee am Flusse Schelon vernichtend schlagen konnte, und saugen sich Erklärungen wie die aus den Fingern, die zaristischen Moskauer seien den demokratischen Nowgorodern halt überlegen gewesen. In Wahrheit war alles sehr viel einfacher. Die Popen hatten die Nowgoroder Kavallerie (die stärkste Angriffswaffe jener Zeit) durch Agitation von der Teilnahme an der Schlacht abgehalten, so daß sich die Nowgoroder Infanterie dem Ansturm der Moskauer Kavallerie zu ihrem Entsetzen schutzlos ausgesetzt sah. Und dies entschied den Ausgang der Schlacht.
Vielleicht geschah auch beim Sit etwas Ähnliches? Vieles spricht dafür.
Wir verzichten darauf, das aus der Geschichte bekannte Verhalten Juris zu analysieren. Betrachtet man es jedoch in einem allgemeinen Zusammenhang, so erkennt man sogleich, daß er sich nicht so benahm, wie man von einem erfahrenen Herrscher erwarten würde, sondern wie ein Mann, den man „hereingelegt“ hatte. Hereingelegt wurde er von Leuten, denen er offenbar vertraut hatte. Dies hätte er besser unterlassen. Ein Herrscher sollte ein Minimum an Menschenkenntnis besitzen, und besonders für einen Herrscher hatte Inkompetenz damals unerquickliche Folgen.
So wurde Juri also umgebracht. Doch gewährte man ihm in Wladimir ein zivilisiertes Begräbnis. Die Stadt selbst wurde natürlich geplündert und gebrandschatzt, doch keinesfalls so total zerstört wie Rjasan, und die Fürstenfamilie ereilte keineswegs dasselbe grause Los wie jene von Rjasan. All dies spricht dafür, daß die Fürstenfamilie von Rjasan gegen die Invasion Batys gewesen war und der „im Interesse der Sache“ betrogene Juri sie entweder mitorganisiert oder zumindest nichts getan hatte, um sie zu verhindern.
Kurzum, das Fürstentum wurde in Rekordzeit unterworfen. Daß die Städte um so weniger Widerstand leisteten, je größer sie waren, mutet erstaunlich an – jedoch nur auf den ersten Blick. Je größer eine Stadt war, desto zahlreicher waren auch die dort lebenden Kleriker, die mit Baty und Jaroslaw unter einer Decke steckten. Dazu kommt, daß Jaroslaw in den großen Städten vermutlich aus Randexistenzen sein eigenes Agentennetz aufgebaut hatte; solcher Figuren pflegten sowohl er selbst als auch seine Nachfahren sich mit Vorliebe zu bedienen.
In kleinen Städten hingegen läsest sich ein solches Agentennetz selbst in seinem eigenen Fürstentum nur schwer aufbauen. Doch dies fällt nicht sonderlich ins Gewicht. Da Baty in den großen Städten über ein solches verfügt und sich der Unterstützung der Kirche erfreut, erobert er das Großfürstentum von Wladimir buchstäblich im Handumdrehen.
Klöster, Kirchen und die orthodoxe Geistlichkeit werden unter Schutz gestellt. Dies wird von Historikern aller Schattierungen einmütig anerkannt wird. Die Herren Hofhistoriker erklären es mit der „religiösen Toleranz“ der Tataren. Aber meine Herren, ich bitte Sie! Wie haben sich diese in religiösen Fragen ach so toleranten Tataren denn drei Jahre später aufgeführt, nachdem sie den Rhein überschritten hatten? Hierzu später mehr.
Daß Kirchen und Klöster rigoros geschützt wurden, erinnert stark an die Anweisungen, die eine internationale Armee ihren Verbündeten hinter den feindlichen Linien zu erteilen pflegt. So wichtige Verbündete müssen entsprechend verdeckt handeln. Man darf sich nicht darauf verlassen, daß die verantwortlichen Kommandanten mittleren und niedrigeren Ranges schon richtig handeln werden, sondern befiehlt ihnen ausdrücklich, solche Objekte zu beschützen und nicht nur, sie „unangetastet zu lassen“ oder „sich des Plünderns zu enthalten“.
Die kleinen Städte nimmt die ständig wachsende Armee Batys einfach im Sturm ein. Nun, wo er von Jaroslaw unterstützt wird und sich dessen Leute auf die Seite der Horde geschlagen haben, schwillt das Invasionsheer unaufhörlich an, und die Leiter der Operation können es in verschiedene Abteilungen unterteilen, welche die bereits unterworfenen großen Städte als Stützpunkte benutzen und dann ihre Eliteeinheiten zur Eroberung der kleinen Städte aussenden.
Daß die „tatarische Horde“ andauernd Verstärkung erhielt und dadurch an Größe zunahm, räumen die traditionellen Historiker zähneknirschend ein, erklären es jedoch damit, es habe sich je zur Hälfte um Kriegsgefangene und um Soldaten gehandelt, um eine Art mittelalterliches Strafbataillon. Die alternativen Historiker kontern, dieses „Strafbataillon“ sei doch wohl ein wenig gar zu groß gewesen; allem Anschein nach habe es nach der Einnahme Wladimirs bereits mehr als die Hälfte der Truppen Batys umfaßt.
Ein feines Strafbataillon, fürwahr! Gewissen Unterlagen zufolge bestand sogar Batys Leibgarde aus russischen Soldaten. (A. W. Poljuch, 2013 god. Wospominanija o buduschtschem [„Das Jahr 2013. Erinnerungen über die Zukunft“], OLMA-PRESS, Moskau 2005).
Dies schreibt übrigens nicht bloss A. Poljuch. Der weit hochkarätigere Forscher L. N. Gumiljow erwähnt die „russische Garde“ Batys praktisch in all seinen Werken, in denen er das Problem der Invasion Batys und des Tatarenjochs zur Sprache bringt.
Das alles ist durchaus plausibel und logisch. Ein hypothetischer Lenker des Baty-Projekts oder ein angeworbener Teilnehmer an diesem mußten zwangsläufig einer unentwegten Kontrolle seitens der Vertreter des „verantwortlichen Vollstreckers“ unterstehen, also zuerst Jaroslaws und später Alexander Newskis.
Bezeichnenderweise liegen sogar indirekte Hinweise darauf vor, daß es einen „Brief Batys“ an Newski gab, in dem ersterer letzteren bat, seinen Sohn unter seine Fittiche zu nehmen und zu einem Krieger von echtem Schrot und Korn zu erziehen. (Auch hierauf weist A. W. Pljuchow in seinem eben erwähnten Buch hin.) Offenbar hatten die ihm zur Verfügung gestellten Leibwächter, bei denen es sich um Newskis Spezis gehandelt haben dürfte, Baty mächtig beeindruckt. Dies ist übrigens eine weitere klare Widerlegung der Geschichte vom „Tatarenjoch“ und der „Eroberung“ des Russenlands durch fremde Eindringlinge. Man stelle sich dies einmal vor: Der „Sieger“ bittet den „Besiegten“, seinen Sohn zu einem „Krieger von echtem Schrot und Korn“ zu erziehen! Dies kann doch nur heißen, daß er keineswegs ein Sieger, sondern lediglich ein Juniorpartner war, der seinen mächtigeren Verbündeten respektvoll um einen solchen Gefallen bat.
Kehren wir nun zu unseren Darlegungen zurück. Das Heer „Batys“ kämpft bereits in typisch russischem Stil; es kann unter winterlichen Bedingungen auf zugefrorenen Flüssen manövrieren und weiß genau, wo die nächsten Versorgungsstützpunkte liegen. Doch der Feldzug ist noch längst nicht beendet. In Nowgorod herrscht der Sohn Jaroslaws, der künftige Newski. Und die Armee schwärmt auf dem ganzen Territorium des Nowgoroder Fürstentums aus, um den Triumph von Wladimir zu wiederholen. Nun tritt aber die erste Panne in dem bisher reibungslos funktionierenden Plan auf. Eine Kleinstadt auf dem Gebiet des Nowgoroder Fürstentums, Torschok, leistet zwei Wochen lang Widerstand. Es wird klar, daß man mit den in Wladimir erfolgreichen Mitteln auf dem Territorium des freien Nowgorod nicht durchkommt. Jaroslaws Sohn Alexander, der gewählte Fürst von Nowgorod, hat es nicht fertiggebracht, ein effizientes Agentennetz aufzubauen, und der Einfluß der byzantinischen Kirche ist im hochentwickelten, freien Nowgorod nicht besonders groß.
Und überhaupt – ist die Kirche in Nowgorod zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon byzantinisch? Immerhin wird die Stadt bis zu Iwan dem Schrecklichen, also noch 350 Jahre lang, eine Brutstätte aller möglichen „Ketzereien“ sein. Die Führung der Operation sieht, daß der von Baty aufgebotene Haufen trotz seiner Verstärkung durch Männer aus Wladimir und Susdal nicht schlagkräftig genug ist, um sich ohne wirksame Unterstützung im Hinterland des Gegners durchzusetzen. Und die Nowgoroder haben sich vor noch nicht allzu langer Zeit, im Jahre 1216, bei Lipiz, äußerst erfolgreich gegen die Truppen des Fürstenhauses von Wladimir geschlagen. Sie machten dabei so viele Gefangene, daß sie diese anschließend billiger als Schafe für je zwei Nogat (aus dem Nogat wurde später die Kopeke) verkauften.
Wie man im Hinterland des Feindes operiert, hat der Präzedenzfall der von Kolowrat geleiteten Truppe aus Tschernigow bereits gezeigt. Es heißt umkehren und von der Gegend um Tschernigow das Hinterland verstärken. Dies, und nicht eine mythische Verschlammung des Terrains (eine solche trat damals nicht vor April ein, und Batys Heer brach den Vormarsch auf Nowgorod Mitte März ab) liefert die Erklärung dafür, daß die Invasionsarmee den Befehl erhielt, haltzumachen.
Baty wendet sich nun gegen Süden.
Doch so einfach ist dies alles nicht. Alexander bleibt in Nowgorod an der Macht. Er ist offenbar nicht als Agent Batys und seines eigenen Vaters in Erscheinung getreten. Daß sich Baty und Jaroslaw nach Süden wenden, ist vom Standpunkt ihrer militärischen Interessen aus vollkommen verständlich, doch vermutlich gelingt es Alexander, dies seinem eigenen diplomatischen Talent zuzuschreiben. Hier liegen die Wurzeln des Mythos von seinen genialen diplomatischen Fähigkeiten. Dieser Mythos ist für die Leiter des Projekts übrigens äußerst nützlich, brauchen sie doch einen Mann, der das Vertrauen der Nowgoroder genießt. Die Nowgoroder wissen ja nicht, was Jaroslaw und Baty wissen; sie vermögen deren reale Kräfte nicht einzuschätzen und können sich kein Bild davon machen, wie gefährlich Baty für sie wirklich ist und welche Gefahr umgekehrt Baty droht.
In dieser Situation des reinen Informationskrieges spielen die Anhänger von Byzanz in Nowgorod bereits eine bedeutende Rolle. Wenn sie dem Feind schon die Tore der Stadt nicht zu öffnen vermögen, so können sie doch wenigstens Gerüchte verbreiten und den Mythos schaffen, die „unbesiegbaren“ Tataren (die ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Stärke die Kleinstadt Torschok in zwei Wochen nicht zu erobern vermochten) hätten ihren Vormarsch auf Nowgorod einzig und allein dank dem diplomatischen Talent Alexanders abgebrochen.
Somit kontrolliert Alexander Nowgorod, indem er seine Neutralität gewährleistet. Für Baty und Jaroslaw ist dies vorerst ausreichend, ja sogar mehr als ausreichend. Die Erfahrung von Torschok, der Angriff Kolowrats und die anschließenden Schwierigkeiten mit Koselsk und Smolensk lassen erkennen, daß Baty und Jaroslaw vor argen Problemen stünden, wenn die Nowgoroder Armee zum Kampf provoziert würde. Deshalb stoßen Jaroslaw und Baty auf das Gebiet des Fürstentums von Tschernigow vor. Wir schreiben bewußt Jaroslaw und Baty und nicht umgekehrt. Es ist schier unglaublich, wie es unsere „patriotischen“ Historiker fertigbringen, die Augen vor nackten Fakten zu verschließen, die trotz der jahrhundertelangen klerikalen und imperialen Zensur bekannt sind. Auch die offizielle Geschichtsversion lautet nämlich wie folgt: Sobald Baty zu seinem Feldzug nach Westen aufgebrochen war, fiel Jaroslaw in die Michael von Tschernigow unterstehenden Gebiete ein, eroberte die Stadt Kamenez und nahm die Ehegattin des Fürsten gefangen; Michael selbst vermochte sich der Gefangenschaft vorerst zu entziehen.
Somit ist klar, daß Jaroslaw und Baty ihre Handlungen schon ab den ersten Monaten der Invasion der Horde im Russenland koordiniert haben. Übrigens war das Fürstentum von Tschernigow keinesfalls mit der heutigen Region Tschernigow identisch. Seine Ostgrenze wurde durch den Fluß Lopatna gebildet und verlief nur 77 km süd-südwestlich von Moskau.
Nun tritt eine zweite Panne im Projekt ein. Die Horde belagert das im Fürstentum von Tschernigow gelegene Städtchen Koselsk sieben Tage lang. Abermals zeigt es sich, daß der bunt zusammengewürfelte Haufen zu wirksamen militärischen Aktionen unfähig ist, wenn ihn keine fünfte Kolonne im feindlichen Hinterland unterstützt. Wenn sich andere potentielle Opfer dessen gewahr werden, wird der Widerstand überall schlagartig zunehmen. Deshalb erobert die Horde Koselsk ohne Rücksicht auf eigene Verluste und zerstört es.
Mittlerweile hat die Schlammperiode tatsächlich begonnen. Es ist an der Zeit, die erste Phase des Feldzugs abzuschließen. Nach der offiziellen Geschichtsversion zieht sich Baty „in die Steppe“ zurück. Dies ist jedoch ausgepichter Unfug und eine weitere Erfindung der Hofhistoriker.
Nun, wo Felder und Wege verschlammen, hätte es jeder Logik ins Gesicht geschlagen, sich ausgerechnet nach Süden abzusetzen, also dem Tauwetter und der damit einhergehenden Verschlammung entgegen. Aber auch wenn er dazu imstande gewesen wäre, hätte er es nicht mit dem Feind im Rücken getan; schließlich war das „Strafbataillon“ bereits größer als sein eigenes Heer. Oder hatte er letzten Endes gar keine Feinde im Rücken, sondern Verbündete?
Baty zieht sich also nach Nordosten zurück, d.h. weg vom Tauwetter und der Verschlammung, und läßt sich auf seinen Stützpunkten in jenem Fürstentum nieder, wo inzwischen ein Mitorganisator des Projekts, Jaroslaw, auf dem Throne sitzt. Er gönnt seinem Heer eine Ruhepause, reorganisiert es, ergänzt es durch Leute aus Wladimir, Susdal und Rjasan und bricht dann zu einem Feldzug gegen Tschernigow, Kiew und die Karpaten auf.
Es lohnt sich wahrhaftig, diesen Feldzug zu analysieren. Die großen Städte der Fürstentümer von Kiew und Tschernigow ergeben sich ohne ernsthaften Widerstand. Manche versuchen dies damit zu erklären, daß das Fürstentum von Kiew durch innere Fehden ruiniert gewesen sei, aber solche inneren Fehden gibt es überall im Lande, und nur die großen Städte, wo der byzantinische Einfluß besonders stark ist, kapitulieren praktisch widerstandslos. Die Riesenstadt Kiew mit ihren mehreren hundert Kirchen hißt schon nach drei Tagen die weiße Fahne.
Doch die Städte des Fürstentums Galizien, wo der Fürst und König (der einzige in der Geschichte des Russenlandes) Danil ständig zwischen Katholizismus und Orthodoxie laviert und die byzantinischen Popen an einer kurzen Leine hält, ergeben sich nicht. Dort holen sich die „Tataren“ eine Abfuhr. Später wird der Widerstand Danils allerdings von den vereinigten Streitkräften jener gebrochen, die unter das Joch des Russenlandes – nein, bereits Rußlands – geraten sind, aber dazu braucht es ein paar Jahre. Kiew und Tschernigow hingegen streichen schon nach ein paar Tagen die Segel!
„Man fühlt den Unterschied!“, lautet eine russische Fernsehreklame...
Eine besondere Rolle bei diesem Feldzug spielt Smolensk. Es gelingt der Horde nicht, diese Stadt einzunehmen. In den Chroniken finden sich verschwommene Hinweise auf Scharmützel im Grenzgebiet des Fürstentums, und die Legende berichtet, ein gewisser Recke habe die Tataren dermaßen beeindruckt, daß sie einer friedlichen Lösung den Vorzug gaben.
Aber Smolensk ist damals eine zur Hälfte katholische Stadt, die zunehmend enge Verbindungen zum litauisch-russischen Großfürstentum knüpft (dessen Kern übrigens nicht Litauen, sondern das heutige Weißrußland ist). Baty und Jaroslaw hüten sich wohlweislich, sich dort blicken zu lassen - schließlich haben sie im Fürstentum Galizien alle Hände voll zu tun.
Überhaupt fürchtet sich Jaroslaw vor den Fürsten von Smolensk. Aller Wahrscheinlichkeit erinnert er sich noch allzu gut, daß einer von ihnen, Mstislaw Udaloi, ihm 1216 eine empfindliche Niederlage beigebracht hat. Das erste Jahr der Invasion Batys gemahnt ganz allgemein fatal an frühere Episoden aus dem Leben Jaroslaws.
Baty beginnt seinen Feldzug mit der Brandschatzung Rjasans. Diese unglückliche Stadt ist von den Fürsten von Wladimir und Susdal, darunter auch Jaroslaw, jedoch schon oft zuvor gebrandschatzt worden.
Baty kann Torschok im Fürstentum Nowgorod nur mit Ach und Krach erobern. Diese Stadt wurde früher schon von Jaroslaw eingenommen, und zwar bei einem seiner vielen früheren Versuche, Nowgorod mit Gewalt zu seiner Wahl zu zwingen.
Jaroslaw ist ein Feind der Fürstentümer von Kiew und Tschernigow. Doch der erste Versuch offensiven Widerstands gegen das Joch ist der Angriff Ewpati Kolowrats, und das erste Opfer der Expansion Jaroslaws und Batys nach der Errichtung ihrer Herrschaft über das Fürstentum Wladimir und Susdal und der Sicherung des Hinterlandes auf der Nowgoroder Seite ist das Fürstentum von Tschernigow. Auf verbissenen Widerstand stößt diese Aggression lediglich in dem heroischen Städtchen Koselsk.
Bleibt noch Smolensk. Der zaghafte Versuch eines Angriffs auf die Heimat Mestislaw Udalois, den Jaroslaw noch als Toten fürchtet, wird beim ersten Anzeichen von Widerstand eilends abgeblasen.
Und die ganze Zeit über verfolgt Jaroslaw, Herrscher des von Baty angeblich „verwüsteten“ Fürstentums Wladimir und Susdal, seine alten geopolitischen Interessen weit erfolgreicher als vor der Invasion. Er verhält sich so, als habe die „Verwüstung“ seines Fürstentums ihn nicht etwa geschwächt, sondern im Gegenteil gestärkt. Er ist der einzige, für den sich der Einfall Batys dermaßen segensreich auswirkte. Die anderen angegriffenen Fürstentümer haben wirklich aufs schwerste gelitten; sie wurden verheert und geschwächt, wie es seit jeher das Los von Opfer siegreicher Aggressoren gewesen ist.
Dies alles läßt nur einen einzigen Schluß zu: Das Fürstentum Wladimir und Susdal war kein Opfer von Invasion, Brandschatzung und Verwüstung. Eine unparteiische Analyse der Geschehnisse legt den Schluß nahe, daß Baty nichts weiter als das Instrument zur Erreichung der Ziele Jaroslaws und keinesfalls ein Eroberer war. Mit Hilfe Batys wurde lediglich verwirklicht, was Jaroslaw schon vorher versucht, aber ohne fremde Hilfe einfach nicht geschafft hatte. Somit war Jaroslaw der eigentliche Eroberer – doch dieser Eroberer war seinerseits bloßes Werkzeug der orthodoxen Popen.
7. Endspiel. Der Feldzug im Westen. Der Kampf gegen das Papsttum für die Interessen der Orthodoxie.
Ein großer Teil des Russenlandes ist also unterjocht. Unterjocht sind die Fürsten, welche Jaroslaw als nun einzigen Großfürsten auf dem Territorium des Russenlandes anerkannt haben; manche haben diesen Akt freiwillig, andere unter Zwang vollzogen. Sie bezahlen Tribut und stellen Rekruten für das Heer der Horde. Es wird ein ungeheures „Strafbataillon“ aus rein russischen Kontingenten auf die Beine gestellt (hiermit beginnt übrigens die niederträchtige und törichte Tradition, die russische Armee mittels Zwangsaushebung zu bilden).
Im neuen Rußland ist die byzantinische Orthodoxie an die Macht gekommen. Mit der alten religiösen Toleranz ist es nun vorbei. Und in Europa wird Friedrich von Hohenstauffen aktiv.
Anno 1241 fällt die Horde in Europa ein. Sie erobert Polen, unterwirft Böhmen und Ungarn. Ungeachtet einiger Mißerfolge in Böhmen verläuft der Feldzug im allgemeinen wie am Schnürchen. Die hauptsächlichen Verbündeten des Papstes, die zugleich Feinde Friedrichs sind, werden aufs Haupt geschlagen.
Von militärpolitischem, militärtechnischem und militärökonomischem Standpunkt aus sind die Erfolge Batys durchaus erklärbar. Erinnern wir uns, daß das Russenland in jenen Jahren trotz allem noch Spitzenreiter auf dem Gebiet der eisernen wissenschaftlich-technischen Revolution war. Die Macht nutzen Jaroslaw und Baty mit Hilfe der byzantinischen imperialen und politischen Technologien nun voll aus. Eine unwiderstehliche Verbindung.
Dies ändert freilich nichts daran, daß das durch das imperiale System korrumpierte Russenland fortan nie mehr die Rolle einer zivilisatorischen Führungsmacht spielen wird und bei diesem Feldzug zum letzten Mal eine so gewaltige Kraft demonstriert. Alles scheint wie von selbst zu funktionieren. Zwar wird Rußland auch in Zukunft noch mehrmals seine Kraft unter Beweis stellen, doch wird es dazu immer größerer Anstrengungen bedürfen. Vorderhand aber läuft alles wie geschmiert.
Doch über solche Fragen zerbrechen sich die Byzantiner nicht den Kopf. Wie Barbaren haben sie den Bienenstock zerschlagen, um an den Honig zu kommen, und an diesem mästen sie sich nun buchstäblich.
Die Horde durchzieht Europa von Norden nach Süden und stößt zu den Gestaden der Adria vor, doch aus irgendwelchen Gründen verzichtet sie darauf, diese zu überqueren und in Italien zu landen, obgleich letzteres gewiß eine verlockende Beute wäre. Baty kehrt um.
Wir machen kein Hehl daraus, daß wir den Grund dafür nicht kennen. Oberflächlich sind nur drei mögliche Motive zu erkennen.
1. Der Angriff des livländischen (und nicht, wie in der offiziellen Geschichtsversion behauptet wird, des teutonischen) Ordens gegen Newski endete für die Ordensritter in der berühmten Schlacht auf dem Eis zwar mit einer Niederlage, veranschaulichte aber dennoch die Gefahr, die der Horde in ihrem Hinterland drohte.
2. Im Russenland gab es noch Widerstandsherde, die nach Batys Abzug nach Westen aktivisiert wurden.
3. Das heidnische Litauen, das damals sowohl mit den Katholiken als auch mit dem Russenland verfeindet war, rüstete zum Krieg und schickte sich an, Druck auf die Jaroslaw unterstehenden Gebiete auszuüben.
Alles in allem gesehen ist Batys Rückzug aber logisch. Die Horde war von ihren Stützpunkten im Hinterland abgeschnitten, und zum Schulterschluß mit ihrem Verbündeten Friedrich war es nicht gekommen. Weshalb? Wer war daran schuld? Wir wissen es nicht, doch an den nackten Tatsachen gibt es nichts zu rütteln. Dem Entschluß Batys mag sehr wohl einfach eine Kette von Fehlern und Pannen zugrunde gelegen haben, wie sie in jedem Krieg vorkommen.
So oder so war Batys Umkehr in der vorliegenden strategischen Situation durchaus logisch; sie war durch militärische Sachzwänge bedingt und bedarf keiner exotischen Erklärungen wie die, Baty sei auf den mythischen Kurultai bestellt worden.
Doch wenden wir uns den wichtigsten Etappen des Feldzugs von 1240-1242 zu. Was berichten die traditionalistischen Historiker über den Einfall in Europa? Handelt sich um einen Raub- oder einen Eroberungsfeldzug? Wäre es Baty vor allem um das Rauben gegangen, so hätte er sich nach der Eroberung Polens gegen Deutschland gewandt, gegen Friedrichs Besitztümer, wo seine Reiterhorden sich in den Ebenen Norddeutschlands nach Herzenslust hätten entfalten können. Doch Baty tastet Friedrichs Gebiete nicht an, sondern schlägt statt dessen gegen Friedrichs Feinde Böhmen und danach Ungarn zu. Friedrich selbst läßt nicht die geringste Furcht vor der Horde erkennen. In Europa ist man felsenfest überzeugt, daß Friedrich mit Baty unter einer Decke steckt und daß die beiden ihre Handlungen miteinander absprechen.
Somit erweist sich die Version vom Raubkrieg als unbegründet. Auch die These vom Eroberungsfeldzug hat weder Hand noch Fuß. Die Horde errichtet nämlich nirgends eine örtliche Verwaltung, sondern marschiert einfach vorwärts. Gewiß, sie läßt sich die Gelegenheit zum Plündern nicht entgehen, vor allem aber vernichtet sie das Potential des Gegners. Das eigentliche Ziel des Feldzugs besteht darin, diesen möglichst nachhaltig zu schwächen.
Auch von der berühmten „religiösen Toleranz“ der Tataren ist nichts zu bemerken. Die Horde legt bei ihrem Durchmarsch die katholischen Bauwerke in Schutt und Asche und entweiht die Kirchen. Dies alles sieht ganz nach einem antikatholischen Vernichtungsfeldzug aus.
Das Unangenehmste für einen russischen Menschen ist aber, daß es in der „Horde“ so gut wie gar keine Angehörigen von Turkvölkern gibt. Typisch russische Gesichter, typisch russische Kleidung, typisch russische Bewaffnung. Höchst vielsagend ist in diesem Zusammenhang, wie der „Tatar“ auf dem Grabstein des in der Schlacht von Liegniz im Kampf gegen die „Tataren“ gefallenen Herzogs Heinrich II. dargestellt wird. Oh weh – ein typisch russisches, bärtiges Gesicht, ein russischer Kaftan, ein russischer Hut und ein russischer Säbel.
Diese Darstellung findet sich in allen Büchern der alternativen Historiker. Wer sich dafür interessiert, schlage bei Fomenko und bei Buschkow nach.
Man kann natürlich Begeisterung und Stolz über die Macht der russischen Waffen empfinden, die ein Europa, welches den Russen bisher nichts Vergleichbares angetan hatte, mit einem Meer von Blut überschwemmen. Doch Blutschuld ist nicht leicht zu tilgen, und es entspricht nicht dem Charakter des russischen Menschen, jenes Meisters, der als erster die Kunst des Eisenschmiedens erlernt hat, sich über das vergossene Blut Unschuldiger zu freuen.
Wenn es im heutigen Rußland eine große Zahl von Hohlköpfen gibt, die darüber Stolz empfinden, so dürfen wir dafür der lieben orthodoxen Kirche, ihrem heiligen Fürsten Alexander Newski und seinem Vater, dem Brudermörder Jaroslaw, danken.
Sind wir aber, wie zu den Zeiten des Ersten Schmieds Swarog, ein Volk von Schöpfern, von Meistern und ehrlichen Arbeitern, so müssen wir selbst, mit eigener Hand, die Blutsauger und Entarteten in unseren Reihen ausmerzen. Niemand hat unter ihnen mehr gelitten und leidet bis heute unter ihnen als das russische Volk selbst.
Doch wir sind vom Thema abgekommen.
Kurzum: Obwohl der Feldzug Batys anscheinend nicht zu Ende geführt wurde, hat er die Position des Papstes und der Katholischen Kirche nachhaltig untergraben. Friedrich führte seinen Kampf mit verdoppelter Kraft weiter und spaltete den katholischen Westen damit faktisch. Die Byzantiner nutzen diese Spaltung im gegnerischen Lager aus, und 1261 entreißen sie den Kreuzrittern Konstantinopel wieder. Somit ist die Saat der byzantinischen Intriganten aufgegangen, und sie haben einen glänzenden Erfolg erzielt.
Wir werden uns nicht mehr mit den Konsequenzen dieser Intrige außerhalb Rußlands auseinandersetzen. Zum Abschluß des vorliegenden Themas wollen wir nur bemerken, daß nach allem, was geschehen war, von einer Versöhnung zwischen dem Katholizismus und der byzantinischen Orthodoxie keine Rede mehr sein konnte. Vor den Hohenstauffern empfand Europa nichts als Abscheu; es betrachtete sie als Abtrünnige, die sich mit dem Teufel selbst verbündet hatten, und in der Folge ging es mit ihnen jäh abwärts. Entgegen allen Regeln der europäischen Kriegsetikette wurde ihr Geschlecht physisch ausgerottet. Hierüber wundern sich viele, doch ist es überhaupt nicht verwunderlich. Durch ihre Politik hatten sie sich selbst außerhalb Europas, seiner Kultur und seiner Traditionen gestellt, und man behandelte sie nicht als Vertreter eines europäischen Fürstenhauses, sondern als brandgefährliche Monster, als Fremde, wie wir unter Verwendung des in unserem Buch Die Eigenen und die Fremden benutzten Ausdrucks sagen würden.
Doch was kümmern uns schon diese deutschen Kaiser. Der Hass auf sie erstreckt sich nicht auf ihre Untertanen. Uns selber erging es weit übler als ihnen. Wir Russen, die wir – dies darf man ohne Übertreibung sagen – an den Quellen der zeitgenössischen Zivilisation standen, wurden aus der europäischen Familie zivilisierter Nationen ausgestoßen und blieben für diese lange Zeit Ungeheuer, die mit dem Leibhaftigen paktierten. Dies ist jedoch einer gesonderten Betrachtung wert.
8. Eine Bilanz. Baty und Newski, Simeon und Iwan der Schreckliche. Die Wichtigkeit der moralischen Aspekte. Das „nicht-tatarische“ Joch. Das Karakorum der Nomenklatura.
Nach Batys Europafeldzug wendet sich das Russenland abermals von Europa ab und wird zu Rußland. Dieses beschäftigt sich ausschließlich mit seinen inneren Problemen, wobei das neue Regime seine Macht konsolidiert. Freilich verläuft dieser Prozeß durchaus nicht reibungslos. In der Geschichtsschreibung finden sich viele farbige Schilderungen tatarischer Feldzüge in dem angeblich bereits unterworfenen Russenland, bei denen sich ein Olexa Newrjuj besonders hervorgetan haben soll – ein Christ wohlbemerkt, der einen ganz untatarischen Namen trug. Der Beiname „Newrjuj“ findet in den Turksprachen keine Entsprechung.
An all diesen Feldzügen nehmen russische Fürsten aktiv teil. Es macht ganz den Anschein, als habe sich das Russenland noch nicht ergeben, und man bemüht sich nach Kräften, es endgültig zur Räson zu bringen.
Im Jahre 1255 stirbt Baty. Manchen Angaben zufolge fällt er im Kampf; andere Quellen behaupten, er sei vergiftet worden. Aus irgendwelchen Gründen segnet auch sein Sohn, ein Christ, den Newski unter seine Fittiche genommen hat, schon bald das Zeitliche. Vermutlich ist dies eine politische Folge des unter solchen Bedingungen unvermeidlichen wirtschaftlichen Chaos. Diese Annahme ist völlig logisch, denn 1257 wird die Institution der Baskaken eingeführt, worunter die Eintreiber neuer Steuern zu verstehen sind. Doch zum x-ten Male schlägt die offizielle Geschichtsversion dem gesunden Menschenverstand förmlich ins Gesicht. Warum, bitteschön, haben die „tatarischen“ Invasoren das Russenland nicht sofort mit neuen Abgaben belastet, sondern dies erst 15 Jahre nach seiner Eroberung getan? Für „raubgierige Eindringlinge“ haben sie sich fürwahr erstaunlich viel Zeit gelassen!
Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß zusätzliche Gelder zur Deckung eines plötzlich aufgetretenen Defizits benötigt wurden. Wie kam es zu einem solchen? Die einfachste und zugleich einzige Erklärung ist die Notwendigkeit, den immer noch andauernden Krieg gegen das eigene Volk zu finanzieren; eine äußere Bedrohung existiert nämlich nicht. Alle Nachbarstaaten sind in mörderische Kriege gegeneinander verwickelt. Europa hat sich noch nicht vom Schock des „tatarischen“ Einfalls erholt. Batys Horden haben von ihren Raubzügen 1241/1242 so viel Gold mitgebracht, daß man die Kuppeln der Kirchen zu vergolden beginnt. Dies geschieht jedoch einzig und allein im Russenland. So reich war die Kriegsbeute!
Im Gegensatz zur mythischen Beute Dschingis Khans gibt es materielle Spuren für dieses aus dem Europafeldzug stammende Raubgut. Das Gold schimmert bis zum heutigen Tage auf den Kuppeln russischer orthodoxer Kirchen.
Der gesunde Menschenverstand sagt uns also, daß die Erhebung zusätzlicher Steuern einen anderen Grund gehabt haben muß, als gemeinhin behauptet wird. Entweder wollte sich Newski im Machtrausch seiner Alleinherrschaft unmäßig bereichern, oder die neuen Abgaben waren ein Symptom des wirtschaftlichen Niedergangs, der nach einer langen Kette von Gewalttätigkeiten und infolge der Annahme des imperialen Modells unvermeidlich war. In Anbetracht der Umstände spricht alles für die zweite Variante. Nach 15 Jahren endloser innerer Fehden und Strafexpeditionen war die Beute aus dem Europafeldzug anscheinend aufgebraucht.
Übrigens ist noch ein anderer Grund für das plötzliche Defizit denkbar. Wer weiß, wer weiß... Dann wäre es hochinteressant, diesen Grund etwas genauer zu betrachten. Doch dazu später mehr; wenden wir uns zunächst wieder dem Gang der Ereignisse zu.
Laut der offiziellen Geschichtsversion waren die Baskaken Tataren. Doch alle konkreten Angaben, die wir über die Baskaken besitzen, deuten darauf hin, daß es sich bei ihnen um Russen handelte, und zwar oft um Angehörige des Klerus. Dies ist ein weiteres Indiz für die Richtigkeit unserer These, wonach das „Joch“ von Newski und den orthodoxen Popen und nicht etwa von den Tataren geschaffen wurde.
Übrigens hatte die Institution der Baskaken nicht lange Bestand. Gegen sie erhob sich ein allgemeiner Aufstand, an dessen Spitze die Fürsten standen. Der offiziellen Geschichtsversion gemäß soll Newski zur Besprechung dieses Problems ins Gebiet der Horde gereist und bald zu einer Einigung gelangt sein, wonach die Steuern von den Fürsten selbst eingezogen worden sein sollen. Außerdem wurde die Zwangsrekrutierung von Soldaten für die Horde abgeschafft (erstmals in der Geschichte Rußlands rückte man von dieser Praxis, die beim Volk auf heftigen Widerstand gestoßen war, ab).
Schon bald danach, im Jahre 1263, starb Newski. Manche behaupten, er sei vergiftet worden; jedenfalls starb er eines gewaltsamen Todes, was sehr wichtig ist. Ob er sich vielleicht selbst vergiftet hat? Wir werden sehen.
Die ganze Geschichte mit den Baskaken mutet höchst unwahrscheinlich an. Wenn nach einem Aufstand – und daß Baskaken verprügelt wurde, darf man ruhig als solchen bezeichnen – die Forderungen der Rebellen erfüllt wurden, bedeutet, daß der Aufstand erfolgreich war und es somit zu einem Regimewechsel gekommen ist. Wir wissen jedoch, daß es kein Joch gab, sondern nur eine Newski-Diktatur. Wenn Newski bald nach dem Aufstand umgebracht wurde oder Selbstmord beging, bedeutet dies, daß dies eine Folge des Aufstandes war.
Die Abschaffung der Baskaken war für Newski eine Niederlage. In einer solchen Situation war es besser, sich gleich zu vergiften, als sich in Stücke reißen zu lassen, wie es die Drewljanen mit dem Fürsten Igor getan hatten.
In diese Schilderung der Ereignisse fügen sich die Unterlagen und Daten der offiziellen Geschichte mühelos ein. 1242 kehrt Baty aus Europa zurück. Es schließt sich eine Reihe von Strafaktionen an. Die orthodoxe Kirche gewinnt gewaltig an Macht und blüht auf; zugleich geht es mit dem Land jäh bergab. 1255 wird Baty umgebracht und bald darauf auch sein Sohn; diese Morde zeugen zweifellos von einer Krise des Regimes. 1257 werden die Baskaken eingeführt, doch offensichtlich scheitert dieses Experiment. Anschließend erleidet Newski eine Niederlage und wird zum Selbstmord gezwungen.
Es ist nicht nötig, neue Fakten und Daten auszudenken, sondern reicht völlig aus, die unbestrittenen Tatsachen von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten.
Einige Ergänzungen lassen unsere Rekonstruktion hieb- und stichfest, ja sogar sensationell erscheinen. Nach den Angaben des von uns bereits erwähnten Lysow wurde die Institution der Baskaken nicht 1257, sondern erst 1261 eingeführt. In diesem Fall wird das Ganze noch klarer. Ein mit der Gewalt eines elementaren Naturereignisses ausbrechender, erfolgreicher Aufstand führt zum Sturz der Newski-Regierung und zur Ermordung oder zum Selbstmord Newskis. Geht man mit Lysow davon aus, daß die Baskaken erst 1261 eingeführt wurden, bleibt überhaupt keine Zeit mehr für eine mythische Reise Newskis ins Reich der Horde, wo er dank seinen diplomatischen Talenten einen Erfolg eingeheimst haben soll – ganz abgesehen davon, daß solche Mythen sehr unwahrscheinlich sind, wie wir bereits festgehalten haben.
Die zeitliche Abfolge der Ereignisse ist übrigens an sich schon hochinteressant. Sämtliche gesellschaftlichen und politischen Prozesse verliefen in jenem Zeitraum nämlich sehr schleppend, was wir bei der Erstellung unserer Chronologie berücksichtigen wollen.
1261 beginnen die Baskaken mit dem Eintreiben neuer Steuern, was zu einer spontanen Empörung im Volke führt. daß sogleich ein Aufstand begann, dürfte jedoch auszuschließen sein, denn die Erhebung brach überall zugleich aus und war erfolgreich, was bedingt, daß sie vorbereitet und koordiniert worden sein muß. Gehen wir also davon aus, daß dies 1262 erfolgte. Ihren erfolgreichen Abschluß fand sie 1263, in jenem Jahre also, in dem Newski umgebracht oder in den Selbstmord getrieben wurde.
Nun fügen sich die einzelnen Teile des Puzzles zu einem lückenlosen Gesamtbild zusammen! Wenn man davon ausgeht, daß die Baskaken erst 1261 eingeführt worden sind, erkennt man sofort den Grund für das Loch in der Staatskasse, das sich damals auftat. 1261 erobern die Byzantiner nämlich Konstantinopel zurück. Fortan sind sie auf die Dienste Newskis nicht mehr angewiesen und drehen ihm den Geldhahn zu. Das Russenland selbst ist noch längst nicht befriedet, und der Krieg erfordert Geld. Dazu kommt, daß sich die Anhänger Newskis aus den verräterischsten und schurkischsten Elementen der Gesellschaft rekrutieren. Die Beute aus dem Europafeldzug ist längst aufgebraucht (in erheblichem Masse für die Bedürfnisse der Kirche, die von 1242 bis 1261 eine große Zahl neuer Gotteshäuser erbauen und oft sogar deren Kuppeln vergolden ließ).
Newski greift zu außergewöhnlichen Maßnahmen: Er führt neue Steuern ein und beginnt mit deren Eintreibung. Doch selbst jene Fürsten, die ihm bisher ihre Unterstützung gewährt haben, wollen den Krieg gegen ihre Brüder nicht mitfinanzieren. „Halt, das verstößt gegen unsere Abmachungen!“ protestieren allem Anschein nach jene Vertreter der regionalen Eliten, die sich Baty und Newski verkauft haben. Überall gärt es; die Fürsten schließen sich zu einer Koalition zusammen, und Newski wird gestürzt.
Hier mag uns der Leser Mangel an Logik vorwerfen. Tatsache ist aber, daß wir zwar ständig von Newski, seinem Vater und der Intrige der byzantinischen Orthodoxie sprechen, jedoch die historische Realität Batys und seiner Nachfolger durchaus nicht bestreiten, die das Regime des „Jochs“ formal leiten.
Manche alternativen Historiker sind der Auffassung, um wirklich konsequent zu sein, müsse man die Figur Batys ganz aus der Geschichte verbannen, da sie gewissermaßen überflüssig sei. So identifizieren Fomenko und andere ihn mit Newski oder mit dessen Vater.
Warum denn? fragen wir. Sind Verräter und Marionetten etwa eine spezifische Erscheinung unserer Zeit? Gewiß nicht, solcherlei Gestalten fanden sich in der Politik von alters her. Erinnern wir nur daran, wie Iwan der Schreckliche die Macht irgendeinem tatarischen „Zaren“ namens Simeon Bekbulatowitsch übergab. Bei diesem handelte es sich um eine völlig reale und nicht um eine mystische Figur mit einer ganz konkreten Biographie (übrigens nahm er ein böses Ende; er wurde geblendet und starb auf den Solowezki-Inseln). Dies änderte jedoch nichts daran, daß Iwan der Schreckliche der eigentliche Herrscher blieb und dann mit dem neuen „Zaren“ umsprang, wie es ihm beliebte.
Dies alles steht in Übereinklang mit der offiziellen Geschichtsversion. Wenn man diese als richtig anerkennt, was spricht dann dagegen, auch die analoge Geschichte vom „Stellvertreter“ Baty zu akzeptieren? Das Tandem Iwan der Schreckliche/Simeon weist allen systembildenden Merkmalen nach eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Tandem Newski/Baty oder – zu Beginn des Jochs – des Tandems Jaroslaw/Baty auf.
Es ist höchst aufschlußreich, daß das Verhalten Newskis zur Periode der formellen Herrschaft Batys jenem Verhalten Iwans des Schrecklichen in mancher Hinsicht ähnelt. Beide handeln, während Baty und Simeon irgendwo im Hintergrund anwesend sind.
Übrigens gibt es in der damaligen Konstellation der Dinge nicht bloß Individuen, die handeln, und andere, die lediglich im Hintergrund anwesend sind. Auf der internationalen Bühne handelt das Russenland – zwar weniger aktiv als vor 1242, aber immerhin: es handelt. Die Horde bleibt hingegen im Hintergrund und ergreift nie auf eigene Faust die Initiative.
Bei der Betrachtung historischer Intrigen lohnt es sich deshalb nicht, seiner Phantasie die Zügel schießen zu lassen. Baty hat tatsächlich existiert, und er kann auf keinen Fall identisch mit Newski oder Jaroslaw gewesen sein. Während sich Baty in Europa herumtrieb, focht Newski im Baltikum gegen Schweden und Deutsche, und sein Vater Jaroslaw errichtete ein neues Regime, wobei er das Russenland in Rußland umwandelte. Somit kann Baty nicht gut zugleich an der Adria und in Wladimir gewesen sein.
Andererseits sind Baty, und überhaupt die Tataren, für die noch nicht allzu fest im Sattel sitzenden Tyrannen völlig unentbehrlich. Alles, was sie gemeinsam mit der orthodoxen Kirche tun, stößt beim Volk auf Ablehnung, auch bei der Elite, der immer noch Tugenden wie Ritterlichkeit, Dankbarkeit und aristokratisches Denken innewohnen. Damals bedeutete der moralische Aspekt, die moralische Legitimierung der Macht sehr viel. Diese Faktoren zu ignorieren wäre sträflicher Leichtsinn gewesen.
In einer solchen Situation tut man gut daran, die schmutzigsten Schurkentaten auf andere abzuwälzen, nämlich auf die Marionette Baty oder andere „Zaren“ aus den Reihen der Horde. Auch zur Erpressung äußerer Konkurrenten eignen sich die gruseligen Tataren, die anscheinend hinter den neuen russischen Machthabern stehen, ganz vortrefflich. Schließlich läßt sich die innere Opposition ebenfalls mit diesem Popanz einschüchtern. Kurz und gut: Es war in jeder Hinsicht nützlich, den Mythos von den Tataren, ihrem unermeßlichen Reich, ihrer Macht weidlich aufzubauschen und zugleich sich selbst mit blütenweisser Weste darzustellen und als „Realpolitiker“ zu profilieren, der das „geringere Übel“ darstellte.
Deshalb mutet es am wahrscheinlichsten an, daß die politischen Prozesse wie folgt abliefen: Jaroslaw, Newski und später ihre Nachfahren unterjochen das Russenland mühsam Schritt für Schritt und errichten mit Hilfe der orthodoxen Kirche ein autoritäres Regime nach byzantinischem Muster. Wir gehen später noch näher auf diesen Punkt ein.
Die Steppenregionen bleiben Newskis Reservoir. Dort rekrutiert er Streitkräfte zur Durchführung seiner Strafaktionen im Russenland. Es wäre jedoch höchst unbedacht, die Situation in der Steppe so zu belassen, wie sie es vor der Schlacht an der Kalka war. Damals konnten dort Kräfte mit unterschiedlichen politischen Interessen und Absichten existieren. Auch in der Steppe ist eine gewisse Zentralisierung vonnöten, damit der russische Widerstand von dort keine Hilfe bekommen kann.
Doch während sich die Politik Newskis im Russenland auf Gewalt sowie auf die orthodoxe Kirche stützt, besitzt letztere in der Steppe keinen besonders großen Einfluß. Deshalb kann man dort mit Gewalt weit weniger erreichen, und Außerdem verfügt man über keine fünfte Kolonne im Rücken eines potentiellen Feindes. Weiter kommt man mit Geld. Somit lautet die Formel für die Unterwerfung der Steppe: Geld plus Gewalt. Diejenigen, die mit den herrschenden Zuständen unzufrieden waren, konnten sich dank ihrer Mobilität außerhalb des Einflußbereichs Batys begeben. Diese Möglichkeit nutzten denn auch die Saporoschzer Kosaken und die Donkosaken (also jene, die Ataman Nekrasow die „Häßlichen“ nannte), indem sie Rußland den Rücken kehrten und in die Türkei auswanderten.
Diese Migrationsbewegungen waren es, die später als „Auszug der Polowzen aus der Steppe“ in die Geschichte eingingen. Doch dieser – durch den gesunden Menschenverstand und die politische Logik – bedingte Prozeß zog sich über lange Zeit hin.
Newski, Baty und ihre Nachkommen verfügten über Geld. Zuerst hatten sie von Byzanz einen „Vorschuß“ bekommen, dann hatten sie Europa geplündert, und Schließlich, bis 1261, wurden sie abermals von Byzanz finanziert und plünderten gleichzeitig das Russenland aus. Was ergab sich daraus?
Die Steppe hilft bei der Zentralisierung des Russenlandes, doch hilft dieses umgekehrt bei der Zentralisierung der Steppe. So ergibt sich eine Art Symbiose, bei der die faktische Macht anfangs beim Russenland und die formale, oder dekorative, Macht bei der Steppe liegt.
Hier ist eine Klärung der Begriffe vonnöten. Was wir die Steppe – oder die Gesamtheit der von berittenen Völkern bewohnten Regionen der russischen Ebene – bezeichnen, wird „Horde“ oder „Goldene Horde“ genannt. Doch sei gleich betont, daß das Wort „Horde“ durchaus nicht bloß für die Tataren gebraucht wird. In den russischen Chroniken findet sich z.B. auch der Ausdruck „schwedische Horde“. Somit drückt dieser Begriff am ehesten die Art der Aufbietung eines Heeres aus, die sich beispielsweise von den Druschinen (Gefolgschaften) unterschied. Da die Truppen der Steppe auf diese Weise aufgeboten wurden, nannte man ihre staatliche Organisation „Horde“. „In die Horde fahren“ war dementsprechend gleichbedeutend mit „aus irgendwelchen Gründen zu den Steppenkontingenten fahren“.
Wenden wir uns nun wieder den finanziellen Aspekten der Symbiose zu und weisen wir darauf hin, daß mit der wirtschaftlichen Schwächung des Nordens und der Reduzierung (und späteren gänzlichen Einstellung) der byzantinischen Hilfe die Finanzierung der Stabilität in der Steppe für das Russenland zu einer immer drückenderen Bürde wird.
Wiederholen wir die früher gestellte Frage: Ist eine solche Situation ein „Joch“ im klassischen Sinne des Wortes? Und dazu ein tatarisches? Mitnichten. Es handelt sich um eine Symbiose, bei welcher die Partner aus der Steppe dem Blut nach Russen und erst in verhältnismäßig geringem Umfang dem Einfluß von Turkvölkern und Moslems unterworfen sind. Natürlich ist es eine Symbiose der Eliten, oder genauer gesagt eines Teils der Eliten. Ob sie den betreffenden Völkern – vor allem dem russischen Volk – Nutzen bringt, ist eine andere Frage, mit der wir uns zum gegebenen Zeitpunkt auseinandersetzen werden. Vorderhand begnügen wir uns mit der Feststellung des für uns Offenkundigen, nämlich daß dieser mächtige „staatliche Aufbau“ nach dem Muster und Bilde des seiner Götterdämmerung entgegengehenden Byzantinischen Reiches besser gar nicht erst begonnen hätte, zog er für das russische Volk und die russische Zivilisation doch katastrophale Folgen nach sich. Man kann sehr wohl von einem Joch sprechen, doch war dies kein „tatarisches“ im Sinne der landläufigen Auffassung, sondern das Unterdrückerregime eines monströsen imperialen Staates, der von den moralisch am tiefsten stehenden russischen Fürsten im Auftrag der orthodoxen Popen errichtet wurde. Ein solches Gewaltregime hatten wir zuvor nie gekannt.
Auf die aktuellen Aspekte dieser Frage kommen wir etwas später noch zu sprechen. Zunächst wollen wir uns wieder der am Ende des 13. Jahrhunderts herrschenden realen Situation zuwenden.
Einwände gegen die von uns vorgeschlagene historische Konstruktion können lediglich folgende Punkte betreffen, die wir nun betrachten wollen.
Erstens: Nach dem Einfall Batys nehmen verschiedene „Tataren“ aktiv Anteil an der Innenpolitik des Russenlandes. läßt sich ermitteln, wer diese Tataren waren? Jawohl, dies läßt sich ihren Namen entnehmen: Kawdygai, Dedjuna, Nevrjuj etc. In vielen Büchern werden tatarisch klingende Namen von Personen angeführt, von denen man weiß, daß sie Russen waren. Doch zu jener Zeit traten die meisten Menschen nicht unter ihrem eigenen Taufnamen, sondern unter Beinamen auf. Dabei handelte es sich durchaus nicht um Leute aus dem einfachen Volk: Der Fürst Pronski nannte sich beispielsweise Turuntai. Sind also Personen, welche Namen wie Kantschej, Tjutjai (oder Tjuchtjai), Turuntai, Olexa Nevrjuj, Kolmak, Ermak, Chodyr, Schebollda (oder Schabolda), Schaban, Schawyrja etc. tragen, Tataren oder Russen? In den meisten Fällen sind es Russen.
Die Gegenseite wird einwenden, daß diese Beinamen den Turksprachen entlehnt sind. Dies trifft jedoch nur ein einigen Fällen zu. Die meisten dieser Namen oder Namenswurzeln existieren in den Turksprachen nämlich nicht. Allerdings klingen sie mehr oder weniger tatarisch. Dies war eine Besonderheit der damaligen russischen Umgangssprache, die auf die verbreitete Zweisprachigkeit zurückzuführen war. Den orthodoxen Bluthund Olexa Newrjuj, der im Russenland Ströme von Blut vergossen hat, kann man viel eher mit Alexander (Olexa) Newski (Newrjuj) als mit irgendeinem hypothetischen „tatarischen Zarensohn“ identifizieren. Die Namen der führenden politischen Figuren jener Zeit stützen die Version vom Tatarenjoch also keinesfalls, sondern sprechen eine ganz andere Sprache. Anstelle der russischen Adelsaristokratie erhob Newski massenhaft Vertreter des einfachen Volkes in Führungspositionen, deren Beinamen oft lediglich an Wörter aus Turksprachen anklangen und nicht wirklich aus diesen stammten.
Diese Politik wurde auch von Newskis Nachfahren verfolgt. So verfuhren die Moskauer Fürsten, so verfuhren Iwan III. und Iwan der Schreckliche, so verfuhr Peter I., so verfuhren Lenin und Stalin. Nur nannten sich die Emporkömmlinge späterer Zeiten nicht „Turuntai“ oder „Tjuchtjai“, sondern ganz anders.
Zweitens: Die These, wonach die Steppe die Macht nur formal, der Norden aber real ausgeübt hat, ist aus rein emotionalen Gründen für viele schwer zu schlucken. Was nützt einem denn reale Macht, wenn man jenen, welche die formale Macht ausüben, Tribut zahlen muß? In diesem Fall ist letztere doch durchaus nicht bloß formal!
Daß in diesem Argument ein gewisses Maß an Logik steckt, läßt sich nicht leugnen, doch ist es eine primitive Logik. Schließlich bezahlt Präsident Putin Tschetschenien faktisch auch Tribut und dem ganzen Nordkaukasus dazu. Das Budget der nordkaukasischen Republiken besteht nämlich zu 85% aus Subventionen. Dies ist – reden wir doch nicht um den heißen Brei herum – Tribut, nur wird es in der heutigen Terminologie als „föderale Hilfe“ oder „Subventionen aus dem föderalen Budget“ etikettiert. Aber auf Worthülsen kommt es nicht an. Zwar herrscht heute nicht Kadyrow oder Alchanow über Rußland, aber trotzdem zahlt dieses ihnen Tribut.
Auch das sowjetische Imperium bezahlte auf Kosten Rußlands den Sowjetrepubliken jährlich 50 Milliarden Dollar Subventionen und den Verbündeten jenseits unserer Landesgrenzen weitere 30 Milliarden. Nichtsdestoweniger waren sie Vasallen Rußlands und nicht umgekehrt.
Um weiter in die Vergangenheit zurückzukehren: Noch zur Zeit Iwans des Schrecklichen – und teils noch zur Zeit Peters des Großen – zahlte Rußland dem Khan der Krim Tribut in Form obligatorischer Geschenke. Doch an der Souveränität dieser autoritären Monarchen zweifelt deswegen kein Mensch.
Und nicht genug damit: Man kann sich vorstellen, daß das imperiale Modell seine volle Ohnmacht oft erkennen läßt, jedoch bestrebt ist, diese mit Geld, das es seinem eigenen Volk gestohlen hat, zu kaschieren. Byzanz selbst zahlte allen möglichen Völkern Tribut, um sich dadurch Frieden an seinen Grenzen zu erkaufen. Die Entrichtung von Tributzahlungen an Leute, von denen niemand so richtig weiß, ob sie eigentlich Verbündete oder Erpresser sind, ist bei solch mächtigen, aber stets auf tönernen Füssen stehenden Imperien gang und gäbe, ohne daß jemand deshalb Zweifel an der Souveränität der betreffenden Imperatoren hegen würde.
Die Tributzahlungen bedeuten also gar nichts. daß der Norden in der Tat die faktische Macht ausübte, läßt sich aus zahlreichen Episoden ersehen. Nehmen wir ein bekanntes Beispiel, die Hinrichtung des Fürsten von Twer, Michael, im Gebiet der Horde. Russische Fürsten hatten einen der ihren abgeurteilt. Das Todesurteil braucht von der Horde nicht bestätigt zu werden, und ein Russe vollstreckt es. Der Vertreter der Horde, Kawdygai, bemüht sich anfangs um eine Milderung der Strafe und bittet nach vollzogener Hinrichtung darum, den Leib nicht nackt zu lassen. Und der russische Fürst Juri erlaubt Kawdygaj, die Leiche mit einem Mantel zu bedecken. Dieser Fall veranschaulicht, wie es um die reale Macht der Horde gegenüber den russischen Fürsten bestellt war.
„Warum begaben sich die Fürsten in solchen Dingen überhaupt ins Gebiet der Horde?“ mag man fragen. Elementary, my dear Watson! Solcherlei Abrechnungen trägt man mit Vorteil auf neutralem Territorium aus, denn sonst erwirbt der Fürst, auf dessen Hoheitsgebiet sie stattfinden, ein unmäßig großes Entscheidungsrecht. Er ist ja auf eigenem Territorium, inmitten seiner Gefolgsleute und Untergebenen. Unter sonst gleichen Umständen wird die Horde stets neutraler und leidenschaftsloser sein als jeder beliebige russische Fürst.
„Nun gut“, wendet ein anderer Leser vielleicht ein, „besitzt die Horde etwa überhaupt kein Einspracherecht dagegen, daß die Fürsten nach Lust und Laune auf Territorium eindringen?“ Doch, natürlich besitzt sie ein solches. Schließlich ist auch sie Partnerin bei der Symbiose, und es kann ihr Gewiß nicht gleichgültig sein, was im Russenlande vor sich geht. Und jene Fälle, wo dieser Einfluß auf innere russische Entscheidungen fühlbar war, gaben den Anstoß zur Behauptung, die Horde habe Rußland „regiert“.
Doch vom Standpunkt moderner Regierungstheorien aus ist diese Behauptung unrichtig. Die Horde hat Rußland nicht regiert. Sie hat auf die Entscheidungsnahme eingewirkt (man beachte den Unterschied!). Jeder beliebige Staat versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten die Politik anderer Länder zu beeinflussen, wenn er dort Interessen zu verfolgen hat. Von diesem Standpunkt aus hat auch das Russenland Einfluß auf die Horde ausgeübt. Selbst Litauen machte – wenngleich in geringerem Umfang – seinen Einfluß geltend.
Folgendes aus der offiziellen Geschichte bekannte Beispiel möge unsere Argumentation abrunden. Die Stimmen der Donkosaken waren in der kritischen Zeit nach der Zeit der großen Wirren entscheidend für die Wahl des Zaren. heißt dies etwa, daß die Donkosaken Michael Romanow zum Zaren bestimmt haben? Sicherlich nicht! All dies weist seinem Wesen nach eine starke Ähnlichkeit mit der „Wahl“ der Fürsten durch die Horde auf.
Die Kosaken leben nämlich auf einem Territorium, das laut der offiziellen Geschichtsversion zum Herrschaftsbereich der Horde gehörte. Mit dem Begriff „Horde“ wird sowohl ein bestimmter Staat sowie eine bestimmte Armee bezeichnet. Doch die politischen Vereinigungen – oder staatsähnlichen Gebilde – der Kosaken nannte man ebenfalls „Armeen“; man sprach beispielsweise von der Armee der Donkosaken.
Die wirtschaftliche, administrative und militärische Struktur der Kosaken gleicht derjenigen der Horde in hohem Masse. Diese Kosaken-„Horde“ (oder Kosakenarmee, je nachdem, welchen Ausdruck man bevorzugt) erweist sich nun als maßgebliche politische Kraft, indem sie bei der Wahl des Zaren – und damit der Dynastie - den Ausschlag gibt.
Unter diesen Umständen könnte man eigentlich sagen: „Das Heer der Donkosaken bestimmte Michael Romanow zum Zaren“ oder „Die Donkosaken-Horde verlieh unter Umgehung abstammungsmäßig hochrangigerer Kandidaten dem nicht aus einem Fürstengeschlechte stammenden Bojaren Michael Romanow den Titel des Zaren.“ In diesem Fall formulieren wir es aus irgendwelchen Gründen nicht so aber in ganz ähnlichen Situationen einer weiter zurückliegenden Vergangenheit greifen wir zu solchen Wendungen. Sicher, im Fall der Romanow-Dynastie sind wir über die geschichtlichen Fakten besser im Bild, liegen sie doch zeitlich näher bei uns, und deshalb drücken wir uns bei ihrer Beurteilung anders und sachlicher aus.
Ja, die Horde beeinflußte die Politik des Russenlandes, und zwar oft auf entscheidende Weise. Doch dies bedeutet noch lange nicht, daß sie dieses regiert hätte, und schon gar nicht mit despotischer Willkür, so wie irgendeine asiatische Tyrannei ihre Provinz beherrscht. Und wie wir am Beispiel der Hinrichtung Michaels von Twer sehen, war der Einfluß der Horde nicht immer besonders groß. Dies entspricht voll und ganz der Logik der Geschichte. Die erste Geige spielte in diesem russisch-„tatarischen“ Tandem das sowohl wirtschaftlich als auch militärisch-technisch stärker entwickelte Russenland.
Um das Thema abzuschließen: Wohin außer ins Herrschaftsgebiet der Horde reisten die russischen Fürsten sonst noch so oft? Und nicht nur sie, sondern auch viele Khane der Horde? Ganz richtig, in irgendein Karakorum in der fernen Mongolei, und zwar zu gewissen Zeiten recht oft und – wie sich manchen Quellen entnehmen läsest – sehr gerne.
Wie wir bereits gezeigt haben, gab es kein mongolisches Imperium, so wenig wie es seine mythischen Hauptstädte gegeben hat. Ein Karakorum in der Mongolei können wir also getrost ins Reich der Fabel verbannen. Doch A. Buschkow hat scharfsinnig darauf hingewiesen, daß man, wenn man den Namen „Karakorum“ aufmerksam liest und dazu etwas von Turksprachen versteht, diesen legendenumrankten Ortsnamen ohne weiteres als „Schwarze Krim“ oder „Nördliche Krim“ deuten kann (kara heißt in den meisten Turksprachen „schwarz“). Da fällt es einem wie Schuppen von den Augen! Genau wie die Ersten Sekretäre des Sowjetimperiums konnten auch die Fürsten Newskis und die Khane Batys der Versuchung eines Urlaubs auf der Krim nicht widerstehen. Nur verbrachten erstere diesen an der Südküste der Halbinsel und ihre Vorgänger irgendwo in der Gegend von Feodosia, vielleicht auch im entzückenden Kara-Daga. Und der Ort, wo diese regulären Gipfeltreffen stattfanden, hieß auch so – die Schwarze Krim. Oder „Karakorum“.
Sie reisen gerne dorthin und stellen ihre dortigen geselligen Treffen als Konferenzen von Staatsmännern dar. Man male sich folgende Szene aus:
Ein heißer Abend in Koktebeli. Irgendein Fürst (oder Khan) bereitet sich auf eine halboffizielle Veranstaltung im Rahmen einer Gipfelkonferenz vor. Sein Beichtvater billigt solche Konferenzen ganz und gar nicht.
- „Was ist das für ein Treffen?“ will er wissen.
- „Ein feuchtfröhliches Gelage mit feschen Miezen“, erwidert der Fürst oder Khan zerstreut.
- „Ein feuchtfröhliches Gelage?“ fragt der Mullah den Khan entsetzt.
- „Mit feschen Miezen?“ fragt der Pope den Fürsten händeringend.
- „Wir können den anderen Teilnehmern am Gipfeltreffen unsere engstirnigen Moralvorstellungen nicht aufzwingen. Um der Sache willen müssen wir Verständnis für ihre Traditionen aufbringen. So verlangen es die Interessen des Staates. Jawohl, die Interessen des Staates! Verstanden?“
- „Verstanden“, antwortet der Beichtvater und schlägt die Augen nieder.
- „Ich hoffe, Gott (oder Allah) verzeiht mir dieses Opfer um des Wohlergehen Rußlands willen“? fragt der Fürst (oder Khan) in fast schon drohendem Ton.
- „Gott (oder Allah) ist barmherzig“, entgegnet der Beichtvater fügsam.
Es wäre doch wirklich schade, bei einem solchen Gipfeltreffen in Karakorum nicht dabei zu sein!
Wer Anstoß an diesen unseren Ausführungen nimmt, der möge sie bitte als Scherz betrachten.
1. Die Pannen häufen sich. Der Augenblick des Durchbruchs. Khan Usbek. Das soziale Geheimnis des Islams.
Nachdem die Byzantiner Konstantinopel im Jahre 1261 zurückerobert und das Imperium formell wiederhergestellt hatten, ließ das Interesse ihrer Führung an der Situation im Russenland merklich nach. Nicht, daß sie sich fortan überhaupt nicht mehr um die dortigen Zustände gekümmert hätte, doch jedenfalls kürzte sie der Gruppierung um Newski die Finanzhilfe drastisch. Dafür hatte sie ihre guten Gründe. Erstens – und dies ist das Wichtigste - hatte sie ihr Hauptziel, das den Anstoß zur Anzettelung der Intrige gegeben hatte, mittlerweile erreicht. Zweitens hatte das Russenland seine ehemalige Toleranz in Glaubensfragen aufgegeben und war ganz unter den Einfluß der byzantinischen Orthodoxie geraten. Drittens hatte Newskis Politik im Russenland bereits recht tiefe Wurzeln geschlagen, und seinen Nachfolgern würde keine andere Wahl bleiben, als den von ihm eingeschlagenen Kurs fortzusetzen. daß der Fürst von Twer Newskis Enkel Juri, den Großfürsten von Moskau und Bruder Kalitas, um einen Kopf kürzer machte, veranschaulicht, wie echte russische Fürsten mit dem byzantinischen Gesindel umgesprungen wären, hätten sie die Befreiung von Newskis Erbe mit äußerster Konsequenz angestrebt.
Wir sprechen von einer mit äußerster Konsequenz angestrebten Befreiung, denn eines teilweise Befreiung von Newskis Erbe war nach dem Fehlschlag seines Experiments mit den Baskaken sowie Newskis Ermordung (oder seinem Freitod) bereits erfolgt. Bezeichnenderweise führte der Bankrott der Politik des Byzantinismus im Russenland unter anderem zu einer Festigung der Position der Fürsten von Twer, also der Nachfahren von Newskis Bruder, der dessen Politik anfangs mitgetragen hatte, doch dann von ihr abgerückt war.
Weswegen schüttelte das Russenland das byzantinische Joch nicht völlig ab? Unserer Ansicht nach gab es dafür zwei Gründe.
Der erste bestand darin, daß die byzantinische Orthodoxie im Russenland das religiöse Monopol erlangt hatte und zur offiziellen Staatsreligion geworden war. Naturgemäß tat sie alles in ihren Kräften stehende, um den Byzantinismus im Lande zu bewahren, und die Macht einer Staatsreligion war zu jener Zeit geradezu erdrückend.
Der zweite Grund war, daß die Horde, die sich während des Krieges unter der Führung Batys und Newskis immer besser organisiert hatte und zuerst von Byzanz und dann vom Russenland massiv finanziell unterstützt worden war, alles Interesse an einer Aufrechterhaltung des Status quo besaß und den Nachfahren Newskis deshalb jede erdenkliche Unterstützung angedeihen ließ.
So seltsam dies wirken mag: Manchen Quellen zufolge hat das Khanat von Kasan – also die Ahnen jener, die wir heutzutage zu Unrecht als „Tataren“ bezeichnen – gemeinsam mit den Fürsten von Twer gegen die Horde und das von den Nachfahren Newskis regierte Moskau gekämpft. Anders gesagt, die „Tataren“ befehdeten ein Regime, von dem es fälschlicherweise heißt, es habe ein „Tatarenjoch“ errichtet!
Doch wir sind vom Thema abgekommen. Die Situation bot sich also folgendermaßen dar: An der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert war in gewissem Sinne eine Pattsituation entstanden. Die meisten russischen Fürsten hatten sich nach ihrer erfolgreichen Revolte gegen die Baskaken zu einer Koalition zusammengeschlossen, welche sich gegen die Nachfahren Newskis und ihre byzantinische Politik richtete. Dieser Mehrheit standen die orthodoxe Kirche, die direkten Nachkommen Newskis sowie die Horde gegenüber.
Infolge einer neuen Wendung im Bürgerkrieg wurde der Widerstand der Fürsten zu Beginn des 14. Jahrhunderts Schließlich gebrochen. Entscheidend zu dieser Entwicklung trugen die Einnahme Twers durch die von der Horde unterstützten Moskauer im Jahre 1327 sowie die Ermordung der Nachfahren Michaels von Twer im Gebiet der Horde bei.
In Moskau bestieg Iwan Kalita 1328 den Fürstenthron, den er bis 1340 innehatte. Die Übergriffe der Horde auf das Territorium des Russenlandes hörten auf, da keine Notwendigkeit mehr dafür bestand. Die byzantinische Despotie hatte im Russenland endgültig obsiegt, auch wenn sich gewisse Überbleibsel der Vergangenheit dort noch hielten, und um in Krisensituationen die unzufriedene Bevölkerung niederzuhalten, reichten die Kräfte Moskaus völlig aus.
Bei diesen Auseinandersetzungen und Versuchen zur „Stärkung der Staatlichkeit des Russenlandes“ – das wir fortan bereits Rußland nennen können – verschlief dieses die nächste Etappe der eisernen wissenschaftlich-technischen Revolution. Während in der Heimat der eisernen Revolution die Heere Moskaus und die Steppenhorden im gleichen Schritt und Tritt marschierten, erschloß Europa mächtige Erzvorkommen, stellte immer mehr stählerne Werkzeuge für seine Produktion her und begann die Revolution der Mühlen.
Die geopolitischen Umstände wandelten sich nun. Rußland büßte das Eisenmonopol ein; seine Wirtschaft wurde durch folgende Faktoren nachhaltig zerrüttet: a) Den lange Bürgerkrieg; b) Das Verlust des Eisenmonopols und den damit verbundenen Positionsverlust auf dem Weltmarkt; c) Das politisch bedingte zusätzliche Schrumpfen dieses Handels nach dem Bruch mit Europa, der die Folge des Feldzugs von 1240-1242 war.
Außerdem war durchaus nicht das ganze Russenland unter die Herrschaft der byzantinischen Orthodoxie geraten. Nowgorod vermochte mittels politischer Manöver seine Unabhängigkeit zu wahren, und die Heere des litauisch-russischen Großfürstentums befreiten fast den ganzen westlichen und südwestlichen Teil des ehemaligen Russenlandes vom „Tatarenjoch“. So formulierte man es damals auch. Beispielsweise schrieb Michael Litwin, die vereinigten Streitkräfte der Smolensker, Brjansker, Polozker und vieler anderer Fürsten (der Koalition gehörten eine Zeitlang übrigens auch Twer und Psowsk an) hätten unter Führung des Großfürsten Olgerd „das ruthenische [russische] Volk von der tatarischen Sklaverei befreit“.
Das Potential Westrußland wächst unerbittlich. Das litauisch-russische Großfürstentum kontrolliert gegen Ende des Jahrhunderts außer dem Westen des früheren Russenlandes (dem heutigen Weißrußland, Litauen, der Gegend um Smolensk, Brjansk sowie einem Teil der Ländereien von Kursk und Orlowsk) bereits die gesamten Fürstentümer von Kiew und Tschernigow sowie die Vorkarpaten.
Hochinteressant ist übrigens folgendes: In einer Periode der sogenannten „Zerstückelung“ des Russenlandes sprach dieses nichtsdestoweniger ein und dieselbe Sprache und war „ein einheitlicher Wirtschaftsraum“. In einer Epoche der „erfolgreichen Zentralisierung“ hingegen schrumpfte dieser Raum auf den nordöstlichen Sektor des ehemaligen Russenlandes zusammen. Dabei driftete Nowgorod wirtschaftlich immer mehr nach Westen ab. Im ruinierten und verrohten Moskauer Gebiet gab es nämlich außer Dingen, die Nowgorod selbst im Überfluß besaß, nichts mehr zu kaufen.
Diese geopolitischen und geoökonomischen Veränderungen im Gebiet des frühren Russenlandes schwächten das Potential des Moskauer Gebiets noch mehr, und als Ergebnis wurde die wirtschaftlich bedingte Führungsposition Rußlands gegenüber seiner Partnerin, der Horde, gefährdet.
Unter der Herrschaft von Khan Usbek (1313-1342) handelt die Horde zunehmend selbständiger. Ihr Machtzuwachs führt dazu, daß sie den Islam annimmt und Khan Usbek zu ihrem Herrscher wählt. Wir wollen nicht verhehlen, daß der Islam über eine beträchtliche Anziehungskraft verfügt. Man kann ihn zu den „Volksreligionen“ zählen. Es gibt auch religiöse Modelle, die auf der Existenz einer herrschender Priesterkaste beruhen, sowie andere, die „staatlichen“ Charakter tragen. Eine solche Analyse der Religionen ist sehr interessant, doch leider können wir im Rahmen dieses Buches nicht dabei verweilen.
Als Beispiel sei lediglich vermerkt, daß insbesondere die byzantinische Orthodoxie überhaupt nicht ohne Staat auskommt. Wenn sie „ihren“ Staat verloren hat, dient sie sich jedem beliebigen anderen an. So seltsam es scheinen mag: Nach der Bildung der antibolschewistischen weißen Bewegung begegnete die orthodoxe Kirche im Süden dieser anfangs feindselig, denn die weißen waren zum Zeitpunkt ihres Entstehens formell nicht legal. Über diesen Zwist mit der orthodoxen Kirchen haben sich viele weiße Generäle in ihren Erinnerungen geäußert.
Ja, „illegalen“ Kräften mag die byzantinische Orthodoxie nicht dienen. Hingegen ist sie sehr wohl bereit, selbst dem ärgsten Strolch um den Bart zu gehen, sofern er die Macht hat. Somit bestätigt die byzantinische Orthodoxie unsere These von der Existenz „ihrem Wesen nach staatlicher“ Religionen.
Der Katholizismus stellt unserer Ansicht nach eine Synthese zwischen einer Religion der Priesterkaste und einer Staatsreligion dar, während der Islam – wiederholen wir es – eine Volksreligion ist und darum auch Anklang bei den Massen findet. Es ist allgemein bekannt, daß der Islam Byzanz nicht zuletzt deshalb zu erobern vermochte, weil die unter der Leibeigenschaft und der kirchlichen Unterdrückung schmachtenden Massen scharenweise zum Islam übertraten und dadurch frei wurden.
Als die Bevölkerung von Byzanz die Vorzüge des Islams endlich begriffen hatte, wurde sie flugs „türkisch“ und half einer Handvoll türkischer Eindringlinge, sich an die Spitze des ehemaligen Imperiums zu stellen. Auf das einfache Volk wirkten nicht so sehr die religiösen Lehren des Islam als seine politischen Praktiken anziehend. Beispielsweise erteilte Kalif Omar im Jahre 637 seinen Kriegern folgenden Befehl: „Ihr sollt nicht treubrüchig, unehrlich oder unmäßig sein, ihr sollt Gefangene, Kinder und Greise nicht verstümmeln oder töten, keine Palmen oder Obstbäume fällen oder verbrennen, keine Kühe, Schafe oder Kamele schlachten. Wer sich in seiner Zelle dem Gebet hingibt, den rührt nicht an.“ Ein solcher Edelmut mußte in jenen blutigen Zeiten zwangsläufig Eindruck machen.
Übrigens: Wenn es den Türken gelang, bis zu den Mauern Wiens vorzustoßen, so nicht zuletzt deshalb, weil die christlichen Leibeigenen Mitteleuropas in hellen Scharen zum Islam überliefen und zu treuen, zuverlässigen Untertanen des türkischen Sultans wurden.
Lieber Leser, wenn du meinst, daß der Verfasser bei seinen kritischen Bemerkungen über diese oder jene Religion für oder gegen eine von ihnen agitiert, so täuschst du dich. Der Verfasser ist in erster Linie Wissenschaftler, und alle nahöstlichen, nicht-russischen „Religionen des Testaments“ sind ihm vollkommen fremd, ob es sich nun um den Islam, das Christentum oder das Judentum handeln möge. Die Russen haben ihre eigenen Götter, und die Wurzel unserer Übel ist, daß die meisten Russen sie vergessen haben.
Bei der Niederschrift dieser Zeilen wallt im Verfasser Empörung hoch. Warum braucht er sich überhaupt mit solchen Bemerkungen zu rechtfertigen? Vor wem denn? Bei jeder Arbeit, die ein hohes Maß an Verantwortung erfordert – auf einem Bohrturm, beim Legieren eines Metalls, bei Sturmalarm auf einem Schiff, vor dem Operationstisch, im Kabinett eines Fluglotsen und im Kampf tut man schließlich seine Pflicht und läßt sich nicht von Emotionen ablenken. Eine wahrheitsgemäße, objektive und zutreffende Einschätzung der Situation ist bei jeder seriösen Arbeit unabdingbar, wenn sie vom Erfolg gekrönt sein soll.
Eine echte – und nicht bloß vorgetäuschte – intellektuelle Arbeit erheischt ebenfalls ein hohes Maß an Verantwortung, und ein echter Wissenschaftler oder Analytiker oder Ideologe hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen und objektive Einschätzungen nicht von Emotionen verfälschen zu lassen. Wenn die Wahrheit jemandem nicht in den Kram paßt, dann um so schlimmer für ihn und nicht für die Wahrheit.
Deshalb sind wir nicht bereit, uns länger für objektive Einschätzungen des Islam, des Katholizismus oder irgendwelcher bedeutenden Figuren in der imperialen und orthodoxen Propaganda zu „rechtfertigen“. Wenn irgendeiner unserer „Parteigenossen“ diese nüchternen Beurteilungen aus rein gefühlsmäßigen Gründen nicht akzeptieren kann, so tut er uns aufrichtig leid. Übrigens ist es für uns tröstlich, daß wir bei jungen russischen Nationalisten keine solchen Reaktionen beobachtet haben. Und die Zukunft gehört der Jugend.
Kehren wir also zum Islam zurück. Es liegt auf der Hand, daß die im Vergleich zur Bevölkerung Rußlands mobilere und deshalb unter gewissen Bedingungen (aber nicht immer) freiere Bevölkerung der Steppe, welche sich mit eigenen Augen von den „Segnungen“ der in Rußland unter der Ägide der byzantinischen Orthodoxie wuchernden Knechtschaft überzeugen konnte, „den türkischen Weg wählte“, um ihre Freiheit durch die Annahme des Islam zu bewahren. Diese Entwicklung wurde (in rein technischer Hinsicht) natürlich auch dadurch gefördert, daß viele Steppenbewohner abstammungsmäßig ganz oder teilweise einem der Turkvölker angehörten und dank den Kontakten zu ihren Verwandten den Islam besser kannten.
Diesen elementaren Tendenzen lag ferner ein bestimmtes politisches Kalkül zugrunde. Um auch weiterhin finanzielle Unterstützung aus Rußland zu erhalten, war es für die Horde von Vorteil, sich in gewissem Masse von ihm zu distanzieren und nicht unter einem byzantinischen Regime mit ihm zu verschmelzen. Aufgeweckten Beobachtern war nämlich schon damals klar, daß sich der Byzantinismus gerade seinen eigenen Untertanen gegenüber besonders gnadenlos und repressiv verhielt. Bei den Beziehungen zum Byzantinismus ist es vorteilhafter, ein „Fremder“ als ein „Eigener“ zu sein, ist er doch eine Verkörperung des Prinzips: „Schlage die eigenen, damit sich die Fremden vor dir fürchten“.
Aus diesem Grunde tat man gut daran, sich diesem brutalen Regime nicht zu unterwerfen. Vor ihm zu fürchten brauchte man sich übrigens nicht; viel besser war es, ihm selbst Schläge zu versetzen, in jeder beliebigen Situation und unter jedem beliebigen Vorwand, ohne sich um irgendwelche Regeln oder Einschränkungen zu scheren. Denn: „Einen Mörder kaltzumachen ist eine kühne, einen Dieb zu bestehlen jedoch eine heilige Tat.“ So lautet eine alte Volksweisheit.
Zurück zu unserer Schilderung der historischen Entwicklung. Das ursprüngliche Projekt, nämlich die Einführung des Byzantinismus im Russenland und seinen Nachbargebieten, sah mit größter Wahrscheinlichkeit auch die Bekehrung der Horde zur Orthodoxie vor. Erinnern wir uns, daß nach dem Sieg Batys im Gebiet der Horde ein Bischofstum errichtet wurde. Doch eine Reihe von Rückschlägen führte dazu, daß an diesem Plan erhebliche Abstriche vorgenommen werden mußten. Die Horde gewann in der Folge an Konturen, erstarkte dank der Finanzhilfe von außen wirtschaftlich (sowohl in absoluter Hinsicht als auch im Verhältnis zu Rußland) und distanzierte sich von letzterem. Somit reiften die Voraussetzungen für die Errichtung eines tatsächlichen Jochs der Horde heran.
2. Der Norden gegen den Süden. Die Rätsel der Schlacht auf dem Schnepfenfeld
Doch nun mischte sich die Natur in die Entscheidungen ein. Vor der sogenannten „kleinen Eiszeit“, die im 15. Jahrhundert einsetzte und bis ins 19. Jahrhundert andauerte, erfolgte eine kurze, jedoch heftige Erwärmung, die auf der russischen Ebene dazu führte, daß das Klima trockener wurde. Im 14. Jahrhundert wurde die Steppe von großen Dürren heimgesucht, und zu allem Überfluß brachen noch mehrere Pestepidemien aus.
Die Pest wütete auch im Russenland, doch bedeutend weniger verheerend als in der Steppe, weil die ökologischen und epidemologischen Voraussetzungen die Ausbreitung von Seuchen dort in besonderem Masse fördern. Freilich gab es auch im Russenland Städte, deren Bevölkerung fast gänzlich dahingerafft wurde. Wie schrecklich die Epidemie da erst die Steppe heimgesucht haben muß, kann man sich ausmalen.
Die Erwärmung und das trockener werdende Klima bewirkten im Russenland eine Erhöhung des bioklimatischen Potentials für die Entwicklung der Landwirtschaft. Dies war übrigens ein Grund dafür, daß die städtische Wirtschaft im ehemaligen „Land der Städte“ immer mehr auf Ackerbau und Viehzucht umstellte. Im Vergleich zu anderen Ländern waren die Voraussetzungen für letztere natürlich längst nicht optimal, doch ließen sie das Projekt zur Umwandlung des industrialisierten, städtischen, freien Russenlandes in ein agrarisches Rußland der Leibeigenschaft zumindest realisierbar erscheinen.
Betrachtet man Lage vom Standpunkt der Landwirtschaft aus, so stand das byzantinische Modell im Widerspruch zur Natur. Die Landgüter sind im Russenland recht klein, und die günstigste Strategie besteht unter diesen Umständen darin, die Bevölkerung zu dezentralisieren und auf Bauernhöfe zu verteilen. So war es auch bis ins 14. Jahrhundert. Die durchschnittliche Anzahl von Häusern in den einzelnen Weilern lag durchschnittlich nicht höher als bei fünf. Doch nach der endgültigen Festigung der Macht Kalitas begann das Moskauer Bojarentum mit einer Konzentration der Bevölkerung. Um seine Untertanen leichter regieren zu können, faßte es sie in größeren Dörfern zusammen.
Eine solche Strategie befolgten übrigens nicht nur Moskauer Bojaren, sondern auch die Jünger der Akademikerin T. Saslawskaja. Während sich der Zusammenbruch der Sowjetunion bereits abzeichnete, begründete diese zwecks Stärkung der Kolchosenstruktur eine Politik der „Vergrößerung“ der Dörfer. Ob diese Saslawskaja wohl eine Nachfolgerin der Bojaren gewesen sein mag?
Wie dem auch sei: Die erwähnten klimatischen Veränderungen haben Rußland vermutlich gerettet. Die Steppe hatte nämlich aufs schwerste unter ihnen zu leiden. Rekonstruiert man den Wandel der damaligen ressourcenmäßigen, landwirtschaftlich-ökologischen und epidemiologischen Voraussetzungen auf dem Territorium von der Oka bis zum Nordkaukasus mit Hilfe eines Computermodells, so gelangt man zum Schluß, daß sich auf dem Territorium der Horde ein wirtschaftliches, ökologisches und demographisches Desaster ereignete.
Der wirtschaftliche Niedergang schlug sich zwangsläufig auch auf politischem Gebiet nieder. Nach dem Tode Usbeks folgten in der Periode bis zur Schlacht auf dem Schnepfenfeld zwanzig Khane aufeinander, wobei die meisten davon nicht ohne aktive Sterbehilfe vom Lichte schieden. Wie dicht diese „bedauerlichen Sterbefälle“ aufeinander folgten, geht daraus hervor, daß Zar Kulpa 1359, Zar Nawruz 1360 und Zar Chodyr 1362 ermordet wurden. daß sich die unaufhörlichen Regierungswechsel negativ auf das Potential der Horde auswirkten, versteht sich von selbst. Sie war mittlerweile nicht mehr in der Lage, den Nachkommen Newskis im Russenland wirksam zur Hilfe zu eilen.
Unter diesen Umständen war kein Grund mehr ersichtlich, warum die russischen Herrscher ihr weiterhin Tribut hätten zahlen sollen, und Dmitri Donski stellte die Zahlungen auch prompt ein. Begreiflicherweise trug das Versiegen dieser Geldquelle nicht eben zur wirtschaftlichen Gesundung der Horde bei, und außerdem besteht Grund zur Annahme, daß die Zahlungen auch zur Aufrechterhaltung ihres politischen Systems notwendig gewesen waren.
Für letztere Hypothese spricht in der Tat sehr viel. Wir bitten den politisch informierten Leser, sich vorzustellen, was heute im Nordkaukasus geschähe, wenn ihm Rußland den Subventionshahn zudrehen würde. Es würden sich dort unzählige Banden bilden, von denen jede nur gerade ihr eigenes Dorf – oder gar nur eine einzige Strasse in ihrem Dorf – kontrollieren würde. In diesem Zusammenhang mag man sich eine Anekdote aus der Sowjetzeit in Erinnerung rufen. Die rangmäßig niedrigen Beamten im Zentralkomitee der KPDSU pflegten damals zu sagen: „Wir sind nur kleine Leute, können aber genau so garstig sein wie die großen.“ Nach diesem Grundsatz handelten einzelne Gruppierungen der an Pest und Dürre zugrunde gehenden Horde.
In dieser Lage begann auch die Verwirklichung des „Projekts mit dem Dunkelmann Mamaj“. Die nun wieder einsetzenden Einfälle der Horde in Rußland hinterlassen ganz den Eindruck von Verzweiflungsakten. Es sind dies nichts weiter als mehr oder weniger organisierte Raubzüge der hungernden, aber immer noch zum Raufen fähigen Bevölkerung der Horde. Und was geschieht nun? Die angeblich „unbesiegbare“ Horde wird geschlagen. Sogar Oleg, Fürst von Rjasan und Führer der Fürstenkoalition, der zuvor nicht mit Erfolgen im Kampf gegen die „Tataren“ geglänzt hat, erringt jetzt den einen oder anderen Sieg über sie.
All dies spricht für unsere These. Gewöhnliche Raubzüge seitens der Steppenbewohner können zu keinen großen Triumphen führen. Doch daß sich ein Teil der zerfallenden Horde und Rußland immer häufiger blutige Scharmützel liefern, muß bei den Feinden des Byzantinismus zwangsläufig Aufmerksamkeit erwecken. Diesmal sind die Auftraggeber der Einfälle bereits die Katholiken, die über die Genuesen – die „Frjagen“ - handeln.
Warum ausgerechnet über die Genuesen? Weil diese sowohl als Bankiers des Projekts walten als auch über Agenten in Rußland verfügen. Aus irgendwelchen Gründen sind sie dort erstaunlich zahlreich. Man vergegenwärtige sich bloß, daß drei Städte in der Umgebung Moskaus heute noch die Namen Frjasino, Frjasewo oder Frjanowo tragen. Die „Frjagen“ müssen zahlenmäßig recht stark gewesen sein, wenn ihr kompaktes Zusammenleben zur Entstehung von wenigstens drei Städten mit genuesischen Namen führte.
Die Gegner des Byzantinertums, welche die ganze Vorgeschichte der Beziehungen zwischen dem Russenland und der Horde kennen, versuchen nun eine Wiederholung der Invasion Batys in die Wege zu leiten. Die Horde wird mit genuesischem Geld gekauft und kann auf eine starke genuesische fünfte Kolonne hinter den feindlichen Linien zählen. Unter den russischen Fürsten gibt es einen, der potentiell die Rolle eines „neuen Newski“ spielen könnte. Es ist dies Oleg von Rjasan. außerdem ist der litauisch-russische Großfürst Jagailo, der westliche Nachbar Rußlands, ein möglicher Verbündeter.
Doch die Gegner des Byzantinismus gehen zu schablonenmäßig vor. daß man dies nicht darf, werden sie erst später, von den Jesuiten, lernen. Die Horde hat sich keinesfalls konsolidiert, und ihre Agenten und potentiellen Bundesgenossen verfügen über keine Stützpunkte auf dem russischen Territorium, wie sie Baty weiland in Gestalt der orthodoxen Klöster und Kirchen zur Verfügung standen. Die Agenten und Verbündeten Mamas sind lediglich an einigen wenigen Punkten konzentriert; sie vermögen nicht von allen Seiten anzugreifen und im Hinterland Panik zu säen.
Angesichts dieser fehlenden Voraussetzungen wird der Angriff zu einem ganz gewöhnlichen militärischen Feldzug, den das stärkere Rußland gegen die Steppe gewinnt.
Dmitri Donski bringt der Horde auf dem Schnepfenfeld eine blutige Niederlage bei. Im Zusammenhang mit dieser Schlacht gilt es auf einige Mythen einzugehen, welche das klare und logische Bild dieser Aktion verzerren.
Erstens: Nach ideologisch gefärbten Mythen hat sich fast ganz Rußland um Dmitri geschart. Dies entspricht nicht der Wirklichkeit. Unterstützt wurde Dmitri lediglich von seinen Vasallen (was sich von selbst versteht) sowie ferner von zwei Fürsten, die früher Untertanen Litauens gewesen waren und keinesfalls auf Dimitris Befehl von Litauen nach Rußland geeilt waren, um sich an der Schlacht zu beteiligen, sondern schon weit früher, und zwar aus anderen Gründen.
Die Berichte, wonach auch die Nowgoroder, die Dmitri stellvertretend für die unabhängigen Staaten hätten unterstützen können, an der Schlacht teilgenommen haben, sind widersprüchlich. Wenn auf dem Schnepfenfeld tatsächlich Nowgoroder gekämpft haben, dann allenfalls eine zahlenmäßig geringe Schar von Freiwilligen. Doch kein Mensch wird behaupten, Schweden habe im Zweiten Weltkrieg auf der Seite des Deutschen Reichs gekämpft, nur weil die schwedischen SS-Freiwilligendivision Viking an der Ostfront focht. Anders gesagt: Fast ganz Rußland war der Auffassung, der Krieg zwischen Dmitri und Mamaj gehe es nichts an.
Zweitens: Die Rolle der Kirche und insbesondere Sergej Radoneschskis bei der Organisation des Widerstands gegen Mamaj. Auch dies ist ein Mythos. Wir bereits erwähnt ist es für die orthodoxe Kirche sehr peinlich, daß trotz allen „Korrekturen“ der Geschichte keine Zeugnisse für ihre Teilnahme am Widerstand gegen den „gottlosen Baty“ vorhanden sind – und zwar aus guten Gründen. Sie hat den Einfall Batys schließlich selbst organisiert. Doch jetzt, beim Kampf gegen Mamaj, kann sie den damals versäumten Widerstand nachholen. Die Horde ist ja zum Islam übergetreten, und das Geld zur Finanzierung der Invasion kommt von den Katholiken. Aber auch unter diesen optimalen Voraussetzungen ist es der orthodoxen Kirche nicht gelungen, ihre Rolle beim Widerstandskampf propagandistisch geschickt genug herauszustreichen. In den letzten Jahren sind immer mehr Belege dafür aufgetaucht, daß Sergej anfangs auf einen Kompromiß mit Mamaj aus war und sich erst auf die Seite Dmitris schlug, als dieser beschlossen hatte, notfalls auf eigene Faust Widerstand zu leisten.
Drittens: Der Ort der Schlacht auf dem Schnepfenfeld. Wer dieses Feld besucht, stellt fest, daß es viel Phantasie braucht, um es mit der in den Dokumenten geschilderten Stätte der Schlacht zu identifizieren. Wir verzichten darauf, den Leser mit einer Fülle von Einzelheiten zu überhäufen, und verweisen auf die Werke Fomenkos, dessen Kritik an der offiziellen Version unanfechtbar ist, mögen seine eigenen phantastischen Hypothesen auch noch so fragwürdig sein.
Dem Verfasser persönlich wurde klar, daß auf diesem Feld nie eine Schlacht stattgefunden hat, als er in einem lichten Lindenhain eine Bronzetafel mit folgender Inschrift sah: „In diesem Eichenwald stand die Reservetruppe des Bojaren Bobrok.“
Sicher, einen Eichenwald kann man fällen und an seiner Stelle einen lichten Lindenhain anpflanzen. Doch Geobotaniker, welche den Ort gemeinsam mit dem Verfasser aufgesucht haben, waren nicht zu träge, um dem Boden Proben zu entnehmen. Nach einer Analyse kamen sie zum Ergebnis, daß in einer überschaubaren Vergangenheit hier keine Eichen gewachsen waren.
Und wo sind die Waffen der Teilnehmer an der Schlacht geblieben? Auf dem Feld wurden keine Überreste solcher gefunden; dies geben selbst die Touristenführer des Museums auf dem Schnepfenfeld kleinlaut zu und räumen ein, daß die dort befindlichen Exponate von anderswo herbeigeschafft worden sind.
Wie steht es nun mit menschlichen Überresten? Wenn auf diesem Feld mehr als hunderttausend Krieger beider Seiten gefallen sind (einige offizielle Quellen nennen noch höhere Zahlen), müßte eine so große Zahl von Gebeinen zu einen geochemisch anomalen Phosphorgehalt des Bodens führen. Doch dieser entspricht durchschnittlichen Werten. Nehmen wir aber einmal an, es seien nicht hunderttausend, sondern lediglich zehntausend Krieger gefallen, und die siegreichen Russen hätten ihre Toten weggeschafft, um sie zu begraben – wo sind dann die Überreste der erschlagenen Feinde? In der letzten Phase brach das Heer Mamas nämlich zusammen, und die „Tataren“ hatten höhere Verluste zu beklagen als die „Russen“.
Allerdings ist bereits die Geschichte mit den anderswo begrabenen Russen höchst unwahrscheinlich. Die russischen Heere standen angeblich acht Tage lang auf dem Schlachtfeld, um ihre Gefallenen zu sammeln, und brachten diese dann nach Moskau - auf Pferdewagen natürlich. Bis sie Moskau erreichten, werden sie mindestens zwei Wochen gebraucht haben. Sind die Leichen in diesem Zeitraum von über zwanzig Tagen denn nicht verfault? Sind weder die Pferde, welche die Wagen zogen, noch die Männer, welche sie fuhren, an dem Gestank zugrunde gegangen? Und was tat man, als die unter solchen Umständen unvermeidlichen Epidemien ausbrachen?
In Anbetracht dieser nackten Fakten scheinen die Rekonstruktionen Fomenkos, der das Schnepfenfeld (Kulikowo Pole) mit dem bei Moskau liegenden Kulkischki identifiziert, völlig logisch. Die Gefallenen wurden im Moskauer Simon-Kloster beigesetzt. Wer sich näher mit Fomenkos Argumenten auseinandersetzen will, greife zu seinen Büchern, darunter den von uns bereits zitierten.
Übrigens ist die Frage nach dem Ort, wo sich die „Schlacht auf dem Schnepfenfeld“ abgespielt hat, durchaus nicht nebensächlich. Falls die wirkliche Schlacht nämlich in der unmittelbaren Nähe Moskaus stattfand, werden die folgenden Ereignisse verständlich. Der rätselhafte Erfolg des Tochtamysch läßt sich nach dem Triumph Dmitris auf dem Schnepfenfeld nur sehr schwer erklären.
Fand die Schlacht in der unmittelbaren Umgebung Moskaus statt, war letzteres nämlich immer noch eine kleiner Ort in der Nähe der Grenze oder aber eine der sogenannten „Grenzhauptstädte“. Darunter verstand man die Hauptstädte aufstrebender Staaten, die an jener ihrer Grenzen errichtet worden waren, welche man in der entsprechenden Richtung erheblich auszudehnen gedachte. Beispielsweise stimulierte St. Petersburg die Expansion Rußlands gegen Westen und Nordwesten. In der Tat führte die Politik St. Petersburgs später zur Eroberung des Baltikums und Finnlands. Ohne diese Ziele hätte es keinen Sinn ergeben, St. Petersburg an jener Stelle zu erbauen, wo es heute steht.
Die Lage Moskaus im äußersten Südwesten der Besitztümer der Nachfahren Kalitas zeugt davon, daß sie ihren Einflußbereich auf Kosten Litauens und der Horde zu erweitern gedachten. Genau dies taten sie später auch.
War Moskau aber eine Grenzhauptstadt, so liefert dies auch eine zwanglose Erklärung dafür, daß Tochtamysch urplötzlich vor seinen Toren erschien und es zu erobern vermochte. Eine bloße Überquerung der Grenze hat überhaupt nichts Erstaunliches an sich. Erklärbar ist dann jedoch auch sein rascher Abzug. Für einen Feldzug ins Innere Rußlands fehlt ihm die Kraft, und er begnügt sich mit der Einnahme einer einzigen – dafür großen - Grenzstadt. Dann zieht er sich zurück. schließlich sind die Streitkräfte der Horde denjenigen Dmitris eindeutig unterlegen.
Aller Wahrscheinlichkeit nach beginnt mit dem Epos von Mamaj und Tochtamysch auch der tatsächliche, lange andauernde Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden, dem Wald und der Steppe auf der russischen Ebene. Doch die bisher geschilderten Ereignisse zeigen, daß der Süden nicht auf eine Eroberung des Nordens, sondern bestenfalls auf mehr oder weniger erfolgreiche Raubzüge hoffen darf.
Zum Abschluß dieses Themas wollen wir auf die bekannte Schlacht beim Flusse Ugra im Jahre 1480 eingehen. Unserer Meinung nach ist an dieser Episode nichts Erstaunliches oder Rätselhaftes. Das Moskauer Rußland hat sich mittlerweile unter Iwan III. konsolidiert und ist den Steppenbewohnern an Stärke klar überlegen. daß letztere überhaupt noch eine Rolle spielen, läßt sich unserer Überzeugung nach nur damit erklären, daß sie hin und wieder eine Finanzspritze von den Katholiken erhalten, um dem byzantinischen Moskau eins auszuwischen. außerdem hat inzwischen bereits die „kleine Eiszeit“ eingesetzt. Im Herrschaftsgebiet Moskaus sinkt die – mittlerweile mehrheitlich auf der Landwirtschaft fußende - wirtschaftliche Produktivität infolge der zunehmenden Kälte und Feuchtigkeit, während der Süden, der zuvor an Wassermangel und Hitze litt, von dem kühler werdenden Klima profitiert und eine neue Blüte erlebt.
Doch ungeachtet dieser optimalen äußeren Bedingungen werden die von der Horde aufgebotenen Streitkräfte vom Fürsten von Moskau bereits beim Grenzfluß Ugra gestoppt. Zur gleichen Zeit stoßen die Moskauer mit ihren Kähnen auf der Wolga tief nach Süden vor und verheeren die Ländereien der Horde, was nur bedeuten kann, daß es dort keine Truppen mehr gibt: Sie sind alle in Richtung Moskau gezogen.
Die Niederlage der Steppenbewohner fällt so gründlich aus, daß Khan Achmat flugs zum Rückzug bläst. In seinem bereits mehrfach erwähnten Buch bauscht A. Buschkow dies zur unlängst entdeckten Sensation auf. Uns scheint dies übertrieben. Der Verfasser hat schon während seines Kriegsdienstes zu Beginn der siebziger Jahre in einer Militärzeitschrift von diesen Geschehnissen gelesen und darin eine strategische Schilderung des ganzen Feldzugs gefunden, erinnert sich aber leider nicht mehr an den Titel. Ihm ist jedoch noch klar gegenwärtig, daß es darin hieß, die Operation sei vom Standpunkt ihrer Planung durch den Moskauer Fürsten klassisch gewesen. daß die Horde ihre gesamten Streitkräfte mobilisiert und dazu an einem einzigen Punkt konzentriert hatte, wurde als militärisches Abenteurertum gerügt.
Wen wundert es. schließlich sind Steppenbewohner gute Taktiker, aber miserable Strategen.
Doch damit endet nicht nur der Feldzug. Der physische und moralische Schlag, den die Niederlage bedeutet, und das Scheitern der totalen Mobilmachung (möglicherweise war es die erste und letzte Mobilisierung dieses Ausmaßes in der Geschichte der Horde) führt dazu, daß letztere zusammenbricht. Die halbnomadischen freien Steppenbewohner wollen sich nicht mehr mobilisieren lassen, und sie besitzen viele Möglichkeiten, zukünftige ähnliche Versuche zu ignorieren.
Die Horde und ihre Heere existieren nicht mehr.
Die Bevölkerungsgruppen, aus denen sich die Horde zusammengesetzt hatte, sind natürlich nicht einfach verschwunden. Auf einem Teil ihres Territoriums entstehen Vereinigungen von Kosaken – Kosakenheere. Möglicherweise führte das mißglückte Abenteuer Ahmats bei der mehrheitlich immer noch russischen Bevölkerung auf dem Gebiet der Horde dazu, daß sie am muselmanischen Glauben zu zweifeln begann und wachsende Abneigung gegen die turksprachigen Verantwortlichen für diese zweifelhafte Aktion empfand. Dies könnte den Anstoß dazu gegeben haben, daß sie sich wieder dem orthodoxen Glauben zuwandte (erinnern wir daran, daß es auf dem Territorium der Horde ein Bischofstum gab) und vermehrt wieder russisch sprach.
Jene, die sich nicht für diese Rückkehr zu den Wurzeln entscheiden wollten, lebten im äußersten Süden der Steppe konzentriert. Sie blieben der „Horde“ treu und vermischten sich mit Turkvölkern und Semito-Kaukasiern. Die Historiker behaupteten dann später, die Horde habe von Anfang an eine solche ethnische Komponente aufgewiesen.
3. Von Dmitri Donski bis Iwan dem Schrecklichen und weiter
Auf einer Strasse gingen zwei Menschen einher. Der eine war gesund, stark und schön. Er war klug, gutherzig, poetisch, verträumt und ein wenig zerstreut. Er war ein Meister seines Handwerks – erfindungsreich, findig und geschickt.
Der andere war alt, sündhaft und lasterhaft. Deshalb hatten ihn die Götter mit einer unheilbaren ansteckenden Krankheit gestraft, vielleicht sogar mit mehreren Krankheiten zugleich.
Das Schicksal wollte es, daß sich die beiden Männer an einem Kreuzweg trafen. Der alte hustete dem jungen aus Bosheit absichtlich ins Gesicht oder besudelte sein Gewand mit seiner schmutzigen Pfote. Bald trennten sie sich.
Der boshafte, häßliche Greis starb bald darauf, wie es einem solchen Widerling gebührt. Er krepierte wie ein Hund.
Der junge Mann aber erkrankte. Er war allzu gesund, geduldig und stark, um zu sterben; er vermochte Schwäche und Schmerz zu ertragen und weiterhin zu leben, zu arbeiten, zu schaffen. Sogar Heldentaten vollbrachte er noch, wobei er seine Atemnot überwand und sich den blutigen Schweiß vom Antlitz wischte. Selbst lieben konnte er noch.
Doch die Krankheit untergrub seine Kräfte. Und manchmal, wenn er erschöpft vom Glück träumte, ahnte er, wo er sich mit dieser Krankheit angesteckt hatte. Doch um zu gesunden, muß man wissen, wovon man gesunden muß. Er hatte viel gelernt und wußte viel. Er konnte vieles verkraften und vieles mit seinen Talenten wettmachen. Was er tun mußte, um zu genesen, wußte er jedoch nicht, obwohl er ein Meister seines Faches und ein Schöpfer war und sicherlich ein Heilmittel gefunden hätte, wären ihm die Gründe seiner Krankheit bewußt gewesen und wäre er sich klar gewesen, wo und durch wessen Schuld sie ihn befallen hatte.
Raffe deine Kräfte zusammen, Meister! Erinnere dich! Wenn du zugrunde gehst, verödet die Welt. Auf Erden sind nur wenige deinesgleichen; nur wenige sind so gut, so stark und noch in der Krankheit so großzügig.
Erinnere dich, mein Freund, erinnere dich, mein Lieber. Um zu genesen, um zu siegen, um das Glück zu erhaschen, brauchst du dich nur zu erinnern und zu begreifen.
Mein geliebtes Russenland, erinnere dich, wo du dich mit dieser verderblichen Krankheit angesteckt hast.
Das verfluchte Byzanz ist elendiglich verendet. Auch seine Nachfolgerin, das Ottomanische Reich, ging zugrunde, ohne daß die islamische Volksreligion etwas daran ändern konnte. In furchtbaren Todeskrämpfen starben die Imperien eines ruhmlosen Todes, ohne daß jemand auch nur einen Funken Mitleid mit ihnen empfunden hätte. Es starben die Staaten, die sich irgendwo und irgendwann mit dieser aus dem Ostraum des Mittelmeers stammenden Seuche angesteckt hatten.
Nur ein einziges Land, das zu Rußland gewordene Russenland, vermag sich einfach nicht von der byzantinischen Infektion zu befreien.
Alles, was Wsewolod Bolschoje Gnesdo begonnen und was seine Nachfolger unternommen hatten – der Brudermörder Newski, der feige Lump Juri von Moskau, sein widerlicher Bruder Iwan Kalita, der aufgeklärte Gauner Iwan III, die einem niedrigen Geschlecht entstammenden Romanows, die ihre Herrschaft mit dem Mord an einem vierjährigen Kind begannen (Mnischek, den Sohn Marinas und Dmitris, den sie am Tor des Kremls aufhängten), zerrann zu nichts.
Der russische Staat dehnte sich immer mehr aus, und zwar in zwei Richtungen. Erstens expandierte es dort, wo die Natur karg und die Bevölkerung spärlich war und Rußland aus rein natürlichen Gründen keinen alternativen staatlichen Modellen begegnen konnte. Zweitens machte es sich immer neue Territorien und Ressourcen untertan und dehnte sich auf den Spuren der byzantinischen Orthodoxie aus; wo dieser aus irgendwelchen Gründen Fuß gefaßt hatte (einige Aspekte dieses Prozesses behandeln wir später noch), faßte meist auch Rußland Fuß. In allen anderen Fällen – namentlich im Nordkaukasus - mußte die Nachfolgerin von Byzanz beinahe jeden Meter Boden mit kolossaler Mühe erobern.
„Das ist doch wunderbar“, wird sich gar mancher Leser da denken, „das Land expandierte, gewann ständig neue Territorien und Ressourcen, wurde stärker und reicher“. Lieber Leser, wenn du dich für einen denkenden Menschen hältst, ist es an der Zeit zu begreifen, daß Staat, Land und Volk drei verschiedene und ihrem Wesen nach selbständige Subjekte sind. Und wenn ein Volk ein Volk seine Art von Zivilisation entwickeln konnte, gilt es auch diesem Phänomen Rechnung zu tragen, da auch ihm eine eigene, durch innere Faktoren bedingte Entwicklungsrichtung innewohnt.
Betrachten wir die Geschichte Rußlands von diesem Standpunkt aus, so stellen wir fest, daß der Staat zweifellos größer und reicher wurde. Doch mit dem Land, d.h. dem Territorium, ging es abwärts. Es reicht hier, an den absolut anomalen Aufpflügungsgrad der russischen Steppen zu erinnern, der in der Mitte der achtziger Jahre 80% betrug. Bereits ein Jahrhundert zuvor war er sehr hoch gewesen (60-75%), obwohl 45% als das Höchstmaß des Verantwortbaren und 50% bereits als ökologische Katastrophe gilt.
So sah es also mit dem Land aus. Doch das Land besteht nicht nur aus bloßem Territorium und den auf diesem vorhandenen Ressourcen. Das Land ist die Gesamtheit der natürlichen Voraussetzungen plus die Gesamtheit der Gegenstände der materiellen Kultur. Freilich ändern sich auch die natürlichen Voraussetzungen unter dem Einfluß der unzähligen Generationen von Bewohnern des Landes, die dort leben und arbeiten. Holland wäre ohne die Holländer heutzutage vom Meer überflutet und kein bebautes, wohnliches Stück Festland. Und hätten in der Sahara nicht die Ahnen ihrer heutigen Bewohner gelebt, so wäre sie eine blühende Savanne und keine Wüste.
Das Land ist die Wohnstätte eines Volkes, sein Haus, das sein physisches und geistiges Selbstgefühl bedingt.
Ein erschöpftes, zur Hälfte abgestorbenes Territorium, das sich nur dort unversehrt bewahrt hat, wo keine gierigen Pfoten hinlangten, bildet die Voraussetzung für den Niedergang des Volkes, das sich vorkommt wie ein Landstreicher in einer halbzerstörten Kaserne, die es nicht sein Haus nennen mag. Die Natur des Russenlandes ist zu schön und das Land zu groß, um sich endgültig morden zu lassen. Doch die Spuren der vollbrachten Raubzüge in Form halb abgeholzter Wälder, endloser Äcker, versandeter Flüsse, finden sich auf Schritt und Tritt.
Dies ist nicht die Hinterlassenschaft der „verfluchten Bolschewiken“ oder ihrer „satanischen Industrialisierung“, wie viele orthodoxe Traditionalisten zu Beginn der neunziger Jahre mit Vorliebe zu sagen pflegten. Es ist die Hinterlassenschaft jenes unnatürlichen Wirtschaftssystems, das dem Russenland unter aktiver Teilnahme der byzantinischen Popen aufgezwungen wurde.
Über das Schicksal des Volkes brauchen wir nicht viele Worte zu verlieren. Die ganze Geschichte Rußlands ist eine Geschichte der Ausplünderung und Knechtung des eigenen Volkes sowie des faktischen Krieges, den seine Herrscher gegen dieses führten. Newski und Baty haben das russische Volk erbarmungslos tyrannisiert, um ihre eigene Macht zu festigen, und alle ihre Nachfolger taten es ihnen gleich – bis hin in unsere Tage. Über den Alltag des Volkes werden wir uns später noch gesondert äußern.
Diesen Stand der Dinge hat übrigens niemand verhehlt oder geleugnet. Iwan der Schreckliche hat sich hierzu mit hinreichender Klarheit geäußert, indem er erklärte, er herrsche nicht über Menschen, sondern über Vieh. Unter Peter I. schrumpfte die Bevölkerung Rußlands um ein Viertel. Die Romanows haben die leibeigenen Bauern bis aufs Blut gequält; diese machten zu Beginn ihrer Herrschaft die Mehrheit und in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer noch die Hälfte der Bevölkerung aus; da sie ein negatives Wachstum zu verzeichnen hatten, bedeutet dies, daß viele von ihnen einfach weggestorben sind.
Die demographische Explosion des 19. Jahrhunderts in Rußland war ausschließlich der Bevölkerung Sibiriens, des Nordens und der Kosakengebiete zu verdanken, wo die von den Romanows eingeführte Leibeigenschaft aufgrund von Umständen, auf welche die Romanows keinen Einfluß hatten, nicht verbreitet war. Die Leibeigenschaft war eine typisch byzantinische Erscheinung. In den nach byzantinischem Strickmuster errichteten Imperien ging es dem Staatsvolk stets am schlechtesten.
Der Schriftsteller S. Aksanow hat die Situation jener Jahre geschildert und ist zum Schluß gekommen, Rußland habe wie ein okkupiertes Land gewirkt, so groß sei die Kluft zwischen Ober- und Unterschicht gewesen. Auch die ethnischen Unterschiede seien schwer ins Gewicht gefallen. Wie wir gesehen haben, begann Newski damit, allerlei Außenseiter in die russische Elite aufzunehmen. Dieser Prozeß hielt dann bis in unsere trüben Tage hinein an. Wie viele „Turuntais“ und „Tjuchtais“ haben im Verlauf dieser Jahrhunderte doch den Sprung an die Spitze der russischen Gesellschaftspyramide geschafft! Im Großfürstentum Nowgorod, das von den Nachfolgern Newskis vernichtet wurde, war die Elite, der sogenannte „goldene Gürtel“, hingegen rein russisch. Auch die Vernichtung der ethnischen Elite des Staatsvolkes gehört zu den Kennzeichen des Byzantinismus.
Wenden wir uns nun noch dem Schicksal der russischen Zivilisation zu. Dies ist gewissermaßen ein Lied für sich. Der Byzantinismus ist grundsätzlich ein Feind der Zivilisation und des Fortschritts, und die Umwandlung des „Landes der Städte“, des weltweiten Spitzenreiters auf dem Gebiet der Zivilisation, in ein dörfisches Rußland verlief unter dem Banner des Kampfes gegen die Städte. Diese wurden bereits von den unmittelbaren Nachfahren Newskis ruiniert, und mit ihrer Zivilisation ging es abwärts. Den Schlußpunkt unter diese Entwicklung setzte dann Iwan der Schreckliche mit der Eroberung Nowgorods.
Die Erniedrigung der Städte ging übrigens mit der Liquidierung jeder nennenswerten Form von Selbstverwaltung und regionalen Autonomie Hand in Hand. Auch dies ist ein Kennzeichen des Byzantinismus und hält sich bis in unsere Tage, obwohl seither zwei Imperien, das der Romanows und das sowjetische, vom Sockel gestürzt sind.
Von einer zivilisatorischen Führungsmacht sank Rußland zu einem Außenseiter ab. Es förderte nicht das, was es unter den gegebenen Bedingungen mit Vorteil hätte fördern sollen, und gab dem Wohl des Staates den Vorrang vor dem Wohl des Volkes.
Was, entwickelte Städte widersprechen dem byzantinischen Modell? Dann müssen die Städte in den Ruin getrieben werden, und man muß das Volk zwingen, Ackerbau und Viehzucht zu treiben, und zwar auch dort, wo dies aus natürlichen und klimatischen Gründen kaum noch möglich ist. Nun gut, dann soll das Volk eben in der Landwirtschaft arbeiten, aber unter den Bedingungen kleiner Landgüter betreibt man diese am besten von Bauernhöfen aus. Nein, man muß die Leute unter Kontrolle halten, fassen wir sie also in großen Dörfern zusammen!
Weißt du, lieber Leser, wann Nordsibirien erschlossen wurde – und zwar sehr intensiv? Zur Sowjetzeit? Falsch geraten – bereits zur Zeit der großen Wirren, als an der Mündung des Tas eine für die damaligen Zeiten recht ordentliche Stadt namens Magazen erbaut wurde. Merkwürdig, nicht wahr? Im Fürstentum Moskau tobt der Kampf um die Macht. Der Würgegriff des Zentrums lockert sich. Und Menschen, die sich selbst überlassen sind, bauen eine Stadt und erschließen ein Territorium, das erst in unserer Zeit ein zweites Mal eine größere Zahl von Menschen vordrang.
Doch dann befahlen die ganz unter dem Einfluß des Byzantinertums stehenden Zaren, diese bereits erschlossene nördliche Region zu „schließen“; sie ließ sich nämlich nicht gebührend kontrollieren. Auf Geheiß Moskaus verließen die Bewohner von Magazen ihre Stadt. Diese Episode war Unterrichtsstoff in allen Kursen über die Geschichte der Erschließung der Arktis, beispielsweise im Kurs „Die Geographie der Seewege“ in den Instituten für Seefahrt. Doch wie schmählich ist das Eingeständnis, daß der eigene Stadt einen derartigen Schildbürgerstreich begangen hat! Darum sucht man in der Kleinen Sowjetischen Enzyklopädie vergebens nach dem Stichwort „Mangazen“. In zeitgenössischen Enzyklopädien wird die Stadt zwar erwähnt, doch liest man dort, sie sei „durch Feuersbrünste“ vernichtet worden. In Wirklichkeit ging sie zugrunde, weil ihre Bevölkerung sie auf einen unsinnigen Befehl aus Moskau hin verließ.
Dies ist nur ein Beispiel unter vielen. Bis hin in die Endzeit der sowjetischen Ära, als man Fabriken nicht an den vom wirtschaftlichen und geographischen Standpunkt aus optimalen Orten baute, sondern dort, wo sie bei einem Atomkrieg am wenigsten gefährdet waren. Ein Atomkrieg hat freilich nicht stattgefunden. Die unförmige Sowjetunion brach mitsamt ihrer unförmigen Industrie zusammen, die auf einen Atomkrieg, nicht aber auf ein normales Leben zugeschnitten war.
„Es gab aber doch Höhenflüge und Perioden der stürmischen Entwicklung!“ ruft der eine oder andere Leser hier empört aus. Und ob es sie gab. Anders wäre es ja gar nicht gegangen. schließlich gibt es da Nachbarn, die sich nicht auf die faule Haut gelegt haben, und es gilt sich unbedingt auf ihr Niveau emporzuschwingen.
Doch all diese ruckartigen Bemühungen erstreben nichts weiter, als die Modernisierung anderer aufzuholen. Der Anstoß dazu kommt nicht von der russischen Zivilisation selbst, die ein sehr hohes Autarkiepotential besitzt, sondern ist das Ergebnis äußerer militärpolitischer Herausforderungen. Und der russische Staat sieht sich gezwungen, diese ruckartigen Bemühungen zu organisieren, tut dies aber mit niedrigem Nutzungskoeffizienz und auf Kosten einer katastrophalen Auslaugung von Volk und Natur.
Diese Aufholjagd kann ihrem Wesen nach nicht flüssig und konsequent verlaufen. Sie weist darum einen dermaßen ruckartigen Charakter auf, weil sie in Wirklichkeit gar keine echte Modernisierung ist. Wenn sich allzuviel rückständiger Schutt aufgehäuft hat, folgt ein solcher Ruck. Ist das Ausmaß der militärischen Bedrohung des Staates dann auf ein Minimum reduziert, flaut die Modernierung ab.
Es liegt auf der Hand, daß eine nicht mit roher Gewalt erzwungene Entwicklung der Zivilisation nach ganz anderen Gesetzen verläuft, auch wenn sie ebenfalls ihre Flauten und Beschleunigungen kennt.
Selbstverständlich verläßt die Entwicklung beim Prozeß der erwähnten ruckartigen Modernisierung oft den engen Rahmen der ihr vom Staat gestellten Aufgaben. Das zivilisatorische Potential Rußlands ist einfach noch sehr groß. Man kann nur erahnen, zu welchen Leistungen das Land mit diesem Potential fähig wäre, verliehe man ihm die Möglichkeit, sich ungehemmt und ohne staatliche Einmischung zu entfalten. Beispielsweise könnte man den Brennstoffverbrauch in den Mietwohnungen um das Doppelte bis Dreifache vermindern, doch wird keine Lizenz für die massenhafte Einführung der neuen Technologien erteilt. Es gibt Mittel zur Heilung selbst der hoffnungslosesten Krebserkrankungen, aber... Sie haben es erraten: Das Gesundheitsministerium erteilt keine Lizenz für ihre Einführung.
Das Gesundheitsministerium erteilt seine Lizenzen eben nur unter sehr strengen Auflagen, um unsere Gesundheit vor allerlei Abenteurern zu schützen, wird der Leser vielleicht einwenden. Weit gefehlt, lieber Leser, das Problem besteht lediglich darin, daß den Herstellern jene halbe Million Dollar fehlt, welche die verantwortlichen Beamten im Gesundheitsministerium als Schmiergeld für die Erteilung der betreffenden Lizenz verlangen.
So wird die einzigartige Heizungstechnologie eben in Deutschland eingeführt. Und Frankreich ist bereit, das Rezept für die Heilung von Krebs zu einem Zeitpunkt, wo es noch nicht vollständig entwickelt ist, zu kaufen. Doch die Hersteller sind hartnäckige Patrioten und lehnen das Angebot ab, im Gegensatz zu den Erfindern der neuen Heizungstechnologie, die weltmännischer denken.
Genug der Beispiele; es ist auch so alles klar. Das byzantinische Modell hat es dem imperialen Staat ermöglicht, sich zu mästen und zu expandieren, und zwar auf Kosten a) des Volkes b) des Landes c) des zivilisatorischen Potentials. Zum Dank dafür hat die byzantinische Brut hat sowohl das Volk als auch das Land als auch das zivilisatorische Potential ruiniert.
Es ist übrigens höchst aufschlußreich, daß sie nicht bloß eine hohe Zivilisation herabgewirtschaftet hat, sondern selbst die Volkskultur. Eine Kultur, ohne die eine nationale Selbstidentifizierung unendlich schwer ist. Mit diesem Problem des russischen Volkes sind wir alle vertraut. Die Russen selbst empfinden heftigen Schmerz darüber, unsere Feinde hämische Schadenfreude. Das Problem ist sehr realer Art, und um es zu lösen, gilt es klar und deutlich zu sagen, wer daran schuld ist.
Es gibt unwiderlegbare Zeugnisse dafür, wie die nationalen Bräuche und Traditionen unterdrückt wurden. Wie auf Befehl der Zaren Gaukler und Märchenerzähler umgebracht wurden. Übrigens wurde die überwältigende Mehrheit der russischen Märchen in den Gebieten niedergeschrieben, die früher zum Großfürstentum Nowgorod gehörten, welches dem Byzantinismus am längsten Widerstand geleistet hat. Und in anderen Regionen blieben die Märchen vor allem auf jenen Territorien erhalten, wo sich die Nowgoroder nach dem Untergang ihrer Stadt niederließen.
Erst heutzutage wird mehr oder weniger verständlich, wie man die russische Schule des Faustkampfs und des Fechtens zugrunde gerichtet hat. Man hat diese Kampftechniken so gründlich unterdrückt, daß Iwan III. sogar Zweikämpfe mit Ausländern verbot, weil diese jeden russischen Gegner mit Leichtigkeit überwanden. Noch 150 bis 200 Jahre früher hatten die russischen Krieger zu den besten der Welt gehört, und 350 Jahre zuvor waren sie die weltweit besten gewesen.
So sprang das byzantinische System also mit der Volkskultur und der Tradition um, und zwar auch in Fällen, wo dies die Verteidigungsfähigkeit des Landes untergrub. Doch Imperien sind stets bereit, reale Ziele – selbst solche militärischen Charakters – zu opfern, um jede Gefahr eines inneren Widerstands zu beseitigen.
Warum hat diese Unvereinbarkeit des byzantinischen Modells mit dem zivilisatorischen Fortschritt es Rußland nicht ermöglicht, dessen Fesseln abzuschütteln? Warum haben andere Länder, die nicht über die gleichen natürlichen Voraussetzungen verfügten wie wir, sich längst vom Erbe des Byzantinismus befreit?
Die Antwort ist einfach. Jahrhundertelang hatte die byzantinische Orthodoxie wie ein Bleigewicht auf dem russischen Volk gelastet. Sie stützte das nach byzantinischem Modell errichtete Imperium wirksamer als hunderttausend Bajonette. Kein anderes auch nur annähernd so großes Land wie Rußland war orthodox. Andere Länder, die sich zu Weltmächten mauserten, vermochten das pfäffische Joch abzuschütteln oder zumindest einen Kompromiß zwischen den Überbleibseln der Religion und den Erfordernissen des Lebens zu finden. Der Byzantinismus ist zu solchen Kompromissen mit dem Leben unfähig. Fähig ist er lediglich zu einem Kompromiß mit dem Tode und dessen Dienerin, der dumpfen pfäffischen imperialen Bürokratie.
Der Byzantinismus ist mehr als ein politisches Modell und mehr als eine Religion, kann jedoch außerhalb des Imperiums und der byzantinischen Orthodoxie nicht überleben. Und letztere ist eine weitaus stärkere Stütze des Byzantinismus als die imperialen bürokratischen Mechanismen, weil er das Bewußtsein formt und das noch dauerhaftere Unterbewußtsein. Dies läßt sich beobachten, wenn man sich mit aufrichtig gläubigen, klugen und ordentlichen Menschen unterhält. Beispielsweise wiederholt ein Gelehrter mit antisemitischen Ansichten (solche gibt es, was nicht bedeutet, das wir sie begrüßen) Tag für Tag inbrünstig Gebete mit Texten aus dem Alten Testament, wo wir lauter Namen wie David, Isaak und Sara antreffen. „Wie läßt sich das denn mit Ihrem Antisemitismus vereinbaren?“ fragt man ihn. Er antwortet: „Gewiß, darin liegt ein Widerspruch, aber...“ Er weiß nicht, was er sonst noch antworten soll. Ihm, einem Gelehrten von Weltruf, ist urplötzlich jede Logik abhanden gekommen. So kann man in die Kindheit zurückfallen. Für die Wissenschaft ist es freilich tragisch, einen solch hellen Kopf zu verlieren.
Somit ist die Orthodoxie mit ihrem mehr als siebenhundertjährigem geistigen Monopol in Rußland (wir setzen ihren Sieg mit dem Jahre 1240 an) weit tiefer verwurzelt als die weltlichen Überbleibsel des Imperiums.
In der Tat. Das Imperium wurde 1917 gestürzt. Es fiel von selbst zusammen. Aber es wurde vom Atheisten Lenin, den Juden Trotzki und Swerdlow und dem gescheiterten Seminaristen Stalin fast genau nach altem Muster erneuert. Was führte diese so unterschiedlichen Männer zusammen? Nur eines – sie waren in der Atmosphäre eines Staates aufgewachsen, in dem die byzantinische Orthodoxie herrschte.
Man braucht im Wasser nicht unbedingt zu ertrinken. Aber trocken bleiben kann man in ihm nicht.
Das byzantinische Gift saß dermaßen tief im Volkskörper, daß auf den Trümmern des Rußlands der Romanow-Dynastie nichts anderes als ein neues Imperium entstehen konnte. Im Verlauf von mehr als siebenhundert Jahren haben die imperialen und orthodoxen Kreise unzählige Seilschaften geschaffen, wobei sie durchaus nicht immer so direkt vorgingen wie zur Zeit Batys und Newskis. Bisweilen haben die imperiale und die orthodoxe Lobby vor aller Öffentlichkeit sogar beträchtliche Meinungsunterschiede erkennen lassen. Doch bei diesen handelte es sich stets um Bruderkämpfe.
Hierzu ein Beispiel. Peter I. hat die Rechte und Möglichkeiten der Kirche ganz erheblich beschränkt, dafür aber das Imperium gestärkt. Es gelang ihm, die systemimmanenten Merkmale des byzantinischen Regimes mit den Erfordernissen der zwecks Einholung des Westens durchgeführten Modernisierung unter einen Hut zu bringen. Gerade dadurch bewahrte er jedoch auch die Orthodoxie. Wäre das Imperium zusammengebrochen (und diese Gefahr bestand damals sehr wohl), so hätte die Orthodoxie ihre Stellung nicht behaupten können. Die Reformen Peters haben die Macht der Kirche zwar ein wenig verringert, lagen aber langfristig durchaus in ihrem Interesse.
In der UdSSR, die eine Neuauflage des Imperiums darstellte, wäre die Orthodoxie scheinbar um ein Haar vernichtet worden. Doch auch das sowjetische Imperium brach zusammen, und es gab noch genügend Überreste der Orthodoxie, um erstens die Macht der Kirche wenigstens teilweise wiederherzustellen und zweitens die Bewahrung der imperialen, byzantinischen Relikte in unserem Leben auf jede erdenkliche Weise zu fördern.
Während wir diese Zeilen schreiben, arbeitet das nach einer Wiedergeburt lechzende Imperium bereits Hand in Hand mit der Orthodoxie zusammen.
Übrigens sind während der Sowjetzeit glücklicherweise Generationen herangewachsen, die nicht dem Einfluß der Orthodoxie unterlagen. Und die „Kirche des weltlichen Byzantinismus“, die KPDSU, hat das Bewußtsein der Massen wesentlich schwächer geprägt als die byzantinische Orthodoxie. Darauf werden wir zurückkommen, wenn wir die zeitgenössischen Aspekte des Problems zur Sprache bringen.
4. Jaroslaw und Newski. Ein Porträt der Organisatoren des Jochs.
Wendepunkte in der Geschichte pflegen sich in Symbolfiguren zu verdichten. Dies bedeutet nicht, daß die objektiven Umstände zweitrangig wären, doch die Persönlichkeit, die durch die Fügung des Schicksals und die Logik des historischen Prozesses an die Spitze des Wandels tritt, verleiht diesen Ereignissen ihre spezifische Prägung.
Wir verzichten hier auf die Erörterung der Frage, was wichtiger ist, die objektiven Umstände oder die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit lenkt den Lauf der Geschichte oder „korrigiert“ ihn zumindest. Oder die Logik der Ereignisse spült jene an die Oberfläche, die den veränderten Umständen am besten entsprechen.
Doch so oder so hilft uns die Persönlichkeit, welche einen historischen Prozeß lenkt, diesen genauer zu verstehen. In dieser Hinsicht ist die Intrige, die dem Einfall Batys vorausging, keine Ausnahme. Deswegen ist es sinnvoll, seine „verantwortlichen Vollstrecker“ – Jaroslaw und seinen Sohn Alexander Newski – einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Unserer Ansicht nach wird es dem Leser im Licht des bereits Gesagten ohnehin schon klar sein, daß diese beiden die Hauptfiguren bei der Intrige waren und nicht etwa Baty, der von „russischen Leibwächtern“, den „Spezis“ Jaroslaws, aufgerüstet worden war.
Versuchen wir also ein Porträt Jaroslaws zu erstellen.
Er beginnt seine Karriere als Statthalter des von seinem Vater Wsewolod Bolschoje Gnesdo besiegten Rjasan, regiert dieses dermaßen hart, daß es rebelliert, und unterdrückt den Aufstand dann gemeinsam mit seinem Vater. Bezeichnenderweise erfolgte die totale Zerstörung Rjasans, nach der die Stadt anderswo wiederaufgebaut werden mußte, nicht 1237 durch Baty, sondern bereits 1208 durch Wsewolod Bolschoje Gnesdo. Natürlich hat auch Baty Rjasan gebrandschatzt, doch hat er es nicht dem Erdboden gleichgemacht, und es konnte an der gleichen Stelle wiedererstehen, wo es zuvor gestanden hatte. Dies ist ein hochinteressantes Detail, welches unsere Rekonstruktion des Jochs und der Rolle, die Jaroslaw bei seiner Errichtung gespielt hat, vielleicht nicht dem Buchstaben, wohl aber dem Sinn nach sehr überzeugend bestätigt.
Nach der Zerstörung Rjasans sieht Jaroslaw keinen Sinn darin, Statthalter eines rauchenden Trümmerhaufens zu sein, und er kehrt in sein heimisches Fürstentum zurück. Nach dem Ableben des Großfürsten, seines Vaters, erhält er ein sehr bescheidenes Herrschaftsgebiet zugesprochen – Pereslawl-Salesski. Somit ist er nichts weiter als ein Fürst der zweiten Garnitur, der über ein kleines Gebiet herrscht und nicht hoffen darf, je den Thron eines Großfürsten zu besteigen, es sei denn als Wahlfürst von Nowgorod.
Dieses Ziel peilt er beharrlich an, wobei er mit unverhohlener Niedertracht vorgeht. Das erste Mal besteigt er den Fürstenthron von Nowgorod, nachdem sein Schwiegervater Mstislaw Udaloi („der Haudegen“), der beste Heerführer des damaligen Russenlandes und ein ritterlicher, edler Mensch, freiwillig abgedankt hat. Er tut dies aus rein menschlichen Gründen, weil er müde ist und sich nicht an seine Macht klammern mag.
Die Nowgoroder fordern seinen Schwiegersohn Jaroslaw auf, Mstislaw dem Haudegen auf den Thron zu folgen, da sie darauf bauen, daß er die Stadt im gleichen Stil regieren wird. Doch sie haben sich gründlich verrechnet. Jaroslaw errichtet eine offene Terrorherrschaft und raubt seine Untertanen gnadenlos aus. Er ist der erste Fürst von Nowgorod, der sich dermaßen abscheulich aufführt. Diese Tatsache wird von niemandem in Abrede gestellt, ist sie doch von dem durchaus „offiziellen“ und patriotischen Historiker Solowjew dokumentiert worden.
So sieht also die „Reformpolitik“ aus, die Jaroslaw und seinen politischen Stil kennzeichnet. Da verwundert es nicht, daß die Nowgoroder ihren Fürsten zum Teufel jagen. Doch er ist nicht Mstislaw der Haudegen, welcher der Macht freiwillig entsagt hat, und will um jeden Preis nach Nowgorod zurückkehren. Dies tut er mittels einer Methode, welche man in der russischen Geschichte bisher nicht kannte: Er führt eine Blockade Nowgorods durch, das auf Lebensmittelnachschub aus dem Süden angewiesen ist. Im Fürstentum bricht eine schreckliche Hungersnot aus, die Menschen „essen Fichtenrinde“.
Die estnischen Vasallen Nowgorods haben ebenfalls unter der vom orthodoxen Fürsten Jaroslaw, den die Kirche den „Freund der Armen“ nennt, organisierten Hungersnot zu leiden. Deshalb treten sie zum Katholizismus über und werden freiwillig zu Vasallen Rigas.
Zum Vergleich: Als 1231 bei einer großen Feuersbrunst in Nowgorod ein erheblicher Teil der Vorräte verbrannte und abermals der Hunger ausbrach, kamen der Stadt die Deutschen zur Hilfe, obwohl diese doch laut der offiziellen Geschichtsversion „Aggressoren“ und „Erbfeinde“ waren. Sie lieferten der Stadt zu günstigen Preisen Getreide und retteten dadurch viele Menschen vor dem Hungertod. Auch dies ist eine wohlbekannte (und insbesondere von Karamsin geschilderte) Tatsache, welche andere offizielle Historiker aber schamhaft verschweigen.
Trotz der durch Jaroslaws Blockade ausgelösten Hungersnot ergeben sich die Nowgoroder nicht, sondern flehten Mstislaw den Haudegen an, auf den Fürstenthron zurückzukehren. Mstislaw gibt dieser Bitte statt, sorgt dafür, daß der Proviant wieder durchkommt, und schützt die Stadt vor einer militärischen Aggression seitens Jaroslaws. Nun tut der von der Kirche gefeierte „Freund der Armen“ folgendes: Er hetzt das ganze Fürstentum von Wladimir und Susdal zum Krieg gegen Nowgorod auf, wobei ihn sein Bruder Juri (der später beim Sit umkommen wird), unterstützt. Vor der Entscheidungsschlacht befiehlt Jaroslaw, der auf die zahlenmäßige Überlegenheit der Streitkräfte von Wladimir und Susdal baut, keine Gefangenen zu machen, nicht einmal adlige. Er ordnet somit ein wirkliches Kriegsverbrechen an.
Doch der Kriegsgott macht dem Widerling einen Strich durch die Rechnung. 1216 schlägt Mstislaw der Haudegen das Heer von Wladimir und Susdal bei Lipiz vernichtend aufs Haupt. Wie die meisten grausamen Menschen ist Jaroslaw ein erbärmlicher Hasenfuß. Er läßt seine Truppen im Stich und ergreift die Flucht, wobei er vier Pferde zuschanden reitet. Er wirft seine Rüstung weg und trifft in der Unterwäsche in Pereslawl-Salesski ein - schließlich ist kann man in so spärlicher Bekleidung bedeutend leichter flüchten als in einer schweren Rüstung. Letztere wurde übrigens 1808 in der Nähe von Jurjewo-Polski von einer Bäuerin, die im Gebüsch nach Beeren suchte, aufgefunden.
Nach seiner Rückkehr nach Jaroslaw befiehlt Jaroslaw, alle in der Stadt anwesenden Kaufleute aus Nowgorod und Smolensk festzunehmen und dem Hungertode zu überantworten. Ein Teil der Smolensker überlebt und wartet auf ihren Befreier Mstislaw den Haudegen, der dem geschlagenen Feind nachsetzt. Jaroslaw kauft sich für eine erkleckliche Summe frei und muß seine Frau an deren Vater Mstislaw zurückgeben.
Es sei darauf hingewiesen, daß Alexander Newski keinesfalls der Enkel Mstislaws war. Seine Mutter war die zweite Frau Jaroslaws, eine Polowetzer Frau.
So ein Mensch war dieser Duodezfürst also: Grausam, hinterlistig, feige und skrupellos. In vielen Ländern hat man hervorragende Staatsmännern zu verschiedenen Zeiten als „letzten Ritter“ bezeichnet. Analog könnte man Jaroslaw als „ersten tyrannischen Finsterling“ in der Geschichte des Russenlandes betiteln.
Er war der Stammvater einer langen Reihe von Strolchen, die Rußland während Jahrhunderten regierten. Die orthodoxe Kirche preist diesen Unhold in ihren Heiligenleben als „gottesfürchtigen“ und „sanften“ Menschen. In zeitgenössischer Sprache nennt man so etwas eine „Umwertung aller Werte“. Eine solche Umwertung findet sich in den Benotungen, welche die orthodoxe Kirche den Staatsmännern jener Zeit zu erteilen pflegte.
Wir begreifen die Gründe für diese „mangelnde Objektivität“, um es zurückhaltend auszudrücken. Kein anderer als der Finsterling Jaroslaw hat schließlich die von der orthodoxen Kirche geplante Einführung des Jochs verwirklicht – keines tatarischen, sondern eines autoritär-orthodoxen Jochs. Und der Charakter des neuen Regimes glich demjenigen Jaroslaws aufs Haar. Er war gewissermaßen die Visitenkarte dieses Regimes.
Sein Sohn Alexander Newskis erweckt auf den ersten Blick den Eindruck einer bedeutend sympathischeren und mutigeren Gestalt. Bei näherer Betrachtung erweist er sich – milde ausgedrückt – allerdings als zweideutige Persönlichkeit und als höchst geheimnisvolle dazu. Unser Wissen über Newski speist sich nämlich größtenteils nicht aus zeitgenössischen Quellen, sondern aus seinem mindestens hundert Jahre nach seinem Tod von Klerikern verfaßten Heiligenleben. Die historischen Chroniken, die sein Leben schildern, stammen aus noch späterer Zeit und fußen weitgehend auf dem Heiligenleben, wobei sie diese mit allerlei Kommentaren und phantastischen Einzelheiten garnieren.
Doch die zeitgenössischen Chroniken wissen so gut wie nichts von seinen staunenswerten Reckentaten. Was soll man daraus folgern? daß er diese Reckentaten gar nicht vollbracht hat? Sehr wohl möglich; auf diese Frage kommen wir gleich zurück. Vorerst möchten wir den Leser aber auf folgendes aufmerksam machen:
Das Heiligenleben Alexander Newskis stammt frühestens aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, d.h. aus einer Zeit, wo der letzte, wie erinnerlich zur Zeit Iwan Kalitas aufgeflammte Widerstand gegen das Joch der Horde gebrochen war. Diese Tatsache fügt sich nahtlos in unsere Rekonstruktion ein. Alexander Newski war tatsächlich einer der aktivsten Wegbereiter des neuen Regimes. Ihn zum Helden hochzustilisieren war erst nach der endgültigen Brechung des Widerstandes möglich und erfolgte genau zu dieser Zeit. Von wem wird die Geschichte umgeschrieben? Selbstverständlich von der orthodoxen Kirche, die zu den Hauptorganisatoren des von der Horde bewerkstelligten und von Byzanz unterstützten Umsturzes gehört hatte.
Dies alles ist logisch. Nun zu den „Heldentaten“ des fast schon zum Heiligen verklärten Fürsten. Liest man sein Heiligenleben, und klammert man dabei offensichtlich phantastische Charakterisierungen aus, beispielsweise die Behauptung, er sei „stark wie Samson“ gewesen, muten die hier geschilderten Errungenschaften dieses Staatsmann äußerst bescheiden an. In militärisch-politischer Hinsicht werden ihm im Grunde lediglich drei große Leistungen zugeschrieben:
1.Die berühmte Newski-Schlacht, in der er die Schweden besiegte.
2.Der Sieg in der sogenannten „Schlacht auf dem Eis“ gegen die Ritter des Teutonenordens.
3.Sein glänzendes Geschick bei der Verhandlung mit der Horde. Er war ein dermaßen begnadeter Diplomat, daß sich spätere Generationen fassungslos fragten, wie es ein Besiegter überhaupt fertigbringen konnte, seine Niederlage nachträglich noch in einen Sieg umzuwandeln und mit dem wirklichen Sieger so umzuspringen wie der Hypnotiseur mit seinem Objekt oder der Lehensherr mit seinem Vasallen.
Die beiden ersten „Heldentaten“ Newskis hat Alexander Nesterenko in seinem unseres Erachtens hervorragenden Buch Alexander Newski. Kto pobedil w Ledowom Poboischtsche [„Alexander Newski. Wer siegte in der Schlacht auf dem Eis?“] (OLMA-PRESS, Moskau 2006) ausführlich analysiert. Wir wollen dieses Buch, das sich der wissensdurstige Leser ja ohne weiteres besorgen kann, hier nicht nacherzählen. Da wir für unser Buch das Genre eines historischen Kriminalromans gewählt haben, begnügen wir uns damit, Nesterenkos wohlfundierte, mit Quellenverweisen untermauerte Schlußfolgerungen kurz zu resümieren.
Was das Heiligenleben – und andere Quellen gibt es praktisch nicht – über die berühmte Newski-Schlacht gegen die Schweden im Jahre 1240 berichtet, ist ein Sammelsurium von Ungereimtheiten. Da springen die Reiter mitsamt ihren Pferden auf Schiffen herum, ohne daß sich die Gäule dabei die Beine brechen (versuchen Sie einmal, im Sattel zwischen den Bänken der Ruderer herumzuhüpfen!). Vom Festland aus erschlagen sie Feinde auf Schiffen (aufgrund der Gesetze der Elementargeometrie und der Biomechanik eine reine Unmöglichkeit); aus irgendwelchen Gründen blasen die „Sieger“ nach dem Triumph zum Rückzug, und die Besiegten behaupten das Schlachtfeld, wonach sie von „himmlischen Engeln“ getötet werden; die Aggressoren führen sich unbeholfen auf wie Touristen, und ihrem Verhalten geht jede politische oder militärische Logik ab.
Es werden ständig widersprüchliche Angaben darüber geliefert, von wem und an welchem Körperteil der Anführer der Schweden verwundet wurde und wer dieser Anführer eigentlich war. Die verschiedenen im Text genannten Anführer haben übrigens eines gemeinsam: Laut zahlreichen vertrauenswürdigen Zeugnissen befinden sie sich zur fraglichen Zeit allesamt in Stockholm, wo sie alle Hände voll zu tun hatten.
Keine einzige ausländische Quelle vermeldet etwas von dieser Schlacht, obwohl die Schweden und die Deutschen ganz unverblümt von ihren anderen Niederlagen berichten.
Kurz: All diese Ungereimtheiten lassen nur einen Schluß zu: Eine historisch belanglose Episode, der Überfall einiger Dutzend Krieger Alexander Newskis auf ein Lager schwedischer Kaufleute in Nowgorod, wurde zur epischen Schlacht gegen eine Armee von Eindringlingen hochstilisiert, an deren Spitze einige nebulöse adelige Heerführer und Würdenträger gestanden haben sollen.
Auch in diesem Fall zeigt sich, daß unbedeutende Details sehr viel aussagen können. Wir haben bereits erwähnt, daß zu jenen Zeiten sogar Adlige bisweilen unter ihren Beinamen bekannt waren. Ein moderner Mensch versteht nicht, ob diesen Beinamen etwas Erniedrigendes anhaftete und wie sie den betreffenden Menschen charakterisierten. Doch wer Russisch als Muttersprache spricht, besitzt ein „Sprachgefühl“, dank dem er empfindet, daß gewisse Beinamen sehr anrüchig sind.
Hierzu ein Beispiel. Ein Krieger, der sich in dieser „Schlacht“ hervorgetan haben soll, war ein gewisser Anhänger Newskis namens Drotschilo Nesdylow [der Name klingt an ein vulgäres russisches Wort für „sich selbst befriedigen“ an; der Übersetzer]. Ich weiß nicht, ob der Leser mein Gefühl teilt, doch mir scheint dieser „hehre“ Beiname Bände über die Zusammensetzung des Kommandos – oder besser gesagt der Bande, denn anders kann man einen solchen Haufen kaum bezeichnen - zu sprechen, welches das Lager der schwedischen Kaufleute überfiel.
Im Gegensatz zur Newski-Schlacht dürfte die Schlacht auf dem Eis tatsächlich stattgefunden zu haben, doch sind sowohl ihr Ausmaß als auch ihre politischen Folgen stark übertrieben worden. Übrigens hatte sich der Teutonische Orden 1242 noch nicht mit dem Livländischen vereinigt; er hatte keine Ritter an der livländisch-russischen Grenze stationiert und konnte auch gar keine stationiert haben. Somit ist das angebliche Hauptmerkmal der Schlacht, nämlich daß diese angeblich der Abwehr einer teutonischen Aggression gedient habe, von Anfang an eine Lüge.
Die Logik der Ereignisse von 1240 bis 1242, als die Horden Batys und Jaroslaws sengend und plündernd durch Mitteleuropa zogen, läßt die Schlußfolgerung unausweichlich erscheinen, daß Alexander damals an ihrer Aggression gegen den Westen teilnahm. Dies war freilich nicht die Hauptaufgabe, die ihm im Rahmen des Projekts der Invasion Batys zugewiesen war. Seine wichtigste Mission bestand darin, die für Jaroslaw und Baty wünschenswerte Neutralität Nowgorods zu gewährleisten. Genau dies tut der „Patriot“ Newski denn auch: 1242 schlägt er einen gegen die Horde gerichteten Aufstand in Nowgorod nieder (1259 wird er dasselbe tun). Hier ist ihm tatsächlich Erfolg beschieden, und dies liefert auch eine Erklärung für den Respekt, mit dem ihm die Horde begegnet.
Ein weiteres Mal passen die Fakten prächtig zu unserer Rekonstruktion. Die Sicherung der Neutralität Nowgorods war damals Jaroslaws und Batys größte Sorge; schließlich befand sich der größte Teil ihrer Streitkräfte weit weg vom Russenland und brandschatzte 1240 bis 1242 Europa. Deshalb betrieb Newski seine Raubzüge im Westen, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, Nowgorod zu umwerben. Doch wenn sich die Notwendigkeit ergab, ließ er sich auf Nebenschauplätzen des von der Horde angezettelten Kriegs auf kleinere Gefechte ein, deren unverhohlenes Ziel im Plündern bestand.
Auch dies war für die Nachfahren Wsewolods Bolschoje Gnesdo nichts Neues. Zur Zeit der legendenumrankten Schlacht bei der Kalka hatten die Fürsten von Wladimir ebenfalls aus irgendwelchen Gründen die anderen russischen Fürsten nicht bei der Abwehr der Invasion aus dem Süden unterstützt, sondern war statt dessen im Baltikum eingefallen. Die offizielle Geschichte stellt diesen Angriff ebenfalls als „Abwehr einer Aggression“ dar, doch dies ist eine Lüge. Es gab keine Aggression und konnte aus rein physischen Gründen auch keine solche geben. Zur damaligen Zeit war der Livländische Orden vollauf damit beschäftigt, im eigenen Lande für Ordnung zu sorgen und lag dazu im Streit mit dem Bischofstum Riga sowie mit Litauen. Ausführlich beschrieben wird all dies in dem bereits erwähnten Buch A. Nesterenkos.
Somit hat Newski, getreu der strategischen Logik und der Tradition des Fürstenhauses, dem er angehörte, 1240-1242 das Baltikum angegriffen. Dies tat er mit wechselhaftem Erfolg. In der antiwestlichen und antikatholischen Propaganda der orthodoxen Kirche wurden diese Scharmützel später zu gewaltigen Schlachten hochgejubelt, und die Raubüberfälle auf Nebenschauplätzen des von Baty angezettelten Krieges wurden zu „Abwehrschlachten gegen eine Aggression aus dem Westen“.
All dies entspricht voll und ganz der Logik der von uns bei unseren historischen Betrachtungen rekonstruierten Ereignisse. Übrigens sei auf folgendes hingewiesen: Da wir die Einzelheiten der Geschehnisse im Westen während jener Jahre nicht kennen, liegt die Annahme durchaus nahe, daß von 1240 bis 1242 ein Gegenangriff ins Hinterland Batys und Jaroslaw vorgetragen, jedoch von Newski abgewehrt wurde, weil er strategisch und politisch falsch geplant war.
Diese Hypothese hatten wir in der ersten Auflage unseres Buches aufgestellt. Doch nachdem wir uns mit anderen Quellen über die Lage im Baltikum und Schweden während jener Jahre vertraut gemacht hatten, sind wir geneigt, uns der Meinung A. Nesterenkos anzuschließen, daß irgendwelche Angriffe seitens des Livländischen Ordens oder Schwedens physisch schlechthin nicht möglich waren, weil diesen beiden Mächten aufgrund innerer Konflikte und bewaffneter Auseinandersetzungen mit anderen Widersachern die Hände gebunden waren.
Wiederholen und unterstreichen wir es: Im Gegensatz zu anderen Mißerfolgen der Schweden, Livländer und Teutonen, über die sie selbst völlig offen und selbstkritisch berichten, haben die Geschehnisse der Jahre 1240 bis 1242 in den westlichen Quellen keinerlei Spuren hinterlassen. In den russischen übrigens ebensowenig. Die mehr als hundert Jahre nach den Ereignissen verfaßte und dann in einigen wenigen Chroniken umgeschriebene
halbmythische „Biographie“ kann nämlich nicht als seriöse Quelle gelten.
Deshalb stellen die kleinen Vorstöße Newskis einen organischen Teil der Aggression Batys gegen Mitteleuropa dar, waren jedoch im Gegenteil zu dieser weder erfolg- noch ruhmreich (der Ruhm kam erst viel später mit den erdichteten Heldentaten in den „Chroniken“).
Worin liegt dann die reale Bedeutung Alexanders? Weshalb wurde er zum unverwechselbaren Symbol jener Zeit, als im Russenland eine „neue Ordnung“ errichtet wurde?
Seine Bedeutung liegt vor allem darin, daß er es vermocht hat, die Folgen der Unterwerfung des Russenlandes durch Jaroslaw und Baty zu festigen. Er hat viel getan, damit diese Veränderungen unumkehrbar wurden. Im Grunde genommen haben bei diesem Prozeß lediglich zwei Figuren eine entscheidende Rolle gespielt: Alexander Newski und Iwan Kalita. Weisen wir darauf hin, daß gerade diese beiden in der mythologischen Geschichtsdarstellung sämtlicher orthodoxen Patrioten über alle Massen verklärt werden.
Dies alles entspricht der Logik der Dinge. Ein bekannter Aphorismus besagt, es sei viel leichter, die Macht zu ergreifen, als sie zu bewahren. Dasselbe gilt auch für die Errichtung eines neuen politischen Modells. Aus diesem Grund sind Newskis und Kalitas Verdienste um die Festigung des Jochs vom Standpunkt jener, welche dieses begrüßen, wesentlich größer als jene Jaroslaws und Batys.
Ein höchst wesentliches Moment bei der Konsolidierung des neuen Regimes und der Brechung des Widerstandes war der bekannte „Einfall Newrjujs“. Irgendein Olexa Newrjuj (der Name klingt irgendwie an „Alexander Newski“ an, ist aber ein pseudo-tatarischer Beiname wie Tjuchtaj, Schabolda oder Turuntaj) – er war übrigens orthodox, doch ein „tatarischer Zarensohn“ – schlug den gegen die Horde gerichteten Aufstand des Newski-Bruders Andrei nieder. Letzterer war übrigens der Schwiegersohn des Fürsten und Königs Daniil Galizkis, der den Widerstand gegen die Horde im ganzen Russenland leitete.
Diese Rebellion besaß alle Chancen auf Erfolg. Doch aus irgendwelchen Gründen schlug Andrei vorzeitig zu, ohne Daniils Handeln abzuwarten. Ob das nicht letzten Endes eine Provokation war? Jedenfalls sah es verzweifelt nach einer solchen aus. Und wer war der ideale Mann für eine solche Provokation? Richtig geraten, der leibliche Bruder Alexanders.
Das Zusammenspiel zwischen Andrei und Alexander bei dieser Intrige erinnert fatal an jenes zwischen Jaroslaw und seinem Bruder Juri zu Beginn des Einfalls Batys. Verrat und Provokationen scheinen zu den Traditionen dieser Familie gehört zu haben.
Nach der Niederschlagung des Aufstands wird Alexander Newski Großfürst (welch eigenartiger Zufall!) und festigt das Regime weiter, bis hin zum gescheiterten Versuch der Einführung der Baskaken.
In bezug auf die Zerstörungen, die er angerichtet hat, war der Einfall Newrjujs übrigens durchaus mit dem Batys zu vergleichen.
Resümieren wir nun die hauptsächlichen Verdienste Newskis bei der Konsolidierung des von der Orthodoxie und der Horde errichteten Jochs:
1) Er sicherte im Jahre 1237 die Neutralität Nowgorods.
2) Er schlug den Aufstand der Nowgoroder gegen die Horde im Jahre 1242 nieder.
3) Er brachte es fertig, die von seinem Bruder Andrei und Daniil Galizki geschmiedete Koalition gegen die Horde zu sprengen.
4) Nach dem Einfall Newrjujs festigte er das Regime des Jochs in entscheidendem Masse.
5) 1259 schlug er den Aufstand Nowgorods gegen die Horde nieder.
Jedes einzelne dieser Ereignisse hat eine Schlüsselrolle gespielt. Die Rebellion Nowgorods im Jahre 1237 hätte die Expansion der Horde im Keim ersticken können. Die Fürsten Südrußlands, Daniil Galizki und die Fürsten von Smolensk hätten dann Zeit zur Konsolidierung ihres Widerstands gegen die Aggression gewonnen. Das Vorgehen der Nowgoroder im Jahre 1242 hätte Baty während seines Europafeldzugs seines Hinterlandes berauben und zum Zusammenbruch der Horde führen können. Ob dies nicht der Grund dafür war, daß Baty Hals über Kopf von den Gestaden der Adria zurückkehrte? Es lohnt sich wirklich, diese Frage zu stellen; sie verdient eine eingehende Untersuchung, die jedoch den Rahmen unserer Studie sprengen würde.
Die vom Großfürsten Andrei und dem König Daniil geschmiedete Koalition gegen die Horde hätte ebenfalls das Ende letzterer einläuten können. Zu diesem Schluß sind viele Forscher gekommen. Doch Newski zerstörte diese Koalition zuerst und verheerte den Nordosten des Russenlandes anschließend, beim Einfall Newrjujs, dermaßen mörderisch, daß er für lange Zeit nicht in der Lage war, an Aktionen gegen die Horde teilzunehmen.
Und was geschah anno 1259? Vier Jahre zuvor war Baty gestorben; bald darauf folgte ihm sein Sohn, der Halbbruder Newskis, ins Grab. Beide starben eines gewaltsamen Todes. Dies bedeutet, daß innerhalb der Horde eine Fehde tobte und der neue Aufstand Nowgorods gute Chancen auf Erfolg besaß. Doch auch er wurde von Newski mit aktiver Beihilfe der orthodoxen Kirche unterdrückt.
Stellen wir ein weiteres Mal die rhetorische Frage: Wie groß waren Newskis Verdienste um die Festigung des neuen Regimes? Die Antwort ergibt sich von selbst. Sie waren mehr als groß, sie waren absolut entscheidend.
Erst 1261-1263 (wir gehen davon aus, daß Lyslow recht hat und die Institution der Baskaken erst 1261 eingeführt wurde) geht es mit Newski abwärts. Doch leider wurde es versäumt, diesen taktischen Sieg des Widerstands über die Horde in einen strategischen umzumünzen. Zu erfolgreich hatte Newski das neue Regime von 1240 bis 1259 stabilisiert; vor allem aber hatte die Orthodoxie während dieses Zeitraum das religiöse Monopol errungen.
Die politische, verhaltensmäßige und, wenn man so will, die genetische Logik (der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm) erlaubt somit den Schluß, daß Olexa Newrjuj niemand anderes als Alexander Newski war, der würdige Sohn seines schuftigen Vaters, Peiniger und Unterdrücker seines eigenen Volkes auf Befehl der orthodoxen Kirche. Um das von Jaroslaw und Baty in ihrem Auftrag errichtete Regime zu legitimieren und zu heroisieren, erfand diese die Gestalt des Olexa Newrjuj sowie den Mythos von Newski als Kämpfer wider die Aggression des katholischen Westens, einen Mythos, der auf nichts anderem beruht als einer von Ungereimtheiten nur so strotzenden „Biographie“, die mehr als hundert Jahre nach den Geschehnissen entstand, zu einer Zeit also, wo Newskis Nachfolger Iwan Kalita den Widerstand gegen die Horde endgültig gebrochen hatte. daß die orthodoxe Kirche mittlerweile unangefochten im Sattel saß, verlieh ihr die Möglichkeit, alle möglichen Mythen zu schaffen. schließlich besaß sie nach dem Einfall Batys auf geistigem Gebiet keinerlei Konkurrenten mehr.
Zum Abschluß dieses Abschnitts ist es angemessen, eine Bilanz zu ziehen und die „persönlichkeitsbezogenen“ Züge des Regimes des byzantinischen Jochs zu umreißen, die Jaroslaw und Newski anhand ihres eigenen Beispiels demonstriert haben:
1) Feigheit und ganz allgemein menschliche Niedertracht. Beides legt Jaroslaw bei der Schlacht von Lipiz und bei den anschließenden Geschehnissen an den Tag.
2) Doch Feigheit ist für einen Krieger nicht zuletzt ein Anzeichen beruflicher Untüchtigkeit. Und die ersten Vertreter des byzantinischen Herrschaftstyps ließen diese Untüchtigkeit auf Schritt und Tritt erkennen. Sie tritt bei Jaroslaw während seiner gescheiterten Statthalterschaft in Rjasan, seiner desaströsen Herrschaft als Fürst in Nowgorod sowie seiner fehlenden Führungsqualitäten in der Schlacht bei Lipiz grell zutage.
Wie haben es diese „unbegabten“ Fürsten dann aber fertiggebracht, das ganze politische Modell des Russenlandes umzumodeln, wird sich der skeptische Leser fragen. Was oder wer hat ihnen dabei geholfen? Unsere Antwort lautet wie folgt: Geholfen hat ihnen ihre Grausamkeit und Gemeinheit; geholfen haben ihnen ihre äußeren Verbündeten, die sich keinen Deut um die Interessen Rußlands scherten; geholfen hat ihnen ihre absolute Weigerung, irgendwelche „Spielregeln“ anzuerkennen. Und der Verzicht auf Spielregeln bedeutet immer einen ungeheuren (wenn auch nur zeitweiligen) Vorteil für den, der sich als erster zu diesem Schritt entschließt. Auch ein mittelmäßiger Boxer kann einen Meister besiegen, wenn er anstelle von Handschuhen, welche die Wucht seiner Schläge dämpfen, einen Schlagring trägt. Die ersten, die sich souverän über alle Spielregeln hinwegsetzten, waren Jaroslaw und Newski. Dies erweist sich an der von Jaroslaw gegen Nowgorod verhängten Hungerblockade sowie an der totalen Zerstörung von Rjasan. An dieser Familientradition hielten auch Jaroslaws Bruder Juri und Alexanders Bruder Andrei fest.
Der Skeptiker wird vielleicht einwenden, vieles von dem Gesagten sei für die Bräuche jener Zeit ganz allgemein typisch gewesen. Teilweise ja. Doch Jaroslaw und Newski haben die Spielregeln nicht bloß „von Fall zu Fall“ verletzt, sondern sie überhaupt außer Kraft gesetzt und durch ihre eigenen „Regeln“ ersetzt, bei denen Niedertracht, Treulosigkeit und Grausamkeit in den Rang von Tugenden erhoben wurden.
Gewisse „nationalpatriotische“ Kritiker mögen ja für „allgemein menschliche Werte“ nur Hohn und Spott übrig haben, aber die arischen Werte der weißen Rasse werden sie doch hoffentlich nicht in Frage stellen? Gerade diese Werte – Ritterlichkeit, Edelmut und Großmut -, dieses „Gefühl für die Seinen“, geht Jaroslaw und Newski vollkommen ab. Die „Ihren“ sind für sie die Angehörigen der aus allerlei Nationen kunterbunt durcheinandergewürfelten, halbkriminellen Bande, die man als Horde bezeichnet. Die „Fremden“ sind für sie die russischen Meister des Großfürstentums Nowgorod und von Psowsk, die russischen Recken aus Smolensk und die weißen Ritter Europas.
Die Konsequenz, mit der sie an diesen „neuen Regeln“ festhalten, ist das Kennzeichen jener, die den Byzantinismus im Russenland eingeführt haben: Jaroslaw und Newski.
4) Es versteht sich von selbst, daß Menschen mit solchen Eigenschaften keine „Führungspersönlichkeiten“ sein konnten, um es in moderner Sprache auszudrücken. Die Macht echter Führungspersönlichkeiten beruht auf ihrer persönlichen Autorität, wie sie beispielsweise Mstislaw der Haudegen besaß. Sie fußt nicht nur auf einer straffen, bürokratisch organisierten Hierarchie, denn dann vermag man seine Untertanen lediglich durch Furcht und Verdummung gefügig zu machen. Somit erweist sich das Bekenntnis zu einem superhierarchischen Regierungsmodell, das auf Furcht und Verdummung basiert, als weiteres Merkmal der Schöpfer des Jochs im Russenland.
5) Noch ein letztes Merkmal. Ein bekanntes psychologisches Paradox besagt, daß der Schuldige denjenigen haßt, an dem er sich versündigt hat. Die Verräter an der europäischen Gemeinschaft, welche das Gesindel der Horde auf Europa losließen, haßten den Westen. Somit war eine antiwestliche Rhetorik und darüber hinaus eine antiwestliche Ideologie ebenfalls ein Kennzeichen Jaroslaws und insbesondere Newskis.
Es liegt uns fern, den Westen idealisieren zu wollen. Für uns ist er zu pragmatisch, kalt, geradlinig, strategisch kurzsichtig. Doch ist er ganz Gewiß nicht jenes absolute Übel, als den ihn die Byzantinisten darstellen. außerdem verhält er sich den russischen Menschen und ihren Vereinigungen gegenüber bedeutend wohlwollender als die Byzantinisten selbst, die vorgeben, uns vor ihm zu „schützen“.
In diesem Zusammenhang erinnern wir an zwei zuvor erwähnte Episoden: Zur Verwirklichung seiner politischen Ziele verhängte Jaroslaw eine Hungerblockade gegen Nowgorod, während die Deutschen viele Einwohner der Stadt mit ihren Lebensmittellieferungen vor dem Hungertod bewahrten. Schlagender läßt sich die unterschiedliche Mentalität der beiden Seiten schwerlich veranschaulichen.
Was die verschiedenen gegenteiligen Beispiele betrifft, so handelt es sich großenteils um Mythen und Erdichtungen, die später mit dichterischer Phantasie aufgeblasen wurden. Einer dieser Mythen besagt, die „teutonischen Ritter“ hätten Psowsk kurz vor der Schlacht auf dem Eis „erobert“ und dort Kinder verbrannt. (Eine entsprechende Szene figuriert auch im Propagandafilm Alexander Newski).
Tatsache ist hingegen, daß die Einwohnerschaft von Psowsk selbst gegen die Macht Jaroslaws rebellierte und einen Vertreter des Fürstenhauses von Smolensk aufforderte, den Thron zu besteigen. Ein solcher Vertreter traf auch tatsächlich in Psowsk ein. Aber er kam doch mit einem Ritterheer, wendet der mißtrauische Leser ein. Gewiß, aber dieses „Ritterheer“ bestand aus ganzen zwei (!!!) livländischen Rittern, die beim neuen Fürsten von Psowsk nichts weiter als eine diplomatische Mission erfüllten.
So sahen die Dinge also wirklich aus und nicht so, wie sie in dem stalinistischen Agitpropfilm Alexander Newski dargestellt werden. (Wir erlauben uns, nochmals auf A. Nestorenkos Buch Alexander Newski. Kdo pobedil w Ledowom poboischtsche hinzuweisen.)
Übrigens: Die populärste Herrscherfigur in der ganzen Geschichte von Psowsk war keinesfalls Newski, de die Stadt angeblich „von den Deutschen befreit“ hat, sondern der litauische Fürst Dowmond, den die Psowsker selbst aufgefordert hatten, sie zu regieren. Was die Chroniken von Psowsk über Newski und seine „Befreiungsmission“ zu berichten haben, ist äußerst bescheiden. Über solche Fragen kann man sehr lange sprechen, ohne die Byzantinisten dadurch überzeugen zu können. Für sie ist der antiwestliche Mythos der Grundpfeiler ihrer ganzen Ideologie. Bricht dieser Grundpfeiler zusammen, so entfällt auch die Rechtfertigung für die ganze Niedertracht und Ruchlosigkeit dieses politischen Modells gegenüber dem russischen Volk und dem Russenland.
Nebenbei: Der Westen hat sich in der Auseinandersetzung mit dem Byzantinismus selbst oft nicht angemessen verhalten. Hierzu später mehr.
5. Die endlose bleierne Zeit. Die Reaktionen des Westens – begreiflich, aber falsch
Jaroslaw, Newski und Baty erreichten unter der Regie der orthodoxen Lobby, daß das Russenland aus der europäischen Zivilisation ausscherte. Ein zivilisiertes Land trat von der Bühne ab, und an seine Stelle rückte ein aggressives, polizeistaatlich regiertes, barbarisches Rußland. Gleich zum Auftakt zog es 1240-1242 plündernd und sengend durch Europa und richtete Zerstörungen an, die selbst in jenen rauhen Zeiten ihresgleichen suchten.
Die Hohenstauffer, die an dem großen byzantinischen Spiel mitgewirkt und sich mit Newski und Baty verbündet hatten, wurden aus dem europäischen Kreis ausgeschlossen und später wie tollwütige Hunde ausgemerzt. Mit den Organisatoren des gesamteuropäischen Pogroms, den Führern der Horde, konnte man nicht so verfahren, doch statt Baty, Newski und der Spitze der orthodoxen Hierarchie wurde ganz Rußland „aus Europa ausgeschlossen“.
Man kann die Europäer sehr gut begreifen, doch gegenüber dem russischen Volk in seiner Gesamtheit war diese Reaktion schmerzlich und ungerecht, denn die Russen waren nicht die Schöpfer des Byzantinismus, sondern seine Opfer, und zwar keine Opfer, die sich widerstandslos zur Schlachtbank führen ließen. Obwohl Baty und Newski unerwartet und mit größter Heimtücke zugeschlagen hatten, leisteten die Russen lange und hartnäckig Widerstand; man erinnere sich an unsere Schilderung des großen Bürgerkriegs, als sich das Kriegsglück bald der einen, bald der anderen Seite zuwandte, was beweist, daß der Widerstand durchaus nicht hoffnungslos war. Es bestanden lange Zeit sehr reelle Chancen auf einen Sieg über den Byzantinismus.
Rufen wir uns in Erinnerung, wie sich die Horde vor einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Smolensk und Nowgorod fürchtete, wie der erste russische König Daniil Galizki lange Zeit erfolgreich Widerstand gegen das Joch leistete, wie die vereinten Streitkräfte der russischen Fürsten die Versuche zur Einführung der Institution der Baskaken in Rußland durchkreuzten, wie allen Ränken der Horde zum Trotz ein moralischer Führer des russischen Widerstandes auftrat – das Großfürstenhaus von Twer.
Auch in späteren historischen Epochen gab es entsprechende Episoden. Stets bestand eine greifbare Chance auf den Sieg, und stets fanden sich Streiter, die dem Byzantinismus den Fehdehandschuh hinwarfen.
Im Lichte des bisher Gesagten läßt sich sagen, daß die spontane und unbedachte Reaktion des Westens nicht nur ungerecht gegenüber den Russen, sondern auch kontraproduktiv war, weil sie den Interessen der Europäer selbst in ihrem Kampf gegen den Byzantinismus schadete.
Die widersprüchlichen, offenbar mythischen Berichte, wonach die Schweden und die Deutschen 1240 bzw. 1242 zur Vergeltung Nowgorod und Pskow angegriffen haben sollen, lassen wir bei unserer Analyse unberücksichtigt; wie bereits dargelegt, haben solche Angriffe schlicht und einfach nicht stattgefunden. (Es wäre ohnehin bar jeder Logik und ein verhängnisvoller Fehler gewesen, ausgerechnet gegen Gebiete zuzuschlagen, welche sich zu innerrussischen Widerstandsherden gegen die Horde hätten entwickeln können.) Über Dinge, die nicht geschehen sind, brauchen wir uns nicht weiter den Kopf zu zerbrechen – doch was hat sich damals wirklich zugetragen?
Zwischen Rußland und dem Westen hatte sich eine Kluft des gegenseitigen Unverständnisses aufgetan, die in späteren Zeiten zu vielen tragischen Zusammenstössen führen sollte. In den Jahren 1240-1242 warf das katholische Europa das Regime der Horde mit dem Russenland und dem russischen Volk in einen Topf. Für die meisten Europäer, und erst recht für die Führer der europäischen Zivilisation, war es ganz einfach undenkbar, daß zwischen einem vom Byzantinismus geprägten Staat sowie dem Volk und dem Land, die er zu vertreten vorgab, ein dermaßen tiefgreifender, unüberbrückbarer Unterschied bestehen könnte. Diese Fehleinschätzung war um so unverzeihlicher, als damals zwei wichtige Fürstentümer im Russenland (Smolensk und Galizien) noch aktiven Widerstand gegen Newski und Baty leisteten und ein großer Teil des Landes dem neuen Regime gegenüber eine Politik der feindseligen Neutralität verfolgte; dies galt beispielsweise für Nowgorod und Pskow. All das vermochte der Westen in der Hitze des Kampfes gegen die mordenden und sengenden Rotten Batys und angesichts der Ränke der Hohenstauffer, welche die Ereignisse im Sinne ihrer politischen Interessen darstellten, aber nicht zu begreifen - was an und für sich natürlich ist. Doch wir sprechen von Politik, und für den Politiker ist ein Fehler bereits ein Verbrechen, und zwar ein um so tragischeres, als dieser Fehler bis zum heutigen Tage nicht erkannt und berichtigt worden ist.
Somit begann der Westen das byzantinische Regime schablonenmäßig zu bekämpfen und erklärte ganz Rußland zu seinem Feind. Doch damit spielte er lediglich Newski, dessen Nachfolgern sowie den byzantinisch-orthodoxen Popen in die Hände.
Äußerer Druck, zumal militärischer, führt regelmäßig dazu, daß sich ein Land und ein Volk um ihre Regierung scharen, und trägt somit zur Konsolidierung des Staates bei, mag dieser auch ein so häßliches Ungetüm wie ein nach byzantinischem Muster errichtetes Imperium sein. Dieser Mechanismus funktionierte fast bis in unsere Tage hinein. Allerdings muß man darauf hinweisen, daß Krieg und bewaffneter Kampf nicht ein und dasselbe sind. Der Begriff „Krieg“ ist bedeutend umfassender und bedeutet, schematisch ausgedrückt, eine Konfrontationspolitik, die sich bei der Wahl ihrer Mittel keine Beschränkungen auferlegt. Wenn wir von dieser Definition ausgehen, nimmt der von Baty und Newski angezettelte Krieg bis zum heutigen Tage seinen Fortgang.
In diesem Krieg gab es seither viele „heiße“ Phasen, d.h. Perioden bewaffneter Auseinandersetzungen, die dazu führten, daß die Politik des Westens gegenüber Rußland in zähnefletschender Feindschaft erstarrte. Diese extrem feindliche Einstellung hat sich mit der Zeit sogar verschärft, auch wenn die Zahl der Kriege im traditionellen Sinn abnahm.
Von unversöhnlicher Gegnerschaft geprägt war auch die Strategie der „unblutigen“ Kriege des Westens gegen Rußland. Der Westen bekämpfte nicht den Byzantinismus als solchen. Er bekämpfte Rußland und das russische Volk, weil er keinen Unterschied zwischen ihnen und dem russischen Staat machte, der für das russische Volk ein weit gefährlicherer Feind war als jeder beliebige fremde Eroberer.
Auch wenn der Westen gewisse Kräfte innerhalb Rußlands unterstützte, wählte er als seine Verbündeten keine echten Gegner des Byzantinismus, sondern eine gewöhnliche fünfte Kolonne, gemeine Verräter, die es in jedem beliebigen Krieg gibt und die sich jedem verkaufen, der momentan als der Stärkere erscheint. Die aufrichtigen Kämpfer gegen den Byzantinismus unter den Bundesgenossen des Westens lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
Um die „halb-kriegerische“ Einmischung des Westens in die Angelegenheiten Rußlands konkret zu veranschaulichen, wollen wir etwas näher untersuchen, wie er sich bei innerrussischen Auseinandersetzungen verhalten hat. Das beste Beispiel ist der Bürgerkrieg von 1918-1920. Gab es unter den Feinden der Bolschewiken Leute, die nicht auf eine Restauration des Imperiums aus waren (die Separatisten der Randgebiete ausgenommen)? Jawohl, es gab sie. Doch der Westen unterstützte die Weißen, die das Imperium wiederherstellen wollten. Die Bolschewiken waren zur Verwirklichung dieser Aufgabe allerdings besser geeignet, und als Ergebnis hielt sich das byzantinische Geschwür auf dem Leib einer modernen Zivilisation. Dies führte dazu, daß sich die Kluft zwischen dem Westen und Rußland noch vertiefte.
„Hatte der Westen denn irgendwelche Alternativen?“ wird der eine oder andere Leser hier fragen. Und ob! Doch der Westen half weder den Aufständischen Machnos noch den Rebellen der wenig bekannten Tschapanka, die sich gegen die Bolschewiken erhoben und das ganze Gebiet jenseits der Wolga unter ihre Kontrolle brachten; er ließ die Truppen Antonows von Tambow im Regen stehen; er leistete den Meuterern von Kronstadt keinerlei Beistand; er rührte keinen Finger zur Unterstützung der zahlreichen Aufstände in Sibirien etc. Dabei waren diese Volkserhebungen für die Diktatur der Kommissare viel bedrohlicher als Koltschak und Denikin zusammen, wie Lenin, der die Gefahren für das Regime realistisch einschätzte, ganz offen schrieb.
Natürlich kann man all diese Fehler mit irgendwelchen technischen Schwierigkeiten erklären, aber dies wäre pure Augenwischerei. Seit dem Feldzug der Jahre 1240 bis 1242, der zu einer dauerhaften Konfrontation zwischen den beiden Seiten geführt hat, kennt der Westen Rußland nicht. Doch wenn man nicht weiß, wie ein Staat aufgebaut ist, tut man gut daran, sich nicht in dessen Angelegenheiten einzumischen, schon gar nicht hastig und übereilt. Man verbrennt sich sonst leicht die Finger. Viel klüger ist es, zuerst seine Hausaufgaben zu machen und den betreffenden Staat kennenzulernen.
Eine weitere Besonderheit der „kalten“ und „heißen“ Kriege zwischen dem Westen und Rußland war, daß sie sehr oft nackte Raubkriege waren, was von ihrer Primitivität zeugt. Gewiß, wenn ein Krieg so lange dauert, ist es stets schwer, den Verlockungen des Raubens und Plünderns zu widerstehen. Doch in Rußland läßt sich nicht so leicht Beute machen; man riskiert dabei Kopf und Kragen. Deshalb kommen den Westen seine Versuche, sich im Kampf gegen Rußland materiell zu bereichern, recht teuer zu stehen. Durch den äußeren Druck zusammengeschweißt und durch die ungenierten Plünderungen der Eindringlinge erzürnt, wird Rußland zum Berserker; wie schon zur Zeit Batys und Newskis erscheint es dem Westen als Ungeheuer, und er muß für jeden uns gestohlenen Rubel einen hohen Blutzoll entrichten.
Mit seiner verantwortungslosen Politik hat der Westen den Oktober-Umsturz von 1917 in erheblichem Masse mitverschuldet (oder zumindest verschlafen). Für diesen Fehler hat er später einen ungeheuer hohen Preis bezahlt. Doch dies ist ein Thema für sich, auf das wir hier nicht näher eingehen können.
Die Demontage des Kolonialsystems wurde ganz offensichtlich nur dadurch ermöglicht, daß die UdSSR die nach Unabhängigkeit strebenden Kräfte in den Kolonien unterstützte. Was immer man über den sogenannten „Neokolonialismus“ erzählen mag – uns scheint, der klassische Kolonialismus sei für den Westen sowohl einfacher als auch vorteilhafter gewesen.
Wenden wir uns der Frage der Beziehungen zur Dritten Welt zu. Der Westen erinnert uns immer fataler an einen verarmten Gentleman, der sich damit tröstet, daß er ja immer noch eine Uhr und eine Weste besitzt. Nein, meine Herren, wenn alles so weitergeht wie bisher, werdet ihr eines schönen Tages ohne Weste und ohne Uhr dastehen, möglicherweise sogar ohne Unterhosen. Wem diese Weissagung zu pessimistisch erscheint, der unterhalte sich doch bitteschön mit den einst wohlhabenden Weißen Farmern Rhodesiens, pardon, Zimbabwes, die von den Schwarzen von ihren Gehöften verjagt worden sind. Oder mit Weißen Bürgern Südafrikas, die ihre prunkvollen Landgüter zu Preisen verschachern, für die man in Moskau gerade noch eine billige Wohnung erhält.
Halten wir uns vor Augen, daß die Weißen Farmer Zimbabwes – nein, Rhodesiens! – immer noch Herren auf ihren Gehöften wären und daß ein Landgut in Südafrika fünf- oder sechsmal mehr kosten würde, hätte die Sowjetunion nicht jahrzehntelang erfolgreiche Wühlarbeit betrieben.
Man kann eine endlos lange Liste der Schäden erstellen, die dem Westen aufgrund der bloßen Existenz der UdSSR erwachsen sind, und dann die Frage stellen, ob der Westen nicht allzu teuer für das Fehlen einer vernünftigen Rußlandpolitik bezahlt hat. Und statt seine Fehler später verantwortungsbewußt und weitsichtig auszubügeln, gab er der Versuchung nach, in einem heruntergewirtschafteten Land leichte Trophäen einzuheimsen.
„Was für Trophäen, bitteschön?“ wendet mancher Leser hier vielleicht erbost ein. Diesen Lesern möchten wir einige Fakten in Erinnerung rufen. Beispielsweise hat der Westen Koltschak im wahrsten Sinne des Wortes an die Roten verkauft, damit die Tschechen das Zarengold ohne größere Konfiszierungen in aller Ruhe nach Wladiwostok schaffen konnten. Doch wiederum: Was hat den Tschechen der Verrat an ihren Weißen Verbündeten letzten Endes eigentlich eingebracht? Richtig, ein fast ein halbes Jahrhundert währendes Untertanendasein unter dem Joch des sowjetischen Byzantinismus.
Was gewann die katholische Kirche dadurch, daß sie das Großfürstentum Litauen und Rußland mit roher Gewalt unterdrückte? Nichts weiter als eine zeitweise Kontrolle über dieses Fürstentum und dann dessen Vereinigung mit der Hochburg des Katholizismus, Polen. Doch damit provozierte sie eine Konfrontation mit dem Volk und der Elite dieses Fürstentums, als dessen Ergebnis sowohl Litauen als auch Weißrußland und Polen vom byzantinischen Imperium Rußland verschluckt wurden. Dabei hätte das Großfürstentum Litauen und Rußland in der Form, in der es bis zur Errichtung des religiösen Monopols der katholischen Kirche existierte, eine Alternative zum byzantinischen Rußland darstellen und zum Zentrum der Wiedergeburt eines europäischen, zivilisierten, Weißen Rußlands werden können.
Die Beispiele ließen sich mehren.
In diesem Zusammenhang darf man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht außer acht lassen. Auf wen setzte der Westen in der UdSSR? Auf Vertreter der zweiten Garnitur der Nomenklatur (die man als russischer Mensch eine Nomenklatur der Halunken nennen möchte). Die betreffenden Politiker verrieten die Sowjetunion natürlich aus purem Eigennutz. Der Westen entledigte sich so eines strategischen Gegners und heimste eine erkleckliche Beute ein, auch wenn man deren Größe vom westlichen Standpunkt aus nicht übertreiben sollte. Selbst wenn man ihren Umfang auf insgesamt eine Trillion Dollar schätzt, entspricht sie nur ungefähr dem jährlichen Bruttosozialprodukt der USA.
Doch die der Nomenklatur angehörenden Enkel der roten Kommissare dachten nicht im entferntesten daran, mit dem Byzantinismus aufzuräumen, sondern beschränkten sich darauf, mit Hilfe des Westens die alte Elite von der Macht zu verdrängen und an ihre Stelle zu treten, worauf sie nach genau demselben byzantinischen Muster zu regieren begannen. Sie, die sie über unvergleichlich mehr Geld verfügten als die übrigen Bürger und die alten Elitegruppierungen und die sie auf die kompromißlose Unterstützung durch den Westen zählen konnten, nutzten diese günstigen Voraussetzungen aus, um in Spitzenpositionen aufzurücken und mittels Korruption gigantische Vermögenswerte zu scheffeln. Dies alles entsprach bester byzantinischer Tradition.
Wahrhaftig, Business auf russisch! Ganz wie in der Anekdote vom Dieb, der eine Kiste Wodka stiehlt, zum halben Preis verkauft und sich mit dem Erlös betrinkt. Im folgenden drifteten die „Reformatoren“ und „Demokraten“ von der Nomenklatura, die der Westen fast schon als seine Freunde ansah, immer mehr ins Fahrwasser jener ab, welche eine Restaurierung des klassischen Byzantinismus anstrebten, und traten die Macht zu guter Letzt an ein Regime offener Nostalgiker des byzantinischen Imperiums ab, die den Byzantinismus unverhüllt und ungeniert in neuem Gewande wiedereinführen wollen, mit dem Segen der orthodoxen Kirche natürlich.
Das Vorgehen der modernen Nostalgiker des Imperiums zeigt, daß sie die Lehren aus der Geschichte gezogen haben. Sie wissen, daß man den Byzantinismus nicht ohne Volksverdummung einführen kann. Nachdem die roten Kommissare die Orthodoxie unterdrückt hatten, setzten sie an deren Stelle eilends das religiöse Dogma des Marxismus. Ihre Enkel, die den Marxismus verwarfen, suchten anfangs nach irgendeiner „nationalen“ (in Wahrheit neoimperialen) Idee, doch da ihnen nichts Besseres in den Sinn kam, reden sie heute schon ganz offen davon, die Orthodoxie zur Staatsreligion zu machen. Vom Standpunkt ihrer Interessen und Ziele aus gesehen handeln sie ganz richtig. Der Byzantinismus ist ohne die Orthodoxie undenkbar, solange er keinen vollwertigen Ersatz für diese gefunden hat.
Den tieferen Sinn dessen, was heute in Rußland vor sich geht, hat im Westen noch niemand begriffen, genau so wenig, wie man dort das wahre Ausmaß der Bedrohung begreift.
Gewiß, das heutige Rußland ist geschwächt. Doch der Byzantinismus findet immer eine Gelegenheit, um Zivilisationen zu untergraben, und wenn er sich in Rußland – selbst in einem angeschlagenen – erhält, wird er dem Westen noch allerlei böse Überraschungen bereiten (2004 war dies eine Prognose, 2006 ist es eine offenkundige Tatsache). Es werden dies Überraschungen vom Kaliber derjenigen sein, die das fast schon überwundene Imperium von Nikäa, die armselige Erbin von Byzanz, dem katholischen Europa bereitet hat. Wie wir dargelegt haben, war dieser mickrige Ableger Konstantinopels immerhin dazu imstande, den Krieg der Hohenstauffer gegen Rom sowie Batys Europafeldzug zu organisieren. Die Gefahr für Europa ballte sich damals in einer Richtung zusammen, wo sie niemand vermutet hätte. Kam Baty denn aus Nikäa? Gewiß nicht, aus Nikäa kam lediglich das Projekt für den Einfall Batys und Newskis, und dieses Projekt wurde in die Tat umgesetzt. Wir wissen nicht, woher der neue Baty kommen wird. Doch daß er kommen wird, unterliegt für uns keinem Zweifel, wenn der Byzantinismus nicht mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird.
Der Byzantinismus, meine Herren, und nicht das Russenland! Letzteres wird mit dem Fall des Byzantinismus einen ungeahnten Aufschwung erleben, und dafür werden früher oder später die russischen Menschen selbst sorgen. Ob uns der Westen dabei hilft, behindert oder den unbeteiligten Zuschauer spielt, muß er selbst entscheiden.
Wir bitten niemanden um etwas und agitieren nicht jenseits unserer Landesgrenzen für unsere Anliegen. Anständige Leute lösen ihre Probleme selbst, und in Rußland gibt es trotz fast 770 Jahren byzantinischer Herrschaft immer noch genug solche, ganz abgesehen davon, daß drei nicht von der Orthodoxie verseuchte Generationen herangewachsen sind.
Der Verfasser macht kein Hehl daraus, daß er den Westen nur schlecht kennt und sein Wissen über ihn hauptsächlich aus Büchern bezieht. Wir haben uns bemüht, die unsinnige Rußlandpolitik des Westens mit in guten Treuen begangenen Fehlern zu erklären, für die es dazu noch objektive Gründe gibt. Doch wer weiß, vielleicht hat der Westen die Idee der Zivilisation selbst verraten? Vielleicht ist das westliche Experiment bereits am Ende, und wir kehren in die Bronzezeit zurück?
Wer weiß. Doch dann wird die Rolle des neuen Russenlandes noch ehrenvoller sein. Dann wird es auf eigene Faust eine neue wissenschaftlich-technische Revolution vollbringen, die ihrer Bedeutung nach der wissenschaftlich-technischen Revolution des Eisens gleichkommt, und es wird die Welt endgültig vom Byzantinismus und von allen Imperien erlösen.
Überhaupt lehrt uns die Geschichte, die Schwächen von Ländern und Völkern zur Zeit eines zivilisatorischen Umbruchs nicht zu übertreiben. Vor der wissenschaftlich-technischen Revolution des Eisens war das Russenland nichts weiter als ein Land unfruchtbarer Sümpfe. Es war nicht bloß schwach, sondern spielte politisch und ökonomisch gesehen überhaupt keine Rolle. Nichtsdestoweniger schwang es sich dann zum weltweiten Spitzenreiter auf dem Gebiet der Zivilisation auf.
Erbärmlich schwach war auch Nikäa, die in den hintersten Winkel Kleinasiens abgedrängte Erbin von Byzanz, ehe ihre Intrige mit Baty, Newski und Friedrich von Hohenstauffen Früchte trug. Dennoch war es imstande, Europa mit Blut zu überfluten und fast auf die Hälfte zu reduzieren, indem es ein europäisches Russenland in ein barbarisches Rußland verwandelte.
Deshalb ist es nicht so wichtig, wie schwach Rußland heute ist. Wichtig ist, was für eine Rolle ihm von der Geschichte zugedacht ist – jene des Russenlandes oder jene Nikäas. Das Schicksal der Welt, das Schicksal der Zivilisation wird jetzt in Rußland entschieden. Und wenn es unter den Eliten des Westens noch eine kleine Schar verständiger Menschen gibt, müssen sie der Lage in Rußland ihre höchste Aufmerksamkeit angedeihen lassen und dürfen die alten Fehler nicht wiederholen. Schließlich ist seit dem Jahr 1242 genug Zeit verflossen.
Es ist an der Zeit, sich nicht länger von Emotionen leiten zu lassen und die Lage leidenschaftslos zu analysieren.
6. Noch ein Mythos
Mit diesen Worten haben wir den vorhergehenden Abschnitt im Jahre 2004 abgeschlossen. Unser damaliger Appell an die westlichen Eliten fußte auf unseren Prognosen, die sich anno 2006 bereits bewahrheitet haben. Nur ein Blinder oder ein Dummkopf kann übersehen, welche Bedrohungen für die heutige Zivilisation von den Erben des Byzantinismus ausgehen können.
Wir wollen nicht mit der Tür ins Haus fallen und gleich schon zu Beginn verraten, an wen wir hierbei denken. Es hat ja wirklich keinen Zweck, sich aus purer Dummheit unnötigen Risiken auszusetzen. Einem denkenden Menschen werden unsere Anspielungen hoffentlich auch so klar sein.
„Der Verfasser kriecht vor dem Westen!“ empört sich da gar mancher „orthodoxe Patriot“. Nein, meine ehemaligen Mitstreiter, hier seid ihr gründlich auf dem Holzweg. Der Verfasser verhält sich gegenüber dem Westen pragmatisch, real, leidenschaftslos. Wir lieben den Westen nicht, hassen ihn jedoch auch nicht. Und wir sind bereit, mit ihm zusammenzuarbeiten, aber nur zu gegenseitig annehmbaren und gegenseitig vorteilhaften Bedingungen und unter der Voraussetzung vollkommener Ehrlichkeit und Offenheit. So verhielten sich weilend die russischen Kaufleute zu ihren westlichen Partnern und so arbeitete Nowgorod als vollwertiges Mitglied der Hansa mit den deutschen Städten zusammen. An solchen Vorbildern orientieren wir uns und nicht an gewissen heutigen... Aber unnütze Polemik hilft uns nicht weiter.
Von den orthodox-imperialen Patrioten unterscheidet uns, daß wir keine hysterische Feindschaft und keinen irrationalen Hass auf den Westen empfinden. Die Grundlage unserer Weltanschauung ist nämlich nicht der Hass auf irgend jemanden, sondern die Liebe zum eigenen Volk. Doch eure Weltanschauung, meine Herren, zerrinnt ohne diesen Hass auf den Westen zu nichts. Sie bedarf seiner. Ohne diesen irrationalen Hass erscheinen all eure „Helden“ und „Heilige“ nämlich als simple Unterdrücker ihres eigenen Volkes, als Unterdrücker, die schrecklicher sind als jeder fremde Aggressor (erinnern wir uns, wer das alte Rjasan dem Erdboden gleichgemacht hat). Darin erschöpft sich ihr „Heldentum“ und ihre „Heiligkeit“.
Aber Rußland hat doch ständig gegen den Westen gekämpft und sich seiner Aggressionen erwehrt! rufen viele Leser hier aus. Setzen wir uns etwas näher mit diesem Argument auseinander.
Erstens: Gegen wen hat Rußland eigentlich am häufigsten gekämpft? Eine sachliche Analyse ergibt, daß der Feind meist nicht aus dem Westen, sondern aus dem Süden kam. Die Abwehrkämpfe gegen das Krim-Khanat sowie die Kriege gegen die Türkei und im Kaukasus haben zusammen sehr viel länger gedauert als alle Kriege gegen den Westen zusammen. Man halte sich nur vor Augen, daß allein die Kriege im Kaukasus den größten Teil des 19. Jahrhunderts hindurch andauerten. Während dieses gesamten Zeitraums trugen wir lediglich zwei Waffengänge gegen den Westen aus, zuerst gegen Napoleon und dann im Krimkrieg, wobei letzterer das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit der Türkei war.
Wir machen unsere geneigten Leser darauf aufmerksam, daß der Kaukasus, die Krim und die Türkei in geopolitischer Hinsicht Nachfolger oder Absplitterungen des byzantinischen Imperiums waren. Somit kämpften wir gegen Staaten, welche dieselbe byzantinistische Ideologie vertraten wie unsere eigene Regierung, mit dem Unterschied freilich, daß sich der Byzantinismus bei ihnen, die zum Islam übergetreten waren, in anderem Gewande bewahrt hatte.
Zweitens: Wer war in diesen Kriegen der Aggressor? Bei den bewaffneten Auseinandersetzungen mit dem Süden war dieser der Angreifer oder zumindest der Provokateur gewesen. Beispielsweise waren die ständigen Einfälle der Krimtataren auf russisches Gebiet Aggressionen reinsten Wassers. Anders gesagt: Gegen den Süden hat Rußland Verteidigungskriege geführt. Und gegen den Westen?
Ebenfalls! ruft ein anderer Leser aus.
Tut mir Leid, mein Lieber, da sind Sie auf dem Holzweg. Im Westen trat Rußland in den meisten Fällen selbst als Aggressor in Erscheinung. Dies läßt sich anhand einiger eindeutiger Beispiele veranschaulichen.
Iwan der Schreckliche hat den Livländischen Krieg selbst begonnen, ohne vernünftigen Grund und ohne daß das schwache Livland auch nur die geringste Bedrohung für ihn dargestellt hätte. Peter I. hat den Krieg gegen Schweden selbst angezettelt, und dazu noch auf treubrüchige Art und Weise, fast unmittelbar nachdem er die schwedische Botschaft seiner friedlichen Absichten versichert hatte. Diese Tatsache ist Fachleuten wohlbekannt, aber jene Historiker, die „für ein breites Publikum schreiben“, verschweigen sie aus verständlichen Gründen. Doch zum Glück sind in den letzten Jahren populärwissenschaftliche Werke zu dieser Frage erschienen, die es einem ausgedehnten Leserkreis ermöglichen, sich mit diesen Fakten vertraut zu machen (wir denken beispielsweise an W. A. Krasikows Buch Neiswestnaja Wojna Petra Perwogo [Der unbekannte Krieg Peters I.], Verlag Newa, St. Petersburg 2005).
Aber der Einfall Napoleons? wendet ein anderer Leser ein. Rufen wir uns auch hier die Fakten in Erinnerung. Die Invasion von 1812 war lediglich eine Episode in der langen Kette eines Krieges, in dem Rußland lange vor dem Jahre 1812 selbst den Westen angegriffen hatte, indem es einen Krieg gegen Frankreich vom Zaune brach. Jedem unvoreingenommenen Leser ist dies klar. Die von Leo Tolstoi in Krieg und Frieden geschilderten Schlachten von Austerlitz und Schöngraben haben sich schließlich nicht auf russischem Gebiet zugetragen. Auch der St. Gotthard, den Suworow so glänzend überschritt, befindet sich keinesfalls in Rußland, sondern in der Schweiz.
Über die törichte Gewohnheit Peters I. und seiner Nachfahren, sich in deutsche Angelegenheiten einzumischen, schreibt der durchaus der offiziellen Geschichtsversion verpflichtete W. O. Kljutschewski mit unverhohlener Mißbilligung.
Somit ist Rußland im Westen eingefallen, um sich in dessen innere Streitigkeiten einzumischen, und keinesfalls zur Verteidigung seines eigenen Territoriums. Manche formulieren es so: Das russische Imperium hat sich für fremde Ziele einspannen lassen und mußte nach den Gesetzen der Unterwelt dafür die Verantwortung tragen. Dieser Deutung können wir uns nur anschließen.
Bemerken wir übrigens, daß all diese russischen Abenteuer im Westen geopolitisch gesehen ihren Zielen nach dem antikatholischen Feldzug Batys, den dieser für byzantinische Interessen und im Bündnis mit Friedrich von Hohenstauffen unternahm, äußerst ähnlich sehen. Oder bist du anderer Ansicht, lieber Leser?
Natürlich gab es auch Fälle, wo Rußland tatsächlich vom Westen angegriffen wurde, doch alles in allem läßt sich keine besondere „Aggressivität“ des Westens gegen unser Land nachweisen. Gegen den Süden verteidigte sich Rußland, im Westen griff es meistens an. Angefangen beim Feldzug Batys von 1240-1242.
Auf eine Betrachtung des unheilvollen 20. Jahrhunderts wollen wir in diesem Zusammenhang verzichten. Diese Ereignisse sind uns noch zu nahe, als daß wir sie leidenschaftslos analysieren könnten. Doch wie immer man sie deuten mag, sie wiegen keinesfalls schwerer als die Geschehnisse der sechs vorhergehenden Jahrhunderte.
Ziehen wir ein erstes Fazit. Allen „patriotischen“ Mythen zum Trotz ist der Westen nicht der Hauptfeind Rußlands und durchaus kein von irrationalem Hass auf uns beseelter Aggressor. Als solcher erscheint er einzig und allein in tendenziösen Interpretationen der Geschichte, die der Abstützung der byzantinisch-orthodoxen Mythen dienen sollen. Ein aggressiver und bösartiger Feind Rußlands ist in Wahrheit der Süden und nicht der Westen.
Der Verfasser ist sich sehr wohl bewußt, daß er mit dieser These die Gefühle sehr vieler Menschen verletzt. Doch dies ändert nichts an ihrer Wahrheit. Und diese Wahrheit erahnen die russischen Nationalradikalen instinktiv, selbst wenn sie sie verstandesmäßig nicht anerkennen können. Bei zahlreichen Umfragen ergab sich das immer gleiche folgende Bild: Unter den russischen Nationalisten kommt auf einen Antisemiten (und alle Antisemiten sind zugleich antiwestlich eingestellt) fünfunddreißig „Antikaukasier“. Dies ist eine objektive Tatsache, kein Appell und keine Agitation. Ein national denkender russischer Mensch begreift also, woher die Gefahr für sein Volk und dessen Lebensstil kommt. Nicht vom Westen, sondern vom Süden.
Es mag übrigens sein, daß die Radikalen nicht recht haben und daß Rußland überhaupt von nirgends eine Gefahr droht. Wieweit dies stimmt, wollen wir nicht kommentieren; jeder Denkfähige kann seine eigenen Schlüsse ziehen. Wir wollen niemandem irgendwelche Überzeugungen aufdrängen und rufen niemanden zu irgend etwas auf.
Noch ein weiterer Aspekt der vorliegenden Frage verdient Beachtung. Uns besonders unfreundlich gesonnenen Opponenten empfehlen wir, die Biographie des Verfassers auf dem hinteren Umschlag dieses Buchs zu lesen. Der Verfasser ist alles andere als ein Liberaler oder ein eingefleischter Westler. Er gehört seit 1979 jener Bewegung an, die man – wenn auch mit einer Prise Zurückhaltung – als die Russische Bewegung bezeichnen kann (manche nennen sie sogar den Russischen Widerstand). Und nicht genug damit: Er ist sogar ein Vertreter ihres radikalen Flügels.
Angesichts dieser Tatsachen hat der Verfasser das moralische Recht, im Namen echter Kämpfer zu sprechen und nicht irgendwelcher Speichellecker, die sich auf Beschluß oder Befehl von oben zu „Patrioten“ gemausert haben. Und gerade aus der Position dieser wahren Kämpfer für die Sache Rußlands behaupten wir, der Hauptfeind Rußlands sei nicht der Westen, sondern die zahlreichen Überbleibsel einer sehr fernen Vergangenheit in unserem Leben. Es sind dies jene Elemente der russischen Staatsmaschinerie, die nach byzantinischem Muster konstruiert sind – eines Musters, das uns durch eine von unserer eigenen orthodoxen Kirche unterstützte Aggression aus dem Süden aufgezwungen worden ist und das sich seit den Zeiten des Einfalls Batys praktisch nicht geändert hat.
Der Verfasser ist jedoch überzeugt, daß das russische Volk die Fesseln der Horde und des Byzantinismus selbst abschütteln wird. Mit äußerer Hilfe oder ohne sie. Solche zurückzuweisen, wenn man in einem Kampf auf Leben und Tod steht, wäre äußerst töricht.
7. Kommentar des Analytikers. Wer die Geschichte verfälscht hat. Byzantinismus und Volksherrschaft in der Terminologie der Theorie der Regierungslenkung
Zum Abschluß dieses Kapitels möchten wir einige Erklärungen sine ira et studio vornehmen (sofern dies überhaupt möglich ist, denn bei der Auseinandersetzung mit dermaßen tragischen Ereignissen fällt es einem schwer, seine Emotionen zu zügeln).
Nach der Lektüre der vorhergehenden Kapitel und Unterkapitel ist es klar, daß sich die Frage, weswegen wir so wenig über die Frühgeschichte Rußlands wissen und warum die russischen Chroniken so viele Ungereimtheiten, Widersprüche und zweifelhafte Aussagen enthalten, ohne weiteres beantworten läßt. Um es in zeitgenössischer Sprache zu sagen: Die ganze Ideologie, Propaganda und Geschichtsschreibung lag damals in den Händen der byzantinischen orthodoxen Kirche, die nach 1237 im Russenland das religiöse Monopol besaß und der demzufolge alle Möglichkeiten offenstanden, Informationen zu verzerren und zurechtzustutzen. Von diesen Möglichkeiten hat sie weidlich Gebrauch gemacht, und später, als sich ihre Macht auf das ganze Territorium Rußlands weit über die Grenzen des Großfürstentums Moskau hinaus ausgedehnt hatte, wiederholte sich derselbe Prozeß im ganzen Lande.
Andererseits war der Feldzug Batys gegen Europa dermaßen verheerend, daß sich zwischen dem Westen und Rußland für lange Zeit eine unüberwindliche Kluft auftat. Und da im Westen keine zuverlässigen Informationen über die Lage in Rußland nach der dortigen Machtergreifung der „Tataren“ vorlagen, ist es dem Forscher verwehrt, die von der russischen orthodoxen Kirche über die Invasion und ihre Folgen verbreiteten Lügen mit westlichen Quellen zu vergleichen.
Alles deutet übrigens darauf hin, daß es zur Zeit des bekannten Skaliger auch im Westen zu einer „Überarbeitung“ der eigenen Geschichte gekommen ist. Dies konnte dazu führen, daß die wenigen objektiven Informationen über Batys Feldzug dieser „Korrektur“ zum Opfer fielen. Außerdem setzte im Westen nach dem Feldzug ein primitiver antirussischer Propagandakrieg ein, bei dem der Gegner auf legendenhafte Weise dämonisiert wurde. Diese Dämonisierung hat der Glaubwürdigkeit und Objektivität der westlichen Geschichtsschreibung natürlich schwer geschadet.
Es versteht sich von selbst, daß auch die byzantinischen Archivisten keine Neigung verspürten, ihre schändlichste Provokation an die große Glocke zu hängen, zumal sie einer strikten Kontrolle seitens der byzantinischen Kirche und des imperialen Geheimdienstes unterstanden.
Hier ist eine Bemerkung am Platz. Wer über das ideologische Monopol verfügt, ist sehr wohl in der Lage, die Geschichte zu verzerren. Der eine oder andere wird sich hier fragen, ob dieser „Monopolinhaber“ nicht Muße findet, für den internen Gebrauch eine „geheime Geschichte“ zu schreiben.
„Wieso denn?“ lautet unsere Gegenfrage. Warum sollte dieser „Monopolinhaber“ Beweise für seine unlauteren Machenschaften hinterlassen? Entgegen den Vermutungen vieler Anhänger der Verschwörungstheorie geschieht dergleichen in der realen Politik schlicht und einfach nicht. Wir, die wir im 20. Jahrhundert geboren sind, dürfen dies im Lichte der Erfahrungen dieses an Verbrechen und Verrat so reichen Jahrhunderts mit gutem Gewissen behaupten.
Sämtliche Informationen über große Provokationen und Verratshandlungen sickern gegen den Willen und trotz aller Bemühungen der Provokateuren und Verräter durch. In unseren Zeiten ist es dank der Entwicklung des Informationsnetzes technisch möglich geworden, solchen Machenschaften durch „Lecks“ auf die Schliche zu kommen. In ferner Vergangenheit war dergleichen unmöglich.
Deshalb ist es völlig natürlich, daß sich die orthodoxe Kirche nicht damit begnügte, blutige Unterdrücker sowie die Organisatoren des Einfalls Batys zu Helden zu verklären, sondern auch ihre eigene Rolle bei dieser Aktion geflissentlich „vergaß“. Sie vergaß sie so gründlich, daß selbst orthodoxe Historiker späterer Jahrhunderte nicht umhin kamen, Erstaunen über die Rolle ihrer Kirche zu jener Zeit zu empfinden.
Dieses Verhalten ist völlig logisch und politisch verständlich.
Übrigens wundern sich manche alternativen Historiker darüber, daß sich in den russischen Chroniken so wenig über die Kreuzzüge, die Einnahme Konstantinopels und Jerusalems durch die Kreuzritter usw. findet. Sie können sich die Wortkargheit der christlichen Chronisten nicht erklären; schließlich müßte man erwarten, daß sie solche für die Christenheit schicksalhaften Ereignissen nicht gleichgültig gegenüberstanden. Darum hegen diese alternativen Historiker den Verdacht, die Chroniken könnten womöglich gefälscht sein.
Gewiß, hier waren Fälscher am Werk, doch ihre Motive scheinen uns sehr wohl erklärbar. Die sich um die Kreuzzüge rankenden Geschehnisse waren letzten Endes das Vorspiel zum byzantinischen Verrat an allen anderen Christen, der seinerseits den Anstoß zur Eroberung von Konstantinopel durch die Kreuzritter und zur Intrige von Nikäa gab, welche – um den Preis ungeheuren Blutvergießens im Russenland und in Europa - mit der zeitweiligen Wiederherstellung des byzantinischen Imperiums endete. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß man sich mit Intrigen wie der von Nikäa weder damals noch später zu brüsten pflegte. Deshalb bemühte man sich, sämtliche Hinweise auf diese Ereignisse und ihre Vorgeschichte aus den russischen Chroniken zu tilgen. Hierbei ging man sehr gründlich vor.
Wir begreifen, daß es manchen Lesern aus rein gefühlsmäßigen Gründen schwer fallen wird, unsere Überlegungen zu akzeptieren, mögen sie auch noch so logisch und wohlfundiert sein. Für viele ist es weitaus leichter, an das mythische Imperium des Dschingis Khan zu glauben als daran, daß die Katastrophe der Invasion Batys von der orthodoxen Kirche organisiert worden ist, die sich vorgeblich doch so sehr um die „Steigerung der Moral“ und die „Menschlichkeit“ sorgt.
Doch warum eigentlich nicht? Sogar in Lehrbüchern steht schließlich schwarz auf weiß, daß Nowgorod zu Beginn der Christianisierung Rußlands „mit Feuer und Schwert“ getauft wurde. Dies widerspricht der „Moral“ der christlichen Kirche offenbar nicht und gilt als ganz normal.
Inzwischen liegen uns aber immer mehr Informationen über die Taufe Rußlands vor. In vielen populärwissenschaftlichen – aber auch in einigen wissenschaftlichen – Büchern finden sich Hinweise darauf, daß die Einführung des Christentums in Rußland zur Zerstörung ungefähr eines Drittels der Städte und zur Ausrottung von mehr als einem Drittel der Bevölkerung führte (man lese hierzu insbesondere Ozars Swjatoslaw Chorobre: Idu na Wy!, Verlag Belye Alby, Moskau 2006).
Der Leser stelle sich dies vor: Ein Drittel! Mehr als im Großen Vaterländischen Krieg (in relativen und nicht in absoluten Zahlen natürlich).
Überhaupt versteht es das Christentum, seine Überzeugungen anderen um jeden Preis aufzuzwingen. Die Orthodoxie hat hier ganz einfach an eine allgemein christliche Tradition angeknüpft, die ihren klaren Ausdruck in der Inquisition, den Kreuzzügen und der Christianisierung der Völker Lateinamerikas findet. Der Unterschied liegt nur darin, daß wir über diese Ereignisse besser Bescheid wissen. Der Katholizismus ist zynischer, jedoch zugleich aufrichtiger als die Orthodoxie. Außerdem pflegen unsere Geschichtsforscher zwar den Splitter im Auge ihres Nächsten, nicht jedoch den Balken in ihrem eigenen Auge zu sehen. Aus diesen Gründen versteht es die im Vergleich zum Katholizismus totalitärere Orthodoxie auch viel besser, ihre „Heldentaten“ zu vertuschen. Zwar mochte durchsickern, daß Nowgorod „mit Feuer und Schwert“ getauft worden war, doch genauere Informationen hierzu besaß man bis in unsere Zeit hinein nicht.
Aber: Es ist nichts so fein gesponnen, es käme doch nicht an die Sonnen. Wir wissen heute, was die Taufe Rußland gekostet hat. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als verwunderlich, daß die Orthodoxie als Ergebnis des Einfalls Batys für sich das geistige Monopol beansprucht hat. Dies entspricht voll und ganz christlichen Traditionen, insbesondere den Traditionen des byzantinischen, imperialen, orthodoxen Christentums, das sich vom Katholizismus durchaus nicht durch größere Humanität unterscheidet, sondern durch einen noch ausgeprägteren totalitären Charakter sowie durch die Fähigkeit, gewisse Fakten unter den Teppich zu kehren und die Geschichte zu „korrigieren“.
Vor den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden der Systemanalyse haben die mittelalterlichen Fälschungsmethoden freilich keinen Bestand. Wer nicht einfach blind glauben, sondern wissen will, kann die Logik des politischen und ideellen Kampfes, der im 13. Jahrhundert auf dem Territorium des Russenlandes tobte, heutzutage durchaus erkennen.
Daß wir die Ursprünge und Folgen der schurkischsten byzantinischen Intrige sowie der weiteren Tätigkeit des „apostelgleichen“ Bluthundes Newrjuj-Newski begreifen können, verdanken wir übrigens nicht nur unserem Verstand. Das christliche Zeitalter der Fische geht zu Ende, und es beginnt die Ära des Wassermanns. Mit ihr kehren unsere heimischen russischen Götter zu uns zurück. Sie werden uns helfen, uns vom Ballast des Byzantinismus zu befreien und das unter seiner Führung nach finsterem byzantinischem Muster errichtete Joch abzuschütteln.
Hiermit wollen wir das Thema „Geschichtsfälschungen“ abschließen. Es ist für uns sehr wichtig, doch unserer Meinung nach haben wir hierzu im Zusammenhang mit der uns interessierenden historischen Episode bereits genug gesagt.
Wenden wir uns jetzt dem byzantinischen Regime im Russenland als bestimmtem Steuerungssystem mit den ihm eigenen systembildenden Kennzeichen zu. Dann wird es uns leicht fallen, die Evolution des Byzantinismus ihrem Wesen nach ohne emotionale, ideologische und politische Verzerrungen zu verfolgen.
Alles in allem darf man das imperiale Steuerungssystem als das vollendetste aller hierarchischen Systeme betrachten. Dies ist sogar in Alltagsfragen offensichtlich. Eine ausgeprägtere Hierarchie als im Imperium des byzantinischen (oder altägyptischen oder assyrischen) Typs gibt es schlechthin nicht. Dieses systembildende Merkmal des Byzantinismus läßt sich auf keine Kompromisse mit den Anforderungen des Lebens ein. Von seinen anderen Merkmalen, auf die wir später noch eingehen, läßt sich das nicht sagen. Ein System, das keinerlei Konzessionen an die Bedürfnisse des Lebens macht, wäre nämlich nicht überlebensfähig.
Ein hierarchisches System des byzantinischen Typs erstrebt im Idealfall folgendes:
1) Eine vollständige Vereinheitlichung der Regierungsmechanismen zwecks Schaffung eines einheitlichen Staates. Jede Form von Selbstverwaltung und regionaler Autonomie ist hier ein Störfaktor und gehört rigoros ausgemerzt.
2) Eine totale Bürokratisierung und Reglementierung der Beschlußfassungen.
3) Eine Kombination von plumper Gewalt seitens der Staatsmacht und nicht minder plumper Verdummung seitens der Staatsreligion.
Nach diesem Modell aufgebaute hierarchische, einheitliche Steuerungssysteme sind oft dermaßen funktionsuntüchtig, daß sie nicht mit letzter Konsequenz in die Praxis umgesetzt werden können. Dann sieht sich das System gezwungen, gewisse Abstriche an seinem Ideal vorzunehmen. Doch diese Abstriche sind minimaler Art und reichen nur gerade aus, um zu verhüten, daß das System an seiner eigenen Stupidität zugrunde geht.
Wir schenken es uns, hier ausführlich auf die Frage einzugehen, inwiefern der russische Byzantinismus diese Eigenschaften hierarchischer Systeme widerspiegelt. Auch ohne eingehende Analyse liegt es auf der Hand, daß er ihnen sehr wohl entspricht, manchmal hundertprozentig, manchmal zumindest tendenziell. Abweichungen von diesem Grundmodell waren in Rußland ab 1237 stets nur zeitlicher und minimaler Art, beispielsweise die berühmt-berüchtigten Semstwa (Landstände), bei denen es sich in Wirklichkeit um praktisch machtlose Organisationen handelte.
Es lohnt sich, nichtsdestoweniger darauf hinzuweisen, daß es in der Natur keine absolut funktionsuntauglichen Systeme gibt. Streng hierarchische Systeme im allgemeinen und der Byzantinismus im besonderen erweisen sich in manchen Fällen sehr wohl als konkurrenzfähig, sind sie doch in der Lage, die Anstrengungen des ihnen gemäß regieren Staates auf die Lösung taktischer Aufgaben und die Bewältigung von Krisensituationen zu konzentrieren.
Gerade in Krisenzeiten gelingt es hierarchischen und monolithischen Systemen oft, mit ihnen konkurrierende Regierungsmodelle auszubooten, worauf sie regelmäßig noch autoritärer werden.
Doch eine Volksweisheit lautet: „Ein kluger Mensch findet Auswege aus Krisen, ein weiser gerät überhaupt nicht in eine Krise hinein.“ Eine hierarchische Regierungsform ist manchmal (nicht immer!) klug, doch niemals weise. Dazu kommt, daß die Anhänger hierarchischer Modelle oft selber Krisen heraufbeschwören, um ein weiteres Mal ihre „Unersetzlichkeit“ unter Beweis zu stellen. Nach diesem Strickmuster haben gewisse Zaren ihre Staaten mit Hilfe von Kriegen konsolidiert, die sie selbst vom Zaun gebrochen hatten. Hierfür gibt es in der Geschichte eine Reihe von Beispielen; in Die Eigenen und die Fremden gehen wir näher auf diese Frage ein.
Aber: Je länger hierarchische Systeme bestehen, desto funktionsuntüchtiger und schwerfälliger werden sie. Auf jedes Problem reagieren sie mit der Schaffung eines entsprechenden bürokratischen Organs. Ist das Problem gelöst, erweist sich das Organ als überflüssig. Es ist jedoch einfacher, eine bürokratische Struktur zu schaffen, als sie abzuschaffen. Dies ist nicht nur das Problem hierarchischer Systeme. Seriöse westliche Wissenschaftler haben geschildert, wie arg es selbst den flexibleren westlichen Steuerungssystemen zu schaffen macht. Wie drückend muß das Problem da erst bei imperialen byzantinischen Systemen sein!
Der Regierungsapparat dieser Imperien schwillt im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Krebsgeschwür an (mathematische Modelle zur Untersuchung des Wachstums von bürokratischen Apparaten und von Krebsgeschwülsten sind nach denselben Prinzip aufgebaut). Dabei geben sich überflüssige bürokratische Strukturen durchaus nicht mit der Rolle bloßer Parasiten zufrieden. Sind wurden zwar zur Lösung irgendwelcher Probleme geschaffen, lösen diese Probleme aber durchaus nicht, sondern lassen sie weiter schwären, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen.
Dies ist der Grund dafür, daß solche Regierungsformen gegenüber anderen, geschmeidigeren regelmäßig den kürzeren ziehen und schließlich zusammenbrechen, da sie der Konkurrenz nicht gewachsen sind. Bemerkenswerterweise müssen die klassischen hierarchischen Systeme der Theorie nach auf dem Prinzip fußen, daß Befehle von oben nach unten erteilt werden und nach ihrer Ausführung ein Rechenschaftsbericht von unten nach oben erfolgt. Doch daraus ergibt sich, daß die oberen Stufen der Regierungshierarchie buchstäblich über alles Bescheid wissen müssen, was sich auf den unteren Stufen tut, um bei jedem beliebigen Anlaß neue Befehle erteilen zu können.
Man erkennt schon auf den ersten Blick mühelos, daß dieser Grundsatz den Erfordernissen des realen Lebens förmlich ins Gesicht schlägt und sogar in den einfachsten hierarchischen Systemen die Notwendigkeit entsteht, Entscheidungen zu ergreifen, denen keinerlei Befehle zugrunde liegen. An die Stelle direkter Befehle tritt dann eine Unmenge von Gesetzen und Instruktionen, doch auch diese sind im Grunde nichts weiter als eine Form von Befehlen. Eine Instruktion ist schließlich nichts anderes als ein Befehl, in dieser oder jener Situation dieses oder jenes zu tun.
Unter den Bedingungen hierarchischer Systeme, wo die Initiative von oben nach unten verläuft, ergibt sich die Notwendigkeit, sämtliche mögliche Situationen durch Gesetze und Instruktionen zu erfassen. In der Praxis ist dies natürlich nicht durchführbar, so daß sich die Instruktionen sehr oft als falsch und schädlich erweisen. Je mehr Gesetze und Instruktionen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß sie in dieser oder jener Situation nicht konstruktiv sein werden. Deswegen erreichen die Schöpfer dieser Gesetze und Instruktionen bei ihren Bestrebungen nach Abdeckung aller denkbaren Situationen lediglich, daß die praktische Befolgung der von ihnen erlassenen Vorschriften in einem Fall Nutzen und in zwei Fällen Schaden bringen wird.
Dies führt dazu, daß es einfach nicht mehr möglich ist, ein normales Leben zu führen und irgendwelche Arbeiten zu verrichten, wenn man sich an sämtliche Gesetze und Instruktionen hält. Ein bekanntes Beispiel ist in diesem Zusammenhang der sogenannte „italienische Streik“, bei dem die konsequente Befolgung der Instruktionen zu einem Stillstand der Arbeit führt. Manchmal bezeichnet man einen solchen Streik als „Hamburger Streik“. Auf dem Hamburger Flughafen, der zu den größten und am unübersichtlichsten der Welt gehört, geschah einmal folgendes: Die Fluglotsen, denen lediglich ein begrenztes Streikrecht zugestanden wird, brachten die Arbeit auf dem Flughafen ihrer Stadt zum Erliegen, indem sie ausnahmslos alle Instruktionen aufs strengste befolgten. De jure war dies kein Streik, doch de facto führte es dazu, daß die Arbeit stillstand. Eine Revision der Instruktionen wurde als unrealistisch verworfen, weil dann die Einführung neuer Instruktionen verlangt worden wäre und keine Gewähr dafür vorlag, daß diese neuen besser sein würden als die alten.
In der Folge wurden die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen der Fluglotsen erfüllt, und zur Verhütung eines zukünftigen ähnlichen Streiks wurde ihnen offiziell ein erhebliches Maß an Entscheidungsfreiheit zugestanden.
Der Hamburger Streik ist ein Beispiel dafür, daß ein hierarchisches Steuerungssystem mit der Lösung realer Führungsaufgaben auf technologisch anspruchsvollen Gebieten und somit mit der wissenschaftlich-technischen Revolution unvereinbar ist. Allerdings war es schon vor dem Beginn der industriellen Revolution seinen Aufgaben oft nicht gewachsen.
Die hierarchischen Systeme haben sich überall gewandelt und sind flexibleren gewichen. In Rußland jedoch konnte sich das hierarchische byzantinische System länger als anderswo am Ruder halten, und zwar dank des einzigartigen Potentials des Landes, des russischen Volkes sowie der Zivilisation des Nordens. Indem es parasitenhaft von diesem einzigartigen Potential profitierte, konnte das hierarchische System des Byzantinismus bis in unsere Tage hin in nur geringfügig modifizierter Form weiterbestehen.
Daß das System nur in geringfügigem Ausmaß modifiziert worden ist, bedeutet aber auch, daß es nur in geringfügigem Masse handlungsfähiger ist als früher. Damit es trotz seiner Handlungsunfähigkeit überleben kann, muß es die massenhafte Verletzung der von ihm erlassenen Gesetze und Instruktionen in Kauf nehmen. Anderenfalls begönne in ganz Rußland ein einziger riesiger „Hamburger Streik“.
Viele behaupten, die massenhafte Mißachtung der Gesetze und Vorschriften sei ein „russischer Charakterzug“. Dies ist ausgepichter Unfug. Der Grund liegt einfach darin, daß sich das hierarchische System des Byzantinismus, das sich weder mit den Erfordernissen des Lebens noch mit der Entwicklung des Landes und der russischen Zivilisation in Übereinklang bringen läßt, zu unserem Unglück ausgerechnet in Rußland gehalten hat. Damit das Leben nicht gänzlich zum Stillstand kommt, bleibt dem Bürger keine andere Wahl, als all diese Gesetze und Instruktionen, die so überflüssig sind wie ein Kropf, einfach zu ignorieren.
Ein de facto bereits halblegaler Faktor dieses Mechanismus ist die Korruption. Ohne Korruption wäre das Leben in Rußland nämlich überhaupt nicht mehr möglich, und das ganze Land träte in einen permanenten „Hamburger Streik“ ein. Dies ist der Grund dafür, daß sich die russische Gesellschaft mit der Korruption abfinden, ja sie sogar rechtfertigen muß.
Nein, meine Herrschaften, wenn ihr wollt, daß sich das Volk an eure Gesetze und Instruktionen hält, und wenn euch an der Ausmerzung der Korruption gelegen ist, dann verringert die Anzahl dieser Vorschriften bitteschön auf das erforderliche Minimum. Noch besser freilich wäre es, wenn ihr das letzte Relikt des klassischen imperialen byzantinischen Systems beseitigen würdet.
Leider macht es ganz den Anschein, als begriffen die Herrschaften gar nichts, oder als wollten sie nichts begreifen und versuchten die Korruption dadurch zu bekämpfen, daß sie das hierarchische Regime stärken. Dies erinnert fatal an einen Feuerwehrmann, der einen Brand mit Kerosin löschen will.
Doch zum Glück ist die menschliche Zivilisation nicht gänzlich unter die Kontrolle des Byzantinismus als Steuerungssystem geraten, und die klassischen imperialen Systeme haben sich infolgedessen überlebt. Während der industriellen Revolution experimentierte man empirisch mit anderen, effektiveren Steuerungssystemen, die in der vorstaatlichen Vergangenheit des Menschengeschlechtes wurzeln.
Im 20. Jahrhundert wurden diese empirisch getesteten Systeme unter den außerordentlich harten Bedingungen des Zweiten Weltkriegs sowie des anschließenden kalten Kriegs in der Praxis erprobt. Die niemals gestorbenen Ideen der Selbstorganisation (darunter auch die uralten Ideen der völkischen Selbstorganisation) wurden in Gestalt der Theorien von Netzprojekten sowie zielprogrammierten Führungsmethoden formalisiert.
Außerdem trat der Theorie die Praxis hilfreich zur Seite. Die zielprogrammierten Methoden stellten ihre Konkurrenzfähigkeit auch in Krisensituationen unter Beweis.
Eine zielprogrammierte Methode zur Lösung jeder beliebigen Aufgabe besteht aus folgendem: a) Einer klaren Aufgabenstellung; b) Der Ausarbeitung eines Plans (Programms) zur Lösung der gestellten Aufgabe; c) Der Schaffung eines zeitlich befristeten Kollektivs zur Durchführung des Plans. Nach der Lösung des Problems wird das Kollektiv aufgelöst.
Genau nach diesem Muster haben sich die Männer jedes normalen russischen Dorfes versammelt, wenn es eine gemeinnützige Arbeit zu verrichten galt. Manchmal versammelten sich nicht alle Männer des Dorfs, sondern nur diejenigen, die in einer bestimmten Strasse oder in zwei oder drei Häusern wohnten. Um beispielsweise ein Schlagloch auf der Strasse einzuebnen, das für vorbeifahrende Fahrzeuge ein Hindernis darstellt, reichen drei oder vier Mann. Zur Lösung solcher Aufgaben ist es durchaus nicht nötig, die ganze Dorfbevölkerung oder die ganze Kolchose zusammenzutrommeln.
Das ursprüngliche russische Prinzip bei der Organisation von Goldgräber- oder Treidlergenossenschaften sowie ähnlichen, nur für einen überschaubaren Zeitraum gegründeten Vereinigungen entspricht dem zielprogrammierten Prinzip haargenau. Vom Standpunkt der Regierungstheorie aus gesehen ist das Genossenschaftsprinzip durchaus nicht identisch mit der berüchtigten Sobornost, bei der man alle Jubeljahre einmal über Gott und die Welt palaverte. Die Sobornost war überhaupt keine Regierungsform, sondern ein Mittel der Volksverdummung; bei ihr wurden bewußt unklare Aufgaben durchdiskutiert, und man einigte sich darauf, „den Mund zu halten und auch weiterhin den Vorgesetzten zu vertrauen“. Es wird einem geradezu übel, wenn manche Leute einem einen solchen Unfug als Organisationsbasis anpreisen wollen. Es handelt sich hier nicht um eine Organisation, sondern um Indoktrinierung in einem Narrenhaus, in dem orthodoxe Popen das Sagen haben.
Zurück zu den zielprogrammierten und netzförmigen Projekten. Die netzförmige Projektierung (als Steuerungssystem) ist eng mit der zielprogrammierten Methode verbunden. Wenn wir von einer netzförmigen Steuerung sprechen, meinen wir einfach die Mechanismen der regulären Abstimmung von Vorschlägen der Teilnehmer am Projekt sowie die Möglichkeit, dessen Leitung demjenigen zu übertragen, der sich zum gegebenen Zeitpunkt als der für diese Aufgabe geeignetste erweist.
Wenn es beispielsweise einen Brunnen zu graben gilt, waltet ein Brunnengräber als Leiter des Projektes, und ein Arzt, der in derselben Strasse wohnt, greift wie alle anderen zum Spaten. Wird aber im Verlauf der Arbeit jemand durch einen herabfallenden Balken verletzt, so wirft der Arzt den Spaten weg, leistet dem Verunfallten erste Hilfe und erteilt den anderen notfalls entsprechende Anweisungen.
Man mag einwenden, diese Beispiele seien allzu hausbacken. Wer versucht, diese leichtverständlichen Prinzipien bei der Organisation eines großen wissenschaftlich-technischen Projekts anzuwenden, wird bald merken, daß alles nicht so einfach ist. Vielleicht bedarf es dazu angespannter schöpferischer Arbeit. „Kommandieren“ ist selbstverständlich leichter, weil es weniger geistig schöpferische Arbeit erfordert. Dies ist auch der Grund dafür, daß sich unter dem „Kommandierenden“ mit der Zeit so viele geistige Nullen breitmachen, daß die Lage bedrohlich wird und womöglich sogar die nationale Sicherheit in Gefahr gerät.
Hierzu ein Beispiel. In den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs war die militärische Führung Großbritanniens, einschließlich der allen Berichten zufolge durchaus kompetenten Führung der Flotte, nicht in der Lage, eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der deutschen U-Boote zu entwerfen. Im Rahmen einer zielprogrammierten Aktion wurde eilends ein Komitee auf die Beine gestellt, die den Namen Blackett-Gruppe trug (nach ihrem Vorsitzendem, dem theoretischen Physiker und Nobelpreisträger Blackett). Außer ihm gehörten dem Komitee folgende Personen an: Ein Experimentalphysiker, zwei Mathematiker, drei Physiologen, ein Geodät, zwei Experten auf dem Gebiet der mathematischen Physik, ein Astronom und... ein einziger Offizier.
Dieses Komitee entwarf eine optimale Strategie für die britischen Seestreitkräfte. Die Verluste der Konvois gingen bei gleichbleibender Stärke und gleichbleibenden Mitteln um mehr als die Hälfte zurück. Ganz nebenbei wurde die sogenannte „Theorie der Operationsforschung“ geschaffen, mit deren Hilfe der Westen während des kalten Krieges dann die UdSSR in den Ruin trieb.
Ja, für einen russischen Menschen ist dies höchst unangenehm zu lesen. Meine Landsleute, danken wir dem byzantinistischen Gelichter dafür, daß diese Theorie nicht bereits in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen wurde. Damals begründeten russische Gelehrte die Systemanalyse und waren drauf und dran, eine Theorie der Operationsforschung zu erarbeiten.
Wir sind also selbst daran schuld, daß diese Theorie nicht in unserem Land das Licht der Welt erblickte. schließlich haben wir den byzantinistischen Mob viele Jahrhunderte lang geduldet. Und noch heute bringen wir unser Geld in die Kirche und geben es den byzantinistischen Popen, die nur auf die Gelegenheit lauern, sich bei der erstbesten Gelegenheit an uns zu mästen, ohne sich auch nur einen Pfifferling um unsere Interessen und unsere Gesundheit zu scheren.
Zu Beginn der neunziger Jahre wurden diese „Kämpfer für die Gerechtigkeit“ von der Pflicht zur Zahlung von Einfuhrzöllen für Zigaretten und Alkohol entbunden und vergifteten das russische Volk mit allerlei gepantschten alkoholischen Getränken wie Royal. Mit den so verdienten Geld, plus mit Zuschüssen aus der Staatskasse – die man besser verwendet hätte, um den Ärzten und Lehrern die Löhne zu erhöhen – bauen sie heute überall in Rußland ihre Kirchen, angefangen mit ihrer bedeutendsten Kathedrale, der Christi-Erlöser-Kirche.
Doch wir sind wieder einmal vom Thema abgekommen.
Vom Standpunkt der zielprogrammierten Methoden sowie der Organisation von Zellenprojekten aus gesehen muß der Aufbau des Staates in einem Land wie Rußland, wo je nach Region höchst unterschiedliche Bedingungen herrschen, so weit wie möglich dezentralisiert werden. Man hört zwar oft die gegenteilige Behauptung, gerade wegen der Größe des russischen Territoriums und der Unterschiedlichkeit der lokalen Bedingungen brauche unser Land Zentralisierung und einheitliche Regierungsstrukturen. Lenkungstheoretisch gesehen ist dies absolut widersinnig. Solche Forderungen geben lediglich vom Standpunkt der Erhaltung einer hierarchischen Regierungsform einen Sinn. Strebt man hingegen eine Steigerung der Regierungsqualität im Interesse des Landes, des Volkes, der Entwicklung der Produktion sowie der Entwicklung einer entsprechenden Zivilisation an, so gelangt man unweigerlich zur entgegengesetzten Schlußfolgerung, nämlich daß eine möglichst umfangreiche Dezentralisierung vonnöten ist. Dies läßt sich mathematisch nachweisen. Der Verfasser konstatiert dies als Fachmann auf diesem Gebiet, als Professor der Akademie für Lenkungssysteme.
Wenn Rußland für den Kreml da ist, so ist Zentralisierung das Gebot der Stunde. Ist hingegen der Kreml für Rußland da, so ist Dezentralisierung die angemessene Politik. Und wenn der Kreml offen ausspricht, daß für ihn die erste Variante gilt, so hat Rußland das Recht, ihm zu antworten, daß es kein solches Zentrum braucht.
Kurzum, den Regionen ist eine möglichst umfassende Autonomie zuzuerkennen. Nicht nach dem berühmt-berüchtigten nationalen Prinzip, sondern nach dem territorialen.
Ausnahmslos alle Regionen müssen also weit mehr Selbständigkeit erhalten als heute. Dabei heißt es möglichst wenig „kommandieren“ und sich so weit wie möglich mit den Betroffenen absprechen.
Genau so war es im Russenland vor dem Einfall Batys. Äußerlich macht es zwar den Anschein, als hätten damals immerfort irgendwelche Fehden getobt. So merkwürdig es auch anmuten war: Vom Standpunkt der Steuerungstheorie waren diese Zwistigkeiten ein „Mechanismus der Abstimmung“ im Rahmen einer netzförmigen Steuerung, wobei Fürsten verschiedener Stufe in diesem Netz die führende Rolle spielten. Doch im Vergleich mit dem von Baty angerichteten Verheerungen verblassen all diese Fehden zur Bedeutungslosigkeit. Und wenn man zu den Verlusten, die Newskis „Stärkung der Staatlichkeit“ dem Land zugefügt hat, noch die Schäden hinzuzählt, die Rußland später durch die Abenteuer seiner byzantinistischen Tyrannen erlitt, kommt einem die Epoche der Fehden zwischen den Fürsten wie „die gute, alte Zeit“ vor.
Dazu kommt, daß diese inneren Fehden vor dem Einfall Batys bereits ihrem Ende zugingen. Daß Russenland der Städte war bereit, sich um Nowgorod zu scharen und die Fürsten in die Schranken zu weisen. Und hätten die Städte im Steuerungsnetz die führende Rolle errungen, so hätte sich dadurch auch der Mechanismus der Beschlußfassung automatisch verändert. An die Stelle der Fehden zwischen Fürsten wäre eine klassische wirtschaftliche Konkurrenz getreten, und wir hätten den Westen bei der Schaffung moderner Systeme zur Steuerung des gesellschaftlich-politischen Lebens um 250 bis 300 Jahre überholt.
Doch mit Hilfe byzantinischer Popen wurde eine Krise provoziert, in deren Verlauf das netzförmige Steuerungssystem durch ein hierarchisches ersetzt wurde. Um seine Unentbehrlichkeit zu beweisen, erlaubte dieses orthodoxe hierarchische System Rußland bald instinktiv, bald bewußt nicht, aus dem Teufelskreis der Krisen auszubrechen. Dies entsprach voll und ganz der Theorie der Entwicklung von Regierungseinrichten, die an ihrer Selbsterhaltung und Selbstrechtfertigung interessiert sind, mögen die Folgen für die Regierten auch noch so mißlich sein.
So ging es leider bis zum heutigen Tage weiter. Aber schon in naher Zukunft, wenn die Zivilisationen in eine Periode der permanenten Modernisierung eintreten werden (und diese Periode ist nahe; es steht uns nämlich die drittgrößte wissenschaftlich-technische Revolution nach derjenigen des Feuers und derjenigen des Eisens ins Haus), werden hierarchische Systeme im Vergleich zu netzförmigen und horizontalen vollkommen konkurrenzunfähig und somit lebensunfähig werden.
Und diese Entwicklung wird das Ende des byzantinistischen Rußlands einläuten.
„Gewogen und zu leicht befunden“, lodert bereits heute in flammenden Lettern an den Mauern des Kreml. Freilich sehen die heutigen Byzantinisten, die ein weiteres Mal auf unsere Kosten „die Staatlichkeit festigen“, diese Lettern nicht.
Doch andere sehen sie. Und diese anderen werden das ihnen von Baty und Newski geraubte Erbe, das ihnen von Rechts wegen gehört, zurückverlangen. Mit Zins und Zinseszins.
Kapitel 5. ZUSAMMENFASSUNGEN, PROGNOSEN, PROVISORISCHE EMPFEHLUNGEN
1. „Die Dinge beim Namen nennen.“ Nochmals einige Worte zu den besiegten Siegern
Wiederholen wir, wer den Einfall Batys organisiert hat. Nennen wir die Verantwortlichen in der Reihenfolge der Wichtigkeit ihrer Teilnahme an der Organisation der Aktion:
1) Die herrschenden Kreise der Überreste des byzantinischen Reiches – also des Imperiums von Nikäa – sowie die dort dominierende orthodoxe Kirche.
2) Die orthodoxe Kirche dese Russenlandes.
3) Eine kleine Gruppe zweitrangiger Fürsten, an deren Spitze zuerst Newskis Vater Jaroslaw und dann Newski selbst stand.
4) Ein mit byzantinischen Geldern aufgepäppeltes Gesindel in allen Steppenregionen der russischen Ebene, aus dem dann die Horde wurde.
Von diesem Einfall profitierten folgende Kräfte am meisten:
1) Das 1261 wiederhergestellte byzantinische Imperium.
2) Die orthodoxe Kirche des Russenlandes, die zur Staatskirche wurde.
3) Das Geschlecht Newskis, aus dem später eine Zarendynastie hervorging.
4) Die Horde, die sich aus einer riesigen Masse bewaffneten Pöbels zum Staat in Südrußland mauserte und dank byzantinischer, und später russischer, Finanzhilfe recht ordentlich lebte.
Die Horde gehörte freilich nur mittelfristig zu den Gewinnern. Später, als sie schwächer wurde, entzog man ihr zu einer für sie sehr schwierigen Zeit die finanzielle Unterstützung, und anschließend wurde sie von den Nachfahren und Erben jener, die sich mit ihrer Hilfe zu Despoten aufgeschwungen hatten, vernichtend aufs Haupt geschlagen. Es war dies ein klassisches Beispiel imperialer orthodoxer Dankbarkeit.
Übrigens blieb diese Einstellung gegenüber den Nachfahren der Horde (auch den indirekten) im folgenden unverändert. Wir erinnern an die Donkosaken, die so viel dafür getan hatten, daß die Romanows den Zarenthron bestiegen, zum Lohn dafür dann jedoch lange unterdrückt und später, nach der Niederschlagung des von Kondrat Bulawin geführten Aufstandes, endgültig an die Kandare genommen wurden. Kaum besser erging es übrigens auch den anderen Kosaken – nach dem Scheitern der Revolte Pugatschews den uralischen und schließlich, ebenfalls unter der Herrschaft Katerinas der Großen, denen von Saporoschje.
Immerhin blieben den Kosaken in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht die einen und anderen Privilegien und Rechte erhalten, doch auch diese wurden ihnen von den bolschewistischen „Neobyzantinisten“ entzogen, welche das Imperium auf neuer Grundlage wiederhergestellt hatten.
Wenden wir uns wieder jenen Kräften zu, die von der Invasion Batys profitierten, und weisen wir darauf hin, daß Byzanz diese letzte gigantische Niedertracht seiner Geschichte nicht allzu lange überlebt hat. Es ging ruhmlos zugrunde, verlassen von seinem eigenen Volk, das scharenweise ins Lager der Türken und Muselmanen überlief. Auch die Newski-Dynastie entartete in der Folge und mußte von der Bühne abtreten. Wer von den Organisatoren der Aktion und Teilnehmern an ihnen konnte sich behaupten? Nur gerade die russische byzantinische orthodoxe Kirche. Ihr hat es das russische Volk zu verdanken, daß es schon über siebenhundert Jahre lang ein ärmliches Dasein fristet.
Interessanterweise können wir die Beweise dieses Triumphs, der denjenigen der anderen Teilnehmer an der Invasion Batys bei weitem übertraf, noch heute Tag für Tag beobachten. Doch wir sehen sie nicht. Wir schauen, sehen aber nicht.
Gemeint sind die architektonischen Denkmäler des Zeitraums vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Kirchen und Klöster, Klöster und Kirchen. Große Bauwerke aus Stein, reich geschmückt. Wo aber sind die anderen Gebäude? Die Paläste oder Schlösser der Fürsten beispielsweise, wie man sie in Westeuropa in großer Zahl findet? Es gibt sie nicht. Sie haben sich nicht erhalten. Warum nicht? Weil sie zu bescheiden waren.
Wer sich hiervon überzeugen will, der suche irgendeine alte russische Stadt auf. Von den Palästen der Fürsten sind dort bestenfalls die Überreste äußerst brüchiger Fundamente übriggeblieben.
Den Verfasser hat in diesem Zusammenhang besonders das Beispiel der Stadt Uglitsch beeindruckt, wo der Besucher neben drei großen, massiven, prächtig erhaltenen alten Kirchen die Überbleibsel des Fundaments des Fürstenpalastes vorfindet, das seiner Größe nach knapp an ein heutiges Landhaus mittlerer Größe heranreicht. Dies bedeutet, daß der Palast selbst nach allen Regeln der Baukunst nicht größer gewesen sein kann und die Fürstenfamilie in einem Gebäude von der Größe eines einfachen zweistöckigen Landhauses wohnte. Jawohl, die Nachfahren Newskis lebten fürwahr bescheiden! Die Schlußfolgerung ist unabweislich: Der Löwenanteil der bei der Plünderung des Russenlandes und Europas angefallenen Beute sowie der dem russischen Volk gestohlenen Güter ging an die Kirche; diese scheffelte dermaßen große Reichtümer, daß sie sogar die Kuppeln ihrer Gotteshäuser vergolden konnte.
Wenn schon seine Fürsten in dermaßen bescheidenen Palästen hausten, wie mag da erst das einfache Volk gelebt haben? Die Antwort ist klar: Um das Vielfache ärmlicher. An das Märchen, wonach die Fürsten eine dermaßen spartanische Existenz geführt haben sollen, damit dem Volk mehr Mittel für eine würdige Existenz zur Verfügung standen, glaubt nämlich kein Mensch.
Vergleichen wir diese Zustände mit den in Europa herrschenden. Jawohl, auch dort haben sich gigantische, reich geschmückte Dome erhalten, zugleich jedoch auch nicht minder prunkvolle Adelshöfe, ganz zu schweigen von den Schlössern, deren es mehr als Klöster gibt. Dies heißt, daß sich die Kirche aus der gemeinsamen Schatulle bedeutend weniger freizügig bedienen konnte als im Russenland. Bei ansonsten gleichen Voraussetzungen wird auch mehr für das Volk abgefallen sein.
Hieran hat sich bis zum heutigen Tage nichts Wesentliches geändert. Erinnern wir nur daran, wie zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts wissenschaftliche Forschungsinstitute und Betriebe massenhaft geschlossen wurden und die Zahl der neugebauten Wohnungen rapid abnahm, zugleich aber Kirchen wie Pilze aus dem Boden schossen. Zum Symbol dieser Entwicklung wurde die pompöse Christi-Erlöser-Kirche in Moskau. Hätte man die für ihren Wiederaufbau verwendeten Gelder nur in die Entwicklung unserer Luft- und Raumfahrt gesteckt! Dann hätte man die Raumfahrtstation Mir sicherlich beibehalten und vieles mehr tun können.
Das Volk hat dies übrigens aus fast schon genetischen Gründen begriffen und 1918 das volle Strafmaß für die Schuldigen verlangt. Doch die letzte direkte Erbin der byzantinischen Provokation des Jahres 1237 hat trotz allem überlebt. Und nicht genug damit: Sie setzt ihre Bemühungen zur Wiederherstellung des Byzantinismus unverdrossen fort. Jene, die dafür sorgen werden, daß das Russenland früher oder später eine Wiedergeburt erlebt, müssen dieser Tatsache Rechnung tragen.
Zuletzt noch einige Worte über die Helfershelfer des Byzantinismus, die sich nach dem Einfall Batys ebenfalls auf der Siegerseite wiederfanden. Diese Leute waren hoffnungslose Narren. Wieviel Unheil haben sie angerichtet, und wie gering war ihr persönlicher Gewinn im Vergleich zu jenem der Kirche, die allem Anschein nach immer nur über Mittler gewirkt hat! Daß der Bischof stets wichtiger war als der „General“ (Fürst), haben wir bereits mehrmals erwähnt. Doch der Fürst, der dem Byzantinismus so knechtisch diente, war bloß ein Tölpel. Selbst wenn er despotisch regierte und Sklaven hielt, lebte er weit schlechter, als es der Fall gewesen wäre, hätte er sein Fürstenamt im Rahmen eines freieren politischen Modells ausgeübt.
Und um eines so erbärmlichen Lebens willen, um des selbst gewählten Dienstes an einem niederträchtigen Regime willen lasen die russischen Fürsten, ja selbst die Zaren, bei ihren orthodoxen Partnern regelmäßig alle Wünsche von den Augen ab. Weisen wir nochmals darauf hin, daß das Geschlecht Newskis ausgestorben ist. Unter Iwan dem Schrecklichen und Peter I. wurden dann auch zahlreiche Clans vernichtet, die den Newskis Handlangerdienste geleistet hatten. Doch an der Kirche gingen diese Erschütterungen weitgehend vorbei.
schließlich wurden die Zarenfamilie und der Adel als Klasse in den Jahren 1917-1920 vernichtet – jene Zarenfamilie und jener Adel, die bei der Verwirklichung des orthodoxen politischen Modells Pate gestanden haben. Die Kirche selbst hatte zwar unter Verfolgungen zu leiden, überlebte jedoch.
Dies alles entspricht durchaus geschichtlicher Logik: Die herrschende Bürokratie ist nichts weiter als die Dienerin des Imperiums, und Diener opfert man so bedenkenlos wie beim Schachspiel einen Bauern. So sprang man mit den unmittelbaren Vollstrecker des Projekts zur Einführung des Byzantinismus im Russenland um, und ein solches Schicksal ereilte dessen Lakaien auch später. Die Wasserträger des Byzantinismus lebten schlecht; reich waren sie allenfalls gemessen an den ärmlichen russischen Verhältnissen, und wenn man sie nicht mehr brauchte, hieß es: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.
Diese Lehre mögen die Herren Generäle des heutigen Rußland beherzigen. In einer kritischen Lage wird sich ein gar nicht unbedeutender Teil von ihnen vielleicht fragen, ob es sich wirklich lohnt, seine Seele und sein Gewissen zu opfern, um sich dadurch das Recht auf ein alles in allem doch recht ärmliches und, langfristig gesehen, durchaus unsicheres Leben zu erkaufen.
Doch genug des Geredes über das byzantinische Pack! Sprechen wir lieber über die lichten Kräfte, für die der Einfall Batys eine Niederlage bedeutete. Es waren dies:
1) Das russische Volk, das zunächst in einen mörderischen Krieg gehetzt und dann einer siebenhundertjährigen Knechtschaft überantwortet wurde.
2) Die einzigartige russische Zivilisation, die unter dem antizivilisatorischen byzantinischen Regime beinahe erstickte, da sie der Chance auf Selbstentwicklung verlustig gegangen war und sich damit zufriedengeben mußte, ab und zu fruchtlose Modernisierungsversuche zwecks Einholung des Westens zu unternehmen.
3) Das Russenland, das von einem zivilisierten und kultivierten Staat zu einem heruntergewirtschafteten, hungrigen Rußland wurde.
4) Die Weltzivilisation, die einen organischen Teil in Gestalt des städtischen, arischen Russenlandes verlor, eines Landes der Meister und Schöpfer.
5) Europa, das die Schrecken eines verheerenden Raubkrieges über sich ergehen lassen und sich vor der Errichtung eines orthodox-byzantinischen Jochs fürchten mußte.
Unter diesen Verlierern kann man einige hervorheben, die besonders gelitten haben. Dies galt namentlich für die Bevölkerung der russischen Städte, welche die schwersten Verluste hinnehmen mußte, und in besonderem Masse für die Mittelklasse, welche die Grundlage städtischer Gemeinschaften zu bilden pflegt.
Die bodenständige russische städtische Kultur wurde fast vollständig vernichtet. Vernichtet wurden die edelsten Fürstenhäuser, sowohl im Russenland als auch in der Steppe. Die Beispiele ließen sich mehren. Und wenn das Russenland irgendwann aufersteht, wird es sich seiner wahren Helden und Märtyrer erinnern.
Nennen wir nun die bedeutendsten Figuren, die (selbstverständlich um ihres eigenen Vorteils und ihrer eigenen Macht willen) den Byzantinismus stabilisiert oder in für ihn kritischen Situationen sogar gerettet haben.
Es waren dies die Nachfahren Newskis, Juri von Moskau und sein Bruder Iwan Kalita, nach diesem Iwan III. (nicht zu verwechseln mit Iwan dem Schrecklichen, dessen Gestalt weit rätselhafter und facettenreicher ist). Anschließend bestiegen die Romanows den Thron; unter ihnen irgend jemanden hervorzuheben, ist recht schwierig, waren sie doch alle mehr oder weniger gleich widerlich. Immerhin: Peter I. sowie Nikolai I. waren die verabscheuungswürdigsten Figuren dieser Dynastie. Sie taten ihr Bestes, um zu gewährleisten, daß das Imperium sein zutiefst byzantinisches Wesen ungeachtet aller Herausforderungen der Zeit beibehielt.
Schon gleich zu Beginn offenbarte dieses infame Herrschergeschlecht seinen Charakter, als während der Periode der Wirren Kräfte in Erscheinung traten, die das Land vom byzantinischen politischen Modell und von der Unterdrückung durch die Orthodoxie befreien wollten. Es begann seine Regierungszeit mit einer schandbaren Missetat – der öffentlichen Hinrichtung eines vierjährigen Knaben, des Sohns der Marina Mnischek.
Daß diese Dynastie 1918 ein grausames Ende fand, entsprach der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit. Irgendwann muß man seine Rechnungen, bezahlen, meine Herrschaften, besonders wenn sich so viele Zinsen angehäuft haben.
Es bringt nichts, darauf zu verweisen, daß die Morde an der Zarenfamilie und einer Reihe von Großfürsten und Großfürstinnen von Juden begangen worden sind. Ohne Unterstützung durch die überwältigende Mehrheit des russischen Volkes hätten keine Juden irgend etwas ausrichten können. Um die Juden geht es also nicht; zumindest haben sie damals nicht die Hauptrolle gespielt. Die russischen Rotgardisten haben das byzantinische Gesindel genau so vernichtet wie weiland der Landsturm der europäischen Städte die Hohenstauffern, die sich mit Byzanz verbündet hatten. Mit Stumpf und Stiel.
Dieses russische Volk vollzog die Revolution von 1917. Doch die „neuen Byzantinisten“ – die Bolschewiken – entrissen dem russischen Volk dann den Sieg. Bezeichnenderweise begriff das russische Volk das Problem bereits 1918, als die Losung „Räte ohne Kommunisten“ skandierte. Rein theoretisch gesehen lief dies auf die Forderung nach einer Wiederherstellung jener netzförmigen Steuerungsmethoden heraus, nach denen das alte Russenland regiert worden war.
Damals scheiterte der Versuch. Doch es ist noch nicht aller Tage Abend. Und wir sind dem Sturm von 1917/1918 trotz allem dankbar dafür, daß er den Präzedenzfall einer Empörung der Volksmassen gegen die Anhänger und Lakaien des Byzantinismus geliefert hat.
Doch leider schufen Lenin, Trotzki und Swerdlow nach dem scheinbar vollständigen Zusammenbruch des Imperiums die Voraussetzungen für eine Bewahrung des byzantinischen imperialen Modells, das dann von Stalin endgültig wiederhergestellt wurde. Nichtsdestoweniger ging das Imperium schlußendlich zugrunde, denn die Entwicklung der Zivilisation ist mit imperialen Modellen, die noch aus der Zeit des alten Ägypten stammen, unvereinbar. Dennoch will noch heute ein Regime der Nachzügler im Bündnis mit der Orthodoxie das Imperium wiederauferstehen lassen.
Auf den ersten Blick mutet dies alles schauerlich an. Doch die Zeit läßt sich nicht umkehren. Es wird euch nicht gelingen, diesen Leichnam wieder lebendig zu machen, meine Herren Byzantinisten. Besonders wenn das Russenland begreifen wird, daß es all seine Wehen euch und sonst niemandem zu verdanken hat.
2. Was wir verloren haben und weshalb Rußland tatsächlich nicht Amerika ist.
Stellen wir uns vor, der Einfall Batys, die „Festigung der Staatlichkeit“ durch Newski, die „Festigung der Sittlichkeit“ durch die Orthodoxie und die damit Hand in Hand gehende Demontage der städtischen Zivilisation im Russenland durch die Nachfolger Newskis wären uns erspart geblieben. Wie hätte sich die Zivilisation im Russenlande in diesem Fall entwickelt?
Die Antwort ist einerseits leicht und andererseits schwindelerregend. Vor der Invasion Batys besaß das Russenland mehr Eisen als jedes andere Land der Welt. Selbst ohne Ausbeutung der reichen Erzvorkommen, die Europa so dringend benötigte, gab es in den Sumpfgebieten des Russenlandes genügend Erz, um eine „Revolution der Mühlen“ in die Wege zu leiten. Die berühmte russische Zimmermannskunst hatte sich – wie jedermann anerkennt - schon damals zu ungeahnten Höhen emporgeschwungen, was bedeutet, daß es im Lande nicht an qualitativ hochwertigen Schreinerwerkzeugen mangelte. Wenn es dazu noch Nägel und Klammern gegeben hätte...
Von einer „Revolution der Mühlen“ trennte das Land buchstäblich nur noch ein einziger Schritt, und eine solche Revolution hätte die erste Etappe einer industriellen Revolution dargestellt, die im Russenland ungefähr ein Jahrhundert früher hätte beginnen können als in England!
Außerdem erfaßte die von Nowgorod ausgehende Kolonisierung bereits den äußersten Norden, den Norden und teilweise das Zentrum des Urals, was eine Möglichkeit zur Erschließung der reichhaltigen Erzvorkommen jener Gebiete eröffnete. Die hierzu notwendige Ausrüstung war schon vorhanden. Dies wäre die abschließende Etappe der Revolution des Eisens gewesen und hätte die letzten Hindernisse für den Anfang einer industriellen Revolution beseitigt.
All dies heißt, daß das Russenland ein städtisches, zivilisiertes Land geblieben und seine Position als zivilisatorischer Spitzenreiter behauptet hätte. Diese Position hätte es noch weit eindrücklicher behauptet als die spätere industrielle Führungsmacht England, denn in Bezug auf sein wissenschaftlich-technisches Potential hatte es einen größeren Vorsprung auf den Rest der Welt; es wäre diesem weit vorausgeeilt und hätte sich dabei auf ungleich mehr Ressourcen stützen können als später England.
Schon im 14. Jahrhundert hätte das Russenland denselben Lebensstandard erreicht wie England zwei Jahrhunderte später, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte es sich auf derselben Entwicklungsstufe befunden wie die Vereinigten Staaten heute. Elend, jahrhundertelange Armut und Entbehrungen wären ihm erspart geblieben.
„England profitiert aber von einem wärmeren Klima, das seinen zivilisatorischen Aufschwung erleichtert hat!“ wendet der Leser hier ein. Jawohl, je wärmer es ist, desto leichter läßt es sich leben, wenn die Voraussetzungen ansonsten gleich sind. Diese Tatsache legt A. P. Parschew in einer ganzen Reihe von Büchern dar, die mit dem Bestseller Potschemu Rossija ne Amerika [Warum Rußland nicht Amerika ist], Verlag Krymski Most, Moskau 2000, begann.
„Sagen Sie die Wahrheit, die reine Wahrheit. Aber nicht die volle Wahrheit“, wies Moltke der Ältere, Chef des deutschen Generalstabs, die Kriegshistoriker vor dem Beginn des preußisch-französischen Krieges an. Es ist dies in der Tat eine effiziente Methode. Doch warum soll man sein Licht unter den Scheffel stellen und sich mit einer dermaßen hausbackenen Methode zufrieden geben?
Gewiß, der Energieverbrauch ist in Rußland im Vergleich zum Bruttosozialprodukt um 40% (also weniger als anderthalbmal) höher als der europäische Durchschnitt. Andererseits sind die Binnenpreise für Energieträger ca. doppelt so niedrig. Ein erklecklicher Unterschied, nicht wahr? Dieser Unterschied bedeutet, daß die Energiekosten in Rußland geringer sind als in Europa. Dies liefert auch die Erklärung dafür, daß unser Energieverbrauch in der Metallurgie sowie der chemischen Industrie auf dem Weltmark konkurrenzfähig ist.
Warum sind die Energiepreise in Rußland niedriger als anderswo? Weil es mehr Energiequellen gibt als in Europa. So war es schon immer. Seit jeher gab es in Rußland um ein Vielfaches mehr Holz als in Europa. Dann, mit dem Beginn der Kohleförderung, hat uns der Westen zwar überholt, aber nicht für lange, denn auch an Kohle war Rußland reicher. Dasselbe wiederholte sich später mit dem Erdöl und schließlich mit dem Erdgas.
Wir besitzen 33% der weltweiten Erdgasvorkommen – und noch vieles mehr. Beispielsweise 60% des technisch verwertbaren Glimmers. Und 20% der Weltvorräte an Frischwasser befinden sich allein im Baikalsee. Das sind doch ansehnliche Werte, nicht wahr?
Das wirtschaftliche Potential eines Landes hängt folglich nicht in erster Linie vom Klima ab, sondern in weit größerem Umfang von den insgesamt vorhandenen Ressourcen. In Anbetracht unserer Ressourcen sind wir also keineswegs zu einem Bettlerdasein verurteilt. Ganz im Gegenteil!
Erinnert dich unser Gejammer über das schlechte russische Klima übrigens nicht fatal an etwas anderes, lieber Leser? An das Gejammer anderer über das ihrer Ansicht nach „schlechte“ russische Volk nämlich. Doch diese dreiste Verleumdung, verbreitet von Snobs aus der Oberschicht, stößt bei den Massen auf immer schroffere Ablehnung, weshalb man heute statt über das „schlechte“ Volk lieber über das „schlechte“ Klima lästert. Im Grunde genommen dient beides dem gleichen Zweck, nämlich dem, unsere Aufmerksamkeit von den eigentlichen Verantwortlichen für unser Elend abzulenken.
Ungeachtet des ungünstigeren Klimas lebte es sich im Russenland besser als Europa, als es Gardarik war, das Reich der Städte, die inmitten dichter Wälder und kristallklarer, wasserreicher Flüsse lagen. Schlechter als in Europa lebte es sich dort erst, nachdem es zu einem Land leibeigener Sklaven geworden war, die inmitten riesiger, karger
Äcker und schmutziger, immer seichter werdender Flüsse hausten.
In Agrarstaaten ist die Bedeutung des Klimas weit größer als in anderen. Beispielsweise ist es in England kälter als in Frankreich, und das agroklimatische Potential des französischen Territoriums ist deutlich höher als dasjenige des englischen. Aber England begann früher als Frankreich mit der Industrialisierung und eroberte im Rahmen der von ihm verwirklichten wissenschaftlich-technischen Revolution deshalb die zivilisatorische Führungsposition, und das Bruttosozialprodukt Englands wurde in der Neuzeit größer als dasjenige Frankreichs. Sein günstigeres Klima bewahrte Frankreich nicht davor, in Rückstand zu geraten.
Oder werfen wir einen Blick auf die Länder der Dritten Welt. Dort ist das Klima wesentlich wärmer als in England und Frankreich. Dennoch sind diese Länder den europäischen industriell, politisch und hinsichtlich ihres Lebensstandards weit unterlegen.
„Diese Länder waren aber Kolonien der Europäer!“ ereifert sich der eine oder andere Leser, der die Bücher Parschews verinnerlicht hat, hier vielleicht. „Bitte sehr, waren sie vor ihrer Kolonisierung etwa entwickelter, stärker und blühender als England?“ lautet unsere Gegenfrage. Wie kommt es, daß sie damals gegen ein aufgrund seines kälteren Klimas „rückständiges“ Land den kürzeren zogen? Mit solch einfachen Argumenten lassen sich Einwände wie der obige widerlegen. Kein noch so paradiesisches Klima half den tropischen Ländern, eine Entwicklungsstufe zu erklimmen, die mit derjenigen des damaligen England auch nur halbwegs vergleichbar gewesen wäre. (Daß einige von ihnen in den jüngsten Vergangenheit tatsächlich riesige Schritte nach vorn unternommen haben, ist kein Gegenbeweis, denn diese Länder haben lediglich die von England und anderen europäischen Staaten längst vollzogene Modernisierung aufgeholt.)
Kurzum: Das Klima war nie der Hauptgrund für unsere Armut und Rückständigkeit und ist es auch heute nicht, meine Herren. Der Hauptgrund war und ist etwas ganz anderes: Das volksfeindliche, antizivilisatorische byzantinistische Regime Rußlands, welches das Land nun schon seit mehr als sieben Jahrhundert ausplündert.
Rußland ist nicht darum nicht Amerika, weil wir eine ganz bestimmte Natur und ein ganz bestimmtes Klima haben. In bezug auf die natürlichen und klimatischen Voraussetzungen läßt sich unser Land mit Finnland vergleichen; die Region von Pskow unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von Estland. Doch man vergleiche den Lebensstandard und das zivilisatorische Niveau Kareliens mit demjenigen Finnlands und der Region von Pskow mit demjenigen Estlands! Auch wenn man von Lettland aus die russische Grenze überquert, werden die Strassen sogleich schlechter und die Dörfer schmutziger und ärmlicher.
Das byzantinistische politische System ist der Hauptgrund dafür, daß Rußland nicht Amerika und nicht Europa ist.
Gar mancher Leser wird hier einwenden, die UdSSR sei schon 1991 zusammengebrochen, und das Leben sei seither bei uns nicht leichter geworden. Doch mit dem Ende der UdSSR ist der Byzantinismus durchaus nicht verschwunden! War das Regime Jelzins seinem Wesen nach etwa nicht byzantinistisch? Und das Regime Putins? Letzteres ist überhaupt Byzantinismus in Reinkultur. Man kann Rußland notfalls in einzelne Dörfer aufteilen, doch das Leben wird auch auf den Trümmern des ehemaligen Imperiums freudlos, ärmlich, langweilig und hoffnungslos sein, solange der Byzantinismus nicht überwunden ist.
Man kann auch den gegenteiligen Weg gehen und das Territorium noch erweitern, doch auch in diesem Fall muß der Byzantinismus überwunden werden, und zu erweitern ist nicht das sieche Imperium, sondern eine freie Föderation freier Regionen, wie sie die Föderation der „fünf Enden“ Großnowgorods faktisch war. Dann wird sich jedermann davon überzeugen können, wie normal und zivilisiert das Leben auch in einem riesengroßen Land sein kann.
Die Frage nach den optimalen Grenzen des neuen Russenlandes ist ein Thema für sich, auf das wir hier nicht einzugehen gedenken. Wir bemerken lediglich, daß jedes beliebige Imperium dazu neigt, Völker mit unvereinbarer Mentalität zu vermischen. Dies ist übrigens eine weitere Ursache der Spannungen und Krisen in der Entwicklung der Staaten. Wie schon mehrfach hervorgehoben, lieben es Imperien, Probleme zu schaffen, weil sie ohne solche zerfallen würden. In Die Eigenen und die Fremden setzen wir uns ausführlicher mit dieser Frage auseinander.
Wenden wir uns wieder der Widerlegung der These zu, wonach das kalte Klima an den Wehen Rußlands schuld sein soll, und greifen wir ein bereits angeführtes Beispiel auf. Seit fünf Jahren existiert eine Technologie, dank welcher man den Energieverbrauch der Haushalte um das Zwei- bis Zweieinhalbfache verringern kann. Bei massenhafter Herstellung macht diese Technologie die Installierungskosten schon nach einem bis anderthalb Monaten wieder wett. Unter Kälte brauchte dann niemand mehr zu leiden.
Nicht das Klima, sondern das gegenwärtig noch im Sattel sitzende byzantinistische Regime verhindert also die Einführung dieser Technologie – genau wie es die Suche nach neuen Erdölquellen in Zentralrußland sabotiert. Den absurden russischen Gesetzen zufolge darf Firmen, die Erdöl gefunden haben, dadurch nämlich kein Vorteil erwachsen. Unter diesen Umständen kann man lange nach Dummköpfen Ausschau halten, die auch nur eine Kopeke in die Suche nach neuen Ölvorräten investieren; sie zu finden wird schwieriger sein, als neue Erdölquellen aufzustöbern...
Übrigens: Nach neuen Forschungen betragen die Erdölvorräte in Zentralrußland ungefähr 3,5 Milliarden Tonnen.
Ziehen wir ein Fazit: Weder das Klima noch die Unfruchtbarkeit des Territoriums noch das angeblich „schlechte“ Volk noch gelegentliche historische Mißgeschicke sind schuld an unserer Armut und Ignoranz. Schuld daran ist ein nach uralten, im spezifischen Fall byzantinischen Mustern errichtetes klassisches Imperium, das es fertig bringt, jedes Land zugrunde zu richten, ganz unabhängig von seinem natürlichen, ressourcenmäßigen und demographischen Potential. So wurde das Niltal, dessen agroökologisches Potential heutzutage drei- bis fünfmal niedriger ist als im alten Ägypten, in den Ruin getrieben. Auch das Tigris- und Euphrattal wurde größtenteils in eine Wüste verwandelt, und nicht zuletzt ist auch Byzanz immer ärmer geworden.
Für dieses Regime danken dürfen wir der orthodoxen Kirche und ihrem heiligen, apostelgleichen Fürsten Alexander Newski, aber auch dessen Handlanger Baty, der es aus irgendwelchen Gründen bisher noch nicht geschafft hat, in den Rang eines Heiligen erhoben zu werden, sowie schließlich all seinen Nachfolgern. Von 1237 bis hin in die Gegenwart.
3. „Pack schlägt sich und verträgt sich.“ Kommentar zu einem vieldiskutierten Thema.
Seit 1979, also schon seit recht langer Zeit, gehört der Verfasser der Russischen Bewegung an. Freilich hat er nie zu ihren Führern oder Propheten gezählt, sondern still und unauffällig politische Knochenarbeit geleistet, ohne auf Erfolg und Profit zu hoffen. Er handelte nach dem Grundsatz „Tue, was getan werden muß, und dann geschehe, was geschehen muß.“
Einmal, Mitte 1990, als er bei einer Volksversammlung für einen Kandidaten der „nationalpatriotischen Kräfte“ die Werbetrommel rührte, meldete sich im Saale ein Kritiker zu Wort. „Wodurch unterscheidet ihr euch eigentlich von den Vertretern des Regimes? Ihr seid auch nicht besser als die. Ihr wollt einfach in ihre Positionen aufrücken.“
Wir verhehlen nicht, daß uns dieser Vorwurf zutiefst gekränkt hat, um so mehr, als wir nie danach gestrebt haben, in irgend jemandes Position aufzurücken, sondern lediglich für einen neuen „Führer“ warben. Doch später stellte es sich klar heraus, daß jener Skeptiker im Saale recht gehabt hatte. Dies bewog uns dazu, einen „Byzantinismus-Test“ zu entwickeln. Bei diesem handelt es sich freilich nicht um einen Text im herkömmlichen Sinne des Wortes, sondern um eine informelle Untersuchung der Frage, wozu es geführt hätte, wenn diese oder jene Staatsmänner, Politiker oder Ideologen eine politische Ordnung hätten errichten können, die ihren eigenen Zielen und ihrem eigenen Geschmack entsprochen hätte.
Der Geschmack spielt hier eine noch wichtigere Rolle als Ziele und Losungen. Bei den meisten Menschen beeinflußt er die Entscheidungen nämlich in weit stärkerem Masse als bewußt gestellte Ziele. Ob dies gut oder schlecht sei, ist eine andere Frage, doch an dem Faktum selbst gibt es nichts zu rütteln.
Zu welchen Ergebnissen gelangten wir, als wir das politische und ideologische Bild des heutigen Rußlands von diesem Standpunkt aus Revue passieren ließen?
Auf manche mag dies ja überraschend wirken, doch die meisten russischen Politiker sind typische Byzantinisten. Byzantinisten von echtem Schrot und Korn sind natürlich sämtliche Roten und Befürworter einer Wiederherstellung der Sowjetunion. Wie bereits mehrfach betont war die Sowjetunion nämlich ein lupenreines „Byzanz des 20. Jahrhunderts“. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß auch alle Traditionalisten, die der Zeit vor 1917 nachtrauern, zu den Byzantinisten zählen. Waschechte Byzantinisten sind ferner die Anhänger der Orthodoxie, unabhängig von ihren spezifischen politischen Überzeugungen.
„Aber diese Leute gehören doch im wesentlichen zur Opposition!“, wendet der Leser hier vielleicht ein und meint, die herrschende Elite, die oft nichtrussischer Abstammung, nicht orthodox und prowestlich sei, könne man doch unmöglich als byzantinistisch bezeichnen.
„Warum denn nicht?“ antworten wir da. Zugegeben, die Elite ist prowestlich – doch war Peter I., der das byzantinistische Regime wiederbelebt und sogar noch gestärkt hat, zumindest vordergründig nicht ebenfalls prowestlich gesinnt? Die Frage stellen heißt sie beantworten.
Ein zur Schau gestelltes Westlertum ist mit dem Byzantinismus durchaus nicht unvereinbar, ebensowenig mit der Orthodoxie. Der Byzantinist kann sich entweder als Anhänger der orthodoxen Kirche oder als Nostalgiker des Imperiums zu erkennen geben und braucht keinesfalls beides zugleich zu sein. Dies steht nicht im Widerspruch zu unserer These, wonach das Imperium ursprünglich ohne die Orthodoxie unmöglich gewesen wäre; es hat seither lediglich eine gewisse Selbständigkeit erworben, so daß jemand, der sich nicht zur Orthodoxie bekennt, trotzdem Byzantinist sein kann. Umgekehrt läßt sich allerdings nicht dasselbe sagen, denn ein Orthodoxer ist von seinem Denken und Fühlen her stets Byzantinist. Aber darum geht es hier nicht.
Man könnte lange darüber streiten, wer das Imperium in Gestalt der UdSSR wiederhergestellt hat. Vielleicht waren einige der Betreffenden in der Tiefe ihrer Seele Orthodoxe, doch besonders groß kann dieser Teil nicht gewesen sein. Gewiß, man kann rein theoretisch Beweise dafür an den Haaren herbeizerren, daß es in Stalins Weltanschauung verborgene orthodoxe Elemente gab, doch Lenin, Kaganowitsch oder Swerdlow waren ganz bestimmt keine Orthodoxen. Und doch haben sie eifrig an einem neuen, nach rein byzantinischem Muster konstruierten Imperium geschmiedet.
Daß die Elite in jedem Imperium teilweise fremder Abstammung ist, bedarf kaum der Erwähnung. Eine solche Elite ist ihrem Wesen nach entnationalisiert. Wie viele fremde Elemente gab es doch im russischen kaiserlichen Adel! Über diese allgemein bekannte Tatsache haben sich zahlreiche Verfasser geäußert, mögen sie sie auch unterschiedlich bewertet haben.Zum Vergleich: Die Elite Groß-Nowgorods war ethnisch gesehen rein russisch.
Resümieren wir: Daß die heutige Elite unseres Landes oft fremder Herkunft, nicht orthodox und betont prowestlich ist, bedeutet noch längst nicht, daß sie dem Byzantinismus abhold wäre.
Veranschaulichen wir dies am Beispiel jenes Teils der gegenwärtigen Elite, bei denen die „antistaatlichen“ Tendenzen am klarsten zutage treten, nämlich der – größtenteils jüdischen – Oligarchen. Das einzige, wozu sie sich bei der Schaffung eines für sie wünschenswerten politischen Modells fähig zeigten, war die Förderung der Korruption. Doch die Macht einfach zu kaufen, führt in eine Sackgasse. Niemand will nämlich eine Sache kaufen, deren Wert sinkt. Deshalb verstärken jene, welche die Macht „kaufen“, diese rein instinktiv (und manchmal vielleicht auch bewußt). Dabei errichten sie gleichzeitig eine hierarchische Vertikale, welche die günstigsten Voraussetzungen für die Korruption bietet.
Es kommt aber der Augenblick, wo die erstarkten und im Rahmen des hierarchischen Modells nicht mehr zu kontrollierenden Machthaber sich nicht mehr damit begnügen, von den Oligarchen Schmiergelder zu verlangen, sondern ihnen an den Pelz rücken. Genau dies beobachten wir heutzutage.
Nicht byzantinistisch denkende Menschen hätten in der Position der Oligarchen danach streben müssen, die Macht beharrlich zu schwächen und zu dezentralisieren oder wenigstens entsprechende Tendenzen zu fördern. Ferner hätten sie lernen müssen, mit Hilfe netzförmiger und zielprogrammatischer Methoden zu herrschen. Dann hätten sie es nicht nötig gehabt, sich hinter den Machthabern vor dem Volk zu verstecken. Ende der achtziger sowie in den neunziger Jahren wäre es ihnen durchaus möglich gewesen, das Volk gegen die Macht aufzuwiegeln, sich selbst aber von diesem Kampf fernzuhalten und nach und nach ein System der netzförmigen Steuerung zu entwickeln.
Gemäß der Logik dieser Steuerungsmethode wären in das geschaffene System als unabdingbare Elemente immer niedrigrangigere Eliten aufgenommen worden, bis dieses Netz schlußendlich sämtliche sozial aktiven und irgendwie brauchbaren Menschen des Landes umfaßt hätte. Außerhalb des Netzes geblieben wäre nur der Bodensatz – jener der unerbittlich schrumpfenden und immer schwächer werdenden Bürokratie sowie jener der Bevölkerung.
Bei diesem Prozeß hätten auch die Reichsten nicht befürchten müssen, ihren Wohlstand zu verlieren. Absolut gesehen wäre dieser sogar noch gestärkt worden. Das Heranwachsen einer äußerst starken Mittelklasse hätte die Schöpfer des Netzes im Prinzip nicht daran gehindert, zu leben und zu herrschen.
Doch ein Byzantinist kann nicht in absoluten Kategorien denken, sondern denkt stets nur in relativen. Wichtig ist für ihn nicht, wie reich er ist, sondern wie reich er im Verhältnis zur Masse der armen Schlucker ist. Es ist dies ein Charakterzug hierarchischen Denkens.
Genau so dachten die byzantinistischen Oligarchen. Unter ihrer aktiven Mitwirkung wurde die Mittelklasse an den Bettelstab gebracht und das heutige bürokratische System geschaffen, das sich dann anschickte, die Oligarchen einen nach dem anderen zu verschlingen.
All das hier über die gegenwärtige Elite Gesagte gilt auch für deren auf den ersten Blick „freien“ Teil. Wie wir eben gezeigt haben, sind diese Leute ihrer Mentalität nach ausnahmslos Byzantinisten und Nostalgiker des Imperiums. Es ist beileibe kein Zufall, daß ausgerechnet der „Reformator Nummer eins“ und Super-Oligarch Tschubais vorgeschlagen hat, ein „liberales Imperium“ zu begründen. Ein Byzantinist kommt eben nicht ohne Imperium aus.
Es hilft nichts, darauf zu verweisen, daß sich das britische Kolonialreich gegenüber den Bürgern der Metropole liberal verhielt. Koloniale Imperien sind nur dem Namen nach Imperien (vgl. unsere diesbezüglichen Ausführungen in Die Eigenen und die Fremden). Zur Schaffung eines kolonialen Imperiums konnte Tschubais ja nicht gut aufrufen. Wie könnte Rußland auch eine Metropole sein, wenn es selbst eine Halbkolonie ist. schließlich pflegen Kolonien selbst keine Kolonien zu besitzen.
Wenn aber sogar der „freiste“ Teil der heutigen Elite derartige Forderungen ausspricht, wie muß es da erst um die Denkweise der ständig wachsenden Schar von Bürokraten und Westentaschen-Despoten bestellt sein, an deren byzantinistischer Mentalität kein Zweifel statthaft ist! Auf diese Parasitenkaste stützt sich die heutige Macht, welche um jeden Preis ein byzantinistisches Rußland erhalten und die Wiedergeburt des Russenlandes verhindern will.
Solcher Art ist also der byzantinistische Charakter der gegenwärtigen Elite, gewissermaßen mit großen Pinselstrichen gezeichnet. Doch die Richtigkeit dieser „Nahaufnahme“ kann man auf Schritt und Tritt mit einer Menge von Details erhärten. Letztere sind so zahlreich, daß man sie unmöglich alle aufzählen kann; wir begnügen uns mit einem oder zwei besonders prägnanten Beispielen.
Der bereits erwähnten A. P. Parschew entwickelt in seinen Büchern Theorien zur Überwindung der Erbärmlichkeit des russischen Lebens, die bei vielen Leuten auf lebhaften Beifall gestoßen sind. Unter den Anhängern Parschews finden sich sowohl Vertreter der herrschenden Elite als auch Oppositionelle und Neutrale. Sie alle wollen den wahren Grund für das Elend Rußlands partout nicht erkennen und machen statt den wirklichen Schuldigen, das byzantinische Machtsystem, die natürlichen Bedingungen dafür verantwortlich. Mit diesen läßt sich jeder noch so grober Fehler und jede noch so abscheuliche Untat der Machthaber in der Tat gar trefflich entschuldigen. Dies ist vermutlich auch der Grund dafür, daß es Parschews Bücher stets in riesigen Auflagen erscheinen.
Aus reiner Neugierde sind wir der Frage nachgegangen, ob die Bewunderung, welche manche neutralen, ja sogar prowestlichen Denker und Politiker für Parschew empfinden, mit anderen Kennzeichen byzantinistischen Denkens Hand in Hand geht. Dabei haben wir die bereits mehrfach zitierten Werke S. Waljanskis und D. Kaljuschny unter die Lupe genommen. Beide anerkennen Parschews Thesen als richtig; zugleich billigen sie die barbarischen, widernatürlichen Modernisierungskampagnen zur Einholung des Westens sowie gewisse andere von uns identifizierte Kennzeichen des Byzantinismus wie etwa die Aufstellung einer Massenarmee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht.
All diese Elemente des russischen Lebens sind angeblich ebenfalls „durch die Natur vorausbestimmt“, so daß man sie unmöglich ändern kann...
Meine Herren, hier sind Sie gründlich auf dem Holzweg! Das monströse System des Byzantinismus ist durchaus nicht naturbedingt; es wurde von ganz konkreten Personen geschaffen und wird bis heute von ganz konkreten Personen aufrechterhalten. Zu letzteren gehören auch Sie, mögen Sie sich auch als Freidenker gebärden, die mit der Orthodoxie nichts am Hut haben.
Es versteht sich fast schon von selbst, daß die Herren Waljanski und Kaljuschny überzeugte Internationalisten sind. Wie könnte es auch anders sein; imperiales Denken läuft im Endeffekt stets auf eine Durchmischung von Ethnien und Rassen hinaus. Für Imperien ist es weitaus leichter, über entnationalisierte Massen zu herrschen als über kompakte Völker, die sich ihrer Einzigartigkeit bewußt sind. Als Verwalter fungieren in Imperien sehr oft fremdstämmige Eliten, die keine blutsmäßigen Verbindungen zu den Beherrschten besitzen.
Überhaupt veranschaulichen die Herren Waljanski und Kaljuschny eine sehr wichtige Tendenz. Einen Byzantinisten kann man, auch wenn er sich nicht zur Orthodoxie bekennt und kein „professioneller Sänger des Generalstabs“ ist, stets an folgendem erkennen:
1) Er erklärt die Erbärmlichkeit des russischen Lebens mit der angeblich abnorm schlechten Natur.
2) Er nimmt gegenüber der Modernisierung eine ablehnende Haltung ein oder lehnt den Fortschritt überhaupt ab.
3) Er ist grundsätzlich Internationalist.
4) Er biedert sich knechtisch bei jenen an, die gerade an der Macht sind, und tritt nachdrücklich für eine Massenarmee aus zwangsrekrutierten Soldaten ein, die nichts weiter als Kanonenfutter sind.
5) Die finsteren Seiten der russischen Geschichte seit dem Jahre 1237 bereiten dem Byzantinisten niemals Bauchgrimmen. Für ihn ist diese Geschichte ein einziges grandioses Heldenepos, und wenn es hie und da zu beklagenswerten Exzessen kam, waren diese „durch die objektiven Umstände“ bedingt.
Nach diesen Maßstäben haben wir unseren „Byzantinismus-Test“ konzipiert und seine praktische Anwendung demonstriert. Jeder beliebige Leser wird anhand dieser Kriterien ohne weiteres erkennen können, daß die überwältigende Mehrheit unserer Politiker und Ideologen im Grunde ihres Herzens Byzantinisten sind. Pack schlägt sich und verträgt sich. Hiermit lassen sich zahlreiche Paradoxe des heutigen politischen Lebens erklären, beispielsweise die Tatsache, daß es nie an finanziellen Mitteln für den ideologischen Kampf der „Opposition“ fehlt, bei der Byzantinisten aller Schattierungen (Kommunisten, Traditionalisten, orthodoxe Patrioten etc.) die erste Geige spielen. Ihre Streitigkeiten mit den Herrschenden sind Zerwürfnisse unter Brüdern.
Dies alles liefert auch eine zwanglose Erklärung dafür, daß viele kommunistischen Wähler mit fliegenden Fahnen ins Lager des imperial gesinnten Putin überliefen, obwohl dieser auf den ersten Blick nichts Kommunistisches an sich hat. Er braucht den Kommunismus auch gar nicht; er braucht ein Imperium nach byzantinischem Muster, egal welcher Variante; ob es rot oder „putinisch“ ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle. „Wie der Ball rollt“, sagt das Volk. Und gegenwärtig rollt der Ball so, wo Putin will.
Diese Sätze wurden im Jahre 2004 geschrieben. Schon damals war uns alles klar. Doch jetzt, zwei Jahre später, müßte es eigentlich sogar einem Menschen klar sein, der keinerlei Insiderkenntnisse besitzt und sich keiner glänzenden analytischen Fähigkeiten rühmen darf. Daß ehemalige „radikale Oppositionelle“ wie beispielsweise die Leute von der Zeitung Sawtra heute vor Putin katzenbuckeln, zeigt, daß an ihnen nichts Oppositionelles ist und auch nie war. Wenn nötig werden sie die byzantinische Macht heimlich unterstützen, und wenn man sie unter Druck setzt, sogar offen.
Somit hatte der zuvor erwähnte Skeptiker recht, der dem Verfasser bei einer Wahlveranstaltung vorhielt, jene, die sich als Oppositionelle gerierten, wollten einfach die Stelle der Regierenden einnehmen. Er verwendete den Ausdruck „Byzantinisten“ zwar nicht, hatte aber anscheinend begriffen, worum es ging. Wenn die byzantinistisch gesinnten Oppositionellen an die Macht kommen, werden sie vermutlich schon das eine oder andere ändern, möglicherweise nicht nur in personeller Hinsicht. Doch selbst wenn sie einschneidende Reformen in die Wege leiten, werden sie die alten Formen der Unterdrückung einfach durch neue ersetzen. Schluß, punkt, Amen.
Wie schon in der Vergangenheit werden auch die (scheinbar) tiefgreifendsten Veränderungen das Wesen des Regimes nicht berühren; dieses wird nach wie vor auf hierarchischen Steuerungsmodellen, Internationalismus sowie Ausbeutung von Volk und Natur fußen, und die Regierenden werden nach wie über die schlechte russische Natur und das schlechte russische Volk zetern.
Nein, meine Herren, dieser Weg führt ins Niemandsland.
Deshalb gilt es anzuerkennen, daß der entscheidende Gegensatz im russischen Leben nicht der zwischen Rechten und Linken, heutigen Oppositionellen und Regierenden, „Patrioten“ und Westlern ist. Der entscheidende Gegensatz ist der zwischen Imperium-Nostalgikern und Byzantinisten aller Schattierungen einerseits und seelisch freien, zivilisierten Menschen einerseits, die sich durch inneren Adel auszeichnen. Zwischen denen, die Rußland bewahren wollen, und jenen, die eine Wiedergeburt des Russenlandes anstreben.
4. Der Wahrheit ins Gesicht blicken. „Wer leben will, wer fröhlich ist, wer kein Waschlappen ist...“
Nun sind die schicksalhaften Worte also gefallen. Die Flagge mit dem Zeichen Kolowrats weht im Winde, und die Trompete ist erschallt. Abermals stehen uns die Horden Batys und Newskis gegenüber und hinter ihnen eine Schar treuloser byzantinischer Popen und ihrer Kollegen aus allen vier Kanälen des russischen Fernsehens.
Wie zahlreich wir sind, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, daß wir wissen, wer uns in den Rücken fallen könnte und wem wir den Rücken folglich nicht zuwenden dürfen. Ewpati Kolowrat, dem es um ein Haar geglückt wäre, den Plan der Byzantinisten zu durchkreuzen, verfügte über weitaus weniger Kämpfer als heute jene, die bereit sind, den Angreifern die Stirn zu bieten.
Jawohl, den Angreifern. Diese sind nämlich nicht tot, solange ihre Erben leben. Der Kampf um das neue Russenland ist der Kampf gegen Baty, dessen Nachfahren unser Land bis zum heutigen Tage besetzt halten.
„Tod den Besatzern!“ lautet die Losung des wahren Widerstands.
„Der Sieg ist doch unmöglich! Das ist eine reine Utopie“, unkt der eine oder andere Spießbürger. „Keinesfalls“, lautet unsere Antwort. „Der Sieg ist sehr wohl möglich. Das Imperium ist in Wirklichkeit sehr schwach, und es hat eine Unzahl von Feinden, die es allesamt bis aufs Blut gereizt hat.“
Doch sein Hauptfeind ist sein eigenes Volk. Diesem Volk gilt es die Augen zu öffnen, es darüber aufzuklären, daß für die Befreiung vom Joch kein Preis zu hoch ist, weil die Freiheit keinen Preis kennt.
Man braucht nicht zu befürchten, das wiedererstandene Russenland könnte dem althergebrachten Rußland gleichen. In ihm wird 90% der Macht an die Regionen abgetreten werden; an die Stelle einer nach den Prinzipien der Horde aus Wegelagerern oder Sklaven rekrutierten Armee wird ein Heer treten, das nach dem Grundsätzen der Druschina (Gefolgschaft) organisiert ist; der hauptsächliche Reichtum des Landes wird sein Volk sein; Zivilisation und Freiheit werden das Land erblühen lassen. Dies alles und noch vieles mehr muß man begreifen und dem Volk erklären.
Und das Wichtigste: Man darf sich nicht fürchten. Keiner, dem es dafür an Schneid gebricht, braucht auf die Barrikaden zu gehen. Die Hauptsache ist nicht, den Kämpfenden aktiv beizustehen, sondern jenen, die das Regime des Jochs erhalten wollen, so viele Steine wie möglich in den Weg zu legen.
An aktiven Kämpfern mangelt es keinesfalls. Die Zahl jener, die bereit sind, für Freiheit, Ehre und Würde zu fechten, die nach den Regeln des Ritterstandes und nicht nach jenen einer stumpfsinnigen Bürokratie und eines korrupten Rechtssystems leben wollen, ist so klein durchaus nicht.
Es ist ein finsterer Mythos, daß das russische Volk ein Volk von Sklaven geworden sei und daß wir nicht ohne Imperium auskommen könnten. Erinnern wir uns, wie vor noch nicht allzu langer Zeit fast aus jedem Fenster die Stimme Wyssozkis klang, wovon er sang, wozu er uns aufrief. Er rief uns dazu auf, dem monströsen byzantinistischen System zum Trotz edle Menschen zu bleiben. Menschen zu bleiben in den sowjetischen Zuchthäusern, in der idiotischen, menschenmordenden Armee, bei der Schwerarbeit, in einem Staat, der barbarisch und raffiniert zugleich ist. Den Helden seiner Lieder gelang dies, und die Hörer dieser Lieder, die es in jedem Hause gab (dies zur Frage, wie viele wir sind), wollten es diesen Helden gleichtun.
Doch rief uns der Barde nicht nur dazu auf, unter den Bedingungen des unmenschlichen byzantinistischen Regimes Menschen zu bleiben. Etwas später forderte er uns zur siegreichen Schlacht mit dem byzantinistischen Gesindel auf: „Wer leben will, wer fröhlich ist, wer kein Waschlappen ist, der rüste sich zum Handgemenge.“
Klarer kann man es nicht sagen.
Alexandrow-Moskau 2004-2006
Nachwort zur ersten Auflage
Es könnte den Anschein machen, als habe der Autor alles zu dem Thema gesagt, dem das vorliegende Buch gewidmet ist. Dennoch gilt es das eine oder andere hinzuzufügen – nicht über die Intrige, welche den Einfall der Horde auslöste, sondern über die Art und Weise, wie die Wahrheit darüber aufgenommen wird.
Ist dies eigentlich notwendig? Warum soll ein Verfasser auf die Gedanken eingehen, die sich manche Leser bei der Lektüre seines Werks möglicherweise machen werden? Dies kann leicht dazu führen, daß sein Buch endlos lang wird.
Dennoch sind einige Klärungen in diesem Fall unabdingbar. Unser Buch ist ja keine bloße Unterhaltungsliteratur für Leser, welcher der Kriminalromane und Action-Thriller überdrüssig geworden sind und sich nach einer Lektüre sehnen, die spannend wie ein Krimi, aber zugleich intelligent und lehrreich sein soll. Nein, unser Buch ist Bestandteil eines Kampfs um die Köpfe, der früher oder später größere Dimensionen annehmen wird. Darum können wir es uns nicht leisten, die Zweifel mancher potentiellen Gesinnungsgenossen und Mitstreiter snobistisch zu ignorieren.
Wenn es sich herausstellt, daß die Helden in Wirklichkeit Anti-Helden waren, daß das russische Volk während eines großen Teils seiner Geschichte von seinen eigenen Herrschern unterdrückt und betrogen worden ist, welche Konsequenzen muß ein russischer Mensch, der sein Land und sein Volk liebt, und bereit ist, für die russische Sache zu kämpfen, dann daraus ziehen?
Antworte nun, lieber Leser, was liebst du wirklich? Der Verfasser liebt sein Volk und hält fest, daß das russische Volk auf sehr vieles stolz sein darf. Seit Jahrhunderten leben wir unter höchst unwirtlichen klimatischen Bedingungen. Seit Jahrhunderten leben wir in einem niederträchtigen, mörderischen, volksfeindlichen und antinationalen Staat. Trotzdem bleiben wir Menschen, die zu den höchsten menschlichen Gefühlen fähig sind, und schaffen dabei eine einzigartige Zivilisation. Ist dies etwa kein Grund zum Stolz?
Sollen unsere weißen europäischen Rassengenossen doch versuchen, unter solchen Bedingungen zu leben! Ich bin sicher, daß sie scheitern werden.
Bist du, Leser, aber der Ansicht, daß dies nicht ausreicht und daß das Volk nur auf etwas stolz sein darf, daß außerhalb seiner selbst steht, auf seinen Staat beispielsweise, dann kann der Verfasser dir auch nicht mehr weiterhelfen. In diesem Fall hast du kein Recht mehr, dich einen russischen Nationalisten zu nennen. Wir leben in einem Staat namens Rußland. Und jener Mann, der die Natur dieses Staates besser als jeder andere kennt, sein gegenwärtiger Präsident Putin, hat sich wie folgt geäußert: „Wer sagt, Rußland gehöre den Russen, ist entweder ein Provokateur oder ein Idiot.“
Bist du mit den Gesetzen der Logik vertraut, Leser? Wenn ja, dann läßt sich dieser Ausspruch Herrn Putins nichts anders deuten als: „Rußland gehört nicht den Russen.“
Mit dieser Auffassung steht der Herr Präsident nicht allein. Einer seiner Vorgänger, Zar Nikolai I. hat einmal gesagt: „Für mich gibt es keine Russen und Nichtrussen. Für mich gibt es nur treue und treulose Untertanen.“ Putins Ausspruch war also keine unhistorische Entgleisung, und die Mentalität, die daraus spricht, ist bedeutend älter, als es auf den ersten Blick scheint.
Die Folgerung, die man daraus ziehen muß, ist betrüblich, doch wir kommen nicht umhin, Herrn Putin und Nikolai I. zuzustimmen. Unser ganzes Buch ist nichts anderes als eine einzige Bestätigung der logischen Folgerung, die sich aus den zitierten Aussprüchen dieser beiden Herren ergibt.
Indem wir ihren Äußerungen beipflichten, zeigen wir, daß dieser Staat volksfeindlich und antirussisch ist und daß bei seiner Entstehung Halunken Pate standen. Die heroischen Mythen dieses Staates, angefangen bei den Ereignissen des Jahres 1237, sind nichts weiter als billige propagandistische Agitation, die auf das geistige Niveau von Tölpeln zugeschnitten ist.
Hieraus ergibt sich, daß der Stolz auf das russische Volk und die Liebe zum russischen Volk mit dem Stolz auf den russischen Staat und der Liebe zu ihm nichts gemein haben. Deshalb gerät ein echter russischer Nationalist, im Gegensatz zu einem Speichellecker und Lakaien, durchaus nicht außer Fassung, wenn die Mythen über die Schöpfer Rußlands entlarvt werden – die Mythen über Jaroslaw, Alexander Newski, ihren Handlanger Baty und ihre Sponsoren von der orthodoxen Kirche, welche das Russenland, den Staat unseres Volkes, zerstört und auf seinen Trümmern ihr Rußland errichtet haben.
Nicht genug damit: Die Entlarvung dieser Mythen ermöglicht es einem echten russischen Nationalisten, vieles zu begreifen und zu erklären, beispielsweise die vorderhand noch für viele unverständliche Tatsache, daß es unmöglich ist, russischer Nationalist und Anhänger der Orthodoxie zugleich zu sein.
Ein russischer Nationalist kann einzig und allein ein Anhänger des althergebrachten russischen Glaubens sein, des Glaubens an seine russischen Götter. Zu dieser These bekennen sich bereits viele, doch aufgrund ihrer zentralen Bedeutung bedarf sie der beharrlichen Stärkung und Fundierung. Diese Fundierung hat in jeder Hinsicht zu erfolgen – in weltanschaulicher, politischer, historischer, propagandistischer und gegenpropagandistischer.
Es reicht somit nicht aus, die bei vielen populäre Losung vom „Schlag der russischen Götter“ zu skandieren. Es gilt diesen Schlag auch wirklich gegen die konkreten Widersacher unserer Götter zu führen, gegen jene, die sich fremden Göttern verkauft haben und ihnen auch weiterhin ihre Seele verkaufen. Auch gegen ihre „apostelgleichen“ Diener gilt es zuzuschlagen, gegen Menschen von der Sorte Alexander Newskis alias Olexa Newrjuj, des Büttels der Horde.
Daß dies alles die Gefühle jener Kriecher und Lakaien verletzt, die sich, von brutalen Oligarchen protegiert, als russische Nationalisten aufspielen, unterliegt keinem Zweifel. Für sie ist die Entlarvung ihrer Mythen ein Stachel im Fleisch. Doch, wie viele mit der Frage gründlich vertraute Leute sagen: „Patriotismus und Nationalismus sind zweierlei Dinge.“ Der Verfasser macht aus seinem Herzen keine Mördergrube und bekennt offen, daß er kein Patriot ist, sondern im Gegenteil einer vielen klugen Menschen verschiedener Länder bekannten Weisheit beipflichtet: „Der Patriotismus ist die letzte Zuflucht der Nichtsnutze.“
Ein tiefgründiger Schriftsteller, Verfasser von Satans Wörterbuch, formuliert es noch drastischer: „Der Patriotismus ist die erste Zuflucht der Halunken.“ Nicht einmal ein Halunke, der aber trotz allem keine absolute Null ist und ein Minimum an Selbstachtung besitzt, wird sich dazu herablassen, Zuflucht zu einer dermaßen fragwürdigen Rechtfertigung zu nehmen. Wir haben bereits klargestellt, daß wir diesem Menschenschlage nicht angehören.
Ohne jedes innere Zagen bezeichnen wir die Mörder des Russenlandes als Schurken, als Organisatoren eines Jochs, das sie „tatarisch“ nannten, um uns Sand in die Augen zu streuen. (Daß sie hierdurch ein ganzes Volk – das tatarische – bewußt beleidigen, sei nur nebenbei erwähnt.)
Doch es ist noch nicht aller Tage Abend. Unserem lichten Russenland ist es beschieden, auf den Trümmern des von seinen Mördern geschaffenen Landes wieder aufzuerstehen.
Alexandrow, anno 2006
Teil II. RUSSENLAND GEGEN RUSSLAND. POLEMISCHE ANMERKUNGEN
1. „Wer allein auf dem Feld steht, ist kein Krieger“. Zur Wichtigkeit der Frage
„Wer allein auf dem Feld steht, ist kein Krieger“, lautet eine russische Volksweisheit. Wie wahr! Auch wenn man in der Minderheit ist, kann man tapfer kämpfen, doch einsam und allein auf weiter Flur kämpft es sich unsagbar schwer. Dies vermögen tatsächlich nur Menschen, die mit außergewöhnlichem Mut und außergewöhnlicher Standhaftigkeit gesegnet sind.
Bei aller Hochachtung vor solchen Menschen muß man zugeben, daß ihre Siegeschancen bei wirklich bedeutungsvollen Auseinandersetzungen winzig klein sind. Dies wissen die heutigen Polittechnologen, und dies wußten schon ihre Zunftgenossen in einer fernen Vergangenheit. Deshalb tut ein Regime, das einer Widerstandsbewegung den Garaus machen will, gut daran, diese schon in ihrer Anfangsphase zu liquidieren. Die potentiellen Widerständler bekommen dann das Gefühl, sie seien allein und hätten möglicherweise auch in der Vergangenheit keine Vorgänger gehabt. Sie fühlen sich mutterseelenallein, in der Gegenwart gänzlich isoliert und ohne Brücken zu irgendeiner Vergangenheit.
In dieser Situation wählt der potentielle Widerstandskämpfer den Weg der individuellen Rettung, was bedeutet, daß er dem Kampf weitgehend entsagt. Dabei sind die Siegeschancen oft auch weiterhin sehr real. Um sie wahrzunehmen, muß man begreifen, daß man durchaus nicht isoliert ist und sich nicht in der Lage des Kämpfers befindet, der „allein auf dem Feld steht“.
Dessen sind sich auch die Polittechnologen bewußt. In diesem Zusammenhang lohnt sich der Hinweis auf einen klassischen utopischen Roman des 20. Jahrhunderts, Kallocain, der von der schwedischen Schriftstellerin Karen Boye stammt. Die Erzählung spielt in irgendeinem autoritär regierten Land. Um die Regimegegner aufzuspüren, fügt der Geheimdienst dem Leitungswasser ein „Wahrheitselixier“ bei, das „Kallocain“ genannt wird. Wer dieses Elixier getrunken hat, kann nicht mehr lügen. Und der Geheimdienst gelangt zur Erkenntnis, daß die überwältigende Mehrheit dieses Regime haßt und daß dieses Gefahr läuft, von einer Welle des Volkszorns hinweggefegt zu werden.
Alle potentiellen Widerstandskämpfer müssen also begreifen, daß sie nicht allein sind, sondern im Gegenteil die Bevölkerungsmehrheit hinter sich haben und somit eine Kraft darstellen.
Im ersten Teil des vorliegenden Buches haben wir dargelegt, daß dem Russenland im Jahre 1237 ein autoritäres Regime, das Regime des byzantinischen Jochs, aufgezwungen wurde, worauf es sich zu Rußland wandelte. Geschaffen wurde dieses Joch von der orthodoxen Kirche und einem amoralischen Gesindel, das die Macht an sich gerissen hatte.
Des weiteren haben wir dargelegt, daß der Widerstand während der ersten Jahrzehnte des Jochs außerordentlich heftig war, letzteres jedoch nach etwas über hundert Jahren zur Zeit Iwan Kalitas endgültig gefestigt wurde.
Die berühmte Schlacht auf dem Schnepfenfeld und das Gefecht an der Ugra bedeuteten keinesfalls die Befreiung vom Joch, sondern waren lediglich Erscheinungsformen eines Machtkampfs an der Spitze des Regimes. Das Joch, ein nach byzantinischen Mustern errichtetes multiethnisches, volksfeindlichen, mörderisches Imperium, blieb bis in unsere Tage bestehen.
Das Joch wird erst dann abgeschüttelt werden, wenn Rußland wiederum zum Russenland wird, zu einem organischen Teil der weißen, zivilisierten, westlichen Welt, zum nationalen Staat des russischen Volkes, wie es bis anno 1237 der Fall war.
Doch wie sollen wir uns anstellen, um uns vom Joch zu befreien? Kann man es denn wirksam bekämpfen, wenn seine Gegner allesamt auf eigene Faust handeln? War dies nicht schon immer der Fall; ist es nicht eine bittere Tatsache, daß die Freiheitskämpfer nicht bloß heute allein dastehen, sondern in der überschaubaren Vergangenheit auch keine Vorgänger hatten? Werden wir nicht zu Ausgestoßenen innerhalb des eigenen Volkes werden? Schließlich machen viele geltend, Russe könne nur sein, wer sich zum orthodoxen Glauben bekenne. Doch wie der Verfasser gezeigt hat, ist es ein Ding der Unmöglichkeit, zugleich ein Kämpfer gegen das Joch und ein Anhänger der Orthodoxie zu sein. Wie läßt sich dieser Widerspruch überwinden?
All diese Fragen sind durchaus berechtigt, lassen jedoch neben vielem anderen erkennen, wie erfolgreich die vom byzantinistischen Regime während Jahrhunderten betriebene Gehirnwäsche war. In Wirklichkeit ist alles nicht so hoffnungslos, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn man die Geschichte eingehend erforscht, erkennt man, daß der Widerstand gegen das Joch niemals aufgehört hat. Darum sind wir nicht allein und nicht von unseren Wurzeln abgeschnitten. Die Kämpfer gegen das Joch besitzen ihre Tradition und ihre Helden.
Sie verfügen ferner über eine große Zahl von Sympathisanten, die oft nur auf einen Anlaß warten, um ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, daß Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts fast jeder die Lieder Wysozkis hörte und genüßlich lauschte, wie er sich über das imperiale Pack lustig machte und dem Volk unverblümt zurief: „Nein, Kinder, so ist es nicht.“
Auf die gegenwärtige Lage kommen wir später zurück. Zunächst wollen wir von unseren Helden und unseren Traditionen sprechen, die Traditionen des Kampfes gegen das Joch, der genau gleich alt ist wie das Joch selbst.
Wir verhehlen nicht, daß wir dies tun, um zu zeigen, daß wir nicht allein sind. Wir sind heute nicht allein und waren es auch in früheren Zeiten niemals. Der Brand des Kampfes ist niemals erloschen. Schon der erste heftige Sturm wird ein Feuermeer hoch peitschen, das sich über die Nachfolger Batys und Newrjujs ergießen wird. Und diesmal wird es ihnen nicht gelingen, ihre Haut zu retten.
2. „Für unsere und eure Freiheit.“ Von Bolotnikow bis Alpatow und noch weiter
In den letzten Jahren ist es zur intellektuellen Mode geworden, die russischen Zaren in den Himmel zu heben und Volksführer wie Rasin oder Pugatschow, die in den ersten Jahrzehnten der sowjetischen Herrschaft als Träger der „Volkstradition“ gerühmt worden waren, verächtlich zu machen.
Wiederholen wir es: Als Träger der „Volkstradition“ galten zu Beginn der sowjetischen Periode Figuren wie Rasin und Pugatschow und nicht etwa orthodoxe Zaren und Fürsten. Dies ist sehr wichtig.
Gewiß, später begriff die Macht, daß ein rotes Imperium mit Volksführern unvereinbar ist. Doch in der Anfangsphase der Sowjetmacht konnte man sich unmöglich radikal von solchen distanzieren, genau wie man gewisse Ecksteine der sozialistischen Theorie nicht einfach über Bord werfen konnte. Deshalb versuchte die neobyzantinistische Macht eine gewisse Zeit lang, Pugatschow und Suworow gewissermaßen miteinander zu versöhnen. Dies tat sie selbstverständlich auf plumpe Weise, wobei sie sämtliche Gesetze der Logik mißachtete, die Fakten tendenziös verzerrte, mißliebige Tatsachen unter den Teppich kehrte und im Bedarfsfall zu nackten Lügen griff.
Mit der Zeit verlor dies seine Aktualität; Propaganda und Gegenpropaganda waren mit allzu vielen anderen Aufgaben beschäftigt. Schließlich verzichtete man ganz auf das Volkserbe, und es brach das Zeitalter der Rückkehr zum Kapitalismus an.
Die Notwendigkeit einer Aufrechterhaltung der revolutionären Mythen war mittlerweile entfallen. Die Regierenden wechselten die Farbe; urplötzlich gebärdeten sie sich als Traditionalisten, Konservative, ja als Monarchisten und schließlich als Anhänger der orthodoxen Kirche. Zu Konservativen und Orthodoxen mauserten sich merkwürdigerweise auch viele ehemalige Oppositionelle wie beispielsweise Sjuganow. Dies paßte nahtlos zu der Tatsache, daß sich diese „Oppositionellen“ von der Revolution losgesagt hatten. „Die Möglichkeiten für eine Revolution in Rußland sind erschöpft“, erklärte der „orthodoxe Kommunist“ Sjuganow. Darauf haben wir in dem Kapitel „Pack schlägt sich und verträgt sich“ gebührend hingewiesen.
An all diese Metamorphosen der verschiedenen Spielarten der byzantinistischen Oberschicht erinnern wir hier nur aus einem Grund: Wir wollen das Schicksal der These verfolgen, wonach die typischen Volksvertreter der russischen Geschichte nicht Zaren, Patriarchen, Fürsten und Metropoliten, sondern Volksführer wie Rasin und Pugatschow waren. Manchen jungen Lesern mag diese These ganz unwahrscheinlich vorkommen, obwohl sie in einer noch nicht allzu fernen Vergangenheit überall lautstark verkündet und im Grunde genommen von niemandem angefochten wurde.
Dies spricht dafür, daß als Bannerträger der Volkstradition, oder zumindest ihres Hauptteils, nicht die Bewahrer des von der Orthodoxie und der Horde errichteten Jochs, sondern dessen Feinde galten. Und daß sowohl Pugatschow als auch Rasin Feinde des Jochs und somit indirekt auch Feinde des russischen Staates an sich waren, stellte heute niemand mehr in Frage.
Gerade darum ist es unter jenen „Patrioten“, die vor den Machthabern zu Kreuze kriechen, heutzutage derart modisch, Puschkins Worte vom „sinnlosen und gnadenlosen russischen Aufstand“ zu zitieren und der Opposition dabei vielsagende Blicke zuzuwerfen.
Übrigens stimmen auch wir, die wir überzeugte Anhänger radikaler Kampfmethoden sind, Puschkin trotz allem zumindest teilweise zu, weisen aber darauf hin, daß er von einem Bauernkrieg unter der Führung Pugatschows gesprochen hat.
„Ist denn das so wichtig?“ fragt hier vielleicht mancher Leser. „Oh ja“, antworten wir. Der Aufstand Pugatschows war nämlich die am wenigsten erfolgreiche und am wenigsten erfolgversprechende aller Erhebungen gegen die imperiale Sklaverei.
Erinnern wir daran, daß es vier große Rebellionen gegen das byzantinistische Regime der Knechtschaft gab. Ihre Führer waren Iwan Bolotnikow, Stepan Rasin, Kondrati Bulawin und Jemeljan Pugatschow. Der Aufstand Pugatschows war in der Tat eine Volkserhebung und besaß praktisch keinerlei Aussichten auf Erfolg. Gerade dies ist der Grund dafür, daß die heutigen Anhänger des Jochs, die russischen „Staatspatrioten“, wie schon ihre Vorgänger ausgerechnet diesen Aufstand mit Vorliebe als Paradebeispiel eines sinnlosen Kampfes anführen. Die Erhebung des Iwan Isajewitsch Bolotnikow besaß weitaus größere Siegeschancen.
Zunächst war Bolotnikow kein Usurpator, sondern einer der Don-Atamane, d.h. in moderner Terminologie ein General. Daß er in Venedig und Krakau Artillerie und Festungsbau studiert hatte, wird oft verschwiegen. Er war also nicht etwa der Anführer irgendeines wilden Haufens, sondern ein Mann, der zielbewußt auf seine Rolle als Führer einer Erhebung zur Zerstörung des Jochs vorbereitet worden war. Von wem? Die Antwort ist sehr verblüffend: Von jenen, welche damals in Venedig und Krakau die Elite bildeten. Glauben die Herren Byzantinisten etwa, dergleichen sei einzig und allein ihnen vorbehalten? Glauben sie, sie allein hätten das Vorrecht besessen, mit fremden Geldern ein ihnen genehmes Regime im Russenland zu errichten, den Auswurf der Steppe gegen die russischen Städte zu hetzen, allerlei „Newrjujs“ hochzupäppeln und zu guter Letzt die Horde auf Europa loszulassen?
Nein, meine Herren. Krieg ist Krieg. Die strategischen Gegner des Jochs haben das Recht, Menschen zu unterstützen, die reale Aussichten auf dessen Zerstörung besitzen.
Der Aufstand Bolotnikows war sowohl in militärischer als auch in politischer Hinsicht sehr umsichtig vorbereitet worden. Während der sogenannten Wirren marschierte Iwan Isajewitsch auf Moskau. Nur Verrat hinderte ihn daran, die Regierungstruppen in der entscheidenden Schlacht unweit der russischen Hauptstadt vernichtend aufs Haupt zu schlagen. Laut offizieller Geschichtsversion ging dieser Verrat von einem Teil des niedrigen Adels aus, der in Bolotnikows Heer diente. Wir sind aber der Ansicht, daß es wie bei allen für das Joch kritischen Situationen auch damals orthodoxe Agenten die Hand im Spiel hatten. Ein Sieg Bolotnikows hätte unter anderem nämlich auch das Ende des religiösen Monopols der orthodoxen Kirche eingeläutet.
Trotz der Niederlage bei Moskau verlor Bolotnikow die Kontrolle über sein Heer nicht und bewahrte dieses vor der völligen Vernichtung, worauf er sich nach Kaluga zurückzog. Dort hielt er der Belagerung stand, durchbrach den Ring um die Stadt und bedrohte Moskau abermals vom Süden her. Als Stützpunkt für die neue Offensive wählte er Tula.
In der Gegend von Tula wurde er abermals einer Blockade unterworfen, empfand aber keine große Besorgnis darüber, denn dort sah es alles in allem weit besser aus als zuvor in Kaluga. Doch nun griff der Gegner zu einer Reihe unerwarteter Schachzüge, und Bolotnikow sah sich gezwungen, Friedensverhandlungen zuzustimmen. Unterstreichen wir, daß dies durchaus keine bedingungslose Kapitulation und keine völlige Niederlage war, sondern ein Friedensvertrag und nichts anderes.
Bolotnikow legte die Waffen nieder und begab sich gegen gewisse Garantien freiwillig in Gefangenschaft. Allem Anschein nach hatte das Leben im Westen Iwan Isajewitsch „verdorben“, glaubte er doch, seine Feinde würden ihr Wort halten. Doch der byzantinistische Abschaum ist kein ehrlicher Feind; ihn muß man bis aufs Messer bekämpfen, und man darf sich auf keinerlei Kompromisse mit ihm einlassen.
Einige Zeit später wurde Bolotnikow geblendet und schließlich umgebracht.
Das Volk hat diesen fähigen, mit den modernen Kriegstechniken vertrauten und volkstümlichen General, dem um ein Haar der Sieg beschieden gewesen wäre, nicht vergessen und ihm ein ehrendes Andenken bewahrt. Übrigens gelang es dem hauptsächlichen Verräter an Bolotnikow, Prokopij Ljapunow, nicht, sich der Vergeltung zu entziehen: Er wurde später von den Kosaken ertränkt. Manche behaupten, diese Kosaken seien überlebende Veteranen Bolotnikows gewesen, die sich während der Wirren auch weiterhin am Kampf gegen die Machthaber beteiligt hätten.
Der Geist der Freiheit beseelte damals beileibe nicht nur die Volksführer. Obgleich Ljapunow selbst dem Adelsstand angehörte, meinte er, vielleicht sei es überhaupt nicht nötig, „einen Zaren zu wählen“. Dies hätte ebenfalls ein Ende des byzantinistischen Jochs bedeutet. Daß die imperiale Brut damals einzig und allein dank der orthodoxen Kirche überlebt hat, wird von allen Historikern anerkannt, nur unterscheiden sich ihre Wertmaßstäbe von den unseren. Unserer Ansicht nach wäre es besser gewesen, wenn dieses Gezücht nicht überlebt hätte. Genau dies wünschten damals viele. Sehr viele sogar. Nicht nur der westlich gebildete Volksgeneral Bolotnikow, sondern auch der Adlige Ljapunow, der ihn verriet, und überhaupt die Maße der Bevölkerung, sowohl des einfachen Volkes als auch des niedrigen Adels. Beispielsweise gab es unter den Truppen, welche die Lawra von Sergej Posad stürmten, viele Lehensleute aus der Siedlung Alexandrow. Vor kurzem wurde eine Urkunde aufgefunden, die einen Treueeid der Bewohner dieser Siedlung gegenüber dem polnischen König enthielt; sie stammte aus der Zeit nach der Thronbesteigung der Romanows. (L. S. Stroganow, Alexandrowskaja sloboda w smutu natschala XVII weka, Alexandrow 2002.)
Wir sehen also, daß viele, sehr viele sogar, alles andere als entzückt darüber waren, daß das byzantinistische Regime die Zeit der Wirren überlebt hat. Und viele haben ihr Blut vergossen, um dies zu verhindern.
Die Aufstände Rasins und Bulawins besaßen ebenfalls Chancen auf Erfolg. Auch sie wurden nicht von Usurpatoren angeführt, sondern von Vertretern der Elite der Donregion. Rasin war einer der offiziellen Führer des Heeres des Donkosaken-Heeres, und Bulawin war ihr Ataman, d.h. ihr rechtmäßig gewählter Führer. In heutiger Sprache ausgedrückt war er also „Präsident eines Subjekts der Föderation“ und zugleich Kommandant der Truppen in Südrußland.
Wir verzichten darauf, die Fehler dieser Führer zu analysieren. Bemerken wir nur, daß Bulawin seine Siegeschance aus der Hand gab, indem er sich weigerte, seine Handlungen mit Masepa und Karl XII. zu koordinieren. Ehrlich gesagt verwundern uns dieser Mangel an Konsequenz und dieser Dogmatismus. Während einer kriegerischen Auseinandersetzung unweit der Front einen Aufstand anzuzetteln, ist sehr gut möglich. Doch wer A sagt, muß auch B sagen, d.h. sich notfalls mit dem Feind seines Feindes verbünden, auch wenn dies nicht sehr patriotisch anmutet. Anderenfalls hätte der Ataman überhaupt keinen Aufstand beginnen dürfen, solange das Land im Kampf gegen einen äußeren Feind stand.
Überhaupt ist jeder beliebige Führer, der sich auf einen Aufstand oder eine Revolution einläßt, unserer Ansicht nach verpflichtet, in erster Linie an jene zu denken, die ihm ihr Vertrauen geschenkt und ihn unter Lebensgefahr unterstützt haben. Nicht sämtliche zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Erringung des Sieges zu nutzen, kommt einem Verrat an diesen Menschen gleich.
Die Erhebungen Rasins und Bulawins bewiesen, daß es nicht nur im einfachen Volk, sondern auch unter der Elite massenweise Leute gab, die das byzantinistisch-imperiale Regime verabscheuten. Sie waren eben Russen. Rasin lebt übrigens im Volksgedächtnis, in Liedern und Überlieferungen lebendig, was beweist, daß das russische Volk ihn ehrt und somit auch seine Ideen und Pläne billigt.
Diese Pläne bedeuteten, um es abermals in heutiger Sprache zu sagen, „die Zerstörung der autoritären Vertikale der Macht und die Freiheit vom Diktat Moskaus sowie der bürokratischen, polizeistaatlichen Willkür der Konföderation der russischen Regionen“.
Urteile nun selbst, lieber Leser: Hatten wir bedeutende Vorgänger oder nicht? Wenn du auch weiterhin der Ansicht bist, wir hätten keine solchen besessen, dann höre, mit welcher Ergriffenheit man an der Wolga Lieder zu Ehren Rasins singt. Nicht das allgemein bekannte von der persischen Fürstentochter, sondern das tiefgründigere und schwermütigere Es ragt an der Wolga ein
Fels. Oder lausche einem anderen Lied aus der Gegend um den Don an, in dem es überhaupt nicht um Rasin geht und in dem es heißt: „Rußland ist uns keine Mutter, sondern eine böse Stiefmutter. Und du, Schicksal, bist dem Kosaken nicht freundlich gesinnt.“ Auch dies ist ein Ausdruck volkstümlicher Archetypen. Diese sind volkstümlich-russischer Natur, nicht „staatspatriotisch“-russischer oder westlich-liberaler.
Für die Ideale der Freiheit haben auch andere russische Menschen gefochten. Sie fochten kompromißlos und fürchteten sich im Gegensatz zu den heutigen Pseudonationalisten nicht davor, aufs Ganze zu gehen.
Nach der Niederlage Bulawins vermochte sich Ataman Nekrasow im äußersten Süden der Donregion einige Zeit lang zu behaupten. Nachdem die letzten Ressourcen des Widerstandes erschöpft waren, führte Nekrasow die Seinen in die Türkei, verhielt sich also konsequenter als Bulawin und verantwortungsvoller gegenüber seinen eigenen Mitstreitern. Diese retteten ihr Leben, ihre Ehre, ihre Freiheit und ihre zur damaligen Zeit beispiellose demokratische Selbstverwaltung.
Der Preis dieser Freiheit bestand darin, daß sie an der Seite der Türken gegen Rußland in den Krieg ziehen mußten. Diesen Preis entrichteten sie als russische Menschen, einfache Menschen, aber unerbittliche Feinde des von der Horde und den Byzantinisten errichteten polizeistaatlichen, bürokratischen, zaristischen Rußlands.
Waren die Leute Nekrassows die einzigen, welche diese Wahl trafen? Keineswegs! Die bekannten persischen „Sorbozen“, die Garde des Schah, rekrutierte sich großenteils aus russischen Flüchtlingen.
Und die Nachfahren der Nowgoroder, deren demokratische Republik von den Nachkommen Newrjuj-Newskis zerstört worden war? Ein Teil von ihnen wanderte nach Nordwesten ab und wurde zu schwedischen Untertanen. Als Peter I. mit der Eroberung des Baltikums begann, brachten russische Partisanen den Truppen Scheremetews schwerere Verluste bei als die regulären schwedischen Truppen. Die Feldmarschälle meldeten dies ihrem Zaren.
Übrigens haben diese Russen dem Einfall der imperialen Truppen nicht nur in Partisanenverbänden, sondern auch in regulären schwedischen Verbänden verzweifelt Widerstand geleistet. Beispielsweise leitete der Russe Alpatow als schwedischer Oberstleutnant die Verteidigung der Festung Nyenschanz, die etwas weiter oben an der Newa lag als das künftige St. Petersburg. Unter seinem Kommando verteidigte sich die Feste heldenhaft; der Feind konnte sie nur dank seiner überwältigenden zahlenmäßigen Überlegenheit erobern.
Nach dem Anschluß des Baltikums an Rußland emigrierten die Nachfahren der Nowgoroder nach Schweden – genau wie die Leute Nekrassows zuvor in die Türkei ausgewandert waren.
Die Beispiele ließen sich mehren. Wir begnügen uns damit, noch ein einziges weiteres anzuführen, nicht weil es besonders spektakulär wäre, sondern weil die bemerkenswerte Devise „Für unsere und eure Freiheit“ zur damaligen Zeit entstanden ist. Unter dieser Losung kämpften russische Freiwillige, Angehörige illegaler Offiziersorganisationen und geheimer Gesellschaften, in den Reihen der polnischen Kämpfer, die für die Unabhängigkeit von Rußland fochten.
So sehen die Tatsachen also aus. Die einen Russen spießten bei der Erstürmung Warschaus polnische Säuglinge auf ihre Bajonette, während andere damals, und auch noch später, zum Kampf gegen diese Unholde antraten und so den guten Namen Rußlands retteten. Durch ihr Beispiel bewiesen sie, daß nicht alle Russen an die Tradition der Horde und Newrjujs anknüpfen, sondern daß es unter ihnen auch Nachkommen Ewpati Kolowrats, Michael Tschernigowskis, Michaels von Twer und Dannnila Galitzkis gibt. Nachkommen jener, die den Kampf gegen den Einfall der Horde niemals aufgegeben haben.
Gewiß, sie waren eine Minderheit. Doch waren sie nicht allein. Durchaus nicht. Genau wie ihre Nachfahren konnte man sie nicht mit der propagandistischen Losung schrecken: „Wer allein auf dem Feld steht, ist kein Krieger.“
Wir sind nicht allein. Uns gab es schon immer. Und es wird uns früher oder später gelingen, das Joch der Horde abzuschütteln.
3. Der dreifache Zombie
Die Geschichte Rußlands, eines Landes, das als Ergebnis der Handlungen der orthodoxen Kirche sowie der diversen Batys und Newrjujs auf den Trümmern des Russenlandes entstand, läßt sich verschieden darstellen. Die Erbin der alten Imperien verstand es, die Polittechnologien der grauen Vorzeit zu nutzen, deren sich die restliche Welt aufgrund ihrer allzu offensichtlichen Grausamkeit, Niedertracht und Ineffizienz entledigt hatte. Mit Hilfe dieser Technologien dehnte sich der Staat aus. Doch auch ein Krebsgeschwür wächst, so daß ein maßloses Wachstum an sich noch nichts Positives zu sein braucht. Der Staat dehnte sich aus, und das Volk darbte. Die Tatkräftigsten flüchteten nach Norden und Osten, also dorthin, wo die Lebensbedingungen, gelinde ausgedrückt, „kein Honiglecken“ waren. Sie waren offenbar der Ansicht, im Norden lebe es sich ohne die Moskauer Zaren besser als im fruchtbaren Gebiet der Schwarzerde mit ihnen.
Mit der Zeit holten die Zaren und die Popen die Flüchtlinge ein, und das Spiel begann von neuem. Die energischsten und anständigsten flüchteten diesmal jedoch nicht, sondern nahmen den Kampf gegen das von der Horde gegründete Imperium auf. Und dieser Kampf nahm niemals ein Ende. Dieser Widerstand gegen das Joch und durchaus nicht fremde Aggressoren waren stets die größte Bedrohung für das Imperium der „Newrjujs“, und die intelligentesten unter seinen Herrschern begriffen dies sehr gut und befanden es bisweilen für nötig, darüber zu sprechen. Etliche Zaren haben sich in diesem Sinne geäußert, aber auch Lenin, der das byzantinistische Ungetüm nach seinem scheinbar endgültigen Sturz wiederbelebte.
Da dieser Kampf zwischen dem von Baty und Newrjuj gegründeten byzantinistischen Staat und den würdigsten Vertretern der russischen Menschen die zentrale Auseinandersetzung in der Geschichte Rußlands war, kann man diese ganze Geschichte in erster Linie als Geschichte dieses Kampfes betrachten. Dann ist die Schlußfolgerung völlig logisch, daß der allmähliche Zerfall des Imperiums das Ergebnis dieses Kampfes war und daß sämtliche anderen Faktoren ihn lediglich beschleunigt haben.
Behalten wir diese Schlußfolgerung im Gedächtnis. Sie ist sehr wichtig, und zwar allein schon darum, weil sie uns ein weiteres Mal vor Augen führt, daß wir nicht nur „unsere“ Geschichte und „unsere“ Traditionen besitzen. Unsere Geschichte ist die Geschichte der Entwicklung des Hauptproblems unseres Landes. Alles Übrige ist bloßer Hintergrund. Wir brauchen nicht zu befürchten, „unsere historischen Wurzeln zu kappen“, denn das einzige, was wir über Bord werfen, ist der zweitrangige Hintergrund, während unsere Helden und unsere Vorgänger aktiv an der Gestaltung der Hauptrichtung der russischen Geschichte mitgewirkt haben. Somit ist die russische Geschichte in ihren Hauptzügen die Geschichte unseres Kampfes gegen das Joch und nichts weiter.
Warum haben die Menschen dermaßen hartnäckig gegen diesen Staat gekämpft? Weil er abnorm häßlich, ja monströs war. Im hohen Norden wurde ein Ungeheuer aus dem östlichen Mittelmeerbecken wiedergeboren, von dem man hätte annehmen müssen, daß es diesen Weltteil nicht heimsuchen würde. Dieses Ungeheuer hat sein Antlitz fortlaufend verändert: Bald war es ein ägyptisches, bald ein babylonisches, assyrisches, byzantinisches oder ottomanisches. Doch schließlich krepierte es doch. Unglücklicherweise wurde es aber dank den Intrigen der byzantinischen Orthodoxie und dem Talent zweier heimtückischer Mörder, Jaroslaw und Newrjuj, auf dem Territorium des Russenlandes wiedergeboren, wo es niemals hätte erscheinen dürfen.
Aus diesem Grund haben alle lebensbejahenden Kräfte stets Abscheu vor diesem unnatürlichen, monströsen Zombie, diesem Wiedergänger des verendeten Byzanz, empfunden. 1917 machte es dann den Anschein, als sei es mit diesem Zombie aus und vorbei. Die hauptsächliche Stütze des byzantinischen Jochs, die Orthodoxie, entging damals nämlich nur um ein Haar der Vernichtung. Im Grunde genommen hätte das Imperium nun nicht mehr auferstehen dürfen.
Aber die Bolschewiken erwiesen sich als teuflische geschickte Zauberer. Sie schafften es, das von der Horde geschaffene Imperium in Gestalt der UdSSR von den Toten aufzuerwecken. In der Tat war dieses Imperium ein lebendiger Leichnam, und zwar der Leichnam eines Ungeheuers. Schon als Zombie entsetzlich, aber doppelt entsetzlich als Zombie eines zugrundegegangenen und bereits einmal auferstandenen Ungetüms.
Doppelte Zombies pflegen freilich nicht allzu lange zu leben. 1991 krepierte dieser Zombie abermals, dem Anschein nach endgültig. Doch auch diesmal fanden sich listige Gesellen, die es fertigbrachten, einen „Zombie der dritten Stufe“ zu schaffen, den Zombie des Zombies eines Zombies.
Dieser „dreifache Zombie“ ist nicht so schrecklich wie seine Vorgänger, aber immer noch fähig, allerlei Unheil anzurichten. Dafür ist der bereits zum dritten Male auferstandene Tote über alle Massen ekelerregend: Er besteht buchstäblich aus nichts anderem als Fäulnis und Moder. Außer diesem auf wundersame Weise lebendig gewordenen Moder ist gar nichts an ihm. Übrigens ist dreifachen Zombies eine höchst kurze Lebensdauer beschieden, und das auferstandene Untier wird schon in naher Zukunft seinen letzten Hauch tun. Seinen allerletzten. Und mehr als dreimal auferstehen selbst Ungeheuer nicht.
Und um den Pfahl aus Espenholz, der diesen Haufen blutigen Moders durchbohrt, schließen sich unsichtbar die Hände all jener, die sich nicht ergeben haben, die siebenhundertsiebzig Jahre lang gegen das Joch fochten. Die Hände des Wojewoden Ewpati Kolowrat und des Volksgenerals Iwan Bolotnikow, des Atamanen Stepan Rasin und des Fürsten Michael von Twer, des Atamanen Konrdrat Bulawin und de Fürsten Michael Tschernigowski, des Fürsten Daniil Galitzki und des Kosaken Jemeljan Pugatschow. Die Hände des in schwedischen Diensten kämpfenden Oberstleutnants Alpakow und der Kronstädter Matrosen, die sich zum Kampf gegen die Herrschaft der Kommissare erhoben, die Hände der russischen Offiziere, die freiwillig an der Seite des polnischen Widerstandes fochten, und die Hände der Bauern von Tambow, die den bolschewistischen Mördern den Fehdehandschuh hinwarfen.
Die Hände von Millionen freier, anständiger und ehrlicher russischer Menschen, die Hände von Meistern und Rittern.
Die Hände von Weißen. Die Hände von Europäern. Die Hände von Ariern.
4. Eine außerordentlich wichtige Anmerkung
Wir sehen die Einwände der Skeptiker voraus. Sie werden einwenden, alle gedanklichen Konstruktionen des Autors beruhten auf der Behauptung, daß das Joch bis heute existiere, doch sei dies wirklich der Fall? Habe das Joch nicht mit dem Sieg auf dem Schnepfenfeld oder mit dem Gefecht an der Ugra ein Ende genommen?
Wir haben in diesem Buch wiederholt bewiesen, daß dies nicht der Fall war. Doch da es angebracht ist, Skeptikern gegenüber seine eigenen Thesen mehrfach zu wiederholen, werden wir dies nun tun.
Wenn im Rahmen eines unveränderten politischen Systems eine rivalisierende Gruppe gegen eine andere obsiegt, so bedeutet dies keinesfalls das Ende dieses Systems. Damit der Leser dies nicht nur verstandesmäßig, sondern auch „instinktiv“ begreift, wollen wir ein für jedermann verständliches Beispiel anführen.
Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, kurz vor dem Ende der Breschnew-Ära, kam es zu größeren Rochaden innerhalb der sowjetischen Elite; der aserbaidschanische Führer Geidar Alijew rückte in der Hierarchie immer weiter nach oben. Insider rechneten damals ernsthaft mit der Möglichkeit einer Ernennung Alijews zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Dem Leser sei versichert, daß diese Möglichkeit durchaus real war. Bitte sehr, konnte ein Nichtrusse etwa nicht Führer der UdSSR werden? Der Jude Andropow hat dies schließlich auch geschafft! Was hinderte den Aserbeidschaner Alijew grundsätzlich daran, es Andropow gleichzutun? Das Breschnew-Regime suchte fieberhaft nach Möglichkeiten, sich zu erhalten, ohne einschneidende Veränderungen vorzunehmen, und dabei wurden zahlreiche zweitrangige Spielregeln außer acht gelassen.
Nehmen wir einmal an, Alijew wäre tatsächlich zum Generalsekretär der KPDSU ernannt worden und wäre anschließend eines natürlichen Todes gestorben oder vergiftet worden wie Tschernenko. Na und? Hätte sich am Wesen des sowjetischen Staates dadurch etwas geändert?
Gar nichts hätte sich geändert! So wie das rote Imperium vor Alijew war, wäre es auch nach ihm gewesen. Rot, kommunistisch, mit einem Einparteiensystem, dem Westen gegenüber feindselig eingestellt. Privateigentum, selbst bescheidenes, hätte es auch weiterhin nicht gegeben. Das russische Volk wäre langsam erloschen, und die nationalen Minderheiten hätten sich stürmisch fortgepflanzt.
Hat sich das Moskauer Zarentum grundsätzlich gewandelt, nachdem Iwan der Schreckliche Zar Simeon Bekbulatowitsch geblendet hatte? Nein. Hat es sich gewandelt, nachdem Iwan Simeon ausgebootet und sich selbst wiederum zum Zaren aufgeschwungen hatte? Nein.
Grundsätzliche Veränderungen des Systems erfolgen nicht bloß darum, weil eine Person an der Spitze der Machtpyramide an die Stelle einer anderen tritt, selbst wenn diese Personen verschiedenen Ethnien angehören oder wenn dem Machtwechsel eine große Schlacht – oder gar ein Bürgerkrieg – vorausgeht. Hier ist der bekannte, bissige Kommentar der sowjetischen Propaganda zu den verschiedenen Putschen in Ländern der Dritten Welt angebracht: „Diese Operettenrevolution hat das Steuer wahrhaftig herumgedreht. Um 360 Grad.“
Wir brauchen nicht mehr zu wiederholen, daß es bei den diversen Machtwechseln in der russischen Geschichte zu keinerlei Veränderungen des politischen Modells, der Religion, der ethischen oder ästhetischen Wertmaßstäbe gekommen ist. Das Joch lastet weiterhin auf uns, solange unser Leben im Rahmen eines 1237 geschaffenen politischen, religiösen, ethischen und ästhetischen Modells verläuft. Eines Modells, das von Unmenschlichkeit, Gemeinheit, Speichelleckerei und Stumpfsinn geprägt ist.
„Hat sich seit 1237 denn wirklich nichts geändert?“ wendet ein anderer Leser hier ein. „Bitte nicht vereinfachen!“ lautet unsere Antwort. Keine Gesellschaft – es sei denn eine von ihrer Umwelt gänzlich isolierte – kann überleben, wenn sie den wissenschaftlich-technischen Fortschritt ignoriert. Auch Rußland kam nicht umhin, die Entwicklung jenseits seiner Grenzen zur Kenntnis zu nehmen und gewisse Konsequenzen daraus zu ziehen. Aus diesem Grund sah es sich periodisch zu fieberhaften Modernisierungskampagnen zwecks Einholung des Westens gezwungen. Sämtliche hierdurch bewirkten Reformen waren dem Land von außen aufgezwungen worden und nicht innerhalb des Landes herangereift, wie es bis 1237 der Fall gewesen war.
Konnten das politische Modell, die Religion, die Ethik und die Ästhetik von diesen wissenschaftlich-technischen und produktionsmäßigen Veränderungen unberührt bleiben? Gewiß nicht! Doch diese Veränderungen waren erstens erzwungen, zweitens nur gerade so einschneidend, wie es die jeweilige Situation erforderte, und drittens zogen sie die systemimmanenten Merkmale des Regimes nicht in Mitleidenschaft.
Wir wollen nun einige in diesem Buch bereits in anderer Form dargelegte Fakten wiederholen. Kennzeichnend für das Regime des Jochs waren folgende, 1237 im Russenland eingeführte und bis heute erhalten gebliebenen Züge, welche das grundsätzliche politische Modell, die Ethik, die Ästhetik, die Ideologie und die Weltanschauung eines beträchtlichen Teils der russischen Bevölkerung prägten:
1) Eine massive, vor 1237 undenkbare Anheuerung Fremdstämmiger und Fremdvölkischer zu gewaltsamen Aktionen innerhalb des Landes sowie ihre Eingliederung in das herrschende System. Hat sich später hieran etwas geändert? Haben sich unter den Romanows nicht massenhaft Deutsche in den obersten Stufen der Macht eingenistet? Und nach 1917 massenhaft Juden? Und nach 1991 abermals Juden sowie diesmal auch Kaukasier? Stellt die Tatsache, daß es heute in der Miliz scharenweise Angehörige kaukasischer Völker gibt, und zwar nicht nur solcher aus dem Nordkaukasus, sondern auch aus den mittlerweile unabhängigen Staaten des Südkaukasus, etwa keine Fortsetzung dieser Tradition dar? Es ist dies eine rein rhetorische Frage. Alles ist so geblieben, wie es 1237 war. Nichts hat sich geändert.
2) Eine vor 1237 undenkbare unmenschliche Einstellung der Machthaber gegenüber dem eigenen Volk. Hat sich daran im Lauf der Jahrhunderte etwas geändert? Erinnern wir uns an die Gewalttaten Iwans III. und Iwans des Schrecklichen, die faktisch mit der Vernichtung der größten Stadt des Landes und ihrer späteren Umwandlung in eine öde Provinzstadt endeten. Und Peter I.? „Nur keine Sorge, Majestät, die Weiber werden schon noch Kinder gebären“, trösteten Peters Mitstreiter den Zaren nach den verheerenden Verlusten in der Schlacht bei Narwa. Und auf diese Verluste folgten immer neue. Während der Regierungszeit Peters verlor Rußland ein Viertel seiner Bevölkerung. Und die Kollektivisierung? Und die Mordorgien der Bolschewiken im Bürgerkrieg, denen mehr Menschen zum Opfer fielen, als Rußland im Ersten Weltkrieg verloren hatte? Und der unter ungeheuerlichen Menschenverlusten gewonnene Große Vaterländische Krieg? Und die in ihrer Brutalität beispiellosen Traditionen des russischen Repressionsapparats? Wie bitte, dies alles soll es heute nicht mehr geben? Sie belieben wohl zu scherzen, meine Herren. Weltweit sitzt im Durchschnitt ein Promill der Bevölkerung im Gefängnis. In Rußland sind es heute anderthalb Prozent. Fünfzehnmal mehr! Dies ist der unwiderlegbarste Beweis für die Einstellung der Macht gegenüber ihrem eigenen Volk.
Ein kleiner historischer Vergleich: Im alten Rom erließ Kaiser Antoninus Pius im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ein Gesetz, das den Mord an einem Sklaven zum Kapitalverbrechen erklärte, welches genau so hart bestraft wurde wie der Mord an einem freien Bürger. In Rußland wurde ein entsprechendes Gesetz erst am Ende des 18. Jahrhunderts erlassen, und auch dann stand es meist nur auf dem Papier. Nur die perversesten Unholde und Massenmörder wie der berüchtigte Saltytschicha wurden für ihre Verbrechen an Leibeigenen bestraft.
Doch warum braucht man 200 Jahre in die Geschichte zurückzugehen? Verprügeln und verstümmeln etwa viehische Angehörige der Sicherheitspolizei Omon nicht noch heute die Menschen ganzer Städte und Siedlungen, wenn es jemand an der gebotenen Ehrfurcht vor den Gesetzeshütern fehlen läßt? Sogar die heutige, stark zensierte Presse ist voll von Berichten über derartige Skandale. Ganz im Stil de Horde wüteten die Omon-Rohlinge im August 2006 Kinderlager (!) Druschba und machten mehrere Jugendliche zu Krüppeln (Nowaja Gazeta, 10.-13.8. 2006). Sind diese Leute etwa viel besser als die Henker Newrjujs, die jeden umbrachten, der höher als eine Wagenachse wuchs?
Glaubst du nicht, daß so etwas möglich ist, lieber Leser? Dann frage jene, die anno 1993 das Weiße Haus verteidigt haben. Nach dem, was damals geschah, kann man alles glauben. Von den Omon-Schlägern ist alles zu erwarten.
Wiederholen wir die Frage: Unterscheidet sich dies etwa sonderlich vom Wüten der Horde unter Baty und Newrjuj? Führt sich in der zivilisierten Welt heutzutage jemand im eigenen Land so auf? Nein. Aber in Rußland steht die Uhr seit 1237 still. Nichts hat sich geändert.
3) Im Russenland bestand das Heer aus drei Komponenten: a) Der Gefolgschaft des Fürsten, bei der es sich um die Elitetruppe handelte, um Berufssoldaten mit, wie man heute sagen würde, Offiziersstatus; b) Dem Powolje, einer Armee von Freiwilligen, die sich bei großen Feldzügen zu den Waffen meldeten; c) Dem städtischen Opoltschenie (Miliz), die im Fall einer Bedrohung der jeweiligen Stadt aufgeboten wurde.
Übrigens: Mit einem solchen, weitgehend aus Freiwilligen rekrutierten Heer hat Swjatoslaw Khasarien vernichtet, einen der stärksten Staaten der damaligen Welt. Angesichts dieser Tatsache darf man ruhig behaupten, daß sich das dem Freiwilligenprinzip diametral entgegengesetzte System der Zwangsaushebung nichts mit den Sachzwängen des Krieges rechtfertigen ließ und lediglich den Interessen des Regimes der Horde diente. Dieses Regime hat von Anfang an zum Mittel der Zwangsrekrutierung von Soldaten gegriffen, die faktisch wenig mehr als Sklaven waren. Schon im Jahre 1237 peitschte die Horde eine riesige Armee zusammen, die bereits ein Jahr darauf in Tschernigow, Kiew und Galizien einmarschierte und anno 1240 in Europa einfiel.
Die zwangsweise ins Heer der Horde eingereihten Soldaten wurden schlechter behandelt als Vieh. Dieser Zustand hielt in der russischen Geschichte jahrhundertelang an. Die Soldaten, welche ihrem Status nach kaum mehr als Sklaven waren, wurden auf alle mögliche Weise schikaniert, schlecht verpflegt, schlecht gekleidet und ungenügend medizinisch versorgt.
Beispiele für Mißhandlungen von Soldaten im zaristischen Rußland gibt es massenweise; in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist immer wieder von diesem Thema die Rede – man denke nur an Leo Tolstois Erzählung Nach dem Ball. Doch nahm dieser Skandal mit dem Sturz des Zarentums etwa ein Ende? Oder mit dem Zerfall der UdSSR?
Stellen die heutigen Beispiele von Soldatenmißhandlungen, von denen nach dem Fall Andrej Sytschew in der Öffentlichkeit zusehends mehr gesprochen wird, nicht eine Fortsetzung der bei der Horde gängigen Praxis dar? In den Armeen moderner zivilisierter Staaten wäre so etwas undenkbar.
Und wie ist die russische Armee heute aufgebaut? Wie im Russenland vor 1237 oder wie nach der Errichtung des Jochs? Zweiteres trifft zu. In Rußland steht die Uhr seit 1237 still. Nichts hat sich geändert.
4) Im Russenland war die städtische Selbstverwaltung gut entwickelt und wurde laufend gestärkt. In den meisten größeren Städten gab es die berühmten Glocken, die zur Volksversammlung läuteten.
Sobald Newrjuj-Newski und sein Vater Jaroslaw mit tatkräftiger Unterstützung der Horde an die Macht gekommen waren, machten sie sich daran, diese Selbstverwaltung abzuschaffen. Freilich glückte ihnen dies nicht auf Anhieb. Doch die Nachfahren derjenigen, die 1237 begonnen hatten, „die Staatlichkeit Rußlands zu festigen“, erreichten dieses Ziel schließlich. Parallel dazu wurde auch die Selbstverwaltung auf regionaler Ebene immer stärker beschnitten. Doch waren beide Formen der Selbstverwaltung, die städtische und die regionale, im weißen russischen Volk dermaßen tief verankert, daß ihre Wiederherstellung stets eine zentrale Losung jener war, die sich dem Joch widersetzten. Dies war der Grund dafür, daß sich die Nachfahren Newrjujs bei jeder Modernisierung des Regimes genötigt sahen, die unüberhörbare Forderung nach demokratischer Selbstverwaltung zu unterdrücken.
Wir verzichten darauf, all diese Fälle aufzuzählen; ihrer war in der russischen Geschichte Legion. Erwähnen wir nur den letzten: Die Abschaffung der Gouvernementswahlen durch Putin war lediglich als Vorspiel zur Abschaffung sämtlicher lokalen Wahlen gedacht.
Unterscheidet sich die heutige Politik des Kreml also von derjenigen der Nachfahren Newrjujs? Die Frage ist rein rhetorischer Art. In Rußland steht die Uhr seit 1237 still. Nichts hat sich geändert.
5) Zur Belohnung für ihre Beihilfe bei der Errichtung eines autoritären Gewaltregimes im Russenland erhielt die Horde wirtschaftliche Unterstützung. Anfangs bekam sie byzantinisches Geld, dann einen erklecklichen Teil des Raubguts aus dem Europafeldzug und schließlich Tribut vom russischen Volk, das Newrjuj und seine Nachfahren geknechtet hatten. Deshalb lebte die Bevölkerung der von der Horde beherrschten Territorien besser als jene Rußlands. Hat sich nach der Schlacht auf dem Schnepfenfeld daran etwas geändert? Mitnichten!
Dmitri Schemjaka hielt Wasili Temny, dem Vater Iwans III., vor, die Tataren lebten besser als die Russen. Er dachte dabei an die Fürsten, doch sein Ausspruch galt auch für das einfache Volk. Iwan III. selbst gewährte den Tataren Steuererleichterungen und auferlegte der freien russischen Stadt Nowgorod hohe Abgaben – und dies nach seinem Sieg bei der Ugra, der laut der offiziellen Geschichtsschreibung das Ende der Herrschaft der Horde besiegelt hatte.
Unter den Romanows waren die meisten Leibeigenen, doch nur etwas über ein Drittel der Adligen Russen. Adels stellten. In der UdSSR sprachen die Ökonomen vom „Tellereffekt“. Der Rand eines Tellers ist höher als seine Mitte. Die russischen Regionen konsumierten nicht mehr als zwei Drittel des von ihnen produzierten, während in den Randgebieten der Konsum die Produktion überstieg, im Fall Zentralasiens beispielsweise um das Anderthalbfache und im Fall der kaukasischen Republiken gar um das Dreieinhalbfache. Erinnert dies nicht fatal an die Zustände unter dem Regime des Jochs?
Doch die UdSSR brach auseinander. Na und?
Heutzutage zahlen die russischen Regionen mehr ins Staatsbudget ein, als sie aus diesem empfangen, während das Budget Tschetscheniens, Inguschetiens und anderer nordkaukasischer Republiken fast ausschließlich aus Subsidien der Zentrale besteht, d.h. aus Geld, das Moskau den russischen Gebieten abgenommen hat. Inwiefern unterscheidet sich dieser Zustand von den Tributzahlungen an die Horde? Wann in der ganzen Geschichte Rußlands haben die Russen irgendwelchen Fremdstämmigen nicht Tribut in der einen oder anderen Form gezahlt?
Hat sich also seit 1237 in dieser Hinsicht etwas geändert? Eine rein rhetorische Frage...
In Rußland steht die Uhr seit 1237 still. Nichts hat sich geändert.
6) Das Joch der Horde führte dazu, daß sich in Rußland die „südliche“ Korruption wie eine Seuche ausbreitete. Vor 1237 hatte es im Russenland nichts Vergleichbares gegeben, und in der zivilisierten europäischen weißen Welt, von der das Russenland einen organischen Bestandteil gebildet hatte, gab es ebenfalls nichts Vergleichbares. Nach 1237 wurden Bakschisch und Ruschwet – also Schmiergeldzahlungen – zum festen Teil des russischen Lebens.
Hat sich seither in dieser Beziehung etwas geändert? Gab es in Rußland je Freiheit von der Korruption im weitesten Sinne dieses Wortes? Und ist das Land heute frei von Korruption? Eine rein rhetorische Frage...
In Rußland steht die Zeit seit 1237 still. Nichts hat sich geändert.
7) Nach 1237 errang die Orthodoxie in Rußland das religiöse Monopol. Nachdem die Horde unter Khan Usbek zum Islam übergetreten war, erkämpfte auch diese Religion in Rußland ihren „Platz an der Sonne“. Hat sich hieran seither etwas geändert?
Hier scheint die Antwort ja zu lauten - aber nur auf den ersten Blick. Die Orthodoxie und der Islam wurden vom Staat praktisch nur während der ersten anderthalb Jahrzehnte nach 1917 verfolgt, festigten ihre Position aber anschließend allmählich wieder. Und heute ist alles wieder fast so, wie es während der Romanow-Dynastie und früher war. Der orthodoxen Kirche werden wirtschaftliche Vergünstigungen zuteil; sie übt ideologisch und propagandistisch wachsenden Einfluß aus; dank ihrer Unterstützung durch den Staat ist sie gegenüber anderen christlichen Kirchen privilegiert. Die ursprüngliche, heidnische Volksreligion wird unterdrückt.
Hat sich also seit 1237 etwas geändert? Eine rein rhetorische Frage...
In Rußland steht die Zeit seit 1237 still. Nichts hat sich geändert.
8) Der Einfall der Horde war der erste Schritt eines Plans, der darauf abzielte, das Russenland in einen Konflikt mit dem Westen zu verstricken, von dem nur das orthodoxe Imperium von Nikäa – der Überrest des byzantinischen Reiches – profitierte. Dies war der Grund dafür, daß Nikäa anno 1237 die Invasion der Horde organisierte und so die Voraussetzungen dafür schuf, daß das geknechtete Russenland 1240-1242 mit ganzer Wucht in Europa einfiel. Seither hat Rußland den Westen regelmäßig als erstes angegriffen. Unter Iwan III., unter Iwan IV., unter dem Romanows, zur Zeit der Sowjetherrschaft im Namen des Kampfes „für die Befreiung vom Kolonialismus“. Wenn der Westen zurückschlug, stellte es sich dann als Opfer einer „Aggression“ dar.
Eine antiwestliche, antikatholische Rhetorik sowie eine antiwestliche Ideologie und Strategie bildeten einen unabdingbaren Bestandteil der Politik des Imperiums. Dabei unterstützte Rußland subversive Kräfte im Westen ganz unverhohlen, oder es griff den Feinden des Westens unter die Arme, wenn möglich insgeheim.
Hat sich heute, nach jahrhundertelanger Konfrontation mit dem Westen, hieran etwas geändert?
Eine lächerliche Frage. Man analysiere die antiwestliche Rhetorik des Kreml innerhalb des Landes in den Jahren 2005 und 2006. Man analysiere das Verhalten Rußlands bei internationalen Konflikten im Jahre 2006. Dann wird man feststellen, daß seit 1237 alles beim alten geblieben ist. Nichts hat sich geändert.
9) Das Joch der Horde, das dem Individuum jede Rechte verweigert, mußte sich zwangsläufig auch auf wirtschaftlichem Gebiet auswirken. Schon in den ersten Regierungsjahren Newrjujs wurde die Ausplünderung des Volks durch den Staat zum organischen Bestandteil des byzantinistischen politischen Modells. Diese Tendenz verstärkte sich nach der Zerstörung Nowgorods. Auch später, zu einer Zeit, wo es in Rußland formell bereits Privateigentum gab, wurde dies regelmäßig vom Staat begrenzt. Der Beamte saß stets am längeren Hebel als der Eigentümer.
Im Russenland war alles umgekehrt gewesen. Man braucht bloß die Russische Wahrheit Jaroslaws des Weisen zu lesen, um zu erkennen, daß das Eigentum freier Menschen bis 1237 streng geschützt war.
Seinen Höhepunkt erreichte der Kampf gegen das Privateigentum in der roten Sowjetunion. Doch dies brach zusammen. Bedeutet dies, daß wir heute eine normale Marktwirtschaft haben?
Nein. Das Eigentum aller russischer Bürger wird permanent durch die Willkür der Bürokratie und des Staates bedroht. Der Fall Chodorkowski ist ein besonders grelles, aber nicht das einzige Beispiel dafür. Jeder Inhaber eines kleinen Geschäfts in der russischen Provinz kann Ihnen hierzu allerlei erzählen.
Hat sich also seit 1237 hier etwas verändert? Eine rein rhetorische Frage...
In Rußland ist die Zeit 1237 stehengeblieben. Nichts hat sich verändert.
Ziehen wir nun ein Fazit. Hat sich an den systemimmanenten Zügen der russischen Politik seit dem Jahre 1237 etwas geändert? Die Antwort ist mittlerweile wohl hinreichend klar.
„Halt!“ ruft da der eine oder andere Leser aus. „Gewisse Kennzeichen einer Gesellschaftsordnung, die laut dem Verfasser von der Horde errichtet wurde, fanden sich doch auch außerhalb Rußlands.“
Wir kommen nicht umhin, dem Leser recht zu geben. Aber: a) Diese Kennzeichen traten außerhalb unserer Landesgrenzen nicht alle gemeinsam auf, d.h. sie bildeten kein System; b) Sie waren dort bedeutend weniger ausgeprägt; c) Sie wurden nach und nach aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt, da sie als barbarisch und unkultiviert galten. Doch in Rußland geschah nichts dergleichen. Das 1237 errichtete System blieb annähernd unverändert bewahrt. Man schalt es nicht barbarisch und unkultiviert, sondern empfand gar noch Stolz darauf. Gelegentlich wurde es sogar verschärft.
Aus diesem Grund vertreten wir die Auffassung, daß das Regime des Jochs in all seinen wesentlichen Zügen erhalten hat – als System.
Welches Fazit ziehen Sie also, meine Herren? Ist die Zeit des Jochs vorbei, haben wir es abgeschüttelt?
Nein.
Das 1237 errichtete Joch hat all die Jahrhunderte hindurch überlebt. Wir haben es bis zum heutigen Tage nicht abgeschüttelt. Und wir haben das Pech, unter diesem Joch zu leben.
Was aber hat dazu geführt, daß das Joch trotz allem schwächer geworden ist? Wie hat sich das Volk scheibenweise jene Freiheiten erkämpft, die wir heute auch unter dem Joch genießen?
Selbstverständlich durch Widerstand. Dieser Widerstand ist seit 1237 niemals erloschen. Er entflammte bei der heroischen Verteidigung von Torschok und Koselsk, als Ewpati Kolowrat die Horde tollkühn hinter den Linien angriff.
Doch wann war der Widerstand am effizientesten und erfolgreichsten? Immer dann, wenn der von der Horde errichtete Staat mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, nämlich: a) Bei Machtkämpfen innerhalb der Elite; b) Bei Naturkatastrophen oder wirtschaftlichen Katastrophen; c) Zu Zeiten äußeren Drucks oder äußerer Aggression; d) Bei großen Krisen in Friedenszeiten, welche dazu führen konnten, daß mehrere der eben erwähnten Erscheinungen zugleich auftraten.
Veranschaulichen wir dies anhand einiger Beispiele.
Der erste Sieg des Widerstands war das Scheitern der Versuche, die Einrichtung der Baskaken einzuführen. Dieser Sieg erfolgte in einer Periode, wo sich die Gegensätze innerhalb der Elite verschärften, bald nach dem Mord an Baty und seinem Sohn. Übrigens verschlechterte sich damals auch die Wirtschaftslage, nachdem Nikäa 1261 seine Zahlungen eingestellt (oder, wie man heute sagen würde, „das Leih- und Pachtabkommen gekündigt“) hatte.
Wann vermochte Rußland sich der Herrschaft der Horde zu entledigen? 1380, nach der Pestepidemie auf dem Territorium der Horde und langjährigen blutigen Fehden unter den Nachfahren Usbek Khans.
Gewiß, dies war kein besonders großer Schritt in Richtung auf eine Wandlung des Regimes der Horde und seiner Bedeutung nach nicht mit dem Scheitern der Einführung der Baskaken zu vergleichen. Doch immerhin war es ein gewisser Erfolg.
Wann bestanden zum ersten Mal konkrete Aussichten, das Regime des Jochs zu stürzen?
Zur Zeit der großen Wirren. Nach den blutigen Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Elite zur Zeit der Opritschina und der Vereinigung vieler westlicher Staaten gegen die russische Aggression in Livland. Dazu kamen gleich drei aufeinanderfolgende Mißernten, die zum Sturz des Godunow-Regimes führten und bewirkten, daß die Epoche der Wirren in ihre entscheidende Phase trat.
Wann erfolgte der wichtigste Schritt bei der Demontage des Jochs – die Abschaffung der Leibeigenschaft? Nachdem eine Koalition mehrerer westlicher Länder Rußland im Krimkrieg eine vernichtende Niederlage beigebracht hatte. Es gibt zahlreiche wohlbegründete Hinweise darauf, daß die Abschaffung dieser Form der Sklaverei eine der geheimen Bedingungen für den Abschluß eines Friedensvertrags war.
Laß dir dies durch den Kopf gehen, lieber Leser! Zur Abschaffung der Leibeigenschaft wurde Rußland von jenen Mächten gezwungen, die es im Krimkrieg besiegt hatten!
Für die Befreiung der russischen Bauernschaft vergossen französische und britische Soldaten bei Sewastopol ihr Blut. Und die heldenhaften Verteidiger der Festung mußten sterben, um diese Sklaverei noch ein paar Jahrzehnte länger aufrechtzuerhalten.
„Das ist ja unfaßbar!“ werden Sie entsetzt ausrufen. In der Tat! Und doch ist es so. Die Niederlage in diesem Krieg zwang Rußland zur Abschaffung der Leibeigenschaft. Dies wird sogar von manchen offiziellen Historikern zugegeben. Die Mutmaßung, wonach der Friedensvertrag eine einschlägige Geheimklausel aufgewiesen haben soll, verstärkt diese These noch, doch ist sie auch ohne solche Spekulationen haltbar.
Gehen wir weiter. Die Revolution des Jahres 1905 war das Ergebnis der Niederlage im russisch-japanischen Krieg.
Die Revolution von 1917 war das Resultat einer Weltkrise, bei der sich Rußland als das schwächste Glied erwiesen hatte.
1917 hätte das Imperium vernichtet und das Joch endlich abgeschüttelt werden können. Doch nein – die Bolschewiken weckten das imperiale Monstrum von den Toten auf.
Die Ereignisse des Jahres 1991 waren das Ergebnis einer für die UdSSR besonders ungünstigen binnenwirtschaftlichen Entwicklung sowie des koordinierten, kompromißlosen, langzeitigen Drucks seitens des Westens.
Wie geht es weiter? Was muß geschehen, damit wir uns vom Joch befreien können?
Zu dieser Frage äußern wir uns etwas später.
Bevor wir dieses Kapitel abschließen, wollen wir uns seinen Inhalt in großen Zügen nochmals vergegenwärtigen. Das Joch ist dem Untergang geweiht, doch wenn wir keinen Widerstand gegen es leisten, wird es nicht stürzen. Dies ist durchaus kein Widerspruch. Wir widersprechen auch nicht der von uns in anderen Büchern aufgestellten These, wonach man sich davor hüten muß, unbedacht vorzugehen und vorzeitig zu handeln. Vorsicht bedeutet keinen Verzicht auf Widerstand.
Widerstand darf nämlich nicht mit blindem Aktionismus verwechselt werden. Er beginnt in den Köpfen. Wer dieses Buch gelesen, die Argumente des Verfassers verstanden und akzeptiert hat, den falschen Helden entsagt und sich zu den wahren Helden unserer Geschichte bekennt, der gehört bereits dem Widerstand an. Dieser erste Schritt ist der wichtigste auf dem langen Weg zum Sieg über das Joch.
Zu einem Sieg, den die Helden des Widerstandes vorbereitet haben. Helden, die vom Himmel auf uns herabschauen und ihren Nachfolgern und Gefolgsmännern den Sieg wünschen. Sie werden uns in unserem Kampfe beistehen.
Kapitel 2. DIE PERSPEKTIVEN DES RUSSISCHEN WIDERSTANDES GEGEN DAS JOCH DER HORDE
1. Ein Fernsehabend oder Betrachtungen zu den globalen Problemen
Eine der Schlußfolgerungen unserer Studie lautet dahingehend, daß der Sturz des Regimes des Jochs in Zeiten schwerer Krisen mehrfach in greifbare Nähe gerückt war. Die Periode der Großen Wirren sowie das Jahr 1917 sind die schlagendsten Beispiele hierfür. Deshalb hat jeder Kämpfer gegen das Joch die Pflicht, Krisenerscheinungen in der heutigen Welt im allgemeinen sowie in Rußland im besonderen aufmerksam zu verfolgen. Tun wir dies nun!
Ein später Samstagabend. Müde von der Arbeit der vergangenen Woche, macht es sich der Durchschnittsbürger in seinem Lehnstuhl vor dem Fernseher bequem und greift zur Fernbedienung, um die verschiedenen Programme Revue passieren zu lassen. Fast überall werden amerikanische Filme gezeigt (oder solchen nachgebildete russische, die, wie alle Nachahmungen, von erbärmlicher Qualität sind). Ein Horrorfilm folgt auf den anderen. Aus dem Nichts aufgetauchte Dinosaurier tun sich an Menschenfleisch gütlich. Auf dem nächsten Kanal schießen irgendwelche unbekannten Terroristen auf irgend jemanden, und ganze Heerscharen von Bullen feuern – ohne sichtlichen Erfolg – in der Landschaft herum, offenbar um dem Durchschnittsbürger ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Es wird geballert, bis die Erde bebt. Doch im letzten Moment erscheint irgendein Held. Ein fescher Mann, ein Supermann, der mit einem Fausthieb oder einem Zirkustrick alles wieder ins Lot bringt.
Wie schön, wie einfach und wie leicht verständlich! Und wie gemütlich ist es doch, diesen Horror auf dem Fernsehschirm erleben zu dürfen, sofern bei einem Horrorfilm überhaupt von Gemütlichkeit die Rede sein kann. Dieser „lenkbare“, „gemütliche“ Horror hilft uns, viele verdrießliche Tatsachen für einige Zeit zu vergessen – immerhin haben die kühnen Fernsehhelden schwerere Probleme gelöst als jene, die uns plagen.
Genau so löst unser sambo-kämpfender Präsident im Kreml die Probleme. Daß das Benzin und die öffentlichen Verkehrsmittel und die Elektrizität und die Heizung immer teurer werden, daß das Gesundheitswesen des Landes in Scherben liegt – dies alles sind ja bloß zeitweilige Erscheinungen. Außerdem wird nicht nur bei uns alles teurer.
Letzteres stimmt; in der Tat wird nicht nur bei uns alles teurer. Auch Aids gibt es nicht nur bei uns, und dasselbe gilt für die Vogelgrippe. Und für den arktischen Winter, der immer noch bitter kalt ist, auch wenn klare Anzeichen auf eine Erwärmung hindeuten. Und für vieles andere mehr.
All dies fällt unter den Begriff „globale Probleme“. Betrachtet der Liebhaber von Horrorfilmen diese etwas genauer, so müssen sie ihm bedeutend mehr Gruseln einflößen als sämtliche Spielberg-Dinosaurier zusammen.
Machen wir uns darum näher mit diesen Problemen vertraut, indem wir den Fernsehabend fortsetzen.
Der Ausdruck „globale Probleme“ ging Ende der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts dank den Schriften des berühmten Club of Rome in die Alltagssprache ein. Man verstand darunter Probleme, welche direkt oder indirekt sämtliche Staaten des Erdballs tangierten: Das Energieproblem, das Rohstoffproblem, das Umweltproblem, das Produktionsproblem und das Problem des Bevölkerungswachstums. Als separates globales Problem wird bisweilen die Gefahr eines Atomkriegs eingestuft.
Es gilt darauf hinzuweisen, daß es von Anfang an sehr viele pessimistische Prognosen über die Möglichkeit zur Lösung dieser Probleme gab. Die bekannten Studien von D. Forrester und D. Medouse, die der These von den „Grenzen des Wachstums“ zugrunde liegen, bewiesen, daß die Welt am Scheideweg steht: Entweder wird das Produktions- und Konsumwachstum gestoppt, oder es kommt zu einer Systemkrise der gesamten modernen Zivilisation.
Was aber würde ein solcher Wachstumsstop beispielsweise für uns, die Bewohner Rußlands, bedeuten? Das Ende aller auch noch so vagen Hoffnungen auf eine Verbesserung des Lebensstandards. Wer in einer Wohngemeinschaft lebt, muß bis zum Sanktnimmerleinstag weiter in dieser hausen, und wer unter einem löchrigen Dach lebt, desgleichen.
Solche Aussichten reißen begreiflicherweise niemanden zu Begeisterungsstürmen hin. Dies sahen Forrester und Medouse voraus, beharrten jedoch darauf, daß bei einem Verzicht auf Produktions- und Konsumwachstum eine weltweite Krise unvermeidbar sei. Wann diese Krise beginnen werde, darüber gingen die Ansichten der Prognostiker weit auseinander; manche meinten, dies werde bereits 1995 der Fall sein, während andere erst um 2025 mit ihrem Ausbruch rechneten. (In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß der schwierigste Aspekt beim Prognosenstellen die Voraussage des Datums ist, an dem die prophezeiten Ereignisse eintreten werden). Der am häufigsten genannte Zeitraum war jedoch die Periode von 2008 bis 2015.
Die pessimistischen Thesen der Autoren von Die Grenzen des Wachstums fußten im Gegensatz zu späteren, optimistischeren, auf Modellberechnungen. Man kann das stark vereinfache Modell von Forrester und Medouse kritisieren, doch die Verfasser späterer Forschungen zum Thema der globalen Probleme gründeten ihre Schlußfolgerungen in der Regel überhaupt nicht auf Berechnungen, schon gar nicht auf komplexe, bei denen die Möglichkeit bestanden hätte, im Rahmen eines berechnungsprogrammatischen Komplexes die gegenseitigen Zusammenhänge der ökologischen, ressourcenmäßigen, demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozesse zu ergründen.
Mehr als oberflächlich wurden die Prozesse der wissenschaftlich-technischen Entwicklung erforscht, sofern dergleichen nach Forrestier und Medouse überhaupt geschah. Jene Forscher, die sich seit der Schaffung des Begriffs „globale Probleme“ mit diesem Thema auseinandersetzen – und zu ihnen gehört auch der Verfasser des vorliegenden Buchs – können sich des Eindrucks nicht erwehren, die modernen optimistischen Doktrinen zur Lösung der globalen Probleme, etwa die Doktrin vom fortlaufenden Wachstum, besäßen überhaupt keine wissenschaftliche Grundlage und seien nichts weiter als eine Liste gutgemeinter Erklärungen, die im Geiste der gegenwärtig modischen politischen Korrektheit verabschiedet wurden.
Doch können wir feststellen, daß das wirkliche Leben nicht diesen frommen Wünschen, sondern den nüchternen Prognosen der Herren Medouse und Forresters recht gibt. Beispielsweise bewahrheitet sich die Prognose der beiden Verfasser von Die Grenzen des Wachstums, wonach die Preise der Energieträger ab 2005 ununterbrochen steigen würden, voll und ganz. Dasselbe gilt für die These, daß die politischen Spannungen Formen annehmen werde, die Ende der siebziger Jahre noch unbekannt waren. An die Stelle einer recht gut überschaubaren und berechenbaren Konfrontation zwischen zwei weltweiten politischen Blöcken feiert heutzutage ein rational nicht faßbarer, jedoch nichtsdestoweniger sehr realer „internationaler Terrorismus“ schaurige Orgien; parallel dazu nehmen ethnische Konflikte und ähnliche Erscheinungen an Heftigkeit zu.
Ganz eindeutig bewahrheitet hat sich auch die in Die Grenzen des Wachstums geäußerte These, infolge der Übervölkerung der Erde beginne die Biosphäre Krankheiten zu erzeugen, welche die Weltbevölkerung dezimieren würden, ohne daß irgendwelche medizinischen Fortschritte dieser Entwicklung Einhalt gebieten könnten. Eine dieser neuen Krankheiten müßte unvermeidlich zu einer weltweiten Pandemie führen. Je später dies eintrete, und je dichter die Erdbevölkerung dann sei, desto höher sei der Blutzoll, den die Menschheit würde entrichten müssen.
Das Erscheinen von Aids sowie der Vogelgrippe verleiht solchen Befürchtungen Auftrieb. Manches spricht dafür, daß der Kampf gegen diese Krankheiten letzten Endes das Auftreten einer Seuche zur Folge haben wird, die – entsprechend den Prognosen von Forrester und Medouse – die Bevölkerung unseres Planeten auf ein Drittel bis ein Fünftel, im schlimmsten Fall sogar auf ein Siebtel ihres Bestandes reduzieren könnte.
Die theoretische Möglichkeit einer solchen Entwicklung liegt im Fall Afrikas bereits heute auf der Hand. Dort sind 60 bis 80 Prozent der Bevölkerung HIV-positiv und werden wie Fliegen dahingerafft werden, wenn eine tödliche Seuche ausbricht wie etwa die Pocken. Daß solches geschehen wird, läßt sich nicht ausschließen. Pockenstämme kann man nämlich auch auf andere Weise erhalten als durch Ausgraben eines alten Viehfriedhofs.
„Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit!“ entrüstet sich bei einer öffentlichen Diskussion ein Spezialist. Aber nur bei einer öffentlichen Diskussion. Auch in diesem Fall antworten wir ihm kurz und bündig: „Man braucht nur die Orte zu kennen.“
Doch was kümmert uns Afrika; kehren wir zum Thema zurück.
Man kann also davon ausgehen, daß Probleme wie der globale Mangel an Ressourcen, die Verschlechterung der natürlichen Umwelt sowie die Übervölkerung der Erde ungelöst bleiben. Zu ihrer Lösung stehen lediglich zwei Möglichkeiten offen. Auf das erste haben die Verfasser von Die Grenzen des Wachstums hingewiesen. Sie besteht darin, daß die Biosphäre selbst Mechanismen einer radikalen Verminderung der Erdbevölkerung (um wenigstens das Dreieinhalbfache) entwickelt. Dann werden Probleme wie die Übervölkerung, der Mangel an Ressourcen sowie die Umweltverschmutzung automatisch gelöst sein.
Die zweite Möglichkeit zur Lösung zumindest eines Teils der globalen Probleme läge in einer neuen wissenschaftlich-technischen Revolution. Diese These mag manchem vielleicht als bloße Behauptung vorkommen, so daß wir ihre Stichhaltigkeit anhand des Beispiel der Energie- sowie teilweise auch des Ressourcen- und des Umweltproblems illustrieren wollen.
Das beharrliche Ansteigen der Preise für Energieträger liefert einen schlagenden Beweis dafür, daß sie immer knapper werden. Dies ist, wiederholen wir es, der offenkundigste und bekannteste Aspekt dieses Prozesses, obgleich es noch etliche andere, spezifischere Indikatoren dafür gibt. Dabei existieren heutzutage Technologien, die bereits real in die Praxis umgesetzt worden sind und eine Verringerung des Verbrauchs von Energieressourcen ohne Wärme- und Energieverlust ermöglichen. Man kann diese Technologien vereinfachend in drei Klassen unterteilen:
Erstens: Verschiedene Technologien, welche einerseits die Benutzung qualitativ minderwertigeren Brennstoffs (bis hin zum Haushaltsabfall) und andererseits eine wesentliche, bis zu 60 oder 65% betragende Erhöhung des Nutzungskoeffizients der Energieanlagen ermöglichen. Diese beiden Möglichkeiten lassen sich nicht immer in ein und derselben Technologie nutzbringend miteinander verknüpfen, doch jede für sich sind sie längst verwirklicht. Beispielsweise in den Energieanlagen mit sogenannter „kochender Schicht“, wo ein Nutzungskoeffizient erzielt wird, der bedeutend höher als die herkömmlichen 30 bis 35% liegt.
Ferner existieren zwar weniger bekannte, jedoch bereits funktionstüchtige Systeme, die sogenannten „Gashydrat-Turbinen“ („Poletawkin-Turbinen“) und andere analoge Einrichtungen.
Es liegt auf der Hand, daß die allgemeine Tendenz einer radikalen, bis zu 50% betragenden Erhöhung des Nutzungskoeffizients sowie die Möglichkeit der Nutzung qualitativ niedrigstehenden Brennstoffs nicht nur zur Lösung des Energieproblems (Steigerung der Energieerzeugung bei unverändertem Verbrauch von Energieträgern), sondern gleichzeitig auch zu einer Entschärfung des Umweltproblems beiträgt. Dies wird durch eine Verminderung der schädlichen Emissionen pro Einheit verbrauchte Energie sowie durch die bessere Nutzung der bei dem Einsatz qualitativ tiefstehenden Brennstoffs abfallenden Wärme erreicht.
Zweitens. Die Verwendung von Heizungsvorrichtungen, die in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der sogenannten „Wärmepumpen“ gebaut werden. Dieser Grundsatz wurde bereits in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts von dem berühmten sowjetischen Erfinder P. K. Oschtschepkow patentiert.
Eine Beschreibung dieses Prinzips ist recht kompliziert und würde den Rahmen des vorliegenden Buchs sprengen. Wir begnügen uns daher mit dem Hinweis darauf, daß der Energieverbrauch bei unveränderter Wärmeversorgung mindestens halbiert wird; bei komplexeren Varianten liegt auch eine Verminderung um das Drei-, Fünf oder gar Siebenfache im Bereich des Möglichen. Entsprechende Einrichtungen wurden schon vor über sieben Jahren geschaffen und erweisen sich als voll und ganz funktionstauglich, insbesondere im Lawotschkin-Kesselhaus der Wissenschaftlich-Produktiven Vereinigung. Die Treibstoffersparnis in diesem Kesselhaus, das einen Kleinbezirk mit Wärmeenergie versorgt, wird auf ungefähr eine Million Rubel pro Monat (in den Preisen von 2003) geschätzt.
Erinnern wir daran, daß ungefähr 60% der Energie in Rußland für die Wärmeversorgung aufgewendet wird. Eine Halbierung des diesbezüglichen Energieverbrauchs würde das Energieproblem nicht nur in Rußland, sondern auch in der Ukraine, Weißrußland sowie den Ländern Nord- und Zentraleuropas mit einem Schlag lösen. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß eine solche Entwicklung entsprechend dem von uns oben geschilderten Mechanismus auch eine automatische Entschärfung des Umweltproblems nach sich zöge.
Neben den erwähnten, real funktionierenden Techniken, deren massenhafter Einsatz bereits heute möglich ist, könnte man auch auf andere, technisch noch nicht ausgereifte, jedoch an sich durchaus realisierbare große Energieprojekte verweisen. Doch da wir nicht beabsichtigen, vorliegende Studie zu einer populärwissenschaftlichen Abhandlung über ein Spezialthema auszuweiten, wollen wir nur darauf hinweisen, daß der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, den man gewiß nicht als weltfremden Schwärmer abtun kann, solche Projekte enthusiastisch befürwortete.
Wiederholen wir jedoch nochmals, daß solche technisch noch nicht verwirklichten Pläne die allgemeine Einschätzung der Lage nicht beeinflussen. Diese läuft darauf hinaus, daß eine Lösung des Energieproblems unmittelbar möglich ist und daß dies auch segensreiche Auswirkungen auf die Umwelt hätte.
Das Problem der Ressourcenverknappung würde hierdurch gleichfalls entschärft. An vielen Rohstoffen besteht nämlich an sich kein Mangel. Viele in der Erdkruste in ungeheurer Fülle vorhandenen Rohstoffe kann man unter den heutigen Umständen nur deshalb nicht ausbeuten, weil der dazu erforderliche Energieverbrauch zu hoch wäre. Deshalb werden nur jene Rohstoffe gefördert, bei denen dies ohne exzessive Energieverschwendung möglich ist.
Hierzu ein Beispiel. Aluminium wird aus Bauxit gewonnen, und Berechnungen zufolge werden die weltweiten Bauxitvorräte bald erschöpft sein. Daraus den Schluß zu ziehen, daß es in naher Zukunft an Aluminium mangeln wird, wäre jedoch völlig verfehlt, weil die Erdkruste zu sieben Prozent aus Aluminium besteht. Ist das Energieproblem erst einmal gelöst, so wird es der Menschheit niemals an Aluminium mangeln. Wiederholen wir es: Der Schmutz unter unseren Füßen besteht zu sieben Prozent aus Aluminium!
Ähnliches gilt für viele andere Rohstoffe. Wenn wir über die zu ihrer Förderung notwendige Energie verfügen, werden sie niemals knapp werden.
Wir hoffen, mit den bisherigen Ausführungen überzeugend demonstriert zu haben, daß viele globale Probleme technisch gesehen sofort lösbar sind. Dies kann man gar nicht oft genug wiederholen.
„Wenn dem so ist, warum werden sie dann nicht gelöst?“ fragen unsere Leser hier wohl aufgebracht.
Nach der Antwort braucht man nicht lange zu suchen. Wenn objektiv vorhandene Möglichkeiten nicht genutzt werden, kann dies nur an subjektive Faktoren liegen. Im Falle der Energieprobleme ist dieser Faktor sehr wohl bekannt: Der Schuldige ist die sowohl weltweit als auch in den einzelnen Ländern ungeheuer einflußreiche Brennstoff- und Energielobby. Besonders groß ist ihre Macht in Rußland.
Ein anderer subjektiver Faktor, der einer radikalen Lösung der globalen Probleme im Wege steht, ist die prinzipielle Ineffizienz bürokratischer Strukturen sowohl bei der Verwaltung eines Staates als auch bei der Leitung der wichtigsten technisch-wissenschaftlichen Kader, denen die Einführung von Innovationen obliegt.
Diese Tatsache ist vielen Analytikern wohlbekannt. Bereits anno 1992 hat beispielsweise die Kommission für Konkurrenzfähigkeit in einem „Bericht für den Präsidenten“ darauf aufmerksam gemacht. Ein prägnantes Beispiel dafür, wie auf diesem Gebiet bahnbrechende Entscheidungen blockiert werden, ist übrigens das Schicksal des US-Präsidenten Jimmy Carter, der, wie bereits erwähnt, ein Befürworter der Einführung neuer, energiesparender Technologien war. Es besteht Anlaß zum Verdacht, daß das Scheitern seiner politischen Laufbahn von der Brennstoff- und Energielobby inszeniert worden ist. Daß Carter bestrebt war, die ganze Kraft seines Landes für die Erschließung neuer Energietechnologien einzusetzen, paßte dieser Lobby eben nicht in den Kram.
Nichtsdestoweniger sind diese subjektiven Beschränkungen theoretisch überwindbar. Voraussetzung dafür ist freilich, daß auf breiter Front neue, möglichst flexible und innovationsfreundliche Lenkungssysteme eingeführt werden. Daran ist gar nichts Exotisches. Geschmeidige Organisationsstrukturen sind im modernen Management bereits Alltagspraxis.
Solche Strukturen zur Lösung der globalen Probleme müssen allerdings auf allen Ebenen eingeführt werden, nicht nur in der Produktion oder der Wirtschaft ganz allgemein, sondern auch bei der Leitung des Staates.
Es sei nochmals daran erinnert, daß die einzige Alternative zu einer solchen Entwicklung eine radikale Verringerung der Erdbevölkerung als Folge von Seuchen und nicht zu steuernden sozialen Konflikten sein wird. Hiervor haben die Autoren von Die Grenzen des Wachstums ja ausdrücklich gewarnt.
Als der Verfasser diese Sätze niederschrieb, kam er nicht umhin, sich über die Ruhe und Abgeklärtheit zu wundern, mit der er dies tat. Dafür gab es einen guten Grund: Der Verfasser ist von seiner Ausbildung und seinem Beruf her Wissenschaftler und Analytiker. Für den Durchschnittsleser sei jedoch verdeutlicht, was diese Sätze bedeuten.
Die Verwirklichung des hier skizzierten Szenariums käme einem Horror gleich, den sich kein Verfasser von Schauerromanen je träumen ließ. Sämtliche Lebensbereiche würden von dieser gigantischen Krise in Mitleidenschaft gezogen. Es käme zu einem Krieg aller gegen alle. Als Ergebnis würde die Mehrheit der Weltbevölkerung vorzeitig dahingerafft. Die Mehrheit. Wenigstens drei Viertel. Vielleicht auch sechs Siebtel.
All dies wird fast unmerklich beginnen, mit unablässig steigenden Benzinpreisen beispielsweise. Es wird wie in einem Hitchcock-Film sein, wo der großen Katastrophe allerlei Warnsignale vorausgehen. Diese Warnsignale werden unbedeutend, fast langweilig, alltäglich sein. Doch dies macht die anschließende Katastrophe nicht weniger fürchterlich.
Vielleicht läuft es dem Leser bei der Lektüre dieser Worte kalt den Rücken hinunter. Doch wenn er unsere Ausführungen aufmerksam liest, wird ihm leichter zumute werden. Immerhin hat der schlaue Verfasser ja demonstriert, daß all diese Probleme auf relativ einfache Weise zu lösen sind und daß uns in diesem Fall gar nichts Schreckliches droht.
Stimmt dies etwa nicht?
Ja, lieber Leser, aber Sie sind eben ein unheilbarer Romantiker und Idealist. Können Sie sich vorstellen, was die Einführung flexibler Lenkungsmethoden in den Regierungsstrukturen bedeutet? Sie bedeutet den Verzicht auf die berühmt-berüchtigte „Vertikale der Macht“. Wird sich beispielsweise die heutige russische „Elite“ mit einem solchen Schritt einverstanden erklären?
Die Frage ist wieder einmal rein rhetorischer Art. Die „Elite“ wird sich mit Zähnen und Klauen gegen einen solchen Schritt wehren. Daß sich die Bevölkerung des Landes um das Siebenfache verringert, wird sie achselzuckend in Kauf nehmen, doch die dreimal verfluchte „Vertikale der Macht“, die sie so abgöttisch liebt, wird sie niemals preisgeben.
Die russische Elite nimmt, nebenbei gesagt, nicht nur das Aussterben der Bevölkerung ihres Landes gelassen hin. Sie kurbelt darüber hinaus auch noch die Einwanderung aus allen möglichen Weltteilen emsig an. Wenn die Russen verschwinden, werden an ihre Stelle eben Kaukasier, Asiaten und Neger treten, denken die heutigen Bosse. Das „multinationale“ Rußland wird dann jahrhundertelang Bestand haben. Ohne Russen zwar, aber mit der immer gleichen Elite an der Spitze.
O heilige Einfalt! Diese Naivlinge bilden sich ein, die Kaukasier, Chinesen und Neger würden sie in ihren Machtpositionen belassen. Dabei täuschen sie sich jedoch gründlich. Die „Neubürger“ werden keinerlei Ehrfurcht vor dem Land empfinden, sondern dieses lediglich als Futterkrippe betrachten und nicht als Ort, in den es Kräfte, Mittel und seine Seele zu investieren gilt. An die Stelle der bisherigen Machthaber werden sie ihre eigenen Leute setzen – Kaukasier, Neger, Chinesen. Die Moskauer und Petersburger „Elite“ wird sie mit einem Fußtritt in den Allerwertesten aus diesem „Rußland ohne Russen“ herauskomplimentieren.
Aber wir sind wieder einmal vom Thema abgekommen.
Was glaubst du, lieber Leser, werden die Ölscheiche, die Vertreter des im Ölgeschäft so aktiven Bush-Clans sowie unser Kreml, die alle Erdölgesellschaften von der Einführung neuer Energietechniken abhalten, für die dringend nötigen Innovationen zu gewinnen sein? Auch diesmal ist die Frage rein rhetorisch.
Und werden sich die Bosse der medizinischen und pharmazeutischen Industrie für neue Technologien erwärmen lassen, mit deren Hilfe man fast alle chronischen Krankheiten rasch und billig heilen kann? Eine Antwort erübrigt sich.
Aus all diesen Gründen werden die erforderlichen Neuerungen nicht verwirklicht, lieber Leser! Neben den bereits angeführten Beispielen könnten wir noch eine Unzahl weiterer nennen. Deshalb besteht innerhalb des heutigen gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Modells keine Hoffnung auf die Schaffung von Bedingungen, die einen wahrhaftigen Fortschritt ermöglichen würden.
Kann man dieses Modell ändern?
Ja, aber dies bedeutet eine Revolution. Eine wahrhaftige Weltrevolution. Kein einziges der heute existierenden politischen Modelle ist nämlich zur Lösung der globalen Probleme imstande.
Und bei einer solchen totalen Weltrevolution werden trotzdem drei Viertel der Erdbevölkerung umkommen. Wenn nicht noch mehr. Auch in diesem Fall bewahrheiten sich die Prognosen von Forrester und Medouse also. Alle Wege führen nach Rom...
„Warum hat der Verfasser dann all dies geschrieben?“ mag sich der Leser hier fragen.
Nun, vielleicht zur Fortsetzung des Fernsehabends. Um zu zeigen, welche grausigen Thriller sich in absehbarer Zukunft tatsächlich und nicht nur im geistig unbedarften Hollywood abspielen könnten. Aber auch um zu zeigen, welche Form die künftige Zivilisation aufweisen wird, wo auf den Trümmern der heutigen Gesellschaft eine neue entstehen wird, in der die globalen Probleme nicht durch eine radikale Verminderung der Bevölkerungszahl gelöst werden, sondern dank dem technischen Fortschritt.
Wir wollen uns im folgenden einigen Erfindungen des menschlichen Verstandes zuwenden, die bereits gemacht wurden, deren praktische Verwirklichung jedoch nicht erfolgen wird, solange Petersburger Sambo-Kämpfer, texanische Cowboys, Ölscheiche und Hollywood-„Helden“ über uns regieren. Sie regieren übrigens nicht bloß dank frecher Wahlfälschung oder indem sie Wahlen überhaupt absagen, sondern weil das blöde Vieh für diese „Helden“ stimmt und die wahren Helden nicht sehen will.
Doch die Zeit der abgestumpften Massen und ihrer playboyhaften Idole neigt sich ihrem Ende zu.
Bei ihren Prophezeiungen des Weltendes stehen die Bibel, die Analysen des Club of Rome und viele andere, weniger bekannte Weissagungen einander erstaunlich nahe. Doch beruhigen wir uns mit der Feststellung, daß es das Ende ihrer Welt sein wird. Einer Welt, um der es dem Autor persönlich nicht im geringsten Leid tut und von der wir uns mit den Worten des großen Barden Wladimir Wysotzki verabschieden möchten:
2. Das Gesetz Paretos für das politische Marketing
„Nochmals: Warum schweift der Verfasser so weit vom eigentlichen Thema seines Buchs ab?“ fragt ein hartnäckiger Leser. Hier unsere Antwort:
Wenn es zu einer globalen Krise kommt, wird sie Rußland nicht verschonen. Als Ergebnis dieser Krise werden drei von vier Menschen zugrunde gehen. Es ist dies eine betrübliche Aussage, aber eine wissenschaftlich durchaus fundierte.
Wiederholen wir jetzt einige zentrale Themen unseres Buches. Wer hat dem Joch den Fehdehandschuh hingeworfen? Eine Minderheit.
An wen wendet sich der Verfasser, der sich nicht der Illusion hingibt, mit diesem Buch einen kommerziellen Erfolg zu erzielen? An einige wenige Leser.
Dies ist nichts weiter als logisch. Im Marketing herrscht das Gesetz Paretos, demzufolge auch bei erfolgreicher Werbung 20% der Käufer 80% einer bestimmten Ware kaufen. Doch wie man heute oft sagt: Auch Politik ist ein Handel. Ein Handel mit Ideen, mit Projekten, mit Versprechungen.
Auch wenn dem vorliegenden Buch Erfolg beschieden sein sollte, wird es von nur 20% der „Käufer“ „gekauft“ werden. Von jenen, die unsere Ansichten zur heutigen Lage, zur Geschichte Rußlands und des Russenlandes, zur Notwendigkeit des Sturzes des von der Horde errichteten byzantinischen Jochs teilen.
In Normalsituationen wäre ein solche Anteil an erklärten Anhängern einer Idee, an „Käufern“ irgendeiner „politischen Ware“ unbefriedigend gering. Unter den Bedingungen einer globalen Krise hingegen nicht. Warum? Weil nur 25% der Menschen überleben werden. Und wir hoffen, daß jene 20% der Bevölkerung, die zu unseren potentiellen Lesern und Bundesgenossen gehören, nicht weniger als vier Fünftel dieser 25% ausmachen werden. Dann werden wir die überwältigende Bevölkerungsmehrheit hinter uns haben.
„Warum meint der Verfasser, unter den Überlebenden würden ausgerechnet seine Gesinnungsgenossen, und nicht etwa seine Gegner, überproportional stark vertreten sein?“ wendet der Skeptiker hier ein.
Weil der byzantinistische Zombie seinem sicheren Ende entgegengeht. Dieses ist vorausbestimmt. Und er wird all jene mit sich in den Untergang reissen, die ihr Schicksal mit dem seinen verknüpft haben. Unter solchen Umständen besitzt die Minderheit die besten Überlebenschancen – jene Menschen, die in Opposition zur herrschenden Politik, Gesellschaft und Ideologie standen.
Die letzten werden die ersten sein! heißt es in ihrer Bibel. Unserer Meinung nach ist diese zwar nicht „das Buch der Bücher“, doch in gewissen Punkten sagt sie die Wahrheit. Wir haben es übrigens nicht nötig, uns auf die Autorität der semitischen Bibel zu berufen. Solche Krisen werden in vielen Studien – systemanalytischen, ökologischen, soziologischen, politischen – ausführlich beschrieben.
All diesen Analysen zufolge haben jene, die vor der Krise die Minderheit bildeten, größere Überlebenschancen als die Mehrheit. Und eine marginalere Gruppierung als die vom Staat ausgegrenzten russischen Nationalisten – oder vielmehr jener Teil von ihnen, der begriffen hat, daß „Rußland uns keine Mutter, sondern eine böse Stiefmutter“ ist - gibt es im heutigen ideologischen Spektrum unseres Landes nicht.
„Mit welchen Mitteln sollen wir denn für unsere Interessen einstehen und gegen die Anhänger und Lakaien des Jochs kämpfen?“ will der Leser wissen.
„Nicht gleich alles aufs Mal, mein Lieber“, wehren wir ab. „Das ist ein Thema für ein anderes Buch. Übrigens haben wir hierzu in unserem Buch Ottschete russkim Bogam schon das eine oder andere gesagt. Wer nicht zu träge dazu ist, möge es lesen.
„Wollen Sie nicht wenigstens sagen, für wann dieses reinigende Gewitter zu erwarten ist?“ bohrt der Leser weiter.
Mein lieber Leser! Mein unbekannter Gesinnungsgenosse, der du das Joch, das autoritäre Regime, die Bürokratie, den Polizeistaat, den orthodoxen Stumpfsinn haßt. Bei Prognosen ist es das Schwierigste, den Zeitpunkt vorauszusagen, zu dem diese oder jene Ereignisse eintreffen werden, und wir pflegen in solchen Situationen stets große Vorsicht an den Tag zu legen. Doch im vorliegenden Fall machen wir eine Ausnahme. Erstens dir zuliebe, mein lieber Gesinnungsgenosse, und zweitens, weil die Sache hier hinreichend klar ist.
3. 2012
Schon Forrester und Medouse haben vorausgesagt, das Jahr 2012 werde in der Mitte der Periode liegen, in der die globale Krise beginnen werde. Doch in letzter Zeit weist immer mehr darauf hin, daß der Auftakt zur Erneuerung gerade in jenem Jahr erfolgen wird.
Erstens gehen gewisse Einzelheiten der in Die Grenzen des Wachstums aufgestellten Prognosen gegenwärtig in Erfüllung, beispielsweise der unaufhaltsame Anstieg der Benzinpreise, das Auftauchen neuer Seuchen oder die Zunahme de internationalen Spannungen in einer Zeit, wo es scheinbar keine nennenswerte globale Konfrontation mehr gibt. Oder kann man das Ausmaß der globalen Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR während des Afghanistankriegs etwa der heutigen Situation gleichsetzen? Doch obgleich die Konfrontation geringer ist, herrscht heute größere Instabilität.
Wir wollen uns nicht bei der Frage aufhalten, wie zuverlässig die Analysen von Forrester und Medouse sind. In den letzten Jahren – und dies ist das „zweitens“, das auf das „erstens“ folgt – sind auch andere, von diesen Autoren vollständig unabhängige Forschungen erschienen, denen zufolge im Jahre 2012 eine globale Krise beginnen wird. Solche Forschungen gibt es massenhaft, und sie stammen von Spezialisten auf den verschiedensten Gebieten.
2012 ist das Jahr, in dem laut manchen Wissenschaftlern eine Verlagerung des magnetischen Pols der Erde erfolgen wird. Solche Verlagerungen hat es in der Vergangenheit schon oft gegeben; sie führen dazu, daß der Nordpol zum Südpol wird und umgekehrt.
Beruhigen wir die besonders Ängstlichen gleich: Es ist dies keine „Umkehr“ der Erde, sondern lediglich eine Veränderung ihres magnetischen Pols. Doch auch sie wird eine ungewöhnliche Zunahme geophysischer Anomalien und eine entsprechende Häufung technologischer Katastrophen bewirken.
Außerdem wird die Aktivität der Sonne ab 2007 fortwährend zunehmen und 2012 einen Höhepunkt erreichen. Deshalb werden gewisse mit der globalen Erwärmung verbundene Prozesse, die sich von 2002 bis 2006 etwas verlangsamt haben, danach mit vermehrter Heftigkeit ihren Fortgang nehmen.
Gerade in solchen Jahren kommt es bekanntlich zu besonders einschneidenden gesellschaftlichen Umwälzungen. Was die Russische Föderation betrifft, so wird es anno 2012 endgültig klar werden, daß die Erdgasförderung unerbittlich abnehmen wird. Welche wirtschaftlichen Gefahren dies bedeutet, dürfte jedem einleuchten.
Außerdem werden sich die Auswirkungen der von 2002 bis 2008 erfolgten gesteigerten Erdölförderungen zeigen. Diese Steigerung ist nur dank
Förderungsmethoden möglich, die einem eigentlichen Raubbau gleichkommen und dazu führen, daß 60 bis 85% der Vorräte unzugänglich werden. Also droht auch die Erdölschwemme zum dünnen Rinnsal zu schrumpfen.
Nicht genug damit: In den Jahren 2009-2012 werden sich die Auswirkungen des gewaltigen demographischen Knicks von 1991 bis 1994 zeigen. Der Armee wird es nicht mehr gelingen, ihr Kontingent an Rekruten zu mobilisieren. Das von der Horde eingeführte System der Zwangsaufbietung von Soldaten, die wenig mehr als Sklaven waren, bricht dann einfach in sich zusammen.
Andererseits tritt die freie Generation der Jahre 1986 bis 1989 dann in ihre aktivste Phase ein. Eine Generation, die sich nicht so leicht betrügen und unterjochen läßt. Eine Generation, die sich unter dem heutigen politischen Modell um ihre Zukunft geprellt sieht und fähig ist, sich dessen bewußt zu werden und einen Ausgang aus der Sackgasse zu suchen, ohne sich dabei auf „Autoritäten“ zu verlassen.
Außenpolitisch gesehen wird der subjektive Faktor der Freundschaft zwischen Bush und Putin, der Hand in Hand mit einer großen Nachsicht der in den USA regierenden Republikaner gegenüber dem russischen Imperium geht und die Amerikaner an einer aktiveren Einmischung in die russischen Angelegenheiten abhält, natürlich entfallen. Die Republikaner werden die Präsidentenwahlen 2008 nicht gewinnen. Und ein Rußland, das mit inneren Problemen zu ringen hat, kann einem echten Druck seitens der Vereinigten Staaten im Gegensatz zum heutigen, nur vorgetäuschten Druck nicht standhalten.
Zu all diesen vollständig rationalen, durch Prognosen und Analysen gestützten Momenten kommt noch ein ganzes Bündel verschiedenartigster Prophezeiungen über einen „Weltuntergang im Jahre 2012“. Man findet solche Weissagungen bei fast allen Sekten und Konfessionen.
Ohne auf Einzelheiten einzugehen, weisen wir darauf hin, daß der gewichtigste Aspekt hier der Wechsel der kosmischen Ären ist. Im Zeitraum von 2007 bis 2012 muß die Ära der Fische jener des Wassermanns weichen. Und laut vielen esoterischen Lehren ist das Ende der Ära der Fische gleichbedeutend mit dem Ende der Herrschaft des Christentums. Letzteres bedeutet aber auch ein Ende der Orthodoxie, die mehr als jede andere Kraft auf die Aufrechterhaltung des von der Horde errichteten byzantinistischen Jochs erpicht ist.
Doch lassen wir die Esoterik sein: Viele politische Prognosen werden, um es mit den Worten der Fachleute zu sagen, durch angeblich „astrologische“ und ähnliche Prophezeiungen „legalisiert“. Unter die Astrologen gegangen zu sein scheint auch der berühmte Pawel Globa, der in der Zeitschrift Nowye Iswestija (4.-10. August 2006) unkt, Rußland erwarteten im Jahre 2012 „schwere Zeiten“.
Unser Astrologe untertreibt. Das von der Horde errichtete Imperium geht nicht „schweren Zeiten“, sondern seinem unausweichlichen Ende entgegen. Der Anfang vom Ende kommt im Jahre 2012.
4. Unorthodoxe Methoden und unorthodoxe Schlußfolgerungen
Das Pikanteste an der Situation, die sich 2012 ergeben wird, ist für Rußland, daß dem jähen Niedergang des Regimes das vorausgehen wird, was wir die „Putinsche Remission“ nennen. Als Remission bezeichnet man in der Medizin eine zeitweilige Genesung des Patienten. Bisweilen ist die Remission lang und stabil und erweckt den Anschein einer vollständigen Heilung. In anderen Fällen ist sie nichts weiter als eine kurze Erleichterung, auf die eine abrupte Verschlechterung oder sogar der Tod folgt. Je besser sich der Patient in diesem Fall fühlt, desto näher ist sein Ende.
Uns scheint, die Putinsche Remission sei eine der zweiten Art. Rußland hat es nämlich versäumt, die durch das beispiellose Zusammenwirken günstiger Umstände ermöglichte zeitweilige Verbesserung seiner außen- und innenpolitischen Lage strategisch zu nutzen. Genauer gesagt, das byzantinistische Monstrum war dazu nicht imstande.
Die Jahre 2006 bis 2008 werden als Jahre der verpaßten Chancen und des Herumkurierens an den Symptomen in die Geschichte eingehen. Wir werden uns hier nicht auf einen Streit um Ziffern und Fakten mit den Bewunderern Putins einlassen, denn ihre Meinung interessiert uns nicht, und es wird uns ohnehin nicht glücken, sie zu überzeugen. Wozu soll man auch Medikamente an einen Toten verschwenden....
Wir wenden uns hier einzig und allein an „unsere“ Leser. Als Fachmann in solchen Fragen besitzen wir triftige Gründe zur Annahme, daß die Putinsche Remission den Zusammenbruch von 2012 noch verheerender machen wird. Und das Wichtigste: Er wird für die Narren, die heute noch in Euphorie schwelgen und dem Staatspatriotismus frönen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen.
Eine bekannte Faustregel beim Boxen lautet, daß nur ein unerwarteter Schlag der Knockout sein kann. Im vorliegenden Fall ist das Überraschungsmoment noch entscheidender als die Härte, mit welcher der Schlag geführt wird. Darum ist diesen Herren der Knockout sicher.
Das hier Gesagte gilt übrigens nicht für den „Regisseur“ der gegenwärtigen Putinschen Remission. Uns scheint, daß dieser im Gegensatz zu seinen Sympathisanten (oder, weniger fein ausgedrückt, Lakaien) begreift, daß der Höhepunkt der Remission bereits überschritten ist, und deshalb keine Lust verspürt, bis zum bitteren Ende an der Spitze eines verendenden Imperiums zu stehen.
Was sollen wir, die Kämpfer gegen das Joch der Horde, nun tun?
Mit dieser Frage willst du, lieber Leser, den Verfasser abermals veranlassen, sich zu Dingen zu äußern, die den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Dennoch wollen wir dir kurz antworten.
1) Mindestens bis zum Jahre 2009, also bis zum Ende der Putinschen Remission, ist jeder Versuch eines offenen Kampfes gegen die Horde zu unterlassen.
2) Jeder von uns suche mit allen Mitteln nach Gesinnungsfreunden und unterhalte feste Kontakte zu diesen.
3) Man versuche nicht, „die Mehrheit“ für sich zu gewinnen. Wir brauchen sie einfach nicht; sie ist zum Untergang verurteilter Ballast.
4) In erster Linie haben wir für Ordnung in unseren eigenen Köpfen zu sorgen und ein für alle Male zu begreifen, daß russischer Nationalismus und Staatspatriotismus zwei grundverschiedene Dinge sind.
5) Zu dieser „Ordnung in den eigenen Köpfen“ gehört auch die Einsicht, daß der Feind unseres Feindes unser Freund ist und man seine Hilfe gegebenenfalls nicht ausschlagen darf.
5. „Das Projekt Kostunica.“ Ein wichtiges Detail
Wir sprachen eben von den Feinden unserer Feinde. Ich bin mir nicht sicher, daß dieses Buch in ihre Hände geraten wird. Und dennoch...
Die orthodoxen Überreste des elendiglich zugrunde gegangenen Byzanz beschränkten sich keineswegs auf Rußland. Letzteres hatte noch eine „jüngere Schwester“ namens Jugoslawien. Dieses Land bereitete dem Westen arges Kopfzerbrechen, doch er begriff, daß jede Beihilfe zum Sturz des abgehalfterten Sozialisten Milosevic lediglich zur Folge gehabt hätte, daß an
Stelle der Pseudo-Nationalisten von der sozialistischen Partei echte Nationalisten ans Ruder gekommen wären, Menschen vom Schlage des „Tigers Arkan“, welche die Bosniaken und Kosovaren zu Paaren getrieben hätten.
Im Gegensatz zu diesen Heißspornen war Milosevic ungeachtet seiner antiwestlichen Politik – und vor allem antiwestlichen Rhetorik – fast schon ein Mann des Westens. Ein Multimillionär, der lange Jahre im Westen gelebt hatte. Ein Politiker, der seine eigenen Nationalisten mehr fürchtete als jenen Westen, den er von der Rednertribüne aus so leidenschaftlich verdammte.
Während er gegen den Westen lediglich von der Rednertribüne aus vom Leder zog, ließ er gewissen Gerüchten zufolge den fähigsten Kommandanten der serbischen Krieger, Arkan, meuchlings liquidieren und verschacherte die bosnischen Serben bei den Daytoner Verhandlungen für ein Linsengericht.
Gewiß: Das sozialistische und seinem Wesen nach polizeistaatlich-bürokratische Regime in Belgrad gefiel dem Westen gar nicht. Doch was gab es denn für Alternativen? Etwa „Tiger Arkan“ und seinesgleichen, die dem Westen noch ungleich weniger in den Kram paßten? Liberale und Demokraten waren in Serbien Mangelware, und wenn sie an die Macht gekommen wären, so hätten sie sich nicht lange behaupten können.
Die Aufgabe schien unlösbar, bis man die Gestalt Kostunicas hochgepäppelt hatte. Dieser war einerseits unbestreitbar ein serbischer Nationalist – aber ein gemäßigter. Ein überzeugter Demokrat, ein Feind des neo-imperialen feudal-sozialistischen politischen Modells, fast schon ein Liberaler. Ein Mann, der nicht durch die Macht verdorben und nicht bestechlich war, weil er ohnehin Geld wie Heu hatte. Also eine potentielle moralische Autorität bei seinem Volk, das vom korrupten, bürokratisch-sozialistischen Staat die Nase voll hatte. Und trotz all seinem Nationalismus ein Westler, allein schon deshalb, weil er im Alltag intelligent und demokratisch war.
Apropos Nationalismus: Es gibt recht viele Menschen, die einen gemäßigten, nicht hysterischen Nationalismus mit ganz und gar liberalen und prowestlichen Überzeugungen verbinden. Einer dieser Menschen ist der gegenwärtige polnische Präsident Lech Kaczynski, der – nebenbei gesagt – im Westen niemandem Gruseln einflößt.
Kostunica ist das jugoslawische Äquivalent zu Lech Kaczynski, so wie Kaczynski seinerseits das polnische Gegenstück zu Kostunica ist.
Somit wurde in Jugoslawien ein idealer Kandidat gefunden, der nationale und westliche Interessen harmonisch miteinander zu versöhnen, sich bei den Wahlen gegen Milosevic durchzusetzen und seinen Sieg gar noch unter polizeistaatlichen Bedingungen zu verteidigen vermochte. Dies war übrigens bereits ein rein technisches Problem. Das Wichtigste – wiederholen wir es nochmals – bestand darin, eine lebensfähige und populäre Alternative zu Milosevic und seinem politischen Kurs zu finden.
Als Ergebnis brach das sozial-bürokratische Regime zusammen. Die Überreste Jugoslawiens wurden demontiert, und Serbien wurde zu einem mehr oder weniger normalen nationalen Staat, der danach strebt, Bestandteil des Westens zu werden.
Daß dabei nicht alles glatt verläuft, braucht nicht eigens betont zu werden. Doch alles in allem ist der Hauptteil der Probleme entweder gelöst oder bis zu ihrer endgültigen Bereinigung eingefroren.
Wir sind uns bewußt, daß jeder beliebige Vergleich hinkt und daß die friedliche Machtübernahme Kostunicas für Rußland schwerlich als Vorbild dienen kann. Doch der Kern der Sache liegt nicht in den technischen und taktischen Details, sondern in der Wahl der richtigen Strategie, den realen Erfolgschancen. Die einzelnen „postbyzantinistischen“ Gebiete können nur unter der Führung von „Kostunicas“ – gemäßigter Nationalisten und gemäßigter Liberaler zugleich - in die zivilisierte Staatengemeinschaft aufgenommen werden. Und das „postbyzantinistische“ Jugoslawien war das weltweit einzige Miniatur-Modell Rußlands.
Wenn der Westen im Krisenjahr 2012 keinen „schlingernden Ballast auf dem Deck des sturmumpeitschten Schiffes“ will, muß er sich rechtzeitig nach Alternativen umsehen. Eine solche Alternative sind jedoch nicht die kraft- und saftlosen, beim Volk unbeliebten russischen Liberalen, sondern russische Entsprechungen zu Kaszynski und Kostunica. Diese sind bisher noch nicht geschaffen, nicht gefunden, nicht hochgepäppelt worden.
„Doch was geht dies alles uns an, die wir Kämpfer gegen das Joch, Kämpfer gegen das Rußland der Horde sind?“ wendet einer „unserer“ Leser hier ein.
Für uns Russen ist das „Projekt Kostunica“ einer der real möglichen Wege zur Erreichung unserer Ziele im Kampf gegen das Joch, für die Auferstehung des Russenlandes, des nationalen Staates des russischen Volkes.
Somit wäre unser Buch also beendet. Ein Leser, der dem Verfasser vertraut, hat einerseits seine Ansichten zu vielen Fragen grundlegend geändert, andererseits sind ihm auch viele scheinbare Widersprüche in unserer Ideologie, Politik und Geschichte aufgefallen.
„Viele scheinbare Widersprüche.“ Bei der Niederschrift dieser Worte wunderte sich der Verfasser über seine eigene Vorsicht. Jawohl, ein ganz erheblicher Teil der Weltanschauung eines modernen russischen Nationalisten ist aus widersprüchlichen Elementen zusammengeschustert. Doch ist der Grund dafür, daß den gesellschaftlich-politischen Aktivitäten der Nationalisten so wenig Erfolg beschieden war, nicht, daß „ein Kapitän, der nicht weiß, wohin er fahren soll, keinen Rückenwind hat“?
Ein großer, wenn nicht der größte Teil unserer Mißerfolge findet seine Erklärung nicht in den Ränken unserer Widersacher, sondern in der Verworrenheit und Widersprüchlichkeit unserer Ziele, in der Unlogik unserer Weltanschauung, unserem mangelnden Verständnis dessen, wer Feind und wer Bundesgenosse ist.
Der Verfasser, der seit 1979 in der russischen nationalen Bewegung tätig ist, hat sich davon überzeugt, daß die meisten politischen Führer, deren Gefolgsmann er war, ihre Strategie chaotisch planten. Statt zum Arzt führten sie jene, die ihnen vertrauten, oft zur Schlachtbank, um es mit einer Metapher auszudrücken.
Das Ergebnis liegt auf der Hand.
Doch die Fehler – vielleicht auch die gezielten Provokationen – nehmen kein Ende. Das völlig natürliche, biologisch und unter dem Druck der Umstände erwachende Gefühl des russischen Volkes wird auch weiterhin von politischen Blindgängern, oder von Provokateuren, schamlos ausgenutzt.
Das appelliert irgendeine halbanalphabetische „patriotische Nachtigall“ an die „strammen Burschen von der Polizei“. Eine andere Nachtigall ruft uns dazu auf, den Marsch ins „fünfte Imperium“ anzutreten. Eine dritte führt Aktivisten, die gegen die fremdvölkische Zuwanderung protestieren, zu einer Kundgebung „orthodoxer Bannerträger“.
„Braucht doch euren gesunden Menschenverstand!“ möchte man den Betrogenen da zurufen. Sind es denn nicht diese „strammen Burschen von der Polizei“, welche russische Aktivisten verprügeln? Garantiert dieses „fünfte Imperium“ denn nicht, daß die Russen zu einer nationalen Minderheit im eigenen Staat werden? Steht im heiligen Buch dieser „orthodoxen Bannerträger“ denn nicht geschrieben: „Hier ist nicht Grieche noch Jude“, was nur bedeuten kann, daß es keinen Grund gibt, die Zuwanderung Fremdstämmiger zu bekämpfen?
Warum schlucken sozial und national aktive russische Menschen diesen Unfug kritiklos? Weil sie sich davor fürchten, die ihnen seit Jahrhunderten eingetrichterten Mythen über Bord zu werfen. Sie fürchten, „ohne Zar im Kopf“ und ohne die erfundenen Helden dazustehen. Sie fürchten sich vor dem Gorgonenantlitz des „feindseligen Westen“.
Unser Buch erlöst die Betrogenen von diesen Mythen und Ängsten.
Jawohl, wir haben die Hohlheit vieler angeblich „unbestreitbarer“ Wahrheiten aufgezeigt. Nun fragen wir den Leser, der uns verstanden hat und uns vertraut: Sind unsere Entlarvungen denn nicht überzeugend? Ist es denn immer noch nicht klar, wie plump, bar jeder Beweise und bar jeder Überzeugungskraft jene Legenden sind, die der russischen imperialen Ideologie zugrunde liegen?
An dieser Ideologie ist buchstäblich alles falsch. Von Anfang an.
Es gab kein „tatarisches Joch“. Es gab keine „geniale Politik“ jener russischen Fürsten, von denen es heißt, sie hätten ihre Niederlage durch Widerstand gegen die Aggressoren nachträglich noch in einen Sieg umgewandelt. Es gab überhaupt keinen Widerstand, weil diese Fürsten den Einfall Batys selbst organisiert hatten. Die orthodoxe Kirche hat nie eine positive Rolle gespielt. Oder wird jemand ernstlich geltend machen, die Auftraggeber und Organisatoren des Jochs hätten irgend etwas Positives für das Land geleistet, das sie ruinierten? Oder für das Volk, das sie dezimierten?
Das Joch wurde niemals abgeschüttelt. Seiner Essenz nach war es nämlich in erster Linie ein neues politisches Modell, eine neue Religion, eine neue Ethik, eine neue Ästhetik, und wir werden so lange unter ihm schmachten, als wir das 1237 errichtete politische Modell mitsamt seiner Religion, Ethik und Ästhetik nicht überwunden haben. Ein Modell, bei dem alles und jedes von Unmenschlichkeit, Niedertracht, Heuchelei und Stumpfsinn geprägt ist.
Den Eindruck, daß Rußland ein okkupiertes Land ist, gewannen nicht nur meine Gefährten, als sie 1992/1993 bei Demonstrationen und Veranstaltungen „Stellt die Jelzin-Bande vor Gericht!“ skandierten. Dasselbe Gefühl hatten viele Menschen bereits im 19. Jahrhundert. Ihm verlieh der bekannte Schriftsteller A. S. Aksanow Ausdruck, als er schrieb, Volk und Machthaber wirkten in Rußland wie Volk und Machthaber eines eben erst eroberten Landes.
Ganz richtig, so war es auch. Daß sich Aksanow wie in einem „eben erst eroberten Land“ vorkam, rührte freilich nicht daher, daß das Joch erst kürzlich errichtet worden wäre, sondern hatte seinen Grund darin, daß es ständig unter Beschuß lag und daß sich die Machthaber immer wieder genötigt sahen, entweder den Widerstand zu unterdrücken oder das Volk zum Narren zu halten.
Unsere Konzeption der russischen Geschichte beantwortet die wichtigsten Fragen, welche die russischen Menschen schon seit Jahrhunderten quälen. Die Frage beispielsweise, warum die Macht so volksfeindlich und unmenschlich ist. Warum wir dermaßen erbärmlich leben. Warum sich die archaischsten Relikte im Regierungssystem unseres Landes bis heute erhalten haben. Warum die Russen in Rußland stets schlechter gelebt haben als andere. Warum die russischen Nationalisten ständig auf der Verliererseite stehen.
Letzterer Punkt ist von besonderer Wichtigkeit, weshalb wir unsere diesbezüglichen Schlußfolgerungen wiederholen wollen. Der Grund für die ewigen Niederlagen der russischen Nationalisten liegt darin, daß sie „den Brand mit Kerosin löschen“ wollen, daß sie sich vom Joch befreien wollen, indem sie den russischen Staat stärken, der von alters her antirussisch war. Weil sie ihre geistige Rettung bei der Orthodoxie suchen, die das Joch geschaffen und zu seiner Erhaltung beigetragen hat. Weil sie den Westen fürchtet, der nichts mit der Errichtung des Joches zu tun hatte, und nicht den Süden, der bei seiner Schaffung tatkräftig mitgeholfen hat.
Der Verfasser stellt seinem gutwilligen, aber immer noch zweifelnden Leser – mit den Feinden läßt er sich auf keine Diskussionen ein - ein weiteres Mal die Frage: „Sind die klaren, einfachen und logisch miteinander verbundenen Antworten auf alle oben erwähnten aktuellen Fragen denn wirklich kein Anlaß, den intellektuellen Mut aufzubringen, um all diesen törichten Mythen zu entsagen? Wenn der Verzicht auf diese intellektuellen Konstrukte der russischen Sache greifbare Siegeschancen eröffnet, lohnt es sich dann nicht, gewisse hinreichend bewiesene Fakten zu akzeptieren?“
Uns scheint, es seien dies rein rhetorische Fragen. Ein Leser, der immer noch zweifelt, jedoch trotz allem „zu uns“ gehört, soll dieses Buch einfach noch einmal durchlesen und, wenn er es ganz genau wissen will, auch gleich noch die darin zitierten Werke anderer Autoren.
Einem Leser, dem es gefühlsmäßige Schwierigkeiten bereitet, seine Helden, die das Joch geschaffen und gefestigt haben, in die Wüste zu schicken, kann man nur raten, sich damit zu trösten, daß die Helden des Widerstands gegen das Joch durchaus nicht gering an der Zahl und menschlich bedeutend anziehender waren. Und daß sie unsere Bewunderung, Verehrung und Dankbarkeit verdienen.
Jawohl, unsere Dankbarkeit. Letzten Endes wird das Joch nämlich dank den vereinten Bemühungen aller Helden des Widerstandes überwunden werden, die diesen Kampf siebenhundertsiebzig Jahre lang nicht einen Augenblick lang eingestellt haben. Ruhm diesen Helden!
Das Joch wird schon in naher Zukunft vernichtet werden, weil die Umstände es so erfordern. Doch diese Umstände haben unsere heimischen russischen Götter geschaffen. Darum bekunden wir Ihnen unsere Dankbarkeit.
Wir danken euch, unsere Götter, daß ihr uns das Glück beschert, den Untergang dieses Ungeheuers miterleben zu dürfen, das Glück der Befreiung vom Joch!
Wir erwarten Euch in unserem lichten Russenland!
Postscriptum für einen unbekannten Gönner
Diesem Buch scheinen Zauberkräfte innezuwohnen. Es läßt seinen Verfasser nicht los. Dies ist der Grund dafür, daß wir hier die Gelegenheit benutzen, uns an einen unbekannten Gönner zu wenden. Der Verfasser kennt ihn nicht; er ist ihm niemals begegnet. Dieser Unbekannte, dem der Verfasser zutiefst dankbar ist, läßt ihm bisweilen finanzielle Mittel zur Fortführung des Programms „Swarogow Kwadrat“ zukommen. Diese Mittel übergibt er ihm über eine ganze Kette von Mittelsmännern und wahrt so sein Incognito.
Dieser Gönner hat eine bestimmte Eigenschaft. Er bittet den Verfasser immer dann, wenn er ihm seine Vorschläge über Drittpersonen vermittelt, „knapper, ohne Lyrik zu schreiben und Instruktionen für das politische Handeln zu liefern“.
Wir verstehen unseren unbekannten Wohltäter sehr gut. Obwohl uns die Massenmedien suggerieren, das Volk vermöge sich vor Begeisterung über die Segnungen, die ihm der Kreml beschert, kaum zu fassen, empfindet es in Wahrheit ungeheuren Groll über den Stand der Dinge. Von einer persönlichen Waffe träumen nicht bloß unreife Jünglinge. Von ihr träumen auch durch und durch vernünftige, keineswegs vom pathologischer Aggressivität erfüllte reife Hausfrauen und Mütter, von denen man dergleichen zuallerletzt erwarten würde. Doch das heutige Leben ist eben so, daß sie davon träumen. Von einer eigenen Pistole in der Handtasche träumen Kinderärztinnen und Lehrerinnen, Marktfrauen und Sozialarbeiterinnen, Kellnerinnen und Friseusen.
Ganz so unrecht hat unser Gönner also nicht.
Der Verfasser begreift ihn nicht nur, sondern empfindet dasselbe wie er. Doch man versuche nicht, auf einem Kutter zu fliegen und in einem Flugzeug zu schwimmen. Das Wort ist eine mächtigere Waffe als jede Pistole in der Handtasche und als jede Bombe, die man nach im Internet zugänglichen, von genialen Fachleuten stammenden Rezepten mit handwerklichen Mitteln selber basteln kann.
Wir rufen unseren ungeduldigen Lesern in Erinnerung, daß nach Einschätzung amerikanischer Spezialisten für psychologische Kriegsführung Harriet Beecher-Stowes Roman Onkel Toms Hütte mehr zum Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs beigetragen hat als die publizistischen Bemühungen aller Politiker beider Lager, des nördlichen und des südlichen, zusammen.
Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag hat die Intelligenzija des Westens, die zuvor mehrheitlich links und prosowjetisch gewesen war, mit einem Schlag in rechte Antikommunisten verwandelt und die UdSSR dadurch ihrer fünften Kolonne im Westen beraubt, wonach ihre Expansion ins Stocken geriet.
Dies, mein unbekannter Sponsor, bedeutet, daß jene, die sich nicht mit der heutigen bleiernen Zeit abfinden wollen, mit politischen Analysen, direkter Agitation oder Rezepten für potentielle Revolutionäre allein nicht geholfen ist. Erinnern Sie sich, welchen Einfluß Onkel Toms Hütte laut amerikanischen Experten auf die damaligen Ereignisse ausgeübt hat, und lachen Sie sich still ins Fäustchen.
Unsere historische Erforschung der Natur des Jochs kann, wenn sie publizistisch gebührend ausgeschlachtet wird, nicht minder weitreichende Auswirkungen haben. Der Verfasser sagt dies ohne falsche Bescheidenheit. Bescheidenheit ist eine Eigenschaft, die uns von den byzantinischen Popen jahrhundertelang als Tugend angepriesen, von unseren einheimischen russischen Göttern jedoch verachtet wurde.
Dies ist der erste Punkt; nun zum zweiten: Ich möchte Sie, mein unbekannter Mitstreiter, noch auf weiteres Moment aufmerksam machen. Viele einfältige Tölpel an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide haben noch nicht gemerkt, daß die Welt in eine neue Phase eingetreten ist. Die Zeiten, wo man, bildlich gesprochen, seinem Gegner „in die Karten blicken“ konnte, sind mit dem Erscheinen neuer Informationstechnologien vorbei, und es hilft einem immer weniger, dem Nachbarn in die Karten zu schauen.
Es ist die Zeit des „politischen Schachspiels“ angebrochen, bei dem das Schachbrett für beide Kontrahenten gleichermaßen einsehbar ist und der Sieg nicht jenem zufällt, der seinem Gegner „in die Karten blickt“, sondern dem, der den schärferen Intellekt besitzt. Heutzutage wohnt dem Gedanken eine noch größere Kraft inne als zur Zeit Harriet Beecher-Stowes. Ob dieser Gedanke in Form eines phantastischen Romans oder einer trockenen analytischen Abhandlung ausgedrückt wird, ist nicht so wichtig.
Nochmals: Es geht heute nicht darum, mit der Flinte in der Hand in den Wald zu gehen und die Jagdsaison vorzeitig zu eröffnen. Schließlich sind wir ja keine Wilderer.
Arbeiten wir lieber mit ganzer Kraft darauf hin, daß die Jagdsaison möglichst früh beginnt. Und wenn Sie, unser lieber Gönner, den Mut noch nicht verloren haben, dann helfen Sie uns dabei. Im Rahmen Ihrer Möglichkeiten.
Alexandrow, im Jahre 2006
Buchumschlag der russischen Ausgabe
Pjotr Michailowitsch Chomjakow
Ideologe des Netzes der Gesellschaften für die Nationale Befreiung des Russischen Volkes (NORNA), stellvertretender Vorsitzender der Freiheitspartei. Ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Exekutivkomitees des Kongresses Russischer Gemeinden.
Geboren 1950 in Moskau. Absolvent der geographischen und mechanisch-mathematischen Fakultät der Staatlichen Universität Moskau; Doktor der technischen Wissenschaften, Professor.
Seine berufliche Tätigkeit begann Pjotr Chomjakow als junger technischer Geologe. Er nahm an geologischen und ingenieurstechnischen Expeditionen teil und leistete Wehrdienst in der sowjetischen Armee.
Nach 1981 arbeitete er an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, im Staatlichen Komitee für Wissenschaft und Technologien, im Komitee für Wirtschaftsplanung der UdSSR (GOSPLAN), an der Russische Akademie der Wissenschaften (RAS) und befaßte sich mit den Problemen der Informatisierung der Staatslenkung, der stabilen Versorgung der verschiedenen Volkswirtschaftszweige mit natürlichen Ressourcen, der regionalen Wirtschaft sowie der regionalen Verwaltung. Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Systemanalysen an der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAS).
Seit Ende 1991 ist er politisch aktiv. Er war Experte des Obersten Rats der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und gehörte 1992/1993 dem Duma Parlament der Russischen Nationalversammlung Alexander Sterligows an. 1993 wurde er zum Mitglied des Zentralrats der von Nikolai Lysenko geführten National-Republikanischen Partei Rußlands.
Bei den Wahlen zur Staatlichen Duma im Dezember 1993 war er der elfte Kandidat auf der föderativen Liste der National-Republikanischen Partei. Nachdem diese 1994 in zwei gleichnamige Parteien unter N. Lysenko und Juri Beljaew zerfallen war, unterstützte er J. Beljaew und trat der nichtregistrierten Neuen National-Republikanischen Partei als Mitglied bei. 1997/1998 war er politischer Berater von General Lew Rochlin, dem Vorsitzenden der Bewegung zur Unterstützung der Armee.
2002 war Pjotr Chomjakow stellvertretender Vorsitzender des Exekutivkomitees des Kongresses russischer Gemeinden, an dessen Spitze Dmitri Rogosin stand, und im Oktober 2005 stellvertretender Vorsitzender des Zentralkomitees der Freiheitspartei (ihr Vorsitzender war J. Beljaew). Bei einer außerordentlichen Versammlung des Zentralkomitees der Freiheitspartei im Dezember 2005 wurde beschlossen, die Partei beim Justizministerium offiziell registrieren zu lassen, damit sie bei den Parlamentswahlen des Jahres 2007 teilnehmen kann. Zur Vorbereitung des Gründungskongresses der Freiheitspartei wurde ein Organisationskomitee ins Leben gerufen, dem neben anderen J. Beljaew, Denis Tananin, P. Chomjakow angehörten.
P. Chomjakow arbeitete als Analytiker und Beobachter des RIA Novosti sowie der Nachrichtenagentur TASS. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen in Zeitungen und Zeitschriften (Literaturnaja Rossija, Rossijskaja Gaseta, Nesawisimaja Gaseta, Parlamentskaja Gaseta, Kommersant, Russkij Sobor, Den, Sawtra, Interview, Duel, Stringer, Nazionalnaja Gaseta, Respektabelnaja Respublika, Prawda-5, Junost, Nauka i promyschlenost Rossii, Chimija i schisn etc.). Ferner ist er Verfasser der Serie SWAROGOW KWADRAT: Die Eigenen und die Fremden (2003), Der Kreuzweg (2005), Der weltweite Umsturz (2005), Rußland gegen Russenland. Russenland gegen Rußland (2004-2006), Das Geheimnis Zar Johanns (2006), Rechenschaftsbericht des Veteranen der Russischen Bewegung gegenüber den Russischen Göttern (2006), Götter und Unholde (2006).
Aus seiner Feder stammen mehr als 80 wissenschaftliche Publikationen, von denen folgende namentlich zu erwähnen sind: Geoökologische Modellierung zur Steuerung der Nutzung der Natur unter den Bedingungen des Wandels von Umwelt und Klima (Moskau 2002); Systemanalyse in zehn Lektionen (Moskau 2006); Der Einfluß globaler Veränderungen der natürlichen Umwelt und des Klimas auf die Funktion der Wirtschaft sowie die Gesundheit der Bevölkerung Rußlands (Moskau 2005); Mathematische Modellierung der Evolution des Waldes zur Leitung der Forstwirtschaft (Moskau 2005); Management in 18 Lektionen (Moskau 2006).
ANMERKUNGEN
zu den Büchern der Serie Swarog-Quadrat[1]
Der Kreuzweg Science-fiction-Thriller
Eine Gruppe junger Technokraten unter der Führung von Veteranen der Russischen Bewegung provoziert unter Nutzung moderner Technologien und mit ausländischer Unterstützung in Rußland zunächst ein Dafault und dann eine politische Krise, wonach sie an die Macht kommt.
In diesem Buch findet der Leser alles – Intrigen, kriegerische Aktionen, Liebe, Familiendramen, die Schilderung heidnischer Feiern. Selbst der Auftritt der russischen Götter fügt sich nahtlos in dieses Drama des Kampfes für das Glück des russischen Volkes ein.
Wem die gegenwärtige bleierne Zeit zuwider ist, wer vom Licht am Ende des Tunnels träumt, und sei es auch nur in Form einer phantastischen Erzählung, den wird dieses Buch fesseln!
Weltenumsturz Science-fiction-Thriller
Liebesdrama vor dem Hintergrund politischer Schlachten. Die von den gegenwärtigen Machthabern ausgeheckten ungeheuerliche Verbrechen gegen die gesamte Menschheit sowie das Volk Rußlands werden von einer Gruppe energischer russischer Nationalisten – Helden und Intellektuellen, Technokraten und Romantikern – durchkreuzt.
In ihrem harten Kampf erhalten die Helden Hilfe von den besten Vertretern der Weltgemeinschaft – Aristokraten und Intellektuellen, welche die überragende Persönlichkeit ihrer russischen Freunde in ihren Bann zieht.
Die Helden sind lichte, facettenreiche Gestalten, deren Charakter realistisch und scharf gezeichnet ist, im Stil der Traditionen der großen russischen Literatur und nicht in jenem der Hollywood-Knüller.
Erwarten Sie kein süßliches, verlogenes Happy-End. Doch die Tragödie bricht die Beteiligten nicht, sondern adelt sie. Und den unsterblichen Seelen der Helden wird in einem neuen Erdenleben Glück zuteil.
Das Geheimnis des Zaren Johann Phantastischer Kriminalroman
Mehrere Gruppen mit verschiedenen Zielen suchen die legendäre Bibliothek Iwans des Schrecklichen. Die Geheimnissen einiger Mörder, fieberhafte Suchaktionen, Abenteuer und Treibjagden, Liebesdramen und Geheimnisse der Geschichte – all dies findet sich im vorliegenden Buch.
Den selbstbewußten Kämpfern für die russische Sache winkt das Glück, eilt ihnen doch Fürstin Polozkaja selbst zur Hilfe, die Nachfahrin eines alten Fürsten- und Zauberergeschlechts, deren Ur-Ur-Ur-Urgroßmutter einem Schicksal als Konkubine Iwans des Schrecklichen zu entrinnen vermochte.
Götter und Kreaturen Fantasy
Vergangenheit und Gegenwart fließen in diesem Buch ineinander über. In speziellen Laboratorien des KGB werden geophysische und psychotronische Waffen entwickelt; zugleich entfalten altrussische Weise ihr Wirken. Die legendären Swarog und Perun[2] leben in der gleichen Periode wie die Opfer des Atomkraftwerkunfalls in Tschernobyl und des Erdbebens in Spitak.
Die Geheimnisse der olympischen Götter und die Triebfedern des Trojanischen Krieges sieht man in ganz anderem Lichte, wenn man all das weiß, was die die Experimentatoren aus den stillgelegten Labors des KGB wissen.
Rußland gegen Russenland. Russenland gegen Rußland Historische Untersuchung
Die Entlarvung des größten Geheimnisses der russischen Geschichte. Wer den Einfall Batys „bestellte und bezahlte“, wer davon profitierte, wer zu den Verlierern zählte. Helden entpuppen sich als Halunken. Doch die russische Geschichte wurde nicht nur von Lakaien und komplexbehafteten Sadisten geschrieben. Der Widerstand hat niemals aufgehört. Und nun besitzt das Russenland endlich die Chance, das Rußland aufgezwungene Joch der Horde abzuschütteln.
Rechenschaft vor den russischen Göttern Sammelband zu den Themen Ideologie und Politik
Erinnerungen eines Veteranen der Russischen Bewegung. Woher die Gesellschaft „Pamjat“[3] kam. Wie die KPdSU die künftigen „Liberalen“ und „Patrioten“ „ernannte“. Weshalb die Armee dem Weißen Haus anno 1993 keine Unterstützung gewährte. Wer General Rochlin verriet und ermordete. Die aktuellste Frage lautet heute nicht „Was tun?“, sondern „Was man besser nicht tut“.
Die Eigenen und die Fremden Ideendrama
War der Mensch Kannibale? Warum kokettieren Frauen so gerne? Wie oft wurde auf Erden schon der Sozialismus aufgebaut? Warum muß der Nachrichtendienst zur wichtigsten bewaffneten Kraft werden? Was bedeutet das Jahr 7511 seit der Erschaffung der Welt? Was fehlt den Juden zum völligen Glück? Sind die Geheimnisse der russischen Seele wirklich so unerklärlich? Wann wird das „Ende der Welt“ eintreten, und wird es tatsächlich so schrecklich sein?
Auf all diese und noch viele andere Fragen findet der Leser im vorliegenden Buch eine Antwort. Es ist unterhaltsam, jedoch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus hieb- und stichfest.